Gesucht – Henry Kissinger

Ein Künstler erinnert gemeinsam mit Menschenrechtlern daran, dass die Verantwortlichen des Militärputsches in Chile noch immer straffrei geblieben sind

Am 14.September wurden in verschiedenen Tageszeitungen Anzeigen mit dem Titel „Verhaftet Kissinger“ geschaltet. Dabei handelt es sich um eine Kooperation zwischen Politik und Kunst. Der in Chile geborene Künstler Alfredo Jaar arbeitet für dieses Kissinger-Projekt mit dem Europäischen Menschenrechtszentrum zusammen. Für Jaar ist das Projekt das Finale dreier Ausstellungen in Berlin, die im besten Sinne engagierte Kunst zeigten. Dabei hinterfragt Jaar auch die Position des Künstlers immer wieder. Das beeindruckendste Beispiel in Berlin war eine Installation über den südafrikanischen Fotografen Kevin Carter, der für das Foto eines hungernden Kindes im Sudan den Pulitzer-Preis bekam und wenig später Selbstmord beging, nachdem Kritik laut geworden war, dass er mit dem Foto eines hungerndes Kindes berühmt werden wollte.

In den Berliner Ausstellungen werden auch verschiedene Arbeiten von Jaar gezeigt, in denen er sich mit dem Militärputsch gegen den linkssozialistischen Präsidenten chilenischen Salvador Allende am 11. September 1973 befasst. Das Vorgehen der Generäle, die gleich in den ersten Tagen nach dem Putsch Tausende Anhänger der gewählten Regierung verhaften, foltern und nicht selten ermorden und auf öffentlichen Plätzen linke Literatur verbrennen ließen, weckte weltweit Assoziationen an den Faschismus. Jaar zitiert Originaldokumente, die nachweisen, dass die damalige US-Regierung und besonders ihr Außenminister Henry Kissinger seit der Wahl von Allende den Sturz der Regierung betrieben haben und dass die Tatsache, dass die Linksregierung demokratisch legitimiert war, dabei kein Hindernis war.

Die Anzeigenkampagne zur Verhaftung Kissingers stellt Jaar bewusst in den Kontext des 39 Jahrestages des Militärputsches. Dieses Datum war in dem letzten Jahrzehnt durch die islamistischen Anschläge vom 11.September 2001 in den Hintergrund des Interesses geraten. Die Forderung, Henry Kissinger vor Gericht zu stellen, ist alt und wird nicht nur wegen seiner Rolle beim Putsch in Chile erhoben. Jaar und die Menschenrechtsorganisation werden deshalb die Anzeigen nicht nur in mehreren deutschsprachigen Zeitungen wie der taz, dem Tagesspiegel und der Berliner Zeitung, sondern auch in Medien von Laos, Kambodscha und Vietnam schalten, wo Menschen auch durch die von Kissinger repräsentierte Politik zu Schaden kamen.

Gefahr der Personifizierung?

Die Aktion erinnert an eine andere Kunstaktion: „Waffenhändler in den Knast“, mit der Künstler (http://www.politicalbeauty.de/center/News.html) gegen die Kraus-Maffei-Eigentümer intervenierten. Wie bei dieser Aktion stellt sich natürlich auch beim Kissinger-Projekt die Frage, ob damit nicht einer Personifizierung von Politik Vorschub geleistet und der Eindruck erweckt wird, Politik sei eine Kette von Verschwörungen. Allerdings ist gerade der Militärputsch tatsächlich eines der wenigen Beispiele für eine reale Verschwörung gegen unliebsame Regierungen.

Zudem sind Politiker wie Kissinger nicht nur Rädchen im Getriebe, sondern agieren in einen gewissen Rahmen durchaus eigenständig und können daher auch zur Verantwortung gezogen werden. Jaars Forderungen hat eine neue Aktualität bekommen, nachdem auch in Chile nach Jahrzehnten der Straflosigkeit, die sich die Militärs selber verordnet hatten, mittlerweile Klagen gegen einige für Morde und Kindesentführungen Verantwortliche begonnen haben.

FAZ-Artikel will US-Politiker wegen Irakkrieg vor Gericht sehen

Wenn aber ein Feuilletonredakteur der FAZ in einem Artikel, der am vergangenen Wochenende erschien, auch führende US-Politiker wegen des Irakkrieges vor Gericht sehen will, fragt man sich schon, ob das konservative Blatt jetzt zur Speerspitze der Anti-Irak-Kriegs-Bewegung geworden ist. Hat die Zeitung im Politikteil diesen Krieg damals nicht nach Kräften publizistisch unterstützt? Wäre da nicht eine redaktionsinterne Tagung über die Rolle des eingebetteten Journalisten im Krieg angebracht?

Ein solch greifbare Forderung fehlt in dem FAZ-Artikel ebenso wie der Name des deutschen Oberst Klein. Der kürzlich beförderte Militär ist für den Tod von fast 100 Toten von Kunduz verantwortlich. Wer ihn in einer deutschen Zeitung vergisst, wenn es um Politiker geht, die wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden sollen, muss sich schon den Vorwurf gefallen lassen, dass die Bereitschaft zur Aufklärung von Verbrechen dann nachlässt, wenn auch deutsche Militärs betroffen sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152766
Peter Nowak

Verdient Judith Butler den Adorno-Preis?

Über die Positionen der postfeministischen Philosophin zu Israel und den Nahostkonflikt sollte diskutiert werden, nicht aber über ihre Eignung für den Adorno-Preis

Die politische Theoretikerin und Philosophin Judith Butler hat vor mehr als einem Jahrzehnt mit ihren Thesen zur Dekonstruktion der Geschlechter für viel Aufmerksamkeit gesorgt. In den letzten Jahren macht Butler mehr politische Schlagzeilen. Im vorletzten Jahr schlug sie einen Preis des Berliner CSD aus und kritisierte bei den Veranstaltern des schwullesbischen Festes verschiedene Formen von Rassismen.

Jetzt geht es um einen Preis mit einer ganz anderen Bedeutung. Der Philosophin soll in Frankfurt/Main der Adorno-Preis verliehen werden, der alle 3 Jahre an Personen gehen soll, die in der Tradition der Kritischen Theorie stehen, die der Namensgeber wesentlich begründet hat. In der Jerusalem Post heißt es, mit Butler werde eine Befürworterin des Israel-Boykotts und eine Unterstützerin der islamistischen Organisationen Hamas und Hisbollah ausgezeichnet. In einem Interview mit der Jungle World hat Butler letzterem Vorwurf schon 2010 klar widersprochen und klargestellt, dass ihre Aussagen bei einer Veranstaltung zum Krieg zwischen Israel und Libanon in Berkeley falsch interpretiert worden seien:

„Als Antwort auf eine Frage aus dem Auditorium habe ich gesagt, dass – deskriptiv gesehen – diese Bewegungen in der Linken zu verorten sind, doch wie bei jeder Bewegung muss jeder für sich selbst entscheiden, ob er sie unterstützt oder nicht. Ich habe keine der genannten Bewegungen jemals unterstützt, und mein eigenes Engagement gegen Gewalt macht es unmöglich, das zu tun.“

Nun wäre auch zu fragen, warum Butler die Islamisten deskriptiv der Linken zuordnet und ob sie damit eine positive Bewertung oder vielleicht eine Kritik an der Linken impliziert. Eine politische Unterstützung zumindest will sie damit nicht verbunden wissen, allerdings begründet sie das nicht mit dem reaktionären Programm der Islamisten, sondern mit deren Gewaltbereitschaft. Den Vorwurf, einen Israel-Boykott zumindest teilweise zu unterstützen, räumt Butler ein, wehrt sich aber entschieden dagegen, hierin Antisemitismus zu sehen.

In einer in der Zeit veröffentlichten Replik auf ihre Kritiker schreibt sie:

„Es ist falsch, absurd und schmerzlich, wenn irgendjemand behauptet, dass diejenigen, die Kritik am israelischen Staat üben, antisemitisch oder, falls jüdisch, voller Selbsthass seien. … Ich bin eine Wissenschaftlerin, die durch das jüdische Denken zur Philosophie gekommen ist, und ich verstehe mich als jemand, der eine jüdische ethische Tradition verteidigt und diese im Sinne von beispielsweise Martin Buber und Hannah Arendt fortführt.“

Zwei unterschiedliche Lesarten des Judentums

Den entscheidenden Hinweis zu ihrem Verständnis des Judentums liefert sie mit diesen Satz: „Während meiner Einweisung ins Judentum habe ich auf Schritt und Tritt gelernt, dass es nicht hinnehmbar ist, im Angesicht von Ungerechtigkeiten zu schweigen.“ Dieses Credo prägt viele der Jüdinnen und Juden, die aktuell die israelische Politik im Umgang mit den Arabern im Land und den besetzten Gebieten kritisieren. Für sie heißt die Konsequenz aus den antisemitischen Verfolgungen, die in der Shoah kulminierten, alles zu tun, damit nie mehr Menschen diskriminiert werden.

Etwas anders lautet die Schlussfolgerung der Gründer und Politiker des Staates Israel. Für sie ist die Konsequenz aus antisemitischer Verfolgung und Vernichtung, alles zu tun, damit Jüdinnen und Juden nie wieder schwach sind. Sie argumentieren mit der Geschichte nach der Gründung Israels, den Überfall der arabischen Staaten auf das Land, die teilweise kritiklose Übernahme antisemitischer Verschwörungstheorien in arabischen Medien, schließlich das Aufkommen des Dschihadismus, was den israelischen Politikern keine andere Wahl lassen würde, als Stärke zu zeigen.

Die Debatte wird seit Jahren mit großer Heftigkeit geführt und beide Seiten haben wichtige Argumente. Nur ist Butler keine Politikern, sondern eine Intellektuelle, die mit einem Preis ausgezeichnet werden soll, der den Namen eines Mannes trägt, der für eine entschiedene Kritik an der Herrschaft steht. Daher ist die Aufregung nicht zu verstehen. Man kann ihr den Adorno-Preis verleihen und trotzdem über ihre Positionen in der Sache hart streiten.

In diesem Sinne hat der Publizist und Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik, der seine Einsprüche gegen alle Formen der regressiven Israel-Kritik, auch unter linksdeutschen Vorzeichen, mit einem Plädoyer für eine innerjüdische Kontroverse auch über den Zionismus kombiniert, bereits vor einigen Wochen zum neuen Streit um Butler und den Adorno-Preis alles Notwendige geschrieben. Nachdem er Butler in Bezug auf manche ihrer Positionen zum Nahostkonflikt bestenfalls Naivität bescheinigte, kommt er in Hinblick auf die Preisverleihung zu dem Fazit:

„So bleibt nur Nachsicht: Auch Theodor W. Adorno, nach dem der Preis, der Butler allemal gebührt, benannt ist, äußerte sich nicht immer auf der Höhe seines Niveaus, was an seinen Auslassungen zum Jazz sattsam demonstriert worden ist. Wer aber Judith Butler, ihr Denken zu Israel und zum Judentum dort kennen lernen will, wo es wirklich stark ist, sei auf ihren Aufsatz „Is Judaism Zionism?“ verwiesen, der 2011 in einem Band über „The Power of Religion in the Public Sphere“ publiziert wurde. Dort plädiert sie mit Blick auf die ungebrochene israelische Siedlungspolitik mit Martin Buber und Hannah Arendt realistisch für ein neues Nachdenken über einen föderalen oder binationalen Staat von jüdischen Israelis und Palästinensern.“
http://www.heise.de/tp/blogs/6/152687
Peter Nowak

»nd« von 1959 als Kunstobjekt

Frauen des Vereins Endmoräne stellen ihre Werke im alten Gutshaus Heinersdorf aus

Die Kinder können sich kaum beruhigen. Immer wieder gruppieren sie sich um den Spiegel. Wenn sie hineinblicken, sehen sie einen geschrumpften Körper auf elefantenartig verdickten Beinen. »Die sichtbare und unsichtbare Zeichnung« heißt das Kunstwerk von Masko Iso. Auf den Boden hat sie Schritte markiert, mit denen der Betrachter besonders lustige Effekte im Spiegel erzeugen kann.
Vermögenssteuer

Die Installation gehört zur Ausstellung »LineaRES«, organisiert vom Kunstverein Endmoräne, der jedes Jahr im August an wechselnden Orten Arbeiten von Künstlerinnen zeigt. Am kommenden Wochenende ist die aktuelle Ausstellung noch im alten Gutshaus Heinersdorf bei Steinhövel (Oder-Spree) zu sehen.

Die Künstlerinnen arbeiten mit einfachen Hilfsmitteln, die oft gekonnt arrangiert sind. Schon im Garten des Gutshauses fällt die aus Küchenutensilien in weißer und roter Farbe gebaute Plastik von Erika Stürmer-Alex ins Auge. Von Stürmer-Alex finden sich in den Räumen des maroden Hauses weitere Installationen.

Antje Scholz hat einen roten Wollfaden platziert. Dorothea Neumann will mit heruntergelassenen Tapetenrollen auf die Bedrohung des Gebäudes durch den Hausschwamm hinweisen. Angela Lubic brachte an verschiedenen Fenstern mehrfarbige Klebestreifen an. Auf eine Tafel schrieb Christina Wartenberg mit Kreide immer wieder das Wörtchen »ach«. Das Kunstwerk heißt »lineare Litanei«. Die Veranda kann wegen Schäden des Fußbodens nicht betreten werden. Dort hängte Claudia Busching eine Folie wie einen Vorhang auf, der sich im Zugwind bewegt. Im oberen Stockwerk stellt Erika Postler Kissen aus der Heinersdorfer Kleiderkammer aus. Die in altdeutscher Schrift gehaltenen Aufdrucke zeigen: Die Kissen sind alt. Oft stammen sie von Wohnungsauflösungen nach Sterbefällen. In einem Raum sind Gegenstände aufgereiht, die in alten Schränken im Gutshaus entdeckt wurden. Neben Münzen und allerlei Krimskrams befindet sich dort auch eine Ausgabe der Tageszeitung »neues deutschland« aus dem Jahre 1959.

Die wechselvolle Geschichte des im 17. Jahrhunderts erbauten Gutshauses ist oft indirekt Gegenstand der Kunstwerke. Nach 1945 diente das Haus als Schule, Kinderheim und Landambulatorium. Leider geht keine Arbeit auf die verhängnisvolle Nazizeit ein, als in dem Gutshaus eine SS-Nachrichteneinheit stationiert war.

Gutshaus Heinersdorf, Hauptstraße 36c, am 1. und 2. September von 13 bis 18 Uh

http://www.neues-deutschland.de/artikel/236937.nd-von-1959-als-kunstobjekt.html
Peter Nowak

Der „gute Mensch“ von Köln und die Justiz

Seit 30 Jahren gibt es Kritik an Günter Wallraff, doch eine eingeschworene Fangemeinde wehrt alle Angriffe ab

Der Kölner Enthüllungsjournalist und Buchautor Günter Wallraff ist seit Jahrzehnten immer wieder in den Medien und bisher machte er nie den Eindruck, als werde er die Publicity nicht genießen. Doch die Pressemeldungen der letzten Tage werden Wallraff gar nicht gefallen. Die Kölner Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet. Sie wirft ihm unter anderem Steuerbetrug und Urkundenfälschung vor.

Ein ehemaliger Mitarbeiter hatte sich selbst angezeigt und damit die Ermittlungen ausgelöst. Er soll als eine Art Privatsekretär Wallraffs fungiert und auch in seinem Haus gewohnt haben. Nachdem er sich mit seinem Freund und Arbeitgeber überworfen hat, sinnt er auf Rache. Über die Stichhaltigkeit der Beschuldigungen kann zur Zeit kein Urteil abgegeben werden. Dass aber der gekränkte Mitarbeiter Kontakt mit einer Großbäckerei aufgenommen hat, mit der Wallraff wegen seiner Enthüllungen über die Arbeitsbedingungen im politischen und juristischen Clinch liegt, spricht zumindest dafür, dass es längst nicht mehr nur um eine Einzelaktion geht. Wie immer, wenn sehr persönliche Beziehungen in die Brüche gehen, wird hinterher besonders viel schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit ausgebreitet. Dass sind eigentlich Stoffe, mit denen die Regenbogenpresse und auch das Boulevard ihre Seiten füllen.

Wenn „gute Menschen“ einander gram sind

Doch im Fall Wallraff wurde die Meldung über die Ermittlungen schnell zum Politikum. Schließlich gilt der Publizist bei manchen seiner Anhänger als guter Mensch von Köln und jede Ermittlung und jeder kritische Artikel kann dann nur dazu dienen, dieses Denkmal anzukratzen. Die Ermittlungen gegen Wallraff hat nun in der Süddeutschen Zeitung Hans Leyendecker bekannt gemacht, der in bestimmten Kreisen als Doyen des Enthüllungsjournalismus gilt und ebenfalls Denkmalstatus genießt. Er beschränkte sich nicht darauf, die Ermittlungen gegen seinen Kölner Kollegen zu vermelden, sondern konnte sich Anmerkungen zu dessen Biographie und moralischen Anspruch nicht verkneifen.

Doch manche Wallraff-Freunde sahen in den Leyendecker-Artikel eine Art Denkmalsbeschmutzung und holten zum Gegenschlag aus. Unter der Überschrift „Der Niedermacher“ knöpft sich Wallraffs Freund und Kollege Jürgen Roth Leyendecker vor, dem er vorwirft, auf Kosten eines Kollegen „das Image des Moralapostels zu pflegen“. Dabei ist die Causa Wallraff nur der Aufhänger. Mehr als die Hälfte des Artikels handelt von tatsächlichen oder vermeintlichen Verfehlungen in Leyendeckers journalistischer Laufbahn.

Interessant ist aber, dass Roth offen bekundet, dass es ihm egal ist, ob die Vorwürfe gegen Wallraff stimmen oder nicht. Vielmehr wendet er sich gegen „die gnadenlose Vorverurteilung eines Kollegen, der im Gegensatz zu seinen Kritikern eine politische Gradlinigkeit gezeigt hat, die heute leider nur noch bei wenigen Journalisten zu finden ist“. Hier vermischt Roth juristische Fragen und persönliche Sympathien. Der Artikel versucht krampfhaft, das Image des guten Menschen von Köln zu retten, das schon lange vor den jüngsten Ermittlungen angekratzt war.

Ein gutes Beispiel ist der Versuch Wallraffs, in dem Film „Schwarz auf Weiss“ als Somalier in Deutschland rassistische Diskriminierung aufzuspüren und dabei nach Meinung von Kritikern selber rassistische Stereotype zu verbreiten.

„Mann mit einem Doppelgesicht“

Schon 1987 nannten Levent Sinirlioglu und Taner Aday Wallraff, der damals mit dem Bestseller „Ganz unten“ auf Lesereise war, einen „Mann mit einem Doppelgesicht“, der in der Öffentlichkeit das Bild des selbstlosen Philanthropen pflege, während er im Kreis seiner Getreuen als ein auf seinen Erfolg bedachter Kapitalist agiere. Ebenfalls seit 25 Jahren ist bekannt, dass Wallraff neben dem Glaubwürdigkeits- vor allem ein Schreibproblem hat.

1987 enthüllte Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza, dass er den Wallraff-Bestseller Der Mann, der bei Bild Hans Esser war verfasst hat. Gremliza vergab dem von ihn gestifteten Karl-Kraus-Preis an Wallraff, mit der Auflage, künftig keine Schreibversuche mehr zu unternehmen.

Wallraffs Fanclub sprach von „Schlägen unter die Gürtellinie“ und „der Vernichtung seiner schriftstellerischen Existenz“. Fast mit der gleichen Wortwahl verteidigt Roth den guten Menschen von Köln im Jahr 2012.

http://www.heise.de/tp/blogs/6/152582
Peter Nowak

Gauck und der deutsche Michel

»Freiheit« steht auf einem Schild, unter dem sich drei als deutsche Michel gezeichnete Gestalten herumtollen. Die Karikatur aus dem deutschen Biedermeier des 19. Jahrhunderts auf der Titelseite der ostdeutschen Zeitschrift »telegraph« ist ein Kommentar zum neuen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, der die Freiheitsmetapher besonders häufig benutzt. Dass die telegraph-Redaktion nicht zu seinen Freunden gehört, ist verständlich. Schließlich wurde die 1987 als Sprachrohr der DDR-Umweltbibliothek entstandene Zeitschrift schon im Herbst 1989 zum Forum der DDR-Opposition, die nicht die Wiedervereinigung und den Kapitalismus zum Ziel hatte. Von dieser staatskritischen Prämisse lassen sich die telegraph-Macher auch in ihrer 124. Ausgabe leiten.

Dem neuen Mann im Präsidentenamt widmet der Mitbegründer des Neuen Forums, Klaus Wolfram, eine Glosse. In einem längeren Text untersucht der Historiker Thomas Klein die Umdeutung der Geschichte der DDR-Opposition, an der sich zunehmend auch einstige Protagonisten beteiligen würden. »Ganz offensichtlich soll das Bild dieser sperrigen Opposition möglichst reibungslos in die identitätsstiftenden Prägungen des Selbstbilds der wiedervereinigten ›Berliner Republik‹ eingefügt werden«, analysiert der Mitbegründer der Vereinigten Linken in der DDR. Einen weiteren Ost-West-Vergleich liefert Klein in einem Aufsatz über Berufsverbote in der BRD und die Arbeitsverweigerung gegenüber Oppositionellen in der DDR.

Mehrere Beiträge widmen sich den aktuellen Protesten. Vor übertriebenem Optimismus warnt Bini Adamzcak. Wenn der Kapitalismus an Zustimmung verliert, könnten auch Islamisten und andere Reaktionäre statt emanzipatorischer Gruppen an Einfluss gewinnen, meint sie. Darüber hinaus setzt sich der Musiker Jenz Steiner in seinem Beitrag kritisch mit dem Berlin-Mythos »Arm, aber sexy« auseinander und kontrastiert die Beschreibungen in Trend-Reisebüchern mit den Arbeitsbedingungen in der Gastronomie- und Clubbranche.

In einem längeren Gespräch über die Ostberliner Hausbesetzerbewegung blitzt sogar etwas Optimismus auf. »Besetzen macht heute noch mehr Sinn als damals«, so einer der Gesprächspartner. Wie aktuell diese Einschätzung ist, zeigt die Aktion einer Gruppe Senioren in Berlin-Pankow, die ihre Begegnungsstätte seit mehreren Tagen besetzt halten und damit die Berliner Linie, nach dem eine Besetzung nicht länger als 48 Stunden toleriert wird, erfolgreich knackten. An ihrem Zaun hängt ein Transparent mit dem Kürzel »WBA«, das DDR-Oppositionelle zur erfolgreichen Protestmarke machten. Heute steht das Kürzel für die Parole der »Recht auf Stadt«-Bewegung »Wir bleiben alle«. Zumindest die Pankower Senioren dürften noch wissen, dass mit WBA vor über zwanzig Jahren die Wohnbezirksausschüsse der DDR gemeint waren.

telegraph 124, 76 S., 4,60 €, beziehbar über telegraph.ostbuero.de.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/231576.gauck-und-der-deutsche-michel.html
Peter Nowak

Ost-Besetzer blicken zurück auf die wilden Jahre

Zeitschrift Die 124. Ausgabe des „Telegraph“ widmet sich Hausbesetzungen im Ostteil zur Wendezeit

„Es hat in der DDR kaum einer von uns eine Wohnung über das Wohnungsamt bekommen. Im Herbst 89 dachten wir dann: Zusammen in ein Haus ziehen wäre das Beste.“ So beschreibt „Molti“ aus der Schreinerstraße 47, wie es vor 22 Jahren zur Besetzung des Hauses in Friedrichshain gekommen ist. Er ist einer von zehn SquatterInnen, die in der aktuellen Ausgabe der ostdeutschen Zeitschrift Telegraph einen Rückblick auf die HausbesetzerInnenbewegung am Ende der DDR wagen.

Noch einmal wird an manche der damaligen Debatten erinnert – ob echte SquatterInnen ihre Zimmer abschließen, ob es nicht schon bourgeois ist, ein Zimmer für sich allein zu beanspruchen, oder ob es nicht zum Ansatz „alles Private ist politisch“ auch gehört, die Klotüren auszubauen. Heute wirken diese Debatten seltsam fremd. Eine Position ist indes immer noch umstritten, das zeigen die Gespräche: Soll ein besetztes Haus durch Verhandlungen mit den Behörden gesichert werden? Oder soll man sich lieber räumen lassen?

Weitgehend ausgeblendet bleibt merkwürdigerweise der tiefe Dissens zwischen vielen SquatterInnen mit Ost- und Westbiografie, der ab Frühjahr 1990 sogar zur Gründung getrennter Infoblätter geführt hat. Das Ausblenden dieser Debatte verwundert gerade beim Telegraph, der 1987 als umweltpolitische Blätter von DDR-Oppositionellen gegründet wurde und zwischen 1989 und 1991 als Sprachrohr der linken DDR-Opposition seine größte Verbreitung hatte.

Auch in der aktuellen 124. Ausgabe geht es nicht um nostalgische Rückblicke, sondern um kritische Analyse. So erläutert der langjährige Sprecher des Berliner Wassertisches und Gründer der Initiative Berliner Wasserbürger, Thomas Rudek, Erfolge und Grenzen des Volksbegehrens zur Offenlegung der Teilprivatisierungsverträge der Berliner Wasserbetriebe. Brandaktuell ist der Beitrag der Journalistin Heike Kleffner: Sie beendet ihren Text zu den Verbindungen zwischen der neonazistischen Terrorzelle NSU und dem Verfassungsschutz mit der Frage, wo angesichts der täglichen Enthüllungen die Zivilgesellschaft bleibt. Dazu passt der Aufsatz von Bini Adamczak, die daran erinnert, dass von der Krise des Kapitalismus auch islamistische und andere reaktionäre Bewegungen profitieren.

Peter Nowak

„telegraph“, Nr. 124, 76 Seiten, 4,60 Euro. Bestellung über www.telegraph.ostbuero.de

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2012%2
F07%2F03%2Fa0148&cHash=0a66898988

Pranger gegen Panzerfamilie?

„Wer hat Informationen, die zur Verurteilung dieser Menschen führen?“ – eine Kunstinitiative stellt Eigentümer der Rüstungsfirma Krauss Maffei Wegmann bloß

Ein Banner in den Berliner Kunstwerken, wo noch bis zum Monatsende im Rahmen der Berlin-Biennale Occupy seinen Spagat zwischen Kunst und Politik versucht, sorgt für Aufregung und zeigt Wirkung. „Endlich geben wir dem deutschen Panzerhandel ein Gesicht!“, begründen die Politikkünstler von Zentrum für Politische Schönheit ihre durchaus nicht unumstrittene Outing-Aktion, mit der sie in Form eines Steckbriefs die Familie hinter der Waffenschmiede Krauss Maffei-Wegmann exponiert. Dazu wird im Stil von XY-Ungelöst aufgerufen, alles über die abgebildeten Personen zu melden.

Auch Details der persönlichen Lebensführung gehören ausdrücklich dazu. Auf der Homepage der Kampagne wird dieses Schnüffeln im Privaten damit begründet, dass in Deutschland der Handel mit schweren Kriegsgerät nicht strafbar ist. Also hoffen die Kunstaktivisten, dass ein anderes Vergehen bekannt wird, beispielsweise eine Steuerhinterziehung oder die unangemeldete Beschäftigung einer Hausangestellten, damit sie die Personen doch noch ins Gefängnis bringen können.

„Wer hat Informationen, die zur Verurteilung dieser Menschen führen?“, heißt es auf der Homepage. Die Ähnlichkeit mit Denunziationsaufrufen sticht ins Auge. Das wirft die Frage auf, ob ein politisch unterstützenswertes Ziel – wie die Skandalisierung des Waffenhandels im Allgemeinen und des Waffendeals an Saudi-Arabien – solche Mittel rechtfertigt. Die Beteiligung am Outing scheint nicht besonders hoch. Auf der Kampagnenhomepage zumindest heißt es auf den Steckbriefen der Panzerfamilie, es seien noch keine Angaben eingetroffen. Andererseits finden sich zu einzelnen Mitgliedern teilweise sehr detaillierte biographische Angaben.

Waffenhändler mit Apo-Vergangenheit

So wird der Mozartliebhaber Volkmar von Braunbehrens gefragt, wie er seine Rolle als Miteigentümer einer Waffenschmiede mit seiner Funktion als Vorstandsmitglied der linksliberalen Menschenrechtsorganisation Humanistische Union vereinbaren kann. Braunbehrens Vergangenheit als Aktivist der Studentenbewegung um 1968 wird ebenso aufgeführt, wie seine Strafanzeigen gegen Freiburger Hausbesetzer 2009. Bis vor kurzem gehörte auch Burkhard von Braunbehrens zur Panzerfamilie. Doch vor wenigen Tagen hat er sich öffentlich gegen den Panzerdeal mit Saudi-Arabien gestellt. In einem Interview mit der Tageszeitung erklärte er:

„Ich halte die mögliche Lieferung von Panzern an Saudi-Arabien für eine schlimme Antwort auf die arabische Rebellion. Sie verstößt sowohl gegen die deutschen als auch gegen die europäischen Interessen.“

Ansonsten gibt er sich in dem Interview allerdings sehr wortkarg. Meldungen, dass Burkhard von Braunbehrens nach seiner öffentlichen Distanzierung vom Panzer-Deal mit Saudi-Arabien vom Aufsichtsrat als Mitgesellschafter gefeuert worden sein soll, wollte er weder bestätigten noch dementieren. Erstaunlich zugeknöpft gab sich der Apo-Veteran bei Fragen zu anderen Waffendeals von Krauss-Maffei Wegmann. So wollte er ausdrücklich nicht kritisieren, dass das Unternehmen auch vom Wettrüsten zwischen Griechenland und der Türkei profitiert. In einer Stellungnahme geht der Apo-Veteran allerdings in die Offensive.

„Sie haben in mir eine Person, die die öffentliche Herausforderung annimmt, und die sich und ihr Tun und Lassen im Einklang mit dieser Republik, ihrer Verfassung, ihrer mehrheitlich demokratisch beschlossenen Politik und ihrer Gesetze sieht“, schreibt Braunbehrens, der auf der Internetseite vor einem Panzer aus eigener Produktion steht.

„Ich persönlich bin unbedingt dafür, dass Europa eine eigene Waffenproduktion unterhält, solange es Waffen auf der Welt gibt. Um diese Produktion auf hohem technologischen Niveau aufrecht zu erhalten, ist Export notwendig, weil der heimische und europäische Markt allein zu klein ist.“

In seiner Entgegnung zeigt der durch die Apo sozialisierte von Braunbehrens auch die Problematik einer rein moralisch aufgeladenen Kritik. So kritisiert er, dass in einem Brief die alliierten Bombardierungen deutscher Städte in der Endphase des zweiten Weltkriegs als Argument gegen den Waffenhandel genommen wurden, mit Recht als populistische Argumentation, weil doch gerade der Krieg gegen den NS ein Beispiel für eine historische Situation ist, wo es Schlimmeres als einen Krieg gebe.

http://www.heise.de/tp/blogs/6/152245

Journalisten im Konflikt mit der Justiz

MEDIENinternational: Pressefreiheit in Russland

Der Andrang war groß im Büro von »Reporter ohne Grenzen« in Berlin. Die Organisation hatte am Donnerstag den russischen Journalisten Leonid Nikitinski zu einem Pressegespräch eingeladen. Nikitinski arbeitet seit 2003 als Gerichtsreporter für die kremlkritische Zeitung »Nowaja Gaseta« in Moskau. Der Grund seines Besuchs war eine Drohung gegen seinen Kollegen Sergej Sokolow, der bei der »Nowaja Gaseta« zu Kriminalfällen arbeitet. Dabei hat er sich wohl einige Feinde bei der Justiz gemacht.

Nach Angaben Nikitinskis war der russische Chefermittler Alexander Bastrykin am 4. Juni mit Sergej Sokolow in einen Wald bei Moskau gefahren, hatte ihn dort wegen eines kritischen Artikels beschimpft und gedroht, sollte dem Journalisten etwas zustoßen, werde er selbst die Ermittlungen leiten. Bereits zuvor hatte der Chefermittler den Journalisten bei einem gemeinsamen Pressetermin heftig angegriffen. Sokolow floh jedenfalls sofort ins Ausland. Bastrykin ist als oberster Ermittler auch für die Untersuchungen im Mordfall Anna Politkowskaja verantwortlich. Die Journalistin hatte für die »Nowaja Gaseta« über die Gewalt in Tschetschenien berichtet und wurde vor fünfeinhalb Jahren in Moskau erschossen. Bastrykin habe Politkowskaja gegenüber Sokolow als »Schlampe« bezeichnet, berichtete Nikitinski und wertete den Vorfall als Zeichen dafür, dass »die Presse unter Putin insgesamt wieder stärker kontrolliert werden soll«. Dennoch habe die Sache für ihn eher eine lächerliche als eine bedrohliche Note: »Weder Politkowskaja noch andere Kollegen wurden gewarnt, man hat sie einfach auf offener Straße ermordet.«
Tatsächlich fand die Kontroverse zwischen Bastrykin und der »Nowaja Gaseta« ein – vorläufig – glückliches Ende: Am selben Abend, da Nikitinski in Berlin auftrat, entschuldigte sich der Chefermittler bei Sokolow für seinen unzulässigen »emotionalen Ausbruch«. Der Journalist selbst gab zu, dass seine Vorwürfe gegen Bastrykin möglicherweise zu harsch gewesen seien, und die »Nowaja Gaseta« erklärte den Konflikt für ausgeräumt.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/229850.journalisten-im-konflikt-mit-der-justiz.html

Peter Nowak

Musik: Kai Degenhardt, Näher als sie scheinen

„Auch meine fünfte Platte ist selbstverständlich wieder ein politisches Limpfe singend tagespolitische Themen erörtere», schreibt der Hamburger Liedermacher Kai Degenhardt auf den Waschzettel zu seiner kürzlich veröffentlichten CD Näher als sie scheinen.
Ein singendes Flugblatt war Kai Degenhardt genau sowie wenig wie sein im letzten Jahr verstorbener Vater, der als «Väterchen Franz» seit den 60er Jahren Maßstäbe im Bereich der deutschsprachigen Chansons gesetzt hat. Kai Degenhardt steht in dieser Tradition, und doch ist ihm das Kunststück gelungen, einen unverwechselbaren Stil zu kreieren. Es ist die Härte in Text und Musik, mit der sich der Sohn eindeutig von den Arbeiten des Vaters unterscheidet. Damit zeigt er aber, wie nah er an der Realität der heutigen Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen dran ist. Während der alte Degenhardt in seinen Chansons noch zur Feier am «Tisch unter den Pflaumenbäumen» einladen konnte, lässt Kai Degenhardt im Song «Wendehammer-Boheme» ein dickes Imbiss-Mädchen mit «Kleinkriminellen in Adidas» und «Kifferkurt mit Lederhut» ihr Bier trinken. Für Romantik ist da ebenso wenig Platz wie für kuschelige Sitzecken. Konnte der Vater mit Rudi Schulte noch das Bild eines linken Gewerkschaftsaktivisten zeichnen, der seinen Weg geht, steht sich bei Kai im Song «Vom Machen und Überlegen» «Verdi-Willi mit Trillerpfeife und Flugblatt mit Tausenden seiner Kollegen die Füße wieder platt». Verdi-Willi ist genau so ratlos wie die Jungautome «Mari mit nem Molli in der Hand». Doch Degenhardt wendet die scheinbar ausweglose Szenerie mit dem letzten Satz: «Wo kommen wir zusammen und überlegen uns noch mal».
Nein, wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie. Diese aus Wissen und Verzweiflung gewonnene Einsicht spricht auch aus den historischen Songs, mit denen Kai Degenhardt am Direktesten an Songs aus dem Repertoire seines Vaters anknüpft. Der Heizer Franz, der im Chanson «Herbst 1918» auf dem kaiserlichen Kriegsschiff das Feuer löschte und den Startschuss zur Revolution gab, erhielt schon Wochen später von kaisertreuen Freikorps einen Schuss in den Arm. «Und am Horizont drohte schon die braune Brut», heißt es kurz und prägnant am Ende. Im letzten, mehr als 18 Minuten dauernden Song werden zahlreiche 68er-Mythen kurz und prägnant dekonstruiert. «Sich immer wieder neu erfinden, wie bei Madonna, Apple oder Adidas», bringt Degenhardt eine ganze Philosophie mit einem Satz auf den Punkt. Aus dem Alltag gegriffen ist hier nicht nur eine hübsche Floskel. Die klappenden Mülltonnendeckel und das Katzengemieze stammen von Alltagsgeräuschen, die Kai Degenhardt mit einem Mp3-Player in den letzten Jahren in seiner Umgebung aufgenommen und dann am Rechner verfremdet hat. Degenhardt zeigt auch mit seiner neuesten Platte, dass man ein gnadenloser Realist sein kann und gerade deshalb den Traum von einer vernünftiger eingerichteten Welt nicht aufgeben muss.
Zu bestellen bei: Plattenbau, Hohe Weide 41, 20253 Hamburg, Tel.: 040/4220417, info@plattenbau.de, Plattenbau, 13 Euro
Tourdaten: www.plattenbau.de.

Kai Degenhardt


Peter Nowak

So hart wie die Realität – die neue CD von Kai Degenhardt

»Auch meine fünfte Platte ist selbstverständlich wieder ein politisches Liedermacher-Album – was sonst? Allerdings nicht in dem Sinne, dass ich zur Klampfe singend tagespolitische Themen erörtere«, schreibt der Hamburger Liedermacher Kai Degenhardt auf den Waschzettel zu seiner kürzlich veröffentlichten CD »näher als sie scheinen«. Ein singendes Flugblatt war und ist Kai genau so wenig wie sein im letzten Jahr verstorbener Vater Franz Josef Degenhardt, der als »Väterchen Franz« seit den 60er Jahren Maßstäbe im Bereich der deutschsprachigen Chansons gesetzt hat.

Kai Degenhardt steht in dieser Tradition und doch ist ihm das Kunststück gelungen, einen unverwechselbaren Stil zu kreieren. Es ist die Härte in Text und Musik, mit der sich der Sohn eindeutig von den Arbeiten des Vaters unterscheidet. Damit zeigt er aber, wie nah er an der Realität der heutigen Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen dran ist.

Während der alte Degenhardt in seinen Chansons noch zur Feier am »Tisch unter den Pflaumenbäumen« einladen konnte, lässt Kai Degenhardt in »Wendehammer-Bohème« »ein dickes Imbiss-Mädchen mit »Kleinkrimiellen in Adidas« und »Kifferkurt mit Lederhut« ihr Bier trinken. Für Romantik ist da ebenso wenig Platz wie für kuschelige Sitzecken. Konnte der Vater mit Rudi Schulte noch das Bild eines linken Gewerkschaftsaktivisten zeichnen, der seinen Weg geht, steht sich bei Kai im Song »Vom Machen und Überlegen« »Verdi-Willi mit Trillerpfeife und Flugblatt mit Tausenden seiner Kollegen die Füße wieder platt«. Verdi-Willi ist genau so ratlos wie die Jungautome »Mari mit nem Molli in der Hand«. Doch Degenhardt wendet die scheinbar ausweglose Szenerie mit dem letzten Satz: »Wo kommen wir zusammen und überlegen uns noch mal?«

Nein, wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie. Diese aus Wissen und Verzweiflung gewonnene Einsicht spricht auch aus den historischen Songs, mit denen Kai Degenhardt am direktesten an Songs aus dem Repertoire seines Vaters anknüpft. Der Heizer Franz, der in dem Chanson »Herbst 1918« auf dem kaiserlichen Kriegsschiff das Feuer löschte und den Startschuss zur Revolution gab, erhielt schon Wochen später von kaisertreuen Freikorps einen Schuss in den Arm. »Und am Horizont drohte schon die braune Brut«, heißt es kurz und prägnant am Ende.

Im letzten, mehr als 18 Minuten dauerenden Song werden zahlreiche 68er-Mythen dekonstruiert. »Sich immer wieder neu erfinden, wie bei Madonna, Apple oder Adidas«, bringt Degenhardt eine ganze Philosophie mit einem Satz auf den Punkt. Aus dem Alltag gegriffen ist hier nicht nur eine hübsche Floskel. Die klappenden Mülltonnendeckel und das Katzengemieze stammen von Alltagsgeräuschen, die Kai Degenhardt mit einem Mp3-Player in den letzten Jahren in seiner Umgebung aufgenommen und dann am Rechner verfremdet hat.

Degenhardt zeigt auch mit seiner neuesten Platte, dass man ein gnadenloser Realist sein kann und gerade deshalb den Traum von einer vernünftiger eingerichteten Welt nicht aufgeben muss.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/224739.plattenbau.html

Peter Nowak

Kai Degenhardt: näher als sie scheinen (Plattenbau)

Parteilich für die Leidenden

Zum 30. Todestag des langsam wieder entdeckten Sozialpsychologen und APO-Aktivisten Peter Brückner

Es gibt in diesem Jahr gleich zwei Gründe, an den Sozialpsychologen Peter Brückner zu erinnern. Der linke Wissenschaftler starb vor 30 Jahren, am 11. April 1982, mit 59 an Herzversagen. Am 12. Mai 2012 wäre er 90 Jahre alt geworden.

Brückner, der in Hannover lehrte und die 68er Jugendrevolte unterstützte, war in der Bundesrepublik eine Art »Symbolfigur für den linken Professor«. Bis kurz vor seinem Tod war er wegen seines politischen Engagements politischen Drucks ausgesetzt. Nicht nur die Springerpresse und konservative Politiker sahen in ihm einen Linken, der sich unter dem »Schutz« des Professorenstatus staatsfeindlich betätige. Bis weit in das liberale und sozialdemokratische Lager wurde Brückner als »Radikaler im öffentlichen Dienst« geschmäht. Gleich zweimal wurde Brückner als Professor vom Dienst suspendiert und seine Bezüge gekürzt. Die Universität verhängte sogar ein Hausverbot gegen ihn.

Es war die Zeit des sogenannten deutschen Herbstes, als im Zuge der Terrorismushysterie kritische Forschung und Lehre ins Visier der Staatsorgane gerieten. Wie vielen Linken wurde Brückner Unterstützung der RAF vorgeworfen. Distanzierung von jeglichem subversiven Gedankengut war angesagt. Doch Brückner lehnte das ab. Er verteidigte öffentlich den umstrittenen Buback-«Nachruf« eines anonymen Göttinger Studenten, bekannt als »Mescalero-Affäre«. Wegen dieser Schrift fanden damals Razzien, Hausdurchsuchungen und Ermittlungsverfahren statt. Intellektuelle, die mit der Herausgabe der Schrift ein Zeichen gegen die Repression setzen wollten, wurden eingeschüchtert und zogen ihre Unterschrift zurück. Brückner stand dazu.

Der Mann, der sich selbst als »antiautoritärer Sozialist« bezeichnete, war 1922 als Sohn einer jüdischen Künstlerin und eines liberalen Demokraten in Dresden geboren worden. Die Mutter und der Halbbruder konnten sich im Nationalsozialismus durch Emigration retten, der Vater hangelte sich von einem schlecht bezahlten Job zum nächsten. Diese Familiensituation hat ihn politisch geprägt. »Ein so gebildetes Kind wird durch seine sozialen Erfahrungen auf dem Spielplatz, im Kindergarten und in der Schule zur Parteilichkeit genötigt: für die je Leidenden und gegen die Gewalt, die ihnen rücksichtslos angetan wird«, schrieb Brückner zwei Jahre vor seinem Tod in dem Aufsatz »Über linke Moral«.

Parteinahme für die Leidenden, das war auch das Credo seiner wissenschaftlichen und politischen Arbeit. Brückner gehörte zu den jungen linken Intellektuellen, die mit viel Hoffnung und Engagement nach 1945 für einen demokratischen Neuanfang eintraten. Als KPD-Mitglied beteiligte er sich am Neuaufbau der Leipziger Universität. Abgestoßen von autoritären Parteistrukturen ging er 1949 in den Westen. Bei aller Kritik, die er in vielen seiner Schriften am Realsozialismus übte, ließ er sich jedoch nicht zum Kronzeugen gegen die DDR machen. Brückner, der 1967 einen Lehrstuhl für Psychologie in Hannover annahm, wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt der außerparlamentarischen Bewegung. »Was heißt Politisierung der Wissenschaft und was kann sie für die Sozialwissenschaften heißen« war der Titel seiner 1972 veröffentlichten, sehr populären Schrift. »Wie kein anderer machte er sich zum Interpreten linker Erneuerung und wie kein anderer beobachtete und analysierte er ihren widersprüchlichen und langsamen Zerfall«, beschrieb der Historiker Christoph Jünke das Verhältnis Brückners zur antiautoritären Revolte der späten 60er Jahre, die weit über das studentische Milieu hinausging.

Wie viele linke Intellektuelle dieser Zeit war auch Brückner lange vergessen, bis er in den letzten Jahren wieder entdeckt wurde. So gab der Sozialpsychologe Klaus Weber 2004 Brückners Buch »Sozialpsychologie des Kapitalismus« neu heraus. Im Vorwort schrieb Weber, die Neuauflage solle Brückner und dessen Werk »dem Vergessen entreißen, für diejenigen, die immer die Befreiung der Menschen aus unmenschlichen Verhältnissen sich zum Ziel setzen«. Anfang März dieses Jahres ging die Neue Gesellschaft für Psychologie bei einem Kongress in Berlin der Frage nach, was an Brückners Erkenntnissen heute noch aktuell ist. An der Tagung nahmen nicht nur Wissenschaftler, sondern auch linke Aktivisten teil. Der Berliner Psychologe Klaus-Jürgen Bruder wies dabei darauf hin, dass sich Brückner intensiv mit den Reaktionen der Menschen auf Krisen auseinandergesetzt habe. Demnach nimmt in Krisenzeiten die Loyalität der Menschen mit dem Staat zu, autoritäre Krisenlösungsmodelle stoßen dagegen auf mehr Zustimmung. Für das nächste Jahr ist ein weiterer Kongress geplant.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/223691.parteilich-fuer-die-leidenden.html

Peter Nowak

Aufstand der Amateure

Dokumentarfilm zeigt die wachsende Anti-AKW-Bewegung in Japan
Der Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Fukushima war für Julia Leser und Clarissa Seidel Anlass für einen Dokumentarfilm über die noch recht kleine, aber stetig wachsende japanische Opposition gegen die Atomwirtschaft.
Der Jahrestag des Atomunfalls von Fukushima hat wieder das Interesse auf die Situation der Menschen in Japan gerichtet, die mit den Folgen leben müssen. Doch das Bild von den disziplinierten Menschen, die auch nach der Katastrophe brav Anweisungen folgen, bekommt Risse, wenn man den Film »Radioactivists« sieht, der pünktlich zum Jahrestag in verschiedenen deutschen Programmkinos anläuft. Der Film wirft einen Blick auf die Protestszene, die sich nach der Katastrophe in Japan gebildet hat.

Überwiegend junge Menschen aus dem subkulturellen Milieu, die sich in Secondhandläden ihren Lebensunterhalt verdienten und sich als »Aufstand der Amateure« begreifen, mobilisierten einen Monat nach dem Super-GAU zur ersten Anti-AKW-Demonstration in Tokio. Mit rund 15 000 Menschen war es nicht nur die größte Aktion von Umweltschützern, sondern die größte politische Aktion seit den 1960ern in Japan überhaupt. Manches daran erinnert im Film an die westdeutschen Proteste nach Tschernobyl. Denn auch in Japan dominiert die Angst vor den Folgen.

Der Film zeigt aber auch, wie die Protestaktionen die beteiligten Menschen aus der Lähmung nach der Katastrophe befreiten und ihnen einen gesellschaftskritischen Ansatz eröffnete. Auch bei der zweiten Demonstration blieb die Aufbruchstimmung erhalten. Allerdings machte die Polizei da bereits mit kleinlichen Auflagen deutlich, dass die Staatsmacht wieder Fuß gefasst hatte.

Neben der Organisation von Demonstrationen mobilisierte der »Aufstand der Amateure« zu Solidaritätsreisen in die Regionen in der Nähe der havarierten Reaktoren. Damit sollten die dort lebenden Menschen psychologisch und durch Spenden unterstützt werden. Dadurch sind Menschen aus den Großstädten das erste Mal in diese abgelegenen japanischen Regionen gereist und haben ein anderes Land kennengelernt.

Die beiden Regisseurinnen wurden beim Aufenthalt in Japan vom GAU überrascht. Doch es ist ihnen gut gelungen, ein etwas anderes Bild vom Japan nach dem Reaktorunfall zu entwerfen. Im Film kommen die Aktivisten auch außerhalb von Pressekonferenzen zu Wort. Schon zwei Monate nach dem Unglück wurden Befürchtungen laut, dass der Protest wieder einschlafen könnte. Die Lage hatte sich stabilisiert, die Zahl der Zugriffe auf die Webseiten der Initiativen sank wieder und die Proteste stagnierten. Der Film endet im Sommer 2011. Es wäre durchaus interessant zu erfahren, wie sich die Anti-Atom-Bewegung seither entwickelt hat.

Radioactivists – Protest in Japan since Fukushima, Regie: Julia Leser und Clarissa Seidel, Deutschland/Japan 2011, 72 min.

Der Film läuft am 18.3 um 18.15 Uhr in Anwesenheit der Regisseurinnen im Lichtblick-Kino in der Berliner Kastanienallee 77

http://www.neues-deutschland.de/artikel/220958.aufstand-der-amateure.html
Peter Nowak

Wie erträgt das Individuum die Zumutungen des kapitalistischen Alltags?

Ein Kongress in Berlin suchte Antworten bei dem vor 30 Jahren verstorbenen Sozialpsychologen Peter Brückner

Was hat der seit der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland zunehmend akzeptierte Fußballpatriotismus, der sich im extensiven Schwenken von schwarz-rot-goldenen Winkelementen äußert, mit der Entsicherung in der Arbeitswelt zu tun? Die Psychologin Dagmar Schediwy sieht darin Ausgleichshandlungen des Individuums im flexiblen Kapitalismus. „Wenn man jederzeit seinen Job verlieren kann, bietet der Rückgriff auf die Nation scheinbar die letzte Sicherheit“, erklärte sie am Samstag mit Verweis auf die Kritische Theorie in ihrem Vortrag im Seminarzentrum der Freien Universität Berlin. Dort hatte in den letzten vier Tagen die Neue Gesellschaft für Psychologie zu dem Kongress „“Sozialpsychologie des Kapitalismus – heute“ eingeladen. Der Titel knüpft an ein 1981 erschienenes Buch des Hannoveraner Sozialpsychologen Peter Brückner an. Sein neunzigster Geburts- und dreißigster Todestag in diesem Jahr nutzten die Kongressorganisatoren, um an den lange vergessenen Wissenschaftler zu erinnern. Dabei machten die Referenten, überwiegend Psychologen, Sozialpädagogen oder Soziologen, die erstaunliche Aktualität seiner Schriften deutlich.

So wies der Berliner Psychologe Klaus-Jürgen Bruder darauf hin, dass sich Brückner sehr intensiv mit dem Phänomen auseinandergesetzt hat, dass in großen Teilen der Gesellschaft in Krisenzeiten die Loyalität mit dem Staat zunimmt und autoritäre Krisenlösungsmodelle auf mehr Zustimmung stoßen. Für Bruder könnten hier wichtige theoretische Erklärungsmuster für die Apathie weiter Teile der Bevölkerung trotz „der klaffenden Diskrepanz zwischen staatlichem Handeln, rücksichtloser Durchsetzung partikularer Interessen und den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung“ heute liegen. Warum Erwerbslose oder prekär Beschäftigte lieber auf die „Pleitegriechen“ schimpfen, statt sich mit andere Betroffenen für die Verbesserung ihrer Situation zusammenschließen, könnte mit Brückners Forschungen über die Massenloyalität als Ergänzung zur Machtbasis des Staates tatsächlich besser erklärt werden als mit gängigen Manipulationsthesen.

Die Sozialpsychologin Claudia Barth widmete sich in ihren Vortrag über Esoterik als „Ecstasy des Bürgers“ einer weiteren, oft verkürzt als Weltflucht interpretierten Anpassungsleistung des Individuums. „Ziel esoterischer Selbsttherapeutisierung ist es, Leiden an Kälte und Entfremdung zu beenden, innere Widerstände abzubauen, aktuell gefragte Kompetenzen aufzubauen, um im Hier und Jetzt erfolgreich zu sein“, so ihr Befund.

Politische Rehabilitation

Der Kongress könnte auch der Auftakt für eine Rehabilitation des politischen Aktivisten Peter Brückners sein. Der wichtige theoretische Impulsgeber des politischen Aufbruchs um 1968 wurde in den 70er Jahren zweimal von seiner Professur suspendiert, unter anderem, weil er sich nicht von der Mitherausgabe des damals vieldiskutierten Mescalero-Aufrufs distanzierte, der sich mit dem RAF-Anschlag auf dem Generalbundesanwalt Siegfried Buback aus der Position eines damaligen Sponti-Linken auseinandersetzte. Eine bundesweite Solidaritätsbewegung für die Wiedereinstellung Brückners war auch ein Signal gegen die berüchtigte bleierne Zeit der 70er Jahre, als der Staat im Namen des Kampfes gegen die Rote Armee Fraktion auch unangepasste Linke ins Visier nahm.

Wenige Monate nach einem siegreichen Rechtsstreit starb Brückner durch die jahrelangen Auseinandersetzungen zermürbt an Herzversagen. Wäre es 30 Jahre später nicht an der Zeit, am Beispiel Brückners deutlich zu machen, dass es politische Verfolgung eben durchaus nicht nur in der DDR gab? Diese auf dem Kongress gestellte Frage blieb vorerst unbeantwortet.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151550
Peter Nowak

Innenansichten des Systems

Ein Wochenende lang wurde an der FU über die „Sozialpsychologie des Kapitalismus“ diskutiert. von Peter Nowak

Geschäftiges Treiben herrschte am Wochenende im Seminarzentrum der Freien Universität: PsychologInnen aus Deutschland und Österreich beschäftigten sich auf Einladung der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NfG) mit der Rolle der Psychologie im Kapitalismus. Die Themen der Vorträge waren denkbar verschieden: Mehrere ReferentInnen widmeten sich den Veränderungen des Fußballs im postindustriellen Kapitalismus, andere beschäftigten sich mit der Occupy-Bewegung oder der Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Wissenschaft.

Der Sozialpsychologe Gerd Dembowski untersuchte am Beispiel der Ultras die Veränderungen in der Fankultur in einer Zeit, in der Vereinsidentität durch ständige Wechsel von Trainern und Stadionnamen brüchig geworden ist. Die Psychologin Dagmar Schediwy sieht in dem spätestens seit der Fußball-WM 2006 virulenten Fußballpatriotismus einen Ausgleich der Individuen für die wachsenden Anforderungen im Kapitalismus. „Wenn man jederzeit seinen Job verlieren kann, bietet der Rückgriff auf die Nation scheinbar die letzte Sicherheit.“

Für eine stärkere Kooperation von kritischer Wissenschaft und Zivilgesellschaft plädierte der Politologe Thomas Rudeck, der das im letzten Jahr erfolgreiche Volksbegehren zur Offenlegung der Wasserverträge mitverfasst hat. In solchen Referenden sieht er einen Hebel für eine Veränderung der Gesellschaft, erntete damit beim Publikum aber auch Widerspruch.

Gleich mehrere AGs beschäftigten sich mit der Zukunft kritischer Wissenschaft. Dafür stand in den 80er Jahren auch der Hannoveraner Sozialpsychologe Peter Brückner, der in diesem Jahr 90 Jahre geworden wäre. „Seine Befreiungspsychologie war eine radikale Absage an die kapitalistische Gesellschaft“, sagte der Psychologe Klaus Weber.

In der Wiederentdeckung des linken Wissenschaftlers Brückner bestand ein großes Verdienst des Kongresses. Dabei steht eine politische Rehabilitierung des BRD-Dissidenten noch aus. Weil sich Brückner nicht von der Mitherausgabe des Buback-Aufrufs distanzierte, einem Text, in dem Buback kritisiert wurde, betrieb die niedersächsische Ministerialbürokratie seine Suspendierung.
http://www.taz.de/Kongress-an-der-Freien-Uni/!88935/
Peter Nowak

Erinnerung an die Folternacht von Genua

Der Überfall von 300 schwerbewaffneten Polizisten auf in der Diaz-Schule von Genua schlafende Globalisierungskritiker am 21. Juli 2001 sorgte weltweit für Entsetzen. Jetzt hat der italienische Regisseur Carlo Bachschmidt sieben Menschen porträtiert, die damals verletzt wurden. Sie berichten über ihre Probleme, nach den Foltererlebnissen in den Alltag zurückfinden, von Traumatisierungen, aber auch von dem Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Der Dokumentarfilm holt eine Nacht zurück ins Bewusstsein, als mitten in einem Rechtsstaat alle Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden. Der Film kann für Veranstaltungen ausgeliehen werden (gipfelsoli@nadir.org).

http://www.neues-deutschland.de/artikel/218546.bewegungsmelder.html

Peter Nowak