Arbeitskampf per App

Das Symbol der aufgehenden Sonne stand Anfang der achtziger Jahre für den Kampf um die 35-Stundenwoche. Die Kampagne für Arbeitszeitverkürzung wurde über die DGB-Gewerkschaften hinaus auch von Jugendverbänden, Künstlern und Gruppen der außer­parlamentarischen Linken jener Zeit unterstützt. Das Symbol erinnert an eine Zeit, als Reformen noch eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen bedeuteten und es die weit verbreitete Überzeugung gab, dass der technische Fortschritt dazu beitragen könne.

Dieser Tage ist von Reformen hingegen nicht viel zu erwarten. So vage und unbestimmt die Begriffe aus dem Bereich »Arbeit 4.0« sind, so verbreitet ist auch die Überzeugung, dass intelligente Maschinen eine große Zahl der derzeitigen Arbeitsplätze überflüssig machen

werden und dass immer mehr Menschen deshalb immer öfter immer schlechter bezahlte Jobs annehmen müssen, um zu überleben. Nun hat das von Andrea Nahles (SPD) geleitete ­Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein »Weißbuch Arbeiten 4.0« vorgelegt, das erste Ergebnisse einer Diskussion mit DGB-Gewerkschaftern, den Industrie- und Sozialverbänden und Wissenschaftlern zusammenfasst. »Wie können wir das Leitbild der ›guten Arbeit‹ auch im digitalen und gesellschaftlichen Wandel erhalten und sogar stärken?« lautet eine zentrale Frage. Mit dem Schlagwort »Arbeitsschutz 4.0« sollen die oft mit gewerkschaftlichen Kämpfen durchgesetzten Schutzbestimmungen für die Lohnabhängigen nicht nur »an den digitalen, sondern auch an den zunehmend spürbaren demographischen Wandel« angepasst werden. Die Kapitalvertreter haben schon lange die Gelegenheit erkannt, mit Verweis auf die Unwägbarkeiten der »Industrie 4.0« ihre Vorstellungen einer von sozialen Regulierungen befreiten Arbeitswelt zu propagieren. So warnte die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) in einem Papier, dass jede denkbare Regulierung »eine erfolgreiche Digitalisierung erschweren« könne. Daher müssten bestehende Regulierungen bei den Mitbestimmungs-, Arbeits- und Sozialrechten auf den Prüfstand gestellt werden. In Nahles’ »Weißbuch« wird nun versucht, Kompromisse für die divergierenden Interessen von Kapital und Arbeit zu finden. So werden ­Experimente zur Lockerung der Arbeitszeitregelungen ins Gespräch gebracht, die die Arbeitgeberseite gerne nutzen wird. Dabei kann sie auf die berechtigte Aversion gegen fordistische Managementmethoden zurückgreifen.

»Stechuhr und Kernarbeitszeit haben in vielen Jobs längst ausgedient, die ­Erwerbstätigen möchten zunehmend flexibel und selbstbestimmt arbeiten«, wird der Hauptgeschäftsführer von Bitkom, Bernhard Rohleder, in einer Pressemitteilung mit der Überschrift »Arbeit 4.0: Flexibel, selbstbestimmt, effizient« zitiert. Dort wird die im Weißbuch in Aussicht gestellte Flexibilisierung der Arbeitsgesetze begrüßt. Abweichungen von geltenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes seien allerdings noch an zu enge Voraus­setzungen gebunden. Nach den Vorstellungen von Bitkom soll die Digitalwirtschaft »grundsätzlich von den ­Einschränkungen bei Arbeitnehmer­überlassung und Werkverträgen aus­genommen werden« (siehe Interview S. 5). Ähnliche Forderungen kommen auch von den Interessenvertretern anderer Branchen, die von der Digitalisierung betroffen sind. Die Verunsicherung vieler Beschäftigter über die Zukunft ihrer Arbeitsplätze kommt den Kapitalinteressen ebenso entgegen wie eine Kritik an diesen Entwicklungen, die noch immer den Eindruck erweckt, als sei in der Ära der fordistischen Arbeitsverhältnisse alles besser gewesen.

So ist es paradox, dass die Vertreter der Industrie Stechuhren als abschreckendes Beispiel des Fordismus anführen. Schließlich gehörten diese seit ­jeher zu den besonders verhassten Methoden der Kontrolle der Beschäftigten. Wer die Stechuhr eine Minute zu spät passierte, hatte mit Lohnabzug zu rechnen, kam die Verspätung öfter vor, drohten Abmahnungen bis zur Kündigung. In der flexiblen Welt der 2Arbeit 4.0« haben sich die Kontrollmethoden der Arbeitskraft nicht etwa ­gelockert, sondern eher verschärft. Heutzutage ist es technisch möglich, die letzten Nischen, die in der fordistischen Fabrikgesellschaft noch nicht erfasst werden konnten, zu überwachen. So können Gespräche der Beschäftigten von Callcentern ständig mitgehört werden. Dauern die Pausen zwischen den Gesprächen zu lange, wird abgemahnt.

Zu den ersten Leidtragenden der Flexibilisierung gehören Mitarbeiter der boomenden Branche von Lieferdiensten wie Deliveroo und Foodora. Dahinter stehen Start-up-Unternehmen, die gerne mit dem Image der Unabhängigkeit und Flexibilität der Beschäftigten werben. Auf einer Veranstaltung des Bildungsvereins »Helle Panke« Anfang Dezember in Berlin stellte die Journalistin Nina Scholz, die sich mit den Arbeitsbedingungen bei Lieferdiensten beschäftigt, dieses Image in Frage. »Unabhängig sind die Beschäftigten lediglich von sozialen Regelungen. Die Arbeit verschwindet nicht, wie häufig behauptet, sie wird nur immer schlechter bezahlt.« Auch Hendrik Lehmann, der für Tagesspiegel Digital Present zu den Lieferdiensten recherchiert hat, machte deutlich, dass die Unabhängigkeit schon bei der Wahl der Bekleidung der Beschäftigten endet. So sollen Arbeitnehmer in Berlin bis zu 150 Euro für eine Weste mit dem Emblem ihrer Firma aus eigener Tasche bezahlen. Fahrern, die sich weigerten, Geld zu zahlen, um mit dem Namen eines Unternehmens zu werben, bei dem sie gar nicht angestellt sind, sei mit der Sperrung ihrer App gedroht worden, was den Verlust des Arbeitsplatzes nach sich zöge. Kontrolliert werden die Beschäftigten der Lieferdienste auf ihrer Fahrt ständig. Wenn sie sich nicht an die vorgegebene Route halten, gibt es Nachfragen und im ­Wiederholungsfall Sanktionen.

Auf der Veranstaltung, auf der viele Beschäftigte von Lieferdiensten anwesend waren, wurde schließlich die Frage nach der »Gewerkschaft 4.0« gestellt. Damit ist eine Interessenvertretung gemeint, in der sich die Beschäftigten ­organisieren können, ohne erst den Weg durch die DGB-Bürokratie gehen zu müssen. Die Frage richtete sich an Detlef Conrad, Sekretär von Verdi, der auf die Arbeitskämpfe im Einzelhandel und bei der Post verwies, bei denen seine Gewerkschaft mit Flashmobs und Apps experimentiert habe. Ob Verdi damit bereits die Anforderungen ­einer 2Gewerkschaft 4.0« erfüllt, ist fraglich. Ohnehin ist in Deutschland nur jeder siebte Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit einem Organisationsgrad von 15 Prozent nur im hinteren Mittelfeld. Und gerade bei der Organisierung prekär Beschäftigter mangelt es den etablierten Gewerkschaften an tragfähigen Konzepten.

In Großbritannien und Italien gab es hingegen bereits Arbeitskämpfe von Beschäftigten bei Lieferdiensten. Dabei wurde deutlich, dass diese Beschäftigten sehr wohl Durchsetzungsmacht besitzen, weil sie das Firmenimage beschädigen und das Versprechen von schneller Lieferung konterkarieren können. Gewerkschaftliche Selbstorganisation wäre auch in anderen Branchen nötig, um der Flexiblisierung der Arbeitswelt im Sinne des Kapitals Grenzen zu setzen. »Wer gute Arbeit für alle erreichen will, muss auch bereit sein, reale Konflikte auszutragen. Nicht nur in Wahlkampfreden und ­Parlamenten, sondern in Betrieben, vor Gerichten und auf der Straße«, erinnert der Publizist Wolfgang Michal an einen Grundsatz der Arbeiterbewegung aus einer Zeit, als noch unter dem Logo der aufgehenden Sonne für Arbeitszeitverkürzung gekämpft wurde. Dieser Kampf wäre heute, da Maschinen und Roboter angeblich die Menschen ersetzen, aktueller denn je.

http://jungle-world.com/artikel/2016/50/55391.html

Peter Nowak

Tee und andere Drogen

Vor Kriminalisierung wird gewarnt.

Die Null-Toleranz-Politik gegenüber Drogen und Stoffen, die man dafür hält, hat eine lange Tradition. Oft gibt es politische Gründe.

1777 wurde in Preußen Tee zur Droge erklärt und verboten. Das Getränk wurde damals gerade bekannt und der Staat wollte mit dem Verbot verhindern, dass die Leute viele Stunden untätig bei einem Glas Tee herumsitzen statt zu arbeiten. Der Berliner Historiker Jan-Henrik Friedrichs erzählte diese Anekdote um zu verdeutlichen, dass gesellschaftliche und politische Gründe bei der Frage maßgeblich sind, welche Drogen wann illegal sind. Er war Teilnehmer einer Diskussionsveranstaltung beim Verein Helle Panke, in der es unter dem Titel »Mach meinen Görli nicht an« um den Umgang mit aktuellen Drogen geht.

Der Görlitzer Park in Kreuzberg ist seit Monaten in der Diskussion. Seit 31. März gilt dort die Null-Toleranz-Regel. Selbst kleinste Mengen Cannabis können zu einer Anzeige führen. Die Kritik an dieser Maßnahme, mit der sich Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) als Law-and-Order-Mann profilieren will, ist groß. Der Jurist Wolfgang Neskovic bezeichnete die Null-Toleranz-Linie als unvereinbar mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts.

Auch auf der Podiumsdiskussion wollte die Politik von Henkel niemand verteidigen. »Kriminalisierung der Drogennutzer und -verkäufer ist keine Lösung für gesellschaftliche Probleme«, sagte der Vorsitzende der Berliner Linkspartei, Klaus Lederer. Während in mehreren Bundesstaaten der USA, aber auch in Portugal von der Politik erkannt worden sei, dass der Krieg gegen die Drogen gescheitert ist und die Entkriminalisierung an Zustimmung gewinnt, setzten Berlins Konservative weiter auf alte, gescheiterte Konzepte, so Lederer. Dabei sei der Görlitzer Park für Henkel eine lange gesuchte Gelegenheit, mit der liberalen Drogenpolitik der letzten Jahre zu brechen.

Auch Astrid Leicht von der Organisation Fixpunkt, die Drogenkonsumenten berät und unterstützt, lehnte eine Kriminalisierung entschieden ab. Sie warnte allerdings auch vor einer Romantisierung der Drogenverkäuferszene. Dort herrsche Kapitalismus pur. Regulierung sei im Interesse der Konsumenten dringend notwendig.

Katharina Oguntoye vom Interkulturellen Netzwerk Joliba beschäftigte sich mit der Frage, warum der Drogenhandel im Görlitzer Park auf ein derart starkes mediales Interesse stößt, obwohl es in Berlin viele andere Orte gibt, in denen solche Stoffe ebenfalls verkauft werden. Sie sieht eine Aversion gegen Menschen aus Afrika als einen Grund. Joliba hat mehrere Monate den Kontakt mit den Drogenverkäufern gesucht. Postkarten wurden gedruckt und verteilt. »Wir haben gesehen, dass es hier nicht um eine anonyme Masse, sondern um Menschen mit ihren ganz persönlichen Schicksalen geht.« Viele würden gerne eine legale Arbeit verrichten, wenn sie die Möglichkeit hätten.

Manche im Publikum brachten den Hang zur null Toleranz gegenüber Drogen mit dem Wandel der Bevölkerungsstruktur in Kreuzberg in Verbindung. Der gut verdienende Mittelstand wolle weder einkommensarme Menschen noch Drogenkonsumenten in seiner Nähe dulden.

Kreuzberger Stadtteilinitiativen protestieren regelmäßig gegen die Kriminalisierung von Flüchtlingen. »Nicht die Drogen, sondern Vertreibung und Rassismus sind das Problem«, sagen sie.

Neues Deutschland Berlin-Ausgabe vom Donnerstag, 30. April 2015, Seite 12

Peter Nowak

Zurück Keine Droge ist illegal

Captain Snowden und die deutsche Souveränität

Kein Bleiberecht im Protestcamp

Nach der Räumung des Flüchtlingscamps auf dem Berliner Oranienplatz ist die Stimmung zwischen manchen ehemaligen Bewohnern und den verantwortlichen Politikern immer noch angespannt. Die Unterstützer der Flüchtlinge beginnen mit der Analyse eigener Fehler.

»Eine Diskussion ist nicht mehr möglich, daher beende ich die Veranstaltung jetzt«, sagte ein sichtlich gestresster Reza Amiri. Er ist Bezirksverordneter in Friedrichshain-Kreuzberg für die Linkspartei und moderierte in der vergangenen Woche eine zweistündige Diskussion im Veranstaltungsort SO 36, bei der die Stimmung von Beginn an überaus gereizt war. Wenige Tage nach der Räumung des Flüchtlingscamps auf dem Oranienplatz trafen die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) und diejenigen Flüchtlinge aufeinander, die die freiwillige Räumung abgelehnt hatten.

»Wir wollen kein Blabla hören« und »Sie sind Teil des Problems« waren noch die freundlicheren Sätze, die die Bürgermeisterin zu hören bekam. Bei vielen verfing es auch nicht, dass Herrmann die Ausdauer der Flüchtlinge lobte und die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik als rassistisch bezeichnete. Auch als es um die Zukunft der besetzten ehemaligen Gerhard-Hauptmann-Schule ging, redeten Politiker und Geflüchtete aneinander vorbei. Der Bürgermeisterin schwebte ein Flüchtlingsprojekt vor, das von Politikern und Bewohnern gemeinsam entwickelt werden sollte. Die derzeitigen Bewohner des Gebäudes riefen schlicht: »Wir wollen endlich eine funktionierende Dusche.«

Und so schienen im SO 36 die Fronten eindeutig zu verlaufen. Auf der einen Seite stand die grüne Bürgermeisterin, die die Flüchtlingsproteste im Allgemeinen lobte, aber auch klarstellte, dass es am Oranienplatz kein Camp zum Übernachten mehr geben werde. Auf der anderen Seite standen die Flüchtlinge und ihre Unterstützer, die sich wieder einmal darin bestätigt sehen konnten, dass SPD und Grüne es bestens verstehen, eine Protestbewegung zu spalten. Schließlich waren Bilder durch die Presse gegangen, auf denen zu sehen war, wie diejenigen Geflüchteten, die mit dem Senat das Abkommen geschlossen hatten, den Platz gegen eine feste Unterkunft einzutauschen, auch Zelte von Flüchtlingen abrissen, die diese Vereinbarung abgelehnt und in den vergangenen Wochen mehrmals erklärt hatten, den Platz nicht räumen zu wollen.

Für die Verhandlungen mit den Flüchtlingen wurde die Berliner Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration, Dilek Kolat (SPD), von liberalen Medien sehr gelobt. Die Taz beförderte sie sogar in den Kreis der potentiellen Nachfolgerinnen und Nachfolger von Klaus Wowereit (SPD). In der Zeitung war in den vergangenen Monaten wiederholt der angeblich liberale Berliner Umgang mit den Flüchtlingsprotesten der Law-and-Order-Politik von Olaf Scholz (SPD) in Hamburg gegenübergestellt worden.

Nach der Räumung des Oranienplatzes zeigte sich jedoch, worin der Unterschied vor allem besteht. In Hamburg gab es Massendemonstrationen zur Unterstützung der Geflüchteten, die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat mit der Aufnahme von Flüchtlingen organisationsintern eine Diskussion über eine Gewerkschaftsmitgliedschaft für Migranten ohne Aufenthaltstitel ausgelöst. In Berlin geschah nichts Vergleich­bares.

In der Berliner Antirassismusbewegung hat nach der Räumung des Oranienplatzes eine Debatte über die eigenen Fehler begonnen. Denn die Fronten sind nicht so klar, wie es im S0 36 schien. Dort waren die Geflüchteten, die den Platz freiwillig verlassen hatten, gar nicht anwesend. Dabei wäre es wichtig gewesen, ihre Sichtweise einzubeziehen und sie nicht einfach als Handlanger der Politik abzuqualifizieren, wie es einige Unterstützer und Gruppen taten. Diese Geflüchteten gehörten monatelang zum Flüchtlingsprotest und organisierten im vergangenen Jahr Demonstrationen und auch ein mehrtägiges Tribunal. Viele von ihnen haben auch nicht die Absicht, den Protest einzustellen. Sie hatten aber das nachvollziehbare Bedürfnis, morgens nicht schon beim Weg zur Toilette von Passanten beobachtet oder fotografiert zu werden. Ein Geflüchteter, der sich dazu entschlossen hatte, den Platz zu verlassen, formulierte es gegenüber einem Unterstützer prägnant: »Wir sind nicht die Affen, die ihr begaffen könnt, sondern Menschen mit Bedürfnissen.«

Das größte Problem scheint im Rückblick jedoch gewesen zu sein, dass es den Geflüchteten und ihren Unterstützern nicht gelungen ist, im Laufe der monatelangen Auseinandersetzungen Entscheidungswege zu finden, mit denen die Bedürfnisse und Forderungen sämtlicher Campbewohner berücksichtigt und Kompromisse ermöglicht worden wären. So hätten auch Forderungen an die Öffentlichkeit gestellt werden können, die alle Geflüchteten unterstützt hätten.

Die Bundestagsabgeordnete Halina Wawzyniak (Linkspartei) stellte während der Veranstaltung im SO 36 ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vor, das eine rechtliche Handhabe aufzeigt, wie allen Flüchtlingen nach Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes ein Aufenthalt aus humanitären Gründen gewährt werden könnte. Eine gemeinsame Forderung nach einem solchen Aufenthaltstitel hätte vielleicht Unterstützung über den unmittelbaren Kreis der Helfer hinaus erhalten. Die Versuche, die Solidaritätsarbeit mit den Geflüchteten unter dem Motto »Die letzte Meile laufen wir« (Jungle World 33/13) auszuweiten, stießen im vergangenen Jahr auf wenig Resonanz. So blieb den Campbewohnern und dem engeren Kreis der Unterstützer die Hauptarbeit überlassen, auch während der ­Verhandlungen mit dem Senat. Das machte es den politischen Verantwortlichen leicht, die unterschiedlichen Interessen gegeneinander auszuspielen.

http://jungle-world.com/artikel/2014/17/49730.html

Peter Nowak

Zurück Mehr Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte

Die oft tödlichen Folgen bundesdeutscher Flüchtlingspolitik und der schwierige Widerstand dagegen

Die Angst ist groß

Flüchtlinge diskutierten mit Bezirksbürgermeisterin Monika Hermann / Zukunft der besetzten weiter Schule unklar

Eine schon länger geplante Diskussionsveranstaltung über die deutsche Asylpolitik verlief erregt. Der Grund: Die Räumung des Oranienplatzes vor einer Woche.

»Denken Sie an die Kinder, die im Flüchtlingslager leben müssen. Ihre Eltern dürfen nicht arbeiten und nicht verreisen.« Die Stimme von Amir ist brüchig. Der Flüchtling aus Ruanda sprach am Dienstagabend vor dem voll besetzten Saal im Kreuzberger Club SO 36. Der politische Bildungsverein Helle Panke hatte zur Diskussion über die europäische und deutsche Asylpolitik geladen. Gekommen sind die Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann (Grüne), die Bundestagsabgeordnete Halina Wawzyniak (Linkspartei), der Sprecher der Flüchtlingsaktivisten vom Oranienplatz, Turgay Ulu, der Flüchtling Darlington sowie Marius vom Unterstützerkreis der von Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule.

»Die Veranstaltung war schon länger geplant. Durch die Räumung des Oranienplatzes durch einen Teil der Flüchtlinge gegen den Willen ihrer Mitstreitenden hat diese aber nochmals an Brisanz gewonnen«, erklärte Fabian Kunow von der Hellen Panke. Tatsächlich lagen die Nerven an dem Abend blank. Monika Herrmann klagte die »rassistische Asylpolitik« an und lobte die Flüchtlinge, weil sie Druck auf die Politik machten, um Gesetze zu ändern. Deshalb setze sie sich dafür ein, dass das Protestzelt der Flüchtlinge wieder aufgebaut wird. Allerdings stellte Herrmann auch klar, dass Übernachtungen auf dem Oranienplatz nicht mehr zugelassen werden.

»Wir brauchen kein BlaBla, sondern Hilfe«, widersprach ein Flüchtling unter Applaus. Auch Politikerinnen wie Monika Herrmann seien für ihn das Problem. Halina Wawzyniak kam in der erregten Debatte nur selten zu Wort. Sie stellte das Ergebnis eines Gutachtens des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vor, das den Flüchtlingen Hoffnungen macht. Es kommt zu dem Schluss, dass den obersten Landesbehörden bei einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 23 Aufenthaltsgesetz »zur Wahrung der politischen Interessen … ein weiter politischer Beurteilungsspielraum eingeräumt« wird. Jedoch wurde darauf in der Diskussion nicht weiter eingegangen.

Eine große Rolle nahm die Zukunft der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule ein. Wie groß die Angst vor dem Verlust ihrer Unterkunft ist, machte die Romafrau Maria in einen kurzen Redebeitrag deutlich. Ihr Sohn habe die Schule freiwillig verlassen und einen der angebotenen Heimplätze angenommen. Dort allerdings werde um 22 Uhr abgeschlossen, danach dürfen keine Besuche mehr empfangen werden. »Wir wollen auch frei leben«, erklärte die Frau.

Herrmann betonte, dass der Bezirk keine Absicht habe, die Schule zu räumen, und erläuterte das Konzept eines selbstorganisierten Zentrums der Flüchtlingsinitiativen, das nach dem Willen des Bezirks in der Schule entstehen soll. »Aber eine Dusche wird trotz dringendem Bedarf nicht eingebaut«, rief eine Bewohnerin. Nach mehr als zwei Stunden beendete der Moderator die Diskussion. Die Fronten zwischen Herrmann und den Flüchtlingsaktivisten blieben verhärtet. Anschließend zogen viele der Diskussionsteilnehmer in einer Spontandemonstration zum Oranienplatz, wo sich mehrere Flüchtlinge im Hungerstreik befinden. Zu ihren Forderungen gehören die Umwandlung der besetzten Schule in ein politisches Zentrum der Geflüchteten und ein Bleiberecht für alle Flüchtlingsaktivisten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/930385.die-angst-ist-gross.html

Peter Nowak