Mieter wehren sich gegen Vertreibung

In vielen Häusern läuft eine brutale Sanierungspraxis – in Pankow regt sich Widerstand

Nach der Sanierung wird das Dreifache der Miete verlangt. In Pankow trafen sich Betroffene zum ersten Mieterforum, um sich gegen ihre Vertreibung zu wehren.

»Hier entmietet die Christmann Unternehmensgruppe 29 große und 16 kleine Menschen«, stand auf einen großen Transparent im Saal der Bezirksverordnetenversammlung Pankow. Die Firma Christmann saniert das Haus Kopenhagener Straße 46 in Prenzlauer Berg und hat es damit schon zu einiger Berühmtheit gebracht. Denn die Mieten sollen sich danach fast verdreifachen.

Ähnlich geht es vielen Mietern im Bezirk. Doch sie wollen dieses Schicksal nicht mehr einfach so hinnehmen. Am Freitagabend trafen sich 60 Bewohner aus Häusern in Prenzlauer Berg und Pankow zu einem Mieterforum, um über ihre Situation und darüber zu reden, wie sie ihre Verdrängung verhindern können. Deutlich wurde, dass in begehrten Wohngebieten eine zweite Vertreibung im Gange ist. Während bis Mitte der 90er Jahre ein großer Teil der ursprünglichen Bewohner wegziehen musste, sind nun die Verbliebenen ebenso wie auch ein Teil der in den 90er Jahren neu Zugezogenen betroffen.

»Eine neue Spekulationswelle ist über uns hereingebrochen. Sie ist mit einer brutalen Sanierungspraxis verbunden. Entmietungen und Zwangsräumungen sind ganz normale Geschäftspraktiken geworden«, stellte Oleg Myrzak fest. Er wohnt in einen der betroffenen Häuser, in der Gleimstraße 52.

Die Erfahrungsberichte zeigten, dass Myrzak nicht übertrieben hat. 16 Mieter der Kopenhagener Straße 46 bekamen fristlose Kündigungen und Abmahnungen, die juristisch natürlich keinen Bestand hatten. Sie sollten aber die Mieter zermürben. Dass sich nicht nur private Investoren, sondern auch städtische Wohnungsbaugesellschaften an der Verdrängung von Mietern beteiligen, machten Bewohner des Hauses Raumerstraße 13 deutlich, das im Besitz der Gewobag ist. Sie schilderten den Umgang des Unternehmens mit ihnen als »nicht so dramatisch wie in der Kopenhagener Straße, aber auch nicht wirklich human«. Erst sei ihnen mitgeteilt worden, dass die Wohnqualität verbessert werden solle, dann kamen die Ankündigungen für den Einbau eines Fahrstuhls, der von allen bisherigen Mietern abgelehnt wird, weil er die Miete in die Höhe treibt.

Verwiesen wurde auf die zahlreichen Internetblogs, mit denen Mieter aus den unterschiedlichen Häusern auf ihre Situation aufmerksam machen. »Leben hinter einer weißen Plane« und »Chronik einer angekündigten Entmietung« lauten die Titel.

Mit dem neugegründeten Pankower Mieterforum wollen sich die Betroffenen vernetzen und die Interessen der von Verdrängung bedrohten Menschen auch in der Politik lauter zu Gehör bringen. Der Senat wurde aufgefordert, »umgehend eine Umwandlungsverbotsverordnung zu erlassen, durch die die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen in allen sozialen Erhaltungsgebieten unter einen Genehmigungsvorbehalt gestellt wird«.

Das nächste Mieterforum will sich besonders der energetischen Sanierung im Interesse der Mieter widmen. Derzeit dient sie oft der Vertreibung von Mietern, beispielsweise in der Kopenhagener Straße 46. Sind die bisherigen Bewohner ausgezogen, können ihre Wohnungen als Eigentum teuer verkauft werden.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/952555.mieter-wehren-sich-gegen-vertreibung.html

Peter Nowak

Kein ehrenwertes Haus

PROTEST Bewohner eines 60er-Jahre-Baus in Treptow müssen ausziehen. Ein neues Gebäude wird gebaut – mit hohen Mieten, die sich Alteingesessene kaum leisten können

„Wohnungsbau Neukölln – Wiederaufbau 1960“ steht in großen Lettern an einer Wand der Häuserblöcke Heidelberger Straße 15-18. Dort, wo Neukölln an Treptow grenzt, befinden sich seit über fünf Jahrzehnten die Häuser der Genossenschaft Wohnungsbau Verein Neukölln (WBV). Die Zeit ist nicht spurlos an den Gebäuden vorübergegangen: Ein dreckiges Graubraun hat die ursprüngliche Farbe längst überdeckt.

Mit den Häusern sind auch manche der MieterInnen in die Jahre gekommen. Nun sollen sie weg: Vor einigen Wochen haben die MieterInnen erfahren, dass sie die Wohnungen wegen umfassender Baumaßnahmen räumen müssen. Die Genossenschaft bietet Ersatzwohnungen an. Sie hat den MieterInnen zudem mitgeteilt, dass sie sich nicht an die Kündigungsfristen halten müssen, wenn sie selbst eine Ersatzwohnung finden sollten. Die ersten sind schon ausgezogen.

Vor einigen Tagen haben die MieterInnen Post von der Treptower Stadtteilinitiative Karla Pappel bekommen, in der scharfe Kritik an der WBV geübt wird. Nach Einschätzung der Initiative sollen die Häuser nicht saniert werden, sondern einem schicken Neubau weichen.

Die AktivistInnen verweisen auf das Titelblatt der Mitteilungen der Genossenschaft vom September 2014, auf dem ein Architektenentwurf der neuen Heidelberger Straße 15-18 zu sehen ist: Statt 50-jähriger Häuserblöcke sind dort moderne Lofts abgebildet. In einen solchen Neubau könnten die alten MieterInnen nicht mehr zurückkehren, weil die Mieten zu teuer wären, monieren die Vertreter der Initiative. „Unterschreiben Sie keine Einverständniserklärung zur Kündigung. Tauschen Sie sich bei anderen NachbarInnen aus. Handeln sie gemeinsam und wohlüberlegt“, rät die Karla Pappel den MieterInnen.

Anfang November hatte die Stadtteilinitiative den Film „Die Verdrängung hat viele Gesichter“ gezeigt, der sich mit der Aufwertung Treptows befasst. „Da haben wir von der Entwicklung in der Heidelberger Straße 15-18 erfahren“, erklärte eine Aktivistin. Ziel des Briefes sei es, die oft schon älteren MieterInnen zu unterstützen.

Auch in der Nachbarschaft verfolgen manche die Entwicklung mit Argwohn. Gabriele Winkler wohnt in einem WBV-Haus ganz in der Nähe und fordert eine öffentliche Diskussion. „Durch die Planungen in der Heidelberger Straße 15-18 wird der Mietspiegel im Stadtteil steigen. Das betrifft auch uns“, erklärt die Rentnerin der taz.

Ein Mitglied des WBV-Vorstands, das seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, weist die Vorwürfe zurück. „Wir sind eine Genossenschaft und keine Heuschrecke. Bei uns entscheiden die Mitglieder und nicht ein Vorstand“, betont er gegenüber der taz. Die Mitgliederversammlung werde auch darüber befinden, ob die Häuser in der Heidelberger Straße modernisiert oder abgerissen werden. „Bisher ist noch keine Entscheidung gefallen“, sagt er. Die Häuser seien nach mehr als 50 Jahren in einen baulichen Zustand, der die geplanten Maßnahmen erfordere, so der Genossenschaftsvorstand.

Er teilt die Einschätzung, dass sich nach einer Modernisierung viele der derzeitigen BewohnerInnen die Miete nicht mehr werden leisten können. „Die Genossenschaft unterstützt die Mieter aber bei der Suche nach Ersatzwohnungen großzügig“, sagt er.

Auch in der Genossenschaft werde zudem verstärkt über Maßnahmen diskutiert, die einkommensschwachen Menschen ein Verbleiben in den Genossenschaftswohnungen ermöglichen.

http://www.taz.de/Mieterprotest/!149603/

Peter Nowak

Unvergessen

Tagungsnotizen

»Dein unbekannter Bruder« lautet der Titel einer DEFA-Produktion über den kommunistischen Widerstand gegen Hitler in Hamburg. 1982 wurde er von der DDR für die Filmfestspiele in Cannes nominiert, dann aber zurückgezogen und aus dem Kinoprogramm gestrichen. Ein Fall von Zensur der SED? So einfach lässt sich der Vorgang nicht erklären, meint Schauspieler Uwe Kockisch, der im Film die Hauptrolle spielte. Ehemalige Widerstandskämpfer hätten moniert, dass ihr Kampf falsch dargestellt sei. Kokisch interpretierte dies als Streit von Generationen um Geschichtsbilder. Der Film wurde zum Auftakt einer Konferenz im Berliner Haus der Demokratie gezeigt, die sich mit Perspektiven einer Erinnerungskultur des Arbeiterwiderstands befasste. Hans Coppi von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) stellte die Frage, ob und wie sich diese wandle, wenn kaum noch Zeitzeugen leben. Zum Guten oder Schlechten?

Sabine Kritter von der Gedenkstätte Sachsenhausen registrierte bereits in den letzten Jahren einen Paradigmenwechsel in der Gedenkstättenpädagogik. In Abgrenzung zur Geschichtspolitik der DDR werde der Fokus nun auf bisher marginalisierte Opfergruppen gelegt. Dazu gehören Menschen, die als sogenannte »Asoziale« oder wegen sexueller Andersartigkeit verfolgt worden sind. Der aktivistische Widerstand hingegen sei in den Hintergrund getreten. Kritter gab zudem zu bedenken, dass im Alltag vieler Jugendlicher der Arbeiterwiderstand nicht mehr präsent sei. Auch der Geschichtsdidaktiker Martin Lücke bezweifelte, dass jener noch eine besondere Rolle in der Wissensvermittlung über Opposition und Widerstand gegen die NS-Diktatur einnehme. Ihm widersprach der an der FU Berlin lehrende Politikwissenschaftler Stefan Heinz. Er verwies auf jüngste Forschungen , durch die deutlich geworden sei, dass der Widerstand gegen das NS-Regime in Gewerkschaftskreisen größer als bisher angenommen gewesen ist.

Sodann stellten junge Historiker und junge Gewerkschafter Projekte vor, die sich mit dem Arbeiterwiderstand befassen. Dazu gehört die von der Berliner VVN-BdA initiierte, ehrenamtlich wirkende Arbeitsgruppe »Fragt uns, wir sind die letzten«; fünf Broschüren mit Interviews sind von ihr bisher erschienen. Der Bezirksjugendsekretär der IG Metall-Jugend Berlin-Brandenburg-Sachsen Christian Schletze-Wischmann informierte über eine biografische Videoreihe junger Gewerkschaftsmitglieder. Die Historikerin Bärbel Schindler-Saefkow wiederum berichtete über den langen Weg bis zur Errichtung eines Denkmals für den Arbeiterwiderstand in den Askania-Werken in Berlin Marienfelde. Dabei betonte sie die positiven Erfahrungen mit Jugendlichen einer nahe gelegenen Schule. Praktische Beispiele also, die demonstrieren, dass sich die heutige Jugend sehr wohl interessiert.

Peter Nowak

Middelhoff-Urteil: Sieg des Populismus

»In erster Linie Geld«

»Nachtleben für Rojava« heißt das Motto einer Berliner Initiative, die praktische Solidarität mit den vom »Islamischen Staat« (IS) bedrohten Menschen in Nordsyrien leisten möchte. Jonas Mende gehört zu den Initiatoren.

Was hat das Berliner Nachtleben mit dem Kampf gegen den IS in Rojava zu tun?

Das Berliner Nachtleben ist an vielen Orten der Welt bekannt für seine Vielfältigkeit und Freizügigkeit. Dabei profitieren wir von individuellen Freiheiten, die es zu verteidigen gilt. Diese Freiheiten stehen im direkten Gegensatz zu dem repressiven und tyrannischen Weltbild des IS. Rojava ist zu einem Symbol für die Hoffnung auf ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben geworden. Das wollen wir unterstützen.

Wen haben Sie für die Initiative angesprochen?

Verschiedene Berliner Clubs, Kneipen, Bars, Veranstalter und Künstler, die wir persönlich kennen und die bereit sind mitzumachen. Mit diesem Stamm sprechen wir alle möglichen Läden und Einzelpersonen an und bauen auf eine breitflächige und kreative Beteiligung. Es besteht für alle die Gelegenheit, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten in die Kampagne einzubringen.

Wie waren die Reaktionen?

Bisher waren die Reaktionen überwiegend positiv. Das liegt sicherlich auch daran, dass die Situation in Rojava medial sehr präsent ist und viele Leute das Bedürfnis verspüren, sich zu engagieren. Zu den Unterstützern der Kampagne gehören unter anderem der Club Watergate, die Booking-Agentur Monkeytown und das Sicherheitsunternehmen Shelter.

Wie sieht die konkrete Unterstützung für Rojava aus?

In erster Linie sammeln wir Geld. Dabei wollen wir nicht als außenstehende Personen entscheiden, wo und wie die Spenden am besten eingesetzt werden sollen. Die Aktivisten vor Ort entscheiden, was am dringendsten benötigt wird. Neben dieser konkreten finanziellen Unterstützung wollen wir Öffentlichkeit für die Lage in Rojava schaffen. Denn die internationale Solidarität und öffentlicher Druck sind eine wichtige Hilfe für die Menschen in Rojava.

Soll die Kampagne auf andere Städte ausgeweitet werden?

Unser Schwerpunkt liegt in Berlin. Es gibt allerdings schon Kontakte in andere Städte wie Hamburg, Frankfurt und Bremen. Natürlich ist es ausdrücklich erfreulich, wenn die Idee auch dort aufgegriffen wird und weitere Unterstützung erhält. Die humanitäre Situation in Rojava ist so katastrophal, dass es nicht genug

http://jungle-world.com/artikel/2014/46/50913.html

Peter Nowak

Begehung mit öffentlicher Anteilnahme

A100 Auch Kleingärtner in Treptow müssen der Autobahn weichen – und hoffen auf höhere Abfindungen

„Ich wohne seit 1987 hier und der Garten ist mein Leben. Jetzt soll ich hier vertrieben werden“, empört sich Erika Gutwirt. Die rüstige Rentnerin steht vor dem Eingang ihres grünen Domizils in der Kleingartenanlage in der Beermannstraße in Treptow. Die soll der geplanten Verlängerung der A100 weichen.

Am Mittwoch hatten sich um 11 Uhr MitarbeiterInnen der Senatsverwaltung angemeldet, um die Übergabe der Gärten vorzubereiten. „Das ist kein öffentlicher Termin“, rief ein aufgebrachter Behördenmitarbeiter, als er etwa 50 Menschen vor dem Eingang der Gartenanlage versammelt sah. Neben GartenbesitzerInnen hatten sich auch AktivistenInnen der Treptower Stadtteilinitiative Karla Pappel eingefunden.

„Die Begehung der Gärten durch die Behörden ist eine öffentliche Angelegenheit, und deswegen wollen wir sie beobachten“, begründete eine Aktivistin die Unterstützung.

Zuerst wussten einige GartenbesitzerInnen nicht, ob sie sich über so viel Öffentlichkeit freuen sollten. Manche befürchteten, die Begehung werde abgebrochen. Später aber bedankten sich mehrere GartenbesitzerInnen für die Unterstützung. Schließlich wurde bei der Begehung verkündet, dass möglicherweise noch einmal über die Höhe der Abfindungen diskutiert werde, die die Kleingärtner erhalten sollen. „Wir mussten uns selbst um einen neuen Garten und den Umzug kümmern. Von Entschädigung kann also keine Rede sein“, monierte man in der Familie Zentgraf, die seit über zehn Jahren eine Gartenparzelle mit acht alten Bäumen in der Beermannstraße hatte.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2014%2F11%2F13%2Fa0196&cHash=2074f510b0d0cf4a153a2caf0e2f15a0

Peter Nowak

»Nur ein Einzelfall«

Der Berliner Sozialrechtler Lutz Achenbach über das Urteil des EuGH

Deutschland darf einer Rumänin Hartz-IV-Leistungen verweigern. Hat sich damit die deutsche Rechtslage durchgesetzt?
Zunächst einmal wurde ein Einzelfall entschieden, der mit der Frage, mit der wir uns seit Langem befassen, gar nichts zu tun hat.

Warum?
In dem Fall, über den der EuGH entschieden hat, ging es um eine Rumänin, die mit ihrem Kind bei ihrer Schwester in Leipzig lebt und noch nie gearbeitet oder sich beworben hat. Hier hat das Gericht entschieden, dass keine Hartz-Leistungen gezahlt werden müssen. Wir kennen aber viele Fälle von EU-Bürgern, die dem Arbeitsmarkt in Deutschland zur Verfügung stehen, sich bewerben und teilweise auch schon hier gearbeitet haben und denen Hartz-IV-Leistungen verweigert werden. Darüber hat das Gericht nicht entschieden und sie sind von dem Urteil daher auch nicht betroffen.

Warum wird dann dem Urteil in der Öffentlichkeit eine solche Bedeutung zugesprochen?
Die Leipziger Richter, die den Fall vorliegen hatten, haben natürlich ein begründetes Interesse daran, dass hierüber von einem europäischen Gericht entschieden wird. Das liegt auch daran, weil im hier einschlägigen SGB II nichts darüber enthalten ist, wie mit EU-Bürgern verfahren wird, die nicht mal arbeitssuchend sind.

Sind Sie über das Urteil enttäuscht?
Es hätte natürlich gute Argumente dafür gegeben, auch der Frau aus Rumänien Leistungen nach Hartz IV zuzusprechen, beispielsweise das Diskriminierungsverbot innerhalb der EU. Viele hätten sich auch gewünscht, dass das Gericht grundsätzlicher über die Frage entscheidet, welche Verbindung ein EU-Bürger zum deutschen Arbeitsmarkt in Deutschland haben muss, wenn er Leistungen nach Hartz IV bekommt. Das hat der EuGH nicht gemacht.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/952071.nur-ein-einzelfall.html

Fragen: Peter Nowak

Kein Zeugnisverweigerungsrecht für Angehörige von Hartz IV-Empfängern

Die EU-Mauer fiel nicht

Verschwundene Gedenkkreuze für Mauertote lösen heftige Debatte in der Berliner Lokalpolitik aus

Die Künstler des »Zentrums für politische Schönheit« wollten die EU-Außengrenze einreißen. Symbolisch. Doch nun ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen sie.

Während in Deutschland am vergangenen Wochenende alle Medien vor allem über die Öffnung der Berliner Mauer vor 25 Jahren redeten, machten sich etwa 100 Menschen zur EU-Außengrenze auf. Sie starteten am Freitag vom Berliner Gorkitheater mit zwei Bussen zum »Ersten Europäischen Mauerfall« nach Bulgarien: Ihr Ziel waren die Grenzanlagen zwischen Bulgarien in der Türkei.

Kurz vor dem Start klang Philipp Ruch von dem Künstlerkollektiv »Zentrum für politische Schönheit«, das die Aktion vorbereitete, kämpferisch. Mit Blick auf die Ereignisse zum Berliner Mauerjubiläum sagte er: »Gedenken wir nicht der Vergangenheit, gedenken wir der Gegenwart – und reißen die EU-Außenmauern ein. Nicht mit warmen Worten, sondern mit Bolzenschneidern!« Davon fühlten sich nicht nur Künstler, sondern auch antirassistische Aktivisten angesprochen, die an der durch Spenden finanzierten Bustour teilnahmen.

Manche der Teilnehmer waren am Ende jedoch enttäuscht. Denn die Gruppe kam nur in Sichtweite der Grenze. Der Zugang war von einem großen Polizeiaufgebot versperrt. »Mir war klar, dass eine vorher öffentlich angekündigte Demontage des Grenzzauns nicht gelingen kann«, monierte ein Teilnehmer aus dem antirassistischen Spektrum im Radio. Doch habe er gehofft, dass die Organisatoren noch eine Überraschung vorbereitet gehabt hätten. So wie er waren auch andere Fahrgäste nach der langen Anfahrt darüber enttäuscht, dass sofort die Rückreise angetreten wurde.

Der Initiator Ruch wollte jedoch keineswegs von einer Niederlage sprechen, auch wenn die europäische Mauer nicht angetastet wurde. Schließlich sei durch die Aktion nicht nur in Deutschland sondern auch in den Ländern, die der Bus durchquerte, die Tatsache diskutiert worden, dass Flüchtlinge gewaltsam an der Einreise nach Europa gehindert werden. Besonders in Bulgarien war die Aktion ein zentrales Thema in den Medien. Der erst vor Kurzem in sein Amt gewählte bulgarische Innenminister hatte im Fernsehen sein Verbleiben im Amt daran geknüpft, dass die Grenze zur Türkei unangetastet bleiben werde.

Die Teilnehmer der Aktion bekamen auch die grenzüberschreitende Polizeiarbeit zu spüren. Bereits bei der Abfahrt in Berlin war das Gepäck aller Fahrgäste kontrolliert worden. Bei mehreren Grenzübertritten wiederholte sich das Prozedere. Und mittlerweile ermittelt der Staatsschutz gegen die Künstler, weil sie im Vorfeld der Aktion auch Weiße Kreuze entwendet hatten, die an die Mauertoten in Berlin erinnern. Das »Zentrum für politische Schönheit« erklärte, man habe die Kreuze vorübergehend zu den Geflüchteten gebracht, die heute die EU-Grenzen überwinden wollen.

Die Kreuze wurden nach Angaben der Polizei am Sonntagabend zwar wieder zurückgebracht. Doch löste ihr zeitweiliges Verschwinden eine heftige Diskussion in der Berliner Lokalpolitik aus. So griff Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) das Maxim-Gorki-Theater wegen einer angeblichen Mittäterschaft an. In einem Gastbeitrag im »Tagespiegel« schrieb Henkel am Wochenende, diese »verabscheuungswürdige« Tat erhielte eine neue Dimension, da das Theater zugebe, »die Aktion unterstützt zu haben, auch wenn das Ausmaß noch nicht ganz klar ist.« Besonders bitter sei, dass diese Komplizenschaft offenbar mit Steuergeldern gefördert worden sei, so Henkel. »Die Rolle des Maxim-Gorki-Theaters muss dringend aufgeklärt werden.«

Gegenwind für seine Kommentare erhielt Henkel von den Berliner Grünen. Diese betonten am Montag im Innenausschuss, der Senator habe keinerlei Anhaltspunkte für seine Anschuldigungen vorgelegt. Die Grünen-Abgeordnete Canan Bayram sagte, stattdessen drohe Henkel der Intendantin Shermin Langhoff, »einer Migrantin wohlgemerkt«. Dabei müsse der Senat für die Freiheit der Kunst eintreten.

Das öffentlich finanzierte Gorki-Theater hatte lediglich zugegeben, Duplikate der Kreuze für die Aktion der Protestierer gebaut zu haben. Intendantin Langhoff bestätigte das der »Berliner Morgenpost«. Langhoff hatte auch gesprochen, als die Protestierer Richtung Südosteuropa abgefahren waren. Laut »Morgenpost« erhielt die Protestgruppe 10 000 Euro aus dem Kulturetat Berlins.

Die Grünen fragten mehrfach, ob es Ermittlungen auch gegen das Theater gebe. Staatssekretär Bernd Krömer (CDU), der Henkel im Ausschuss vertrat, sprach trotz Nachfragen nur von Ermittlungen in alle Richtungen und »Gesprächen mit einem Rechtsanwalt« ohne das näher zu erläutern. Probleme mit dem Gesetz bekommen jetzt zumindest die drei Männer und eine Frau, die die Gedenkkreuze zurückbrachten. Gegen sie ermittle nun der Staatsschutz, teilte die Polizei am Montag mit. Mit Agenturen

Peter Nowak

Mehr als Symbolik

»Genug geschwiegen« steht auf dem Transparent an der Spitze der Demonstration. Dahinter gehen zehn Personen in weißen T-Shirts, auf denen die Gesichter der zehn Todesopfer des »Nationalsozialistischen Untergrunds« zu sehen sind. Drei Jahre sind seit dessen Selbstenttarnung vergangen. In Berlin wurde das zum Anlass genommen, um mit einer Demonstration zu erinnern, dass jenseits offizieller Sonntagsreden keine ernsthaften Konsequenzen gezogen wurden. In den Redebeiträgen, die am Samstag auf der Route durch den Wedding gehalten werden, wird betont, dass Rassismus in großen Teilen der Bevölkerung wie auch in den Staatsapparaten fest verankert sei. Knapp 1 500 Menschen beteiligen sich an der Demonstration, bei der es nur einen ernsthaften Zwischenfall gibt. Aus einem Haus wird ein schweres Gefäß auf die Demonstranten geschleudert, zum Glück trifft es niemanden. Auf der Abschlusskundgebung betonen mehrere Redner, dass der Kampf um das Gedenken an die NSU-Opfer weitergeht. In vielen Städten wollen Angehörige die Straßen, in denen ihre Verwandten ermordet wurden, nach den Opfern benennen. Überall wurde dieses Ansinnen abgewiesen oder verzögert. In einigen Fällen sammelten Anwohner sogar Unterschriften gegen eine Umbenennung. Mit symbolischen Straßenumbenennungen haben Angehörige und antirassistische Gruppen in Hamburg und Berlin deutlich gemacht, dass sie es nicht akzeptieren, dass den Angehörigen selbst diese Geste der Anerkennung verweigert wird. Von der Politik können sie keine Unterstützung erwarten. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) besuchte am 31. Oktober das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln und lobte dessen Beitrag für die Sicherheit Deutschlands. Die ungeklärten Fragen über die Rolle dieses Dienstes beim Umgang mit dem NSU reduzierte Merkel auf »ein paar Dinge aus der Vergangenheit«. Es ist zu befürchten, dass sie damit großen Teilen der deutschen Bevölkerung nach dem Munde redet.

http://jungle-world.com/artikel/2014/45/50871.html

Peter Nowak

Obskure Kundgebungen

Die Feierlichkeiten zum Mauerfall am 9. November in Berlin nutzten auch verschiedene rechte und rechtspopulistische Gruppen für ihre Präsentation.

Mit einer Bühne unmittelbar vor dem Berliner Reichstag war eine Gruppe aus dem „Reichsbürger“-Spektrum vertreten. Über mehrere Stunden wiederholten die Teilnehmer dort ihre Thesen, dass  Deutschland keine Verfassung habe und weiterhin von den USA besetzt sei. Auch für den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine machten mehrere Redner die  USA verantwortlich.  Damit  fanden sie auch Gehör bei einer Gruppe, die sich Unabhängige Montagsmahnwache nennt und  in den vergangenen Monaten häufiger mit Kundgebungen in Berlin aufgefallen ist, an denen NPD-Funktionäre und „Reichsbürger“ beteiligt waren.

Für den 9. November hatte die Montagsmahnwache eine Kundgebung vor dem Kanzleramt angemeldet. Zentraler Redner war dabei der Publizist Jürgen Elsässer, der noch einmal den Aufmarsch der Hooligans gegen den Salafismus vor zwei Wochen in Köln als antifaschistische Demonstration bezeichnete. Auf Xavier Naidoo musste  das Bündnis dieses Mal verzichten. Am 3. Oktober war der Sänger, der einst mit antirassistischen Texten bekannt war, an gleicher Stelle in Berlin vor einem Bündnis aus „Reichsbürgern“ und  Teilen der Montagsmahnwachen aufgetreten.

Am gestrigen Sonntag konnten sie sich an einer Stelle platzieren, an der ein Großteil der Teilnehmer des Bürgerfestes zum 9. November vorbeikamen. Doch viele Passanten blieben nur kurz für ein Foto stehen. Am Beginn der Kundgebung gab es Proteste gegen den Auftritt der „Reichsbürger“. Die Polizei trennte beide Gruppen durch Speergitter. Die Gegendemonstranten verließen bald den Platz vor dem Reichstag und  machten sich auf dem Weg zum Alexanderplatz. Dort hatten sich rund 30 Hooligans versammelt. Die hatten wohl nicht mitbekommen, dass ein angemeldeter Aufmarsch kurzzeitig wieder abgesagt worden war. Nachdem die Zahl der Gegner anwuchs, geleitete die  Polizei die Rechten schnell vom Platz.

http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/obskure-kundgebungen

Peter Nowak

Die Prekären organisieren sich und machen ihre Situation öffentlich

Eingebaute Vorfahrt

Für den Bau einer Autobahntrasse sollen in Berlin Häuser abgerissen werden. Was aus den Mietern wird, die sich die Miete der Ersatzwohnungen nicht leisten können, scheint den Senat nicht zu interessieren.

Ein fast undurchdringliches Wurzelwerk, seltene Tierarten und alte Bäume. Nur das Rauschen der S-Bahn im Minutentakt erinnert daran, dass dieses grüne Idyll nicht irgendwo in der Provinz, sondern in Berlin-Treptow liegt. Nur wenige Meter entfernt von viel befahrenen Straßen, in denen sich rund um die Uhr Stoßstange an Stoßstange drängt, findet sich noch eine ausgedehnte Kleingartenanlage. Für Annika Badenhop und Andreas Germuth ist es ihr »grüner Himmel«. So nennen sie auch ihren Blog, auf dem sie seit Frühjahr 2010 ihre Beobachtungen, die sie als ständige Gartennutzer machen, protokollieren. Akribisch wird dort notiert, wann welcher Vogel in welchem Baum seinen Nistplatz aufgeschlagen hat, welche Pflanze gerade blüht und wo sich ein Waldkauz gezeigt hat. »Natur, Garten und Selbstversorgung« lautet der Untertitel des Blogs, der gut zur derzeitigen Konjunktur des Urban Gardening passt. Doch mit dem grünen Idyll in Treptow soll es in diesem Herbst vorbei sein. Wo derzeit noch hohe Bäume seltenen Tierarten ein Domizil bieten, soll bald eine Großbaustelle für den 16. Bauabschnitt einer Autobahn entstehen.

»Die Bundesautobahn A 100 ist für das Fern-, Regional- und Stadtstraßennetz der Hauptstadt Berlin von großer Bedeutung«, heißt es auf der Homepage der zuständigen Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt. »Die Erreichbarkeit des zukünftigen Flughafens Berlin-Brandenburg und des Wissenschaftsstandorts Adlershof sowie die weiträumigen Verbindungen nach Dresden, Cottbus und Frankfurt/Oder werden damit wesentlich verbessert.«

Von den Gartennutzern ist hier ebenso wenig die Rede wie von den zwölf Mietparteien, die noch in der Beermannstraße 22 wohnen. Das Haus befindet sich im Besitz des Bundes und soll noch in diesem Herbst abgerissen werden, damit die Vorarbeiten für die A 100-Trasse beginnen können. Man habe den Mietern Angebote für Ersatzwohnungen gemacht, sagt Birgit Richter von der Senatsverwaltung. Jonas Steinert*, einer der letzten verbliebenen Mieter in der Beermannstraße, berichtet im Gespräch mit der Jungle World, dass er als Freiberufler kein großes Einkommen habe. Daher seien für ihn Ersatzwohnungen, deren Miete zwischen 65 und 120 Prozent über der Miete seiner derzeitigen Wohnung liegen, aus finanziellen Gründen nicht akzeptabel. »Für mich ist eine Erhöhung von maximal zehn Prozent der Nettokaltmiete tragbar«, schrieb Steinert an die Senatsverwaltung.

Statt einer Antwort erhielten Steinert und andere Mieter der Beermannstraße Schreiben, in denen die Senatsverwaltung die Enteignung der Mieter ankündigt. »Ich teile Ihnen mit, dass ich zur Wahrung unserer Interessen in Kürze bei der zuständigen Behörde die vorzeitige Besitzeinweisung und die Enteignung des Mietrechts beantragen werde«, heißt es in den der Jungle World vorliegenden Briefen. Steinert musste sich von einem Rechtsanwalt erklären lassen, dass ihm damit mitgeteilt werde, dass nach Paragraph 116 des Baugesetzbuchs gegen ihn vorgegangen werden soll und er dadurch zahlreiche Rechte, die er als Mieter gegen eine Kündigung hat, verliert.

»Durch die Besitzeinweisung wird dem Besitzer der Besitz entzogen und der Eingewiesene Besitzer. Der Eingewiesene darf auf dem Grundstück das von ihm im Enteignungsantrag bezeichnete Bauvorhaben ausführen und die dafür erforderlichen Maßnahmen treffen«, heißt es in dem Gesetz. Eine vorzeitige Besitzeinweisung dürfe allerdings nur getroffen werden, wenn die »Maßnahme aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit dringend geboten« ist, heißt es dort weiter. »Wir sollen für den Bau einer Autobahn, die in Berlin äußerst umstritten ist, aus unseren Wohnungen fliegen«, moniert Karl Pfeiffer. Der Endfünfziger wohnt im Vorderhaus der Beermannstraße. Er sei immer an Verhandlungen interessiert gewesen und lehne auch einen Auszug nicht generell ab.

»Wir sind doch für die Senatsverwaltung nur lästige Verwaltungsakte, die schnell verschwinden sollen. Wenn solche Töne aus der Senatsverwaltung kommen, sagen wir, das lassen wir mit uns nicht machen«, sagt Pfeiffer. Die letzten verbliebenen Mieter sind besonders empört, dass in den Schreiben der Senatsverwaltung eine Räumungsaufforderung der Wohnungen bis zum 31. Oktober enthalten ist. Als Drohung ohne jegliche Grundlage bezeichnet Steinert diesen Passus, den er daher auch nach juristischer Beratung ignoriert hat. Ihn empört, dass der Senat eine solche Drohkulisse aufbaut und damit Angst bei den Mietern erzeugt. Zumal die Senatsverwaltung in dem Schreiben auch betonte, dass sie zur Bereitstellung von Ersatzwohnungen nicht verpflichtet sei. Das klang am 16. Januar 2014 noch ganz anders. Damals erklärte der zuständige Berliner Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, Michael Müller (SPD), auf eine mündliche Anfrage des Abgeordneten Harald Moritz (Grüne) zu den sozialen Folgen der Verlängerung der A 100 im Berliner Abgeordnetenhaus: »Im Zusammenhang mit den zuständigen Verwaltungen der Grundstücke … werden insbesondere die Mieterinnen und Mieter unterstützt, bei denen sich die Wohnraumsuche aus privaten Gründen schwierig gestaltet.«

Die verbliebenen Mieter wollen Müller, der gerade kurz vor seinem nächsten Karriereschritt steht, nun an diese Versprechungen erinnern. Nach der parteiinternen Abstimmung hat die Mehrheit der Berliner SPD-Mitglieder Müller zum Nachfolger des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit bestimmt. »Das Thema A 100 spielte parteiintern bei der Abstimmung keine Rolle«, bedauert Mieter Steinert, der extra in die SPD eingetreten ist, um deutlich zu machen, dass das Thema A 100 noch nicht abgehakt sei. Doch er hatte nicht die Gelegenheit, einen dazu vorbereiteten Redebeitrag zu verlesen. Darin hätte er sicher auch daran erinnert, dass Müller neben Wowereit bereits zu einer Zeit, als das Bauvorhaben auch innerhalb der Berliner SPD noch umstritten war, zu einem der vehementesten Befürworter des Autobahnbaus gehörte. Eine Mehrheit für den Ausbau der A 100 kam damals nur zustande, weil Wowereit seine politische Zukunft daran knüpfte. Müller steht also für Kontinuität.

Berthold Kreutz*, ebenfalls ein Mieter der Beermannstraße, kann nur darüber lachen, dass Müller nach seiner parteiinternen Kür zum Nachfolger von Wowereit von der Berliner Boulevardpresse überschwänglich dafür gelobt wurde, dass er seinen Sieg ganz bescheiden mit einer Pizza feierte und sich, anders als sein Vorgänger, in den Imbissbuden der Hauptstadt auskenne. »Mich interessiert nicht, ob ein Regierender Bürgermeister Kaviar isst, sondern wie er mit Mietern mit wenig Geld umgeht«, kommentiert Kreutz diesen Populismus.

Die verbliebenen Mieter der Beermannstraße erhalten Unterstützung von der Treptower Stadtteilinitiative »Karla Pappel«, die in den vergangenen Jahren den Zuzug von Baugruppen in den Stadtteil und die Folgen für die einkommensschwache Bevölkerung thematisierte. Im Film »Die Verdrängung hat viele Gesichter«, der seit Oktober in zahlreichen Berliner Programmkinos läuft, wird diese Auseinandersetzung gut dokumentiert. Für die Mieter der Beermannstraße ist ihre drohende Verdrängung auch mit dem Gesicht des designierten Regierenden Bürgermeisters Michael Müller verbunden. Dessen Vorzimmer wurde bereits am 19. Oktober, einen Tag nach der Urabstimmung der Berliner SPD, bei der sich Müller gegen seine Konkurrenten um das Amt des Bürgermeisters, Jan Stöß und Raed Saleh, durchsetzte, von A 100-Gegnern für einige Stunden besetzt.

Namen von der Redaktion geändert

http://jungle-world.com/artikel/2014/45/50858.html

Peter Nowak

»Türkei duldet IS-Strukturen«

Der Islamische Staat (IS) ist immer noch nicht geschlagen. Doch wie konnte er überhaupt so mächtig werden? Die Jungle World sprach mit Ismail Küpeli über die Bedeutung Syriens und der Türkei für den Aufstieg des IS. Küpeli ist Politikwissenschaftler, Aktivist und Autor. Er beschäftigt sich mit der autoritären Entwicklung in der Türkei unter der AKP-Regierung und der Politik des türkischen Staates gegenüber der kurdischen Bevölkerung.

Die Türkei scheint sich nach langem Widerstand bereit erklärt zu haben, kurdische Kämpfer über ihre Grenze in die vom IS bedrohte Stadt Kobanê zu lassen. Ist das eine Wende in der Politik der türkischen Regierung gegenüber dem IS?

Nein, das ist keine Wende. Vielmehr gab es seit etwa sechs Monaten eine langsame Bewegung, seit der Sommeroffensive des IS im Nordirak und der Geiselnahme türkischer Diplomaten in Mossul durch den IS. Der IS hat sich durch die Eroberung der Erdölquellen im Nordirak sehr große ­finanzielle Einnahmen sichern können, womit eine größere Eigenständigkeit gegenüber den bisherigen Unterstützern des IS, etwa den arabischen Golfstaaten und der Türkei, einhergeht. Dies erklärt auch die Geiselnahme und bedeutet, dass die Türkei den IS nicht mehr als bloßes Werkzeug gegen das Regime Bashar al-Assads und die Kurden in Nordsyrien nutzen kann.

Es gab in der Vergangenheit immer wieder ­Berichte über Kooperationen zwischen türkischen Behörden und dem IS. Wie seriös sind solche Nachrichten?

Insbesondere in der türkischsprachigen Presse gibt es sehr viele Meldungen über eine solche Kooperation, mit unterschiedlicher Seriösität. Die Unterstützung von bewaffneten Rebellen in Nordsyrien, islamistische Gruppen eingeschlossen, wird nicht einmal seitens der türkischen Regierung bestritten. Es gibt Beweise, dass der türkische Geheimdienst Waffenlieferungen an Kämpfer in Nordsyrien organisiert. Weniger gesichert sind die Meldungen über eine direkte Kooperation zwischen der Türkei und dem IS. Aber zumindest die Duldung von IS-Strukturen in der Türkei ist belegt. Unter anderem gibt es Rekrutierungsbüros in Istanbul und Ausbildungslager im Grenzgebiet und die Türkei wird als Rückzugsgebiet genutzt, etwa durch medizinische Versorgung der IS-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern.

Lange vor dem Machtantritt der AKP-Regierung wurden in der Türkei Islamisten im Kampf gegen Linke, Gewerkschafter und Oppositionelle eingesetzt. Können Sie dazu einige Beispiele nennen?

Die türkisch-kurdische Hizbollah, die nicht mit der allgemein bekannten libanesischen Hizbollah verwechselt werden sollte, wurde in den neunziger Jahren im Rahmen des schmutzigen Krieges gegen die PKK und alle oppositionellen Kräfte eingesetzt. Die Hizbollah ist nur eine der Organisationen und Netzwerke, die als Todesschwadronen und Terrororganisationen eingesetzt wurden. Beispiele für die Aktionen solcher Gruppen reichen von Entführung, Folter und Hinrichtung von einzelnen Personen, etwa Journalisten, Menschenrechtlern und vermeintlichen PKK-Sympathisanten, bis hin zu Massakern an der kurdischen Landbevölkerung.

Könnte man eine Linie von der türkischen ­Hizbollah, einer sunnitisch-islamistischen Organisation, zum IS ziehen?

Eine solche Linie wird von PKK-nahen Akteuren gezogen; ich finde dies wenig überzeugend. Die Hizbollah wurde in den vergangenen Jahren als bewaffneter Akteur weitgehend ausgeschaltet und hat sich als politische Partei neu formiert. Dies geht auch darauf zurück, dass bis vor kurzem zwischen der türkischen Regierung und der PKK ein sogenannter Friedensprozess stattfand, in dem Organisationen wie die Hizbollah keinen Platz hatten. Der IS ist eine neue Entwicklung und hat mit der Hizbollah der Neunziger wenig Verbindungen.

Sie bezeichnen den IS als eine Frucht des syrischen Bürgerkriegs nach der Niederlage der demokratischen zivilen Opposition. Welchen Anteil hatte das syrische Regime am Aufstieg des IS?

Nach der Niederschlagung der friedlichen Oppositionsbewegung durch das Assad-Regime haben bewaffnete Rebellengruppen innerhalb der Anti-Assad-Opposition die Oberhand gewonnen. Die brutale Repression des Regimes hat dazu geführt, dass bald nur noch wenige daran glaubten, auf friedlichem Wege das Regime stürzen zu können. Die weitere Entwicklung der verschiedenen bewaffneten Rebellengruppen geht darauf zurück, wer welche externe Unterstützung mobilisieren konnte – also Kämpfer, Waffen, Geld. Hier kam die Koalition der arabischen Golfstaaten und der Türkei ins Spiel, die insbesondere islamistische Gruppen unterstützt haben, die nach und nach säkulare Kräfte verdrängt haben. Aus diesem is­lamistischen Milieu stieg der IS auf – neben anderen Kräften wie der al-Nusra-Front.

Es gibt einige Stimmen, auch in der Linken in Deutschland, die angesichts der Bedrohung durch den IS eine Kooperation mit dem Assad-Regime fordern. Kann man davon reden, dass es jetzt das kleinere Übel ist?

Nein, kann man nicht. Das Assad-Regime ist nach wie vor für deutlich mehr Opfer verantwortlich und – wie zuvor angedeutet – für den Aufstieg des IS mitverantwortlich. Das Regime bombardiert Städte, lässt Oppositionelle foltern, verschwinden und ermorden. Die Brutalität des IS sollte die Gewalt des Assad-Regimes nicht vergessen lassen.

Andere Gruppen drängen auf die Unterstützung der Freien Syrischen Armee (FSA). Gibt es dort nicht auch viele undemokratische und ­islamistische Gruppen?

Die Freie Syrische Armee als ein zusammenhängender militärischer Verband existiert schon länger nicht mehr. Die einzelnen FSA-Einheiten haben sich in völlig unterschiedliche Richtungen entwickelt. Manche haben sich de facto aufgelöst, andere haben sich den Islamisten angeschlossen, wiederum andere kämpfen auf Seiten der säkularen Opposition. Kleinere Einheiten kämpfen sogar gemeinsam mit den kurdischen YPG-Einheiten gegen den IS. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass derzeit in Kobanê frühere und derzeitige FSA-Kämpfer auf beiden Seiten stehen.

Viele Linke sehen in den Kurdinnen und Kurden, die gegen den IS kämpfen, endlich wieder eine linke Alternative im Syrienkonflikt, die unterstützenswert ist. Hat dieser Optimismus eine reale Grundlage?

Es findet sicherlich eine gewisse Romantisierung statt; nicht zu übersehen etwa an den Plakaten, auf denen ikonenhaft kurdische Kämpferinnen abgebildet werden. Aber trotz aller Skepsis ist Rojava in Nordsyrien innerhalb des syrischen Bürgerkrieges eine der ganz wenigen demokratischen Zonen. Die PYD versucht – sei es aus Not oder aus einer basisdemokratischen Orientierung heraus – alle Bevölkerungsgruppen in Nordsyrien in die politischen Strukturen einzubinden, einschließlich über Quoten für Frauen und einzelne Bevölkerungsgruppen. Massaker an Zivilisten, Hinrichtung von Oppositionellen und brutale Repression, die leider in anderen Regionen Syriens zum Alltag geworden sind, finden unter der PYD-Herrschaft nicht statt. Dies ist für syrische Verhältnisse schon sehr viel.

Die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Christine Buchholz, musste viel Häme und Kritik einstecken, weil sie sich bei Facebook mit einem Schild zeigte, auf dem sie sich für Solidarität mit den Kurden in Kobanê, aber gegen US-Bombardements aussprach. Ist es nicht tatsächlich Aufgabe einer Linken, Alternativen zur Militärpolitik zu fordern?

Das Problem mit dem Buchholz-Schild war nicht die grundsätzliche Kritik an westlichen Militär­interventionen. Diese Kritik formulieren viele. Sondern es ging um eine vermeintliche solidarische Bezugnahme auf die Verteidiger von Kobanê, wobei Buchholz völlig unterschlagen hat, dass genau diese Menschen die US-Luftangriffe herbeigewünscht und begrüßt haben. Und zwar als eine Rettungsmaßnahme, als die Gefahr, dass Kobanê vom IS erobert werden könnte, am größten war. Über Antiimperialismus lässt sich ja streiten, über Heuchelei weniger.

Wenn die Frage wäre, ob Organisationen wie der IS sich allein durch militärische Maßnahmen, sei es durch YPG-Kämpfer oder durch US-Luftangriffe, aus der Welt schaffen lassen, dann ist die Antwort: Natürlich nicht. Ohne eine demokratische Lösung für Syrien, in der alle Bevölkerungsgruppen friedlich koexistieren dürfen, kann vielleicht der IS besiegt werden – aber nur um vom nächsten reaktionären Gewaltakteur abgelöst zu werden.

http://jungle-world.com/artikel/2014/45/50876.html

Interview: Peter Nowak

Wann kommt nach dem Berliner der Europäische Mauerfall?

Um Wolf Biermann war es in der letzten Zeit still geworden. Nun hat er seinen Auftritt am 9. November vor dem Bundestag mal wieder genutzt, um sich zu Wort zu melden. Wie üblich schimpfte er über die reformistische Linkspartei, die eigentlich genau das heute im Programm haben, was er als DDR-Kritiker immer durchsetzen wollte, einen Reformsozialismus.

Biermanns Auftritt passt zu seiner konservativen Wende und war deshalb so berechenbar wie langweilig. Einen Moment hatte man gehofft, es wäre noch etwas vom Widerstandsgeist Biermanns, wie man ihn bis Ende der 80er Jahre kannte, erhalten geblieben. Er hat damals immer betont, dass er auch im Westen keine Ehrfurcht vor der Macht habe und sich auf die Seite der Unterdrückten stelle. Da hätte man in diesen Tagen erwartet, dass er sein Lied Ermutigung dort singt, wo Geflüchtete heute um ihre Rechte kämpfen.

In Berlin hätte er einfach das Regierungsviertel verlassen müssen und sich zur besetzten Schule in die Ohlauer Straße begeben können. Dort müssen Geflüchtete eine Räumung ihres Domizils befürchten [1]. Oder er hätte zu den Roma-Familien gehen können, die im Berliner Herbst obdachlos [2]durch die Metropole irren, weil sie aus mehreren Gebäuden geräumt wurden und die Flüchtlingsunterkünfte verlassen mussten.

Dort hätte sein Lied „Ermutigung“ gepasst. Statt dessen singt er es in den Häusern der Macht und lässt sich von denen beklatschten, die mit dafür sorgen, dass die Mauer zwischen den Staatsbürgern und den Non-Citiziens, also den Menschen ohne Papiere, auch in Deutschland noch höher wird. Indem Biermann ausgerechnet im Bundestag dazu schwieg, wurde er zu dem, was er eigentlich nie werden wollte, zu einem staatsnahen Sänger.

Europäische Mauer einreißen

Dabei hätte es knapp 2 Kilometer vom Deutschen Bundestag entfernt eine Alternative zum Staatsakt mit Selbstbeweihräucherung gegeben. Vor dem Berliner Gorkitheater verabschiedeten sich sich am 9. November um 13 Uhr mehrere Busse, die sich zum „Ersten Europäischen Mauerfall“ [3] aufmachten. Sie sind jetzt auf dem Weg zur europäischen Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei, um die dort errichtete Mauer [4]einzureißen. Sie wurde zur Abwehr von Menschen errichtet, die vor wirtschaftlicher Not oder Verfolgung aller Art nach Europa fliehen [5].

Die Initiatoren des „Ersten Europäischen Mauerfalls“, der im Rahmen des Festivals Voicing Resistance [6] stattfindet, haben die aktuelle Mauerfall-Euphorie so charakterisiert:

„Während sich Politiker aller Parteien am 9. November in den Armen liegen und das Ende der mörderischen innerdeutschen Mauer feiern, haben sie die viel mörderischeren Außenmauern Europas finanziert. Diesem Verrat nimmt sich das Zentrum für Politische Schönheit [7] an. Rücken wir den illegalen Mauerbauten in der Europäischen Union zu Leibe.“

Universelle Bewegungsfreiheit oder nur für Deutsche?

Für die meisten Politiker und deutschen Staatsbürger, die jetzt feiern, ist es wohl kein Verrat. Sie wollten mit der Maueröffnung nicht ein universelles Recht auf Bewegungsfreiheit durchsetzen, sondern nur für deutsche Staatsbürger. Das bekam schon vor zwei Jahren bei den Gedenkveranstaltungen zum Mauerbau ein Redner zu spüren, der an das Schicksal der Menschen heute zu erinnern wagte, die als Geflüchtete keine Bewegungsfreiheit haben. Es gab wütende Zwischenrufe aus dem Publikum.

Doch der Begriff Verrat ist insgesamt zu hinterfragen. Denn damit wird unterstellt, es sei moralisch besonders verwerflich, eine politische Position zu ändern. Dabei reicht es doch vollständig aus, genau diese Positionierung zu kritisieren, völlig unabhängig davon, ob der Träger bisher eine andere vertreten hat.

Dass die Initiatoren des Europäischen Mauerfalls manchen die deutschnationale Feierstimmung um den 9. November verdorben haben, zeigen die wütenden Reaktionen [8] ultrarechter Kreise, aber auch vieler Boulevardmedien [9], als sie die Gedenkkreuze für die Mauertoten entführten und zu den Menschen brachten, die heute vor der Europäischen Mauer stehen und diese zu überwinden trachten.

Allerdings fällt auf, dass die Sprecher des Zentrums für politische Schönheit in ihren Aussagen die Aktion wohl dadurch dem Mainstream der Gesellschaft nahebringen wollen, indem sie sie entschärfen. So betont [10]Philipp Ruch, dass man mit Zynismus und Provokation nichts
zu tun habe und redet so, als wolle er als Bundestagskandidat auftreten, der Stimmen aus allen Schichten der Bevölkerung haben will, und nicht als Künstler, der weiß, dass Provokationen und nicht KonsensgeschwätzDiskussionen auslösen.

Warum Ruch und andere Mitstreiter behaupten, es sei im Sinne der Mauertoten, dass sie sich jetzt mit den Geflüchteten von heute solidarisieren, ist nicht nachvollziehbar. Bei den meisten war die individuelle und nicht die universelle Bewegungsfreiheit der Grund, bei den heutigen Unterstützern kommt noch das deutschnationale Narrativ dazu. Warum es die Künstler überhaupt nötig haben, bei ihrer Aktion sich auf einen angeblichen Willen der Mauertoten zu berufen, ist unverständlich. Es würde doch völlig ausreichen, sich auf ein universelles Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit zu berufen und den 9. November als einen guten Anlass dafür anzusehen.

http://www.heise.de/tp/news/Wann-kommt-nach-dem-Berliner-der-Europaeische-Mauerfall-2444427.html

Peter Nowak

[1]

http://www.sueddeutsche.de/politik/raeumung-der-gerhart-hauptmann-schule-sollen-sie-doch-kommen-1.2207729

[2]

http://www.medibuero.de/de/News/Raeumung-besetzte-Schule-Kreuzberg.html

[3]

https://www.indiegogo.com/projects/erster-europaischer-mauerfall

[4]

http://www.voxeurop.eu/de/content/article/464531-auf-der-anderen-seite-der-mauer

[5]

http://www.arte.tv/de/eine-mauer-gegen-den-fluechtlingsstrom-bulgarien-schottet-sich-ab/7780570,CmC=7781454.html

[6]

http://www.gorki.de/spielplan/themen/voicing-resistance/

[7]

http://www.politicalbeauty.de

[8]

http://www.pi-news.net/2014/11/asyllobby-schaendet-gedenkkreuze-fuer-mauertote/

[9]

http://www.rbb-online.de/politik/beitrag/2014/11/streit-opfer-gedenken-mauer-rechtfertigung-zentrum.html

[10]

http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=sw&dig=2014%2F11%2F04%2Fa0053&cHash=5636593763e06f9d0e314235905bcf31