Gemütlichkeit am Ort des Schreckens

Filmemacherin Andrea Behrendt dokumentiert die Geschichte eines Berliner Arbeitshauses
»Individuell eingerichtete, ehemalige Zellen, teilweise mit Wasserblick, und wohltuende Ruhe erwarten Sie abends nach Ihren Entdeckungstouren durch die lebendige Metropole«, heißt es auf der Homepage. Sie wirbt für das von Huberta Bettex von Schenck geleitete »Andere Haus 8«. Eine Übernachtung kostet pro Bett 40 Euro.

 Interessierte erfahren per Internet, dass sich in dem Gebäude ein »Arresthaus für männliche Corrigenden« befunden habe. Ein wenig bekannter Begriff für das zentrale Berliner Arbeitshaus, das 1876 – damals weit außerhalb der Stadt – in Rummelsburg errichtet wurde.

Es sei ein Ort des Schreckens für Tausende gewesen, erklärte der Berliner Historiker Thomas Ulmer. Er setzt sich dafür ein, dass in dem noch erhaltenen Gebäude an der Rummelsburger Bbucht ein Erinnerungsort für die als asozial verfolgten Menschen entsteht Die Berliner Filmemacherin Andrea Behrendt hat mit ihrem Kurzfilm »arbeitsscheu-abnormal-asozial – Zur Geschichte der Berliner Arbeitshäuser« einen wichtigen Beitrag zu dieser Auseinandersetzung geliefert.

Sie lässt neben der Hotelbesitzerin Huberta Bettex von Schenck und dem Historiker Thomas Ulmer auch Anne Allex vom Arbeitskreis »Marginalisierte – gestern und heute« zu Wort kommen. Dort haben sich Erwerbslose und kritische Wissenschaftler zusammengeschlossen, die die Stigmatisierung und Verfolgung sogenannter Asozialer aufarbeiten.

»Oft hat es sich um Menschen gehandelt, die mit ihrem Lebensentwurf in der Gesellschaft aneckten und deswegen Verfolgung erleiden mussten«, betont Allex. Am Beispiel des Berliner Arbeitshauses lässt sich gut aufzeigen, dass diese Verfolgung während der NS-Zeit verschärft, nach 1945 aber in beiden Teilen Deutschlands nicht beendet wurde. Aber unter den Nazis wurden die Bedingungen für die Insassen des Arbeitshauses enorm verschlimmerte zahlreiche Menschen wurden von dort in weitere Gefängnisse und Konzentrationslager eingeliefert.

Der AK Marginalisierte will in dem noch erhaltenen Gebäude des ehemaligen Arbeitshauses einen Erinnerungsort für die als asozial Verfolgten errichten. Durch Kundgebungen, Bücher, Broschüren sowie eine Ausstellung im Stadtmuseum Lichtenberg wurde die fast vergessene Geschichte des Arbeitshauses einer größeren Öffentlichkeit bekannt.

Doch selbst eine Gedenktafel ist an dem Gebäude des ehemaligen Arbeitshauses bisher nicht angebracht. Mittlerweile ist die Rummelsburger Bucht ein begehrtes Wohngebiet geworden. Townhäuser für die wohlhabende Mittelklasse sind dort sehr begehrt. In ein solches Umfeld passt ein spezielles Hotel wie das »Andere Haus 8« besser als ein Erinnerungsort für Asoziale.

Die Initiative wird aber nicht aufgeben. Andrea Behrendts Film ist dabei eine gute Unterstützung. Der Künstlerin gelingt in knapp 30 Minuten ein kurzweiliger Überblick über die Geschichte des Berliner Arbeitshaus und die Stigmatisierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe, die auch ohne Arbeitshäuser bis heute nicht beendet ist.

DVD »arbeitsscheu-abnormal-asozial – Zur Geschichte der Berliner Arbeitshäuser«, 15 Euro, zu bestellen über Globale Medienwerkstatt e. V., behrendt@globale-medienwerkstatt.de. Tel.: 92 12 02 59

http://www.neues-deutschland.de/artikel/165216.gemuetlichkeit-am-ort-des-schreckens.html

Peter Nowak

Dresden – 13.2. – ein Nachtrag

Am vergangenen Samstag hat die Linke in Dresden mit der Verhinderung des Neonaziaufmarsches einen realen und nicht nur, wie beispielsweise bei den Blockaden in Heiligendamm im Jahr 2007, einen symbolischen Erfolg errungen.

Der rechte Aufmarsch in Dresden war in den letzten Jahren der zentrale Termin in ihrer politischen Agenda. Denn viele andere langjährige Aktionen, wie der Rudolf-Hess-Gedenkmarsch, waren durch die antifaschistischen Proteste und die darauf reagierenden staatlichen Maßnahmen nicht mehr durchführbar.

Während in Berlin schon am 8.Mai 2005 ein Bündnis aus Antifaschisten und Zivilgesellschaft einen Neonaziaufmarsch durch Blockaden verhinderte, konnten die Rechten bis zum vergangenen Samstag in Dresden marschieren. Denn die politisch Verantwortlichen hatten bisher mit ihrem Agieren gegen „linke und rechte Extremisten“ in Wirklichkeit den Rechten den Rücken freigehalten. Zudem wird das Anliegen des rechten Aufmarsches, die Dresdner Bevölkerung als wahre Opfer des 2.Weltkrieges zu stilisieren, auch von Teilen der Dresdner Bevölkerung geteilt, die sich nicht öffentlich auf der rechten Demo zeigen würden.  Diese Gemengelage hat dazu geführt, dass bisher in Dresden die Antifaschisten als größere Gefahr als die Rechten gesehen wurden. Das war das Klima, in denen die Nazis marschieren konnten und die Linken isoliert waren.

Linke und Zivilgesellschaft

Dass sich in diesem Jahr der Wind gedreht hat, liegt  an dem Bündnis zwischen der größten Teil der aktiven antifaschistischen Szene und Teilen der Dresdner Zivilgesellschaft, die sich nicht länger mit symbolischen Aktionen a la Friedensgebeten und Menschenketten begnügen wollten.    Diese Aktionen haben  den Naziaufmarsch nicht verhindert und das war auch gar nicht ihr Ziel. Die politisch Verantwortlichen von Dresden haben sich noch in der letzten Woche mit  demVerbot des rechten Aufmarsches, das juristisch so gehalten war, dass es abgelehnt werden mußte, blamiert. Dass die Rechten nicht marschieren konnten, ist allein den aktiven Gegendemonstranten zu verdanken.

 Mit dem Blockadekonzept wurde eine Aktionsform gefunden, auf die sich alle Akteure einigen konnten.  Als die Polizei vor mehr als 3 Wochen mit Razzien und der Beschlagnahme von Mobilisierungsmaterialen auf den Blockadeaufruf reagierte, hatte das  Bündnis seine entscheidende Bewährungsprobe zu bestehen.  Schnell zeigte sich, dass sich aus dem Bündnis niemand distanzierte. Vielmehr war die Bereitschaft nun erst recht den Rechten entgegenzutreten noch gewachsen.

Nur auf dieser Grundlage war der Erfolg vom Samstag möglich. Hätte die Blockade nur aus Antifas und radikalen Linken bestanden, wäre sie wohl  von der Polizei geräumt worden. Aber alte Frauen, Menschen mit Gewerkschaftsfahnen und Mandatsträger verschiedener Parteien abzuräumen, damit die Nazis marschieren können, das war für die Staatsapparaten ein zu hoher Preis.

Für die linke Bewegung sollte die Lehre aus Dresden sein, solche  Bündnisse für die Durchsetzung ganz konkreter Ziele in Zukunft öfter anzustreben. Das bedeutet nicht, dass die Bündnispartner die Position der Linken akzeptieren müssen. Konkret für Dresden war es nicht nötig, eine einheitliche Meinung über die Sinnhaftigkeit der alliierten  Bombardements zu haben, um sich den Nazis entgegen zu stellen.  Das bedeutet aber auch nicht, dass die linken Aktivisten in dem Bündnis aufgehen und die Partner nicht mehr kritisieren dürfen.

 Gegen jede Totalitarismustheorie

Wie nötig eine inhaltliche Auseinandersetzung ist, zeigte sich noch wenige Tage vor dem Dresdener Aufmarsch. Da erweist sich Christian Demuth von dem zivilgesellschaftlichen Verein „Bürger.Courage e.V.“  als  Nachbeter der sächsischen Totalitarismustheorie, die besagt, dass man die Nazis nicht kritisieren kann, ohne sich nicht mindestens genau so vehement von der DDR zu distanzieren.

So behauptet Demuth in einem Interview mit der Taz  im Zusammenhang mit der alliierten Bombardierung Dresdens:  „ Die DDR hatte die Propaganda aus dem Goebbels-Ministerium im Grunde dankbar aufgenommen, um gegen die angloamerikanischen Imperialisten Stimmung machen zu können.“

Dass die DDR die alliierten Bombardements auf Dresden im kalten Krieg instrumentalisieren ist bekannt und beschämend. Zu behaupten, sie hätte dabei die Goebbels-Propaganda fortgesetzt ist eine Geschichtsfälschung, die man auch bei Personen nicht durchgehen lassen sollte, mit denen man gemeinsam gegen die Nazis auf die Straße geht.   

http://www.freitag.de/community/blogs/peter-nowak/dresden—132—-ein-nachtrag

Peter Nowak

Dresden: Rechter Aufmarsch blockiert

An den Blockaden beteiligten sich Menschen allen Alters und der verschiedenen politischen Richtungen.
Am Samstagabend sah man in Dresden-Neustadt viele feiernde Menschen. Sie hatten bei winterlichen Temperaturen teilweise über 10 Stunden auf der Straße ausgeharrt, um den bundesweit größten Aufmarsch von Rechtsextremisten zu verhindern. Wie auch in den vergangenen Jahren, hatte die ansonsten zerstrittene Rechte zum Jahrestag der alliierten Bombardierung von Dresden in die Elbestadt mobilisiert.

Mehrere Tausend Rechte aus Deutschland und dem europäischen Ausland hatten sich am Bahnhof Neustadt versammelt. Doch am Nachmittag erklärte die Polizei, dass sie sich wegen der Blockaden nicht in der Lage sehe, die Demonstration zu gewährleisten. Eine ähnliche Konstellation hatte es schon am 8.Mai 2005 in Berlin gegeben, wo auch eine von Linken und Teilen der Zivilgesellschaft getragene Blockade einen rechten Aufmarsch verhinderte.

In Dresden war dies in den vergangenen Jahren nicht gelungen. Deshalb hatte die rechte Szene die Dresden-Demonstration zu einem festen Termin erklärt. Dass der rechte Aufmarsch in diesem Jahr verhindert werden konnte, lag vor allem an der Kooperation von Antifaszene und Teilen der Zivilgesellschaft, die sich nicht mehr nur auf rein symbolische Proteste, wie Friedensgebete und der von der von führenden sächsischen Politikern initiierte Menschenkette beschränken wollte. An den Blockaden beteiligten sich Menschen allen Alters und der verschiedenen politischen Richtungen.

Während der Mobilisierung zu der Aktion hatte die Polizei Plakate und Flyer beschlagnahmt. Auch die Kampagnenhomepage war abgeschaltet worden. Nach Einschätzung von Aktivisten hat dieses Vorgehen der Polizei die Mobilisierung verstärkt und das Bündnis verbreitert.

Ob mit der erfolgreichen Blockade die Dresdner Aufmärsche der Vergangenheit angehören, ist unklar. Auf rechten Internetseiten wird schon für das Jahr 2011 mobilisiert. Bei den Rechtsextremen wird verbreitet, dass sie alleine von der Polizei gehindert worden seien: „Wenn etwas den Marsch blockiert hat, dann lediglich die Polizei die den linksextremen Pöbel zum Vorwand genommen hat um den Notstand auszurufen.“ Auf Altermedia wird denn auch überlegt, das nächste Mal zu anderen Mitteln zu greifen: „Auf nationaler Seite wird die Frage sein, wie man künftig Veranstaltungen dieser Art durchführt. Der Wille das unter legitimen Mitteln zu tun, ist zwar löblich, aber letztlich doch nicht realisierbar sobald sich abzeichnet, dass die Sache ein paar Nummern größer wird als man dies auf Seiten des Systems bereit ist zuzulassen. Das war am 8. Mai 2005 in Berlin so oder im September 2008 anlässlich des von „pro Köln“ organisierten Anti-Islamkongress.“

 http://www.heise.de/tp/blogs/8/147080

Peter Nowak

Generation Mauerpark wieder auf der Straße

Protest gegen die geplante Bebauung Peter Nowak
Viele hatten nicht damit gerechnet, dass in Prenzlauer Berg noch gegen
Gentrifizierung protestiert würde. Doch dann demonstrierten im Herbst mehr als 2000 Menschen gegen den geplanten Bau von Wohnungen für den vermögenden
Mittelstand zwischen Wedding und Prenzlauer Berg.
Christian Rippel ist Pressesprecher der Initiative
„Mauerpark Fertigstellen“, die in den
letzten Monaten Lobbyarbeit für den Mauerpark
gemacht hat. Zu ihren Aktionen gehörten
Feste im Mauerpark, Anwohnerversammlungen
und als Höhepunkt die Demonstration.
Rippel betont, dass die Initiative nicht nur
gegen die Bebauungspläne des Bezirks Mitte
ist, sondern vielmehr fordert, dass der Mauerpark
endlich vollendet werde. Dabei hat sie
Mitglieder der Parteien Die Linke, Bündnis
90/Die Grünen und sogar der CDU auf ihrer
Seite. So heißt es in den vom CDU-Ortsverband
Brunnenstraße verfassten Text „10 Punkte zu
Mauerpark und Brunnenviertel“: „Die Fertigstellung
des Mauerparks auf der Weddinger
Seite muss nach 15 Jahren Verzögerung endlich
realisiert werden. (…) Der voranschreitende
Weiterverkauf der zur Fertigstellung des
Parks benötigten Grundstücke an private
Investoren führt zu immer neuen Ansprechpartnern
und immer komplexeren Interessenlagen.“
Initiative verweist auf die finanziellen
Einbußen, falls sich die Fertigstellung des
Mauerparks weiter verzögere. Die Allianz-
Umweltstiftung förderte vor 15 Jahren den von
Stadtteilinitiativen geforderten und im Zuge
der damaligen Olympia-Bewerbung realisierten
Ausbau des Mauerparks als städtische
Grünfläche mit 4,5 Millionen DM. Damit war
allerdings die Auflage verbunden, den Park bis
2010 auf mindestens zehn Hektar zu vergrößern.
Bis heute fehlen zwei Hektar, und nun
soll ein etwa 30 Meter breiter Streifen mit
sechsgeschossigen Häusern bebaut werden.
Ein Bruch der Vereinbarung würde bedeuten,
dass die Allianz-Umweltstiftung die Förderung
zurückverlangen könnte. Angesichts leerer
Kassen würde das die Bezirksverwaltung gewaltig
unter Druck setzen.
Unterschiedliche Protestgründe
Vor allem drei Gründe mobilisieren die Menschen:
Erstens würde die Trennung zwischen den Stadtteilen noch verstärkt. Schon jetzt ist
das soziale Gefälle zwischen dem neuen Mittelstand
in Prenzlauer Berg und den Arbeiterfamilien,
oft mit Migrationshintergrund, im
Wedding groß. „Wenn die geplante Bebauung
Realität würde, könnten die Weddinger in die
Klofenster der neuen Reichen blicken“, bringt
es Rippel auf den Punkt. Der zweite Grund für
den Protest ist die drohende Zerstörung einer
Grünfläche, und drittens droht der Verlust
eines Raums für Kultur. Der Mauerpark ist seit
Mitte der 90er Jahre ein Ort, wo musiziert,
getrommelt und gefeiert werden kann, ohne
dass gleich die Polizei einschreitet. Das dürfte
sich mit den neuen Anwohner/innen schnell
ändern, befürchtet nicht nur Rippel.
Er zählt sich selbst zur „Generation Mauerpark“
– zu jenen, die aus Prenzlauer Berg,
Pankow oder Mitte stammend, in den 90er
Jahren als Jugendliche ihre Freizeit im Mauerpark
verbrachten. Damals hatten Einrichtungen
wie eine legale Sprayer-Wand und das
subkulturelle Flair des Stadtteils eine große
Ausstrahlungskraft. Obwohl viele heute in
anderen Stadtteilen wohnen, beteiligen sie
sich am Protest gegen die Baupläne. Und auch
den in den letzten Jahren zugezogenen Eltern
ist der Park wichtig und sie beteiligen sich an
den Aktionen.
Rippel betont, dass seine Initiative auf einen
Mauerpark ohne Polizei Wert legt. Auch privat
organisierte Kiezstreifen würden nicht akzeptiert
und seien sowieso völlig unnötig. Bisher
seien die Nutzer/innen ohne Ordnungskräfte
klargekommen, Probleme habe man ohne
polizeiliche Maßnahmen geregelt, und das
solle auch künftig so bleiben.
Rolle der Vivico
Auf einer Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung
in Mitte am 25. November 2009,
bei der Politiker der Parteien Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen die Freunde des
Mauerparks unterstützten, wurde die Entscheidung
über die Bebauung vertagt. Einstweilen
will die Initiative die Rolle der Immobiliengesellschaft
Vivico Real Estate stärker
thematisieren. Die Vivico ist die Eigentümerin
der Fläche des Mauerparks und wurde 2008
vom Bund an eine österreichische Immobiliengruppe
verkauft. Das Ziel der Vivico ist, einen
möglichst großen Teil des Areals als Bauland
auszuweisen und gewinnbringend zu verkaufen.
Somit ist die Vivico die eigentliche
Kontrahentin der Mauerpark-Freund/innen.

http://www.bmgev.de/mieterecho/mepdf/me338heft.pdf

Peter Nowak

»Sachleistungen entmündigen Menschen«

 

Flüchtlingsaktivistin Marei Pelzer: Auch Regelsätze für Asylbewerber sind verfassungswidrig / Marei Pelzer ist rechtspolitische Referentin des Flüchtlingsnetzwerks Pro Asyl
 

ND: Sie haben in einer Pressemeldung geschrieben, dass nach der Karlsruher Entscheidung zu Hartz IV die Regelsätze für Asylbewerber ebenfalls verfassungswidrig sind. Wo ist da der Zusammenhang?
Pelzer: Das Bundesverfassungsgericht hat bezogen auf Hartz IV entschieden, dass die Leistungen nicht auf »offensichtlich freihändig geschätzten« Zahlen beruhen dürfen. Was bei Hartz IV bemängelt wird, ist bei den Leistungen für Asylsuchende noch viel krasser der Fall: Die Betroffenen müssen seit 1993 von um mehr als 35 Prozent gekürzten Sozialleistungen leben. Bei Kindern unter acht Jahren gibt es weitere Abzüge. Hier ist nicht nur die Festsetzung willkürlich – die gekürzten Leistungen machen aus den Betroffenen auch noch Bedürftige zweiter Klasse.

Wie hoch sind die Leistungen für Flüchtlinge bisher?
Seit Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes im Jahr 1993 sind die Sätze von 360 DM für den Haushaltsvorstand, 220 DM für Kinder unter acht Jahren und für andere Familienmitglieder 310 DM nicht mehr geändert worden. Der Gesetzgeber hat nicht einmal eine Umrechnung auf Euro-Beträge vorgenommen geschweige denn die Beträge der Inflationsrate angepasst. Asylsuchende, Geduldete und auch Menschen mit einem humanitären Aufenthaltsstatus werden mindestens vier Jahre vom sozialen Existenzminimum ausgeschlossen und müssen unter Mangelversorgung leiden.

Wie leben die Menschen damit?
Der Alltag ist für die Betroffenen sehr belastend. Sie bekommen die

Mangelversorgung in allen Lebensbereichen zu spüren – angefangen bei der Kleidung, über Stifte und Hefte für die Schule bis hin zu Lebensmitteln. Hinzu kommt ja auch, dass in manchen Bundesländern nur Sachleistungen gewährt werden. Das bedeutet Lebensmittelpakete, Zwangsunterbringung in Lagern und Kleidung aus der Kleiderkammer. Sachleistungen entmündigen Menschen. Dies ist weder für Flüchtlinge noch für Hartz-IV-Bezieher zumutbar.

Werden hier von den Gerichten, ähnlich wie bei der Residenzpflicht, Sonderregelungen für Menschen ohne deutschen Pass herangezogen, um Ungleichbehandlung zu rechtfertigen?
Das Asylbewerberleistungsgesetz wurde als Teil einer Abschreckungsstrategie gegen Flüchtlinge eingeführt. Pro Asyl fordert die Abschaffung des Gesetzes, weil es nur eine Menschenwürde gibt. Eine Unterscheidung beim sozialen Existenzminimum darf es nicht geben.

In der Erwerbslosenbewegung wird die These vertreten, dass der Umgang mit Flüchtlingen ein Experimentierfeld ist, das dann auch auf andere Gruppen von Erwerbslosen angewandt wird.
Das kann man so sagen. Vieles von dem, was die Agendapolitik gebracht hat, wurde vorher schon an Flüchtlingen ausprobiert. Ein Beispiel ist, dass Asylsuchende zur Arbeit gezwungen werden können. Hartz IV hat den so genannten Ein-Euro-Job als neue Form des Zwangs gebracht. Ebenfalls kann man die verstärkte Möglichkeit nennen, die Leistungen bis auf Null zu drücken. Der völlige Entzug von Leistungen zur Verhaltenskontrolle ist im Asylbereich schon seit Längerem bekannt.

Kommt das Thema Regelsätze für Asylbewerber in der Debatte um Hartz IV ihrer Meinung nach zu kurz?
Wir hoffen sehr, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch positive Effekte für das Leistungsrecht für Asylsuchende haben kann. Die Politik sollte von sich aus die notwendigen Reformen auch auf diese Gruppe ausweiten. Wenn sie sich weigert, bleibt wohl auch hier nur der Gang nach Karlsruhe. Es ist an der Zeit, den Skandal der Mangelversorgung von Asylsuchenden endlich zu beenden.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/165037.sachleistungen-entmuendigen-menschen.html

Fragen: Peter Nowak

Teilerfolg für Arbeiter von Conti

Frankreich: Geldbuße statt Bewährungsstrafe
Die Mobilisierung für die zu Haftstrafen auf Bewährung verurteilten Mitarbeiter von Conti hatte Erfolg: Ein Gericht milderte die Urteile für die an Protestaktionen Beteiligten ab.
Am vergangenen Freitag wurden in Frankreich sechs Arbeiter des Reifenherstellers Continental zu Geldstrafen zwischen 2000 und 4000 Euro wegen der Beteiligung an einer Aktion im Rahmen eines Streiks verurteilt. Sie gehörten zu einer Gruppe von etwa 500 Arbeitern, die im April 2009 für Aufsehen sorgten, als sie ein Werk von Continental in Clairnoix bei Paris demolierten.

 Die Beschäftigten kämpften gegen die Schließung von Conti und den Verlust von Arbeitsplätzen. Kurz vor der Aktion hatte ein französisches Gericht die Werksschließung für rechtens erklärt. Dass die Arbeiter gegen das Werk in Clairnoix vorgingen, war nach Ansicht von Beobachtern kein Zufall. So hieß es, dass in dem Werk neue Produktionstechnologien getestet wurden, um sie anschließend ins Ausland zu verlagern. Die Aktion wurde, ähnlich wie das zeitweilige Festsetzen von Firmenchefs (»Bossnapping«) durch Fabrikbelegschaften, als neue Form von Arbeitermilitanz auch in Deutschland wahrgenommen.

Nachdem die sechs Arbeiter im September 2009 zu Haftstrafen auf Bewährung verurteilt worden waren, wurde in der Berufungsverhandlung eine härtere Strafe befürchtet. In den letzten Wochen war jedoch eine große Solidaritätsbewegung mit den Angeklagten entstanden, an der sich Politiker verschiedener linker Parteien und Gewerkschaften beteiligten. Am 13. Januar, als die Berufungsverhandlung begonnen hatte, demonstrierten mehr als tausend Menschen im Amiens (Nordfrankreich) für einen Freispruch der Arbeiter. Dabei wurde der Verdacht geäußert, dass man die sechs Beschäftigten angeklagt habe, weil sie sich in der Gewerkschaft CGT aktiv am Streik beteiligt hatten. Daher wird es auch als Erfolg gewertet, dass selbst der Staatsanwalt Pierre Avignon in seinem Plädoyer betonte, dass nicht eine soziale Bewegung bestraft werden dürfe.

Das Urteil wurde von der Solidaritätsbewegung als milde bezeichnet und als Erfolg der Mobilisierung eingeschätzt. Allerdings gab es um die Aktion auch gewerkschaftsinternen Streit. So hatte Xavier Mathieu, der Wortführer des Widerstands der Conti-Arbeiter, wiederholt kritisiert, dass sich die Spitzen der Gewerkschaften in ihrer Solidarität mit der Basis sehr zurückgehalten haben. Von der Kritik nahm Mathieu auch seine eigene Gewerkschaft, die CGT, nicht aus.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/164959.teilerfolg-fuer-arbeiter-von-conti.html

Peter Nowak

Peter Nowak zur Vergangenheit einer Berliner Siedlung

Anfang der fünfziger Jahre wurde das Waldviertel in Berlin-Zehlendorf noch ganz unbefangen „SS-Siedlung“ genannt. Am Rande der Hauptstadt war Ende der dreißiger Jahre eine Kameradschaftssiedlung der Nazi-Schutzstaffel errichtet worden. Man lebte in einem Umfeld, „in dem die Angehörigen der SS ausreichend und gesunden Wohnraum finden und das insbesondere den Aufstieg der Familien zu fördern geeignet ist“, so „Reichsführer“ Heinrich Himmler.
Nach dem Ende des NS-Regimes war es für die braune Elite erst einmal mit dem Stadtrandidyll vorbei. Die Alliierten vergaben die Wohnungen an Verfolgte und Emigranten. Doch schon Mitte der fünfziger Jahre wehte wieder ein anderer Wind. Antonin Dick, der als Emigrantenkind seine Schulzeit in dem Viertel verbracht hat, kann sich noch erinnern, wie SS-Leute Anspruch auf ehemaligen Wohnungen und zurückgelassenes Mobiliars erhoben.
Heute will ein Großteil der Bewohner an die Nazi-Vergangenheit der Siedlung möglichst nicht mehr erinnert werden. Man solle doch endlich die Vergangenheit ruhen lassen, hieß es, als das Zehlendorfer Kulturamt die Aufstellung einer Informationstafel zur Geschichte der Siedlung beschloss. Die Siedlung stehe schon siebzig Jahre – und habe nur sieben Jahre davon SS-Zwecken gedient, so ein Bewohner. Ein anderer befürchtete gar, dass Neonazis angelockt werden könnten.
Anwohner stellen Fragen
Die Einwände hatten Erfolg. Das zuständige Kulturamt wartete mit einer ganz neuen Variante des Prinzips „Geschichte von Unten“ auf. Da die Bewohner mehrheitlich den Namen Himmler im Zusammenhang mit der Vergangenheit der Siedlung nicht lesen wollten, wurde der kurzerhand gestrichen. Auch die Rolle der Gemeinnützigen Aktiengesellschaft für Angestellten-Heimstätten (Gagfah) wird in dem Text weitgehend ausgeblendet. Das Unternehmen war für Bau und Verwaltung der Siedlung zuständig. Gagfah-Architekt Hans Gerlach hatte die Planung mit dem Rasse- und Siedlungshauptamt der SS für abgestimmt. Die Gagfah gehörte auch in der Nachkriegszeit zu den führenden Berliner Wohnungskonzernen.
Kulturamtschefin Sabine Weißler räumte ein, dass es schwierig sei, historisch korrekt zu bleiben und gleichzeitig die Anwohner-Wünsche zu berücksichtigen. Die Zehlendorfer Version der Vergangenheit kann man nun auf der Tafel lesen. „Die friedvolle Atmosphäre, welche die in den Landschaftsraum eingebettete Siedlung dem unbefangenen Betrachter heute vermittelt, macht es schwer, ihre Geschichte in Erinnerung zu rufen. Diese ist unmittelbar mit ihrer Entstehungszeit im Nationalsozialismus verwoben.“ Eine NS-Verfolgte, die von den Alliierten eine Wohnung in der Siedlung zugewiesen bekam und dort bis heute wohnt, wurde ebenso wenig zur Diskussion um die Tafel eingeladen, wie ihr in der Emigration geborener und in Berlin aufgewachsener Sohn.
Sollte das Zehlendorfer Modell Schule machen und Informationstexte über die NS-Vergangenheit künftig mit den Anwohnern ausgehandelt werden? Dann würde wohl bald kein bekannter Nazi mehr namentlich genannt werden – weil die heutigen Bewohner nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden wollen.

Quelle: der Freitag,

28. Januar 2010
4. Woche, S. 4
Peter Nowak

Verfahren gegen linkes Webportal

Hoher Strafbefehl wegen Prozessberichts
Am kommenden Dienstag verhandelt das Amtsgericht Krefeld gegen eine Redakteurin, die in ihrem Online-Magazin einen Text der Roten Hilfe veröffentlichte.

Die Betreiberin der linken Online-Zeitung »Scharf-Links«, Edith Bartelmus-Scholich, hatte Widerspruch gegen einen Strafbefehl in Höhe von 12 000 Euro eingelegt. Er wurde verhängt, weil sie einen Richter des Oberlandesgerichtes Düsseldorf beleidigt haben soll. Doch sie hat den inkriminierten Text nicht selbst verfasst. Es handelt sich um einen Prozessbericht der Ortsgruppe Düsseldorf-Mönchengladbach der Roten Hilfe zum Verfahren gegen den türkischen Linken Faruk Ereren.

Seit mehreren Monaten wird gegen ihn wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung nach dem Paragrafen 129b vor dem OLG Düsseldorf verhandelt. »Wir beobachten das Verfahren regelmäßig und verfassen Prozessberichte, um Öffentlichkeit über das Verfahren herzustellen«, erklärte am Montagabend eine Vertreterin der Roten Hilfe auf einer Informationsveranstaltung im Düsseldorfer DGB-Haus. Die Berichte wurden an linke Publikationen wie »Scharf-Links« geschickt.

In dem Text, der jetzt die Justiz befasst, wurde über einen Verhandlungstag berichtet, in dem gegen den Zeugen Nuri Eryüksel Beugehaft verhängt wurde. Der türkische Journalist hatte es abgelehnt, über die Strukturen der türkischen Exilorganisation Aussagen zu machen, weil er sich dabei selber belasten könnte. Das Gericht bestand aber auf seine Zeugenaussage und erließ nach seiner Weigerung eine sechsmonatige Beugehaft, die noch im Gerichtssaal vollstreckt wurde. Dieses Vorgehen sorgte unter den Prozessbeobachtern für Aufregung. Eryüksel war mehrere Jahre in türkischen Gefängnissen inhaftiert, wo er schwer gefoltert wurde. Als Spätfolge der Folter hat er mittlerweile sein Augenlicht verloren.

Zynisch empfundene Äußerung des Richters

Darum dreht sich auch der inkriminierte Satz in dem Prozessbericht, mit dem sich das Gericht befassen muss. Die Prozessbeobachter schreiben, der zuständige Richter habe nach der Verkündung der Beugehaft erklärt, damit könne Eryükesel trotz seiner Erblindung eine andere Sichtweise bekommen. Während der Richter diese Äußerung vehement bestreitet, haben mehrere Prozessbeobachter, darunter auch ein Vertreter des Komitees für Grundrechte und Demokratie, unabhängig voneinander bestätigt, der Richter habe bei der Verhängung der Beugehaft eine von ihnen als zynisch empfundende Äußerung getätigt. An den genauen Wortlaut aber können sie sich nicht mehr erinnern.

»Zu unseren Grundsätzen gehört es, linken Projekten die Möglichkeit zu geben, ihre Erklärungen bei uns zu veröffentlichen«, erklärte Edith Bartelmus-Scholich. Sie sieht in dem Verfahren ein Angriff auf die Pressefreiheit und moniert besonders das Vorgehen des Gerichts. Es habe weder eine Beschwerde über den Bericht noch die Aufforderung zu einer Gegendarstellung gegeben. Stattdessen sei ohne Vorwarnung der hohe Strafbefehl erlassen worden. Für die Online-Redakteurin ist klar, dass sie den Betrag nicht zahlen kann. »Sollte er von dem Krefelder Gericht bestätigt werden, droht mir ersatzweise Haft.«

Mittlerweile läuft ein weiteres Verfahren gegen den presserechtlich Verantwortlichen des »Gefangeneninfos«, einer Publikation, die sich mit Knast und Repression befasst und den Prozessbericht ebenfalls abgedruckt hat.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/164772.verfahren-gegen-linkes-webportal.html

Peter Nowak

Westerwelle-Dämmerung

Landtagswahl in NRW wird der interne Burgfrieden halten
So schnell kann es gehen. Am Tag der Bundestagswahl wurde die FDP unter ihrem Vorsitzenden Guido Westerwelle noch als die große Siegerin gefeiert. Knapp vier Monate später sehen selbst die den Liberalen nahestehenden Medien die FDP im Sinkflug. Am Sonntag lud Westerwelle dann zu einer parteiinternen Krisensitzung, die natürlich offiziell nicht so genannt wurde. Kurs halten und die eigenen Pläne, vor allem bei den Steuersenkungen noch beschleunigen, hießen die Stichworte. Doch damit wird sich der koalitionsinterne Streit fortsetzen, bei dem die FDP momentan am meisten verliert.

Mittlerweile ist den liberalen Spitzenpolitikern klar geworden, dass es um ihre Zukunft geht. Es reicht nicht mehr, wie es Westerwelle vor einigen Tagen noch gemacht hat, als Bundesminister weiter so zu agieren, als sei er noch in der Opposition, und gleichzeitig den jetzigen Oppositionsparteien eine Kampagne vorzuwerfen. Wenn eine Partei innerhalb weniger Monate in Umfragen fast die Hälfte der Wähler weg bricht, müssen die Parteistrategen die Ursachen in erster Linie im eigenen Lager suchen.

 

Erfolg mit Leihstimmen

Dass die FDP mit dem Wahlerfolg unabhängig von ihrer späteren Politik ihren Zenit schon überschritten hatte, war Politbeobachtern klar. Denn die hohen Ergebnisse bestanden zum nicht unerheblichen Teil aus Leihstimmen aus dem christdemokratischen Lager. Diese Wähler wollten die Fortsetzung der großen Koalition verhindern und gaben dieses Mal der FDP ihre Stimme.

Daneben hat das konkrete Agieren der FDP in den letzten Wochen auch einen Teil der liberalen Stammwähler vor den Kopf gestoßen. Sie gerierte sich in der Debatte über die Gesundheitsreform und die Steuersenkungen als eine Programmpartei, die ihre Politik von ideologischen Prämissen ableitet. Ein nicht geringer Teil der FDP-Wähler sieht sich aber als ideologiefrei. Ideologisch sind im zweifelsfrei immer die politischen Gegner, vor allem die Gewerkschaften und die Grünen.

Dieser Teil der Liberalen wirft Westerwelle vor, mit der Ideologisierung der Debatte die Verwirklichung der Ziele eher erschwert zu haben. Sie sehen sich als Pragmatiker der Macht, denen es mehr um die konkreten Ergebnisse als auf die korrekte ideologische Begründung ankommt. Sie kreiden der FDP an, ihre Rolle als Regierungspartei noch nicht gefunden zu haben. Diese Kritik kommt auch aus der FDP selber und dürfte deshalb von der gegenwärtigen Parteiführung besonders ernst genommen werden. Denn hier könnte sich ein zukünftiger innerparteilicher Konflikt auftun, an dem Westerwelle sicher kein Interesse hat.

 

Erinnerung an J.W.Möllemann

Dabei würde es auch um eine parteiintern nie geleistete Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit gehen. Es war der FDP-Politiker Jürgen W. Möllemann, der die Strategie der Ideologisierung der Partei gegen den Willen der an pragmatischen Politikmodellen interessierten Altliberalen vorangetrieben hatte. Zu seinen eifrigsten Unterstützern gehörte der damalige aufstrebende Jungpolitiker Westerwelle. Zeitweise wirkten beide im Kampf gegen die alte Garde aus der Kohlära wie ein Tandem.

Erst nachdem Möllemann mit dubiösen Spendentricksereien und antiisraelischen Tönen politischen und kurz danach auch physischen Selbstmord verübt hatte, war für Westerwelle der Weg an die Parteispitze frei. Möllemann wurde in kurzer Zeit zur Persona non grata. Nur die hohen Geldstrafen für die nicht angegebenen Spenden erinnern noch an seine Zeit. Eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Politikkonzept, das in modifizierter Form auch das von Westerwelle ist, hat es nicht gegeben. Wenn jetzt in den Medien beim Streit in der FDP auch wieder an Möllemann erinnert wird, muss das an der Parteispitze als Warnsignal aufgefasst werden.

 

Gnadenfrist für Westerwelle

Noch scheint Westerwelle parteiintern unangefochten. Seit er selber potentielle Konkurrenten wie seinen Vorgänger Wolfgang Gerhardt abservierte, gab es in der FDP keine personelle Alternative mehr. Zudem ist es Westerwelle gelungen, die Bürgerrechtsliberalen um Sabine Leutheusser-Schnarrenberger parteiintern einzubinden, die zeitweise in der FDP wie ein versprengter Haufen unter all den Wirtschaftsliberalen wirkten.

Die Kritik dürfte schnell zunehmen, wenn sich die momentane Schwäche der FDP nicht nur an Umfragewerten, sondern an Wahlergebnissen festmachen lässt. Der Wahl in NRW kommt dabei eine entscheidende Rolle zu. Auch dort werden der FDP hohe Verluste prognostiziert, die der schwarz-gelben Landesregierung in Düsseldorf die Mehrheit kosten könnten. Die Neuauflage eines Bündnisses zwischen SPD und Grünen wäre ebenso denkbar, wie ein schwarz-grünes Bündnis an der Ruhr. Nachdem die Grünen dort auch schon mit Wolfgang Clement regierten, gegen den Rüttgers fast schon wie ein Herz-Jesu-Sozialist wirkt, dürften sie keine großen Probleme damit haben. Wohl aber die FDP, denn jede weitere schwarz-grüne Koalition geht an ihre Existenz. Es würde sich damit eine zweite Variante einer bürgerlichen Koalition mit den auch nicht mehr ganz so jungen Linksliberalen von den Grünen etablieren.

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32044/1.html

 

Peter Nowak

Späte Anklage

In New York läuft ein Verfahren gegen die deutschen Unternehmen Daimler und Rhein-Metall; ihnen wird vorgeworfen, dass sie mit dem früheren südafrikanischen Apartheid-Regime wirtschaftlich zusammengearbeitet haben
Fast zwei Jahrzehnte ist das Apartheid-Regime in Südafrika schon Vergangenheit. Jetzt könnten mehrere Großkonzerne doch noch von der Geschichte eingeholt werden. Zur Zeit läuft in New York ein Verfahren gegen die deutschen Unternehmen Daimler und Rhein-Metall sowie die US-Firmen GM, Ford und IBM. Opfer des Apartheid-Regimes, die sich in der Khulumani-Support-Group zusammengeschlossen haben, und ihre Unterstützer werfen diesen Unternehmen vor, durch die wirtschaftliche Zusammenarbeit dazu beigetragen zu haben, dass sich das international geächtete Regime an der Macht halten konnte.

So wird dem Daimler-Konzern vorgeworfen, dem Apartheidregime-Regime Hubschrauber und Flugzeuge geliefert zu haben, die auch bei der Bekämpfung von Protesten der Bevölkerung zum Einsatz gekommen sind. Dadurch seien sie auch an deren Verbrechen gegen die Bevölkerung schuldig, argumentieren die Rechtsanwälte, die eine Sammelklage von mehreren Tausend Apartheidgegnern eingereicht haben. Sollten sie Erfolg haben, müssten die Firmen mit Schadenersatzforderungen in Milliardenhöhe rechnen. Auch der Imageverlust für die betroffenen Firmen wäre enorm.

Frage der Zuständigkeit

Doch zunächst geht es vor dem New Yorker Gericht um die Frage, ob die Klagen überhaupt zulässig sind. Die Kläger berufen sich auf den Alien Tort Claims Act, mit dem gegen die Piraterie vorgegangen werden sollte. Das Papier von 1798 erklärt völkerrechtliche Verletzungen von Nichtamerikanern gegenüber Nichtamerikanern für gesetzeswidrig und gesteht ihnen das Recht zu, sich an Gerichte in den USA zu wenden. Die Bundesregierung will die Zuständigkeit eines US-Gerichts für deutsche Firmen nicht anerkennen. Bisher haben auch mehrere Vorinstanzen in diesem Sinne entschieden und die Klagen deshalb als unbegründet zurückgewiesen.

Doch jetzt stehen die Chancen für die Kläger besser. So hat der südafrikanische Justizminister Jeff Radebe ein Verfahren in den USA ausdrücklich begrüßt. Auch die Obama-Regierung hat sich, anders als ihre Vorgänger, für die Anwendung des Alien Tort Claims Act in diesen Fällen ausgesprochen. Der Anwalt der Kläger Michael Hausfeld gehört zu den politischen Unterstützern des gegenwärtigen US-Präsidenten
 http://www.heise.de/tp/blogs/8/147035

Peter Nowak

Grundgesetz und AKW

Laufzeitverlängerung verletzt Schutzpflicht
In die Diskussion um die Laufzeitverlängerung von AKW hat die Deutsche Umwelthilfe (DUH) einen besonderen Akzent gesetzt. Sie stellte in dieser Woche in Berlin ein Gutachten vor, in dem ein längerer Weiterbetrieb der AKW für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt wird.

 Für die Autorin Cornelia Ziehm, die bei der DUH das Ressort Klimawende und Energiewandel leitet, verletzt der Staat seine Schutzpflichten, wenn er die Produktion weiteren Atommülls zulässt, ohne dass es eine Lösung für die Endlagerung hoch radioaktiven Abfalls gibt. Ziehm leitet diese Einschätzung aus den im Grundgesetz festgelegten Grundrechten auf Leben, Gesundheit und Eigentum sowie dem seit 1994 dort festgeschriebenen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen für die nächsten Generationen ab.

Das mediale und politische Interesse an dieser Expertise hielt sich in Grenzen. Die SPD hat die Bundesregierung zu einer Stellungnahme aufgefordert, das Thema aber auch nicht besonders hoch gehängt. Denn einen Hebel zum Ausstieg liefert das Gutachten wohl kaum. Sonst hätte der AKW-kritische Teil des Parlaments schon längst ein Normenkontrollverfahren einleitet, um die Frage zu klären, ob der Betrieb der AKW überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die in dem Gutachten angesprochenen Probleme beginnen nicht erst bei einer Laufzeitverlängerung.

Der Schritt unterbleibt aber aus gutem Grund. Die zuständigen Richter werden sich der Auslegung des DUH schwerlich anschließen. Verfassungsfragen sind auch und in erster Linie Machtfragen. Wenn AKW stillgelegt werden, dann wegen des politischen Drucks oder aus ökonomischen Gründen. Deswegen sind die AKW-Gegner auch gut beraten, ihren außerparlamentarischen Widerstand zu vergrößern. Wenn der Druck groß genug ist, könnte auch eine Debatte darüber geführt werden, wie realistisch ein AKW-Verbot im Grundgesetz ist.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/164603.grundgesetz-und-akw.html

Peter Nowak

Nie wieder Deutschland am Hindukusch

Wer sich mit der afghanischen Demokratiebewegung solidarisieren will, muss den Abzug der internationalen Truppen fordern.

„Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt«, lautete in den achtziger Jahren ein beliebter Slogan auf Demonstrationen, als Deutsch­land wegen seiner Vergangenheit noch als nur begrenzt kriegsfähig galt und keine Soldaten in Kriegseinsätze schickte. Heute dagegen gehen auch deutsche Soldaten, etwa das weitgehend un­ter Ausschluss der Öffentlichkeit agierende Kom­mando Spezialkräfte (KSK), in aller Welt ihrem schon von Kurt Tucholsky prägnant benannten Handwerk nach.

Spätestens seit dem von deutschen Militärs zu verantwortenden Massaker an einer unbekannten Zahl von afghanischen Dorfbewohnern dürfte allgemein bekannt sein, dass die Bundeswehr in Afghanistan nicht als bewaffnete Hilfsorganisation tätig ist. Führende Politiker, an der Spitze Bundeskanzlerin Angela Merkel, verbaten sich jeg­liche Kritik aus dem In- und Ausland am Bombardement. Und führende deutsche Militärs legten mit der Bemerkung, dass die in Kunduz getöteten Zivilisten keine Unbeteiligten gewesen seien, das internationale Kriegsrecht in deutscher Tradition aus. Fast gleichzeitig mit dem Kunduz-Massaker wurde im Bendlerblock, dem Sitz des deutschen Kriegsministeriums, ein Ehrenmal für die bei ihrem Job in aller Welt ums Leben gekommenen deutschen Soldaten eingeweiht.

Die Warnungen vor der Entstehung einer neuen deutschen Militärmacht, die vor knapp 20 Jahren die Kampagne »Nie wieder Deutschland« antrieb, haben sich also zumindest in diesem Punkt voll bestätigt. Doch heute hört man von denen, die sich mehr oder minder in diese Tradition stellen, keine Proteste gegen die selbstbewusste deutsche Militärmacht, die arme afghanische Bauern, die sich offenbar etwas Benzin aus gestohlenen Tanklastzügen abzapfen wollten, mit dem Tode bestrafte.

Im Gegenteil. Da benutzt Magnus Klaue in einem Artikel in der Jungle World (Nr. 3/2010) die Phrase von der »Verteidigung der Zivilisation«, die schon 1914 von der SPD-Führung verwendet wurde, um der sozialdemokratischen Basis den Krieg gegen das zaristische Russland schmackhaft zu machen. In der aktuellen Ausgabe der Monatszeitschrift Konkret kreiert Stefan Frank eine jihadistische Weltverschwörung und wirft Obama vor, dieser nicht mit der nötigen Entschlossenheit entgegenzutreten. Sollte man Obama nicht gleich empfehlen, von Deutschland zu lernen? Schließlich hat sich Oberst Klein in Kunduz nicht von den Bedenken von US-Militärs abhalten lassen, die gestohlenen Tanklastzüge und die sie umgebende Menschenmenge bombardieren zu lassen.

Wer meint, der Militäreinsatz diene der Demokratisierung und sei deshalb gerechtfertigt, sollte auf die Demokratiebewegung in Afghanistan hören. Denn die kämpft nicht nur gegen die Taliban, sondern auch gegen die Warlords im Lager des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai und damit auch gegen die westlichen Militärs, die dessen Regierung stützen. Die afghanische Islamkritikerin und parteilose Abgeordnete Malalai Joya, die nach Morddrohungen prowestlicher Islamisten und Warlords untertauchen musste und ihr Mandat verlor, spricht sich in ihrem Buch »Ich erhebe meine Stimme« für einen Abzug aller fremden Truppen aus Afghanistan aus, denen sie vorwirft, nicht die Demokratie, sondern »eine Fraktion der Warlords und Islamisten« zu fördern. Auch die Frauenorganisation Rawa, die den Sturz der Taliban begrüßt hat, spricht sich mittlerweile für einen schnellen Truppenabzug aus.

Auf diese Kräfte kann sich eine emanzipatorische Linke stützen, wenn sie einen schnellen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan fordert. Die in deutschen Medien vielzitierten deutschnationalen Lautsprecher dieser Forderung sollte man dagegen rechts liegenlassen. Etwa Rupert Neudeck, den Chef der Hilfsorganisation Grünhelme, der in der Frankfurter Rundschau über die den Deutschen »aus ausgeprägtem Geschichtsbewusstsein« zutiefst verbundenen afghanischen Stämme schwadroniert. Oder den ehemaligen CDU-Rechtsaußen Jürgen Todenhöfer, der sich in der Taz als Friedensfreund produziert, den Krieg wegen der alliierten Bombardements auf Hanau hassen gelernt haben will und sich nun um das Image Deutschlands sorgt. Seine aktive Unterstützung der afghanischen Islamisten, die Anfang der achtziger Jahre gegen die von der Roten Armee gestützte linke Regierung kämpften, wird in der Taz derweil als »Reise zu afghanischen Freiheitskämpfern« bezeichnet.

Die linke Reformregierung, die 1978 tatsächlich in Afghanistan Rechte für Frauen einführte und eine Bildungs- und Gesundheitsreform realisierte, hätte damals kritischer Unterstützung von links bedurft. Aber bis auf wenige Ausnahmen schlug sich die deutsche Linke damals auf Seiten der Islamisten. Heute dagegen gibt es auf Seiten der afghanischen Regierung keine emanzipatorische oder zivilisatorische Kraft, auf die sich Linke positiv beziehen könnten, sondern allein kleine demokratische Ansätze in der afghanischen Gesellschaft. Diese davor zu schützen, unter die Stiefel deutscher Soldaten oder ins Visier deutscher Bom­ber zu geraten, wäre die Aufgabe der hiesigen minoritären Linken. Und diese Aufgabe beinhaltet, zu verlangen, dass die Bundeswehr abzieht.

http://jungle-world.com/artikel/2010/05/40279.html

Peter Nowak

 

Solidarität mit Tekel wächst

Kundgebung in Berlin für Arbeiter des türkischen Ex-Staatsbetriebs
In Berlin demonstrierten Deutsche, Türken und Kurden zusammen gegen die Massenentlassungen beim ehemaligen türkischen Staatsunternehmen Tekel. Auch Gewerkschaften hierzulande solidarisieren sich.
 
Sprechchöre in deutscher, türkischer und kurdischer Sprache schallten am Mittwochnachmittag durch Kreuzberg. Rund 100 Menschen hatten sich in Berlin mit dem Arbeitskampf der Beschäftigten bei Tekel solidarisiert. Seit der Privatisierung des ehemals staatlichen türkischen Tabakkonzerns protestieren fast 12 000 Arbeiter seit dem 15. Dezember gegen drohende Entlassungen und Verschlechterungen ihrer Arbeitsbedingungen.

Ein Sprecher des aus Gewerkschaftern sowie türkischen und kurdischen Vereinen bestehenden Solidaritätskomitees mit den Tekel-Beschäftigten berichtete über den aktuellen Stand des Arbeitskampfes. Der Streik habe in der Türkei schnell eine landespolitische Bedeutung bekommen. In ihm komme die zunehmende Unzufriedenheit mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik der konservativ-islamischen Regierung zum Ausdruck. Wegen der großen Unterstützung in der Bevölkerung mussten sich mittlerweile die Verantwortlichen der Polizei für die Repression entschuldigen, mit der anfangs gegen die Streikenden vorgegangen worden war. Derzeit versucht die Regierung Zeit zu gewinnen, so die Einschätzung eines anderen Redners. Ein Vermittlungsversuch unter Beteiligung führender Gewerkschaften sei vor wenigen Tagen gescheitert, weil die Regierung nur über Entschädigungen verhandeln wollte.

Eine Gruppe von Arbeitern hat daraufhin einen ausgesetzten Hungerstreik wieder aufgenommen. Rufe nach einem Generalstreik in der Türkei werden immer lauter. Gleichzeitig hat der türkische Ministerpräsident Erdogan mit der baldigen Räumung der Zeltstadt in Ankara gedroht, in der sich die Streikenden aufhalten. Sie ist auch Anlaufpunkt für die Delegationen aus aller Welt geworden.

Inzwischen haben in vielen Ländern Solidaritätsaktionen begonnen – in Deutschland relativ spät, meinte Selahattin Yildirim gegenüber ND. Er ist Koordinator der Solidaritätsaktionen in Deutschland. »Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) unterstützt als Partnerorganisation der Tekel-Beschäftigten die Solidaritätsarbeit von Anfang an«, betont Yildirim. Vom DGB allerdings wünscht er sich noch eine wirkungsvolle Unterstützung. Auch der Berliner IG-Metall-Betriebsrat Mustafe Efe sprach sich auf der Berliner Kundgebung für eine stärkere gewerkschaftliche Unterstützung für die türkischen Kollegen aus. Er zog dabei auch Parallelen zur Situation in Deutschland. Kämpferische Gewerkschafter fühlen sich durch den Arbeitskampf in der Türkei motiviert, meinte Efe, der in einem Berliner Autowerk für eine linksoppositionelle Liste zur Betriebsratswahl kandidiert. Am kommenden Mittwoch ist in Berlin eine weitere Kundgebung geplant. In anderen Städten sind ähnliche Aktionen in Vorbereitung. Auch das Europäische Parlament will sich mit den Arbeiterrechten in der Türkei befassen, so Yildirim. Schließlich seien bei der Privatisierung der Tabakfabrik wesentliche Richtlinien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) umgangen worden.

 http://www.neues-deutschland.de/artikel/164421.solidaritaet-mit-tekel-waechst.html

Peter Nowak

Sicherheitscheck abgelehnt

PROTEST FU-Student steht vor Gericht, weil er ein Plakat ohne Impressum getragen haben soll
Ist es strafbar, ein Plakat ohne Impressum vor dem Bauch zu tragen? Mit dieser Frage wird sich das Landgericht Berlin am heutigen Freitag befassen. Dort ist der Politologiestudent Jens Q. angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Verletzung des Pressegesetzes, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung vor.

Q. hatte am 5. November 2008 an der Freien Universität (FU) gegen die verschärften Sicherheitsstandards wegen einer Rede von Bundespräsident Horst Köhler im Rahmen der Immatrikulationsfeier für Erstsemester auf dem Campus protestiert. Studierende, aber auch die Datenschutzbeauftragte der FU, Ingrid Pahlsen-Brandt, monierten damals, dass alle ZuhörerInnen der Köhler-Rede ihre Personalien vom Bundespräsidialamt überprüfen lassen mussten. Zudem gab es beim Einlass zwei Sicherheitskontrollen. Als Protest organisierten Studierende eine alternative Immatrikulationsfeier in der Nähe des Hörsaals, in dem Köhler sprach. „Ich hielt ein Mobilisierungsplakat für die Aktion vor die Brust, als ich und drei weitere KommilitonInnen von Polizisten festgenommen wurden“, berichtet Q. der taz.

Bei der Verhandlung vor dem Amtsgericht im vergangenen Jahr hatten neben dem Angeklagten drei StudentInnen als Zeugen ausgesagt, Q. habe bei seiner Festnahme keinen Widerstand geleistet. Der Polizist, der Q. festgenommen hat, erklärte, jener sei seiner Aufforderung, zum Polizeiauto zu gehen, nicht gefolgt. Zudem habe er leichte Verletzungen an der Handinnenfläche davongetragen, als er dem Festgenommenen die Hände auf den Rücken drehte und dieser den Griff lockern wollte. Q. wurde zu einer Geldstrafe von 450 Euro verurteilt. Er legte dagegen Berufung ein.

„Das Amtsgericht stützte meine Verurteilung lediglich auf die Aussage des Polizisten, obwohl ihm vier Aussagen widersprachen“, kritisiert Q. Er habe den Eindruck gehabt, allein die Festnahme bei den Protesten werde ihm schon als Beweis seiner Schuld ausgelegt. Ein studentisches Unterstützungskomitee ruft für diesen Freitag zur Prozessbeobachtung vor dem Landgericht auf.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2010%2F02%2F05%2Fa0064&cHash=bde5535575

PETER NOWAK

 Prozessbeginn:5. Februar, 9 Uhr, Raum 220, Turmstraße 91. Die Beobachtergruppe trifft sich um 8.30 Uhr am Eingang des Gerichts

Lauschig wohnen in früherer SS-Siedlung

GESCHICHTE In Zehlendorf erinnert eine Stele an die NS-Vergangenheit der Waldsiedlung. Einigen Anwohnern passt das gar nicht, andere fordern mehr Information – etwa über die SS-Mitglieder unter den früheren Mietern

In der Zehlendorfer Waldsiedlung wird seit kurzem auf einer Stele über die braune Vergangenheit informiert. Doch die späte Erinnerung ist umstritten. Die Initiative ging vom Kulturamt Steglitz-Zehlendorf aus, das bisher bereits drei Informationsstelen zu geschichtlichen Themen in dem Stadtteil erarbeitet hat. Doch noch nie war die Diskussion im Vorfeld so kontrovers wie in der Waldsiedlung. Denn ein Teil der Bewohner möchte möglichst gar nicht daran erinnern, dass der attraktive Wohnort am Rande Berlins in den 30er-Jahren als SS-Kameradschaftssiedlung entstanden ist.

„Die friedvolle Atmosphäre, welche die in den Landschaftsraum eingebettete Siedlung dem unbefangenen Betrachter heute vermittelt, macht es schwer, ihre Geschichte in Erinnerung zu rufen. Diese ist unmittelbar mit ihrer Entstehungszeit im Nationalsozialismus verwoben.“ Diese Sätze stehen auf einer Informationsstele, die an der Kreuzung Argentinische Allee, Ecke Teschener Weg in der Waldsiedlung Krumme Lanke in Zehlendorf eingeweiht wurde. Bis zum Ende des NS-Regimes waren mehr als 90 Prozent der Bewohner SS-Leute und ihre Familien. Ziel war es damals, eine Siedlung zu schaffen, „in der die Angehörigen der SS ausreichend und gesunden Wohnraum finden, der insbesondere den Aufstieg der Familien zu fördern geeignet ist“, schrieb Ende der 30er Reichsführer SS Heinrich Himmler über das Wohnprojekt.

„Man soll doch endlich die Vergangenheit ruhen lassen. Schließlich steht die Siedlung schon 70 Jahre. Sieben Jahre davon hat sie SS-Zwecken gedient“, sagte ein Anwohner vor kurzem bei einer Bürgerversammlung. Ein anderer befürchtete gar, durch die Debatte um die braune Vergangenheit des Wohngebiets könnten Neonazis angelockt werden. Dabei sei man froh, dass die Waldsiedlung nicht mehr mit ihrer Vergangenheit in Verbindung gebracht wird. In den frühen 50er-Jahren hieß das Areal in der Bevölkerung noch SS-Siedlung. Die Alliierten hatten dort nach 1945 bevorzugt Verfolgte und Widerstandskämpfer untergebracht.

Die 99-jährige Dora Dick lebt noch heute in der Wohnung, die sie als jüdische Emigrantin und kommunistische Widerstandskämpferin nach ihrer Rückkehr aus dem Exil zugewiesen bekam. Ihr Sohn Antonin Dick kann sich noch gut an die Schulzeit in der Siedlung erinnern. Dazu gehörte auch, dass schon bald nach Beginn des Kalten Krieges einige SS-Leute Anspruch auf ihre ehemaligen Wohnungen und Teile des Mobiliars erhoben.

Dass an die braune Vergangenheit der Siedlung erinnert wird, begrüßt Dick grundsätzlich. Der Theaterregisseur, der sich in seinen Stücken häufig mit NS-Verfolgung, Flucht und Emigration befasst hat, kritisiert allerdings, dass die dort noch lebenden NS-Gegner nicht von Anfang an in das Projekt einbezogen worden sind. „Weder ich noch meine Mutter wurden eingeladen, als es um die Planung der Stele oder die Diskussion um den Text ging“, moniert er. Erst aus der Zeitung habe habe er von der Bürgerversammlung erfahren.

Dick kritisiert auch, dass die Rolle der Gemeinnützigen Aktiengesellschaft für Angestellten-Heimstätten (Gagfah) in dem Text weitgehend ausgeblendet wird. Das Wohnungsunternehmen war für den Bau und die Verwaltung der Siedlung zuständig. Gagfah-Architekt Hans Gerlach hatte die Planung mit dem SS-Hauptamt für Rasse und Siedlung abgestimmt. „Die Frage, wer von den SS-Kriegsverbrechern in der Siedlung gewohnt hat, ist noch immer weitgehend unklar. Um die aufzuklären, müsste die Gagfah Mietsverträge und Geschäftsbücher aus der damaligen Zeit öffentlich zugänglich machen“, fordert Dick.

http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=bl&dig=2010%2F01%2F06%2Fa0159&cHash=c2ae67833a

Peter Nowak