Am kommenden Sonntag laden GartennutzerInnen und MieterInnen aus dem Haus in Berlin-Treptow zur MieterInnenversammlung.
„Bringt Lichter mit Freunde, Stirnlampen und Freunde mit“, heißt es in einer Erklärung, in der für kommenden Sonntag um 15 Uhr zu einer Mieterversammlung geladen werden. Dort wollen sich MieterInnen der Beermannstraße 22 und einige NutzerInnen der dahinterliegenden Gartenanlagen mit NachbarInnen und Stadtteiliniaitiven über ihren weitern Widerstand beraten. Denn ihnen droht Enteignung wegen des Weiterbaus der A100.
Jonas Steinert (Name geändert) gehört zu den 10 Mietparteien, die nicht bereit sind, sich nach den Bedingungen der Senatsverwaltung aus ihren Wohnungen vertreiben zu lassen. Er habe als Freiberufler kein hohes Einkommen. Daher seien für ihn Ersatzwohnungen, deren Miete zwischen 65 und 120 Prozent über der Miete seiner derzeitigen Wohnung liegen, ein großes Problem. Doch das scheint die Senatsverwaltung nicht zu interessieren. Statt einer Antwort erhielten Steinert und andere MieterInnen der Beermannstraße Schreiben, in denen die Senatsverwaltung die Enteignung der Mieter ankündigte. „Ich teile Ihnen mit, dass ich zur Wahrung unserer Interessen in Kürze bei der zuständigen Behörde die vorzeitige Besitzeinweisung und die Enteignung des Mietrechts beantragen werde“, heißt es in den dem MieterEcho vorliegenden Briefen. Steinert musste sich von einem Rechtsanwalt erklären lassen, dass ihm damit mitgeteilt werde, dass nach Paragraph 116 des Baugesetzbuchs gegen ihn vorgegangen werden soll und er dadurch zahlreiche Rechte, die er als Mieter gegen eine Kündigung hat, verliert.
Eine vorzeitige Besitzeinweisung dürfe allerdings nur getroffen werden, wenn die »Maßnahme aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit dringend geboten« ist, heißt es im Gesetz. Dass die umstrittene Verlängerung der A100 allerdings dem Wohl der Allgemeinheit dient, bezweifeln nicht nur die MieterInnen in der Beermannstraße und die Stadtteilinitiative Karla Pappel. Auch die Umweltorganisation Robin Wood beteiligt sich an den Protesten.
Der künftige Regierende Bürgermeister steht in der Kritik „ Wenn solche Töne aus der Senatsverwaltung kommen, sagen wir, das lassen wir mit uns nicht machen«, sagt Karl Pfeiffer (Name geändert), der im Vorderhaus der Beermannstraße 22 wohnt. Die verbliebenen Mieter sind besonders empört, dass in den Schreiben der Senatsverwaltung, das sie Mitte Oktober erhalten hatten, eine Räumungsaufforderung der Wohnungen bis zum 31. Oktober enthalten ist. Als Drohung ohne jegliche Grundlage bezeichnet Steinert diesen Passus, den die MieterInnen daher nach juristischer Beratung ignoriert haben. Sie sind empört, dass der Senat eine solche Drohkulisse aufbaut und damit Angst bei den Mietern erzeugt. Zumal die Senatsverwaltung in dem Schreiben auch betonte, dass sie zur Bereitstellung von Ersatzwohnungen nicht verpflichtet sei. Das klang am 16. Januar 2014 noch ganz anders. Damals erklärte der zuständige Berliner Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, Michael Müller (SPD), auf eine mündliche Anfrage des Abgeordneten Harald Moritz (Grüne) zu den sozialen Folgen der Verlängerung der A 100 im Berliner Abgeordnetenhaus: „Im Zusammenhang mit den zuständigen Verwaltungen der Grundstücke … werden insbesondere die Mieterinnen und Mieter unterstützt, bei denen sich die Wohnraumsuche aus privaten Gründen schwierig gestaltet.“ Die MieterInnen werden den künftigen Regierenden Bürgermeister von Berlin an diese Worte erinnern.
Die Kooperation der Friedensbewegung mit den Montagsmahnwachen sorgt für Kritik
Am letzten Wochenende traf sich in Bonn die Kooperation für den Frieden [1]. Der Zusammenschluss von 60 Initiativen und Organisationen aus der Friedensbewegung diskutierte auch über eine Frage, die unter den Friedensfreunden aus der ganzen Republik seit Wochen für Unfrieden sorgt: Es geht um die Kooperation mit den Montagsmahnwachen [2], die sich im Frühjahr 2014 gegründet haben.
In zahlreichen Städten waren bisher völlig unpolitische Menschen, darunter viele Jugendliche, aber auch Esoteriker und Verschwörungstheoretiker [3] für den Weltfrieden und gegen die US-Bank FED auf die Straße gegangen. Auch Rechtspopulisten unterschiedlicher Couleur [4] waren an den Montagsmahnwachen, die immer betonten, weder rechts noch links zu sein, vertreten [5].
Noch im Mai waren viele Gruppen und Aktivisten der Friedensbewegung auf Distanz zu diesen Mahnwachen gegangen. Für den Sprecher des bundesweiten Friedensratschlags [6], Peter Strutinsky [7], sind sie eine von organisierten Rechten ins Leben gerufene Bewegung. Die Friedensbewegung solle eigene Veranstaltungen organisieren, anstatt den strukturellen Montagsmahnwachen auf den Leim zu gehen, empfahl Strutinsky.
Abgrenzung nach rechts nur Lippenbekenntnisse?
Das war auch noch vor einigen Monaten der Tenor zahlreicher weiterer Aufrufe aus der Friedensbewegung. Man wolle mit den jungen anpolitisierten Teilnehmern der Mahnwachen ins Gespräch kommen, distanziere sich aber ganz klar von deren verschwörungstheoretischen und teilweise antisemitischen Ansätzen, wurde betont.
Auch der seit mehr als 30 Jahren in der Friedensbewegung aktive Reiner Braun [8] nannte die Montagsmahnwachen damals dubios. Dass er mittlerweile bei den Gescholtenen als Redner aufgetreten ist, begründet Braun mit Differenzierungen in deren Lager. Die klar formulierte Ablehnung von Rechtsradikalismus und Antisemitismus unter anderem durch die Erklärung von Weitersroda [9] und ein gemeinsames Treffen in Zeitz habe ihm die Kooperation erleichtert.
„Ich sehe da vor allem junge Leute, die nach Alternativen suchen, für die Gesellschaft, aber auch für sich selbst“, erklärt Braun gegenüber Telepolis. Er betont allerdings auch, die anfänglich scharfe Kritik an den Montagsmahnwachen sei richtig gewesen und habe erst zur Differenzierung in dem Lager beitragen.
Andreas Grünwaldt vom Hamburger Forum für Frieden und Völkerverständigung [10] hingegen bezeichnete die Kritik an den Montagsmahnwachen in einem Interview [11] „als richtige Hetze“. Er sprach sich von Anfang an für eine enge Kooperation aus. Doch andere Mitglieder und Kooperationspartner der Friedensbewegung sind mit der neuen Offenheit gegenüber den Mahnwachen nicht einverstanden. Denn sie sind nicht davon überzeugt, dass es sich bei deren Abgrenzung der Mahnwachen nach rechts um mehr als Lippenbekenntnisse handelt.
“ Wir legen Wert darauf, nicht als Partner der Mahnwachenbewegung genannt zu werden. Wir mögen es auch nicht, wenn auf Kundgebungen der Montagsmahnwachen verkündet wird: ‚Wir bringen die Grüße der Bündnisse, in der die VVN-BdA mitwirkt'“, erklärte der Bundessprecher der VVN-BdA [12] gegenüber Telepolis. Die Organisation, in der alte und junge Antifaschisten zusammenarbeiten, gehörte seit Jahren zu den Kooperationspartnern der Friedensbewegung.
Laura von Wimmersperg und Jutta Kausch von der Berliner Friedenskoordination [13] können diese kritische Stimmen verstehen. Gegenüber Telepolis betonen sie:
Die Friedensbewegung war und ist weltanschaulich nicht homogen. Aber alles, was die Voraussetzung zur Erlangung und Durchsetzung der Forderung „Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus“ behindert, setzt eine Grenze im Zusammengehen.
Die Koordinatorin des Jugendportals En Paz [14], das sich um Friedensbildung junger Menschen widmet, Jenny Becker, steht den Montagsmahnwachen noch abwartend gegenüber. Ihnen sei es aber mit dem „diffusen Protest“ gelungen, auch junge Menschen anzusprechen, die die klassische Friedensbewegung als verstaubt und altmodisch ansieht.
Wie weit geht die Kooperation im „Friedenswinter“?
Unter dem Label Friedenswinter 2014/15 [15] planen Friedensbewegung und Montagsmahnwachen in den nächsten Wochen gemeinsame Aktionen. Der Aufruf [16] liest sich so, als hänge es vor allem vom Verhalten der Individuen ab, ob es Krieg und Gewalt gibt oder nicht. Gesellschaftliche Verhältnisse kommen dort kaum vor.
Doch ob er zur friedlichen Kooperation in der Bewegung beiträgt, ist fraglich. Neben der VVN-BdA sind auch andere langjährige Partner der Friedensbewegung auf Distanz gegangen und warnen vor einem Rechtsruck in der Friedensbewegung. Allerdings wäre es ein Missverständnis, die deutsche Friedensbewegung pauschal in die linke Ecke zu stellen.
In ihr waren immer auch Konservative und Nationalisten aktiv, die Deutschland blockfrei halten wollten. Auch Alfred Mechtersheimer [17] konnte als Nationalpazifist in der damaligen Friedensbewegung kurzzeitig Karriere machen, bevor er sich dann ganz der rechten Szene verschrieb. Ideologisch musste er sich nicht viel ändern.
In Halle, Stadtteil Silberhöhe, wurde kürzlich ein kleines Mädchen auf einem Spielplatz rassistisch beleidigt und attackiert. Die Jungle World hat mit Marie Müller gesprochen, die Mitglied der antirassistischen Gruppe »No Lager Halle« ist.
Sie haben in einer Pressemeldung einen rassistischen Angriff auf einem Spielplatz öffentlich gemacht. Was war geschehen?
Am Mittwoch, dem 29. Oktober, wurde ein zehnjähriges Mädchen auf einem Spielplatz in Halle-Silberhöhe von sieben bis acht Kindern rassistisch beleidigt, geschlagen und getreten. Es musste anschließend im Krankenhaus behandelt werden. Wir fragen uns, was Kinder dazu bringt, anderen Kindern rassistische Gewalt anzutun.
Haben Sie darauf eine Antwort?
Der Angriff der Kinder weist erschreckende Parallelen zu den rassistischen Feindseligkeiten der Erwachsenen auf.
Wie ging die Regionalpresse mit dem rassistischen Angriff auf dem Spielplatz um?
Die meisten regionalen Medien schrieben von einem »Streit«, der eskaliert sei, von einer »Rangelei«. Der von den Kindern ausgeübte rassistische Angriff wird dadurch bagatellisiert. Er erscheint als ein unter Kindern eben vorkommender Streit. Es wird zudem suggeriert, dass beide Seiten in den Streit verwickelt gewesen seien. In mehreren Medien wurden der »Migrationshintergrund« und das »ausländische Aussehen« des angegriffenen Mädchens erwähnt. Im Mitteldeutschen Rundfunk hieß es, das angegriffene Kind sei »dunkelhäutig« und habe »afrikanische Wurzeln«. So findet zwar eine sprachliche Markierung des »Fremden« statt, aber dass es sich um eine rassistische Tat handelte, wird nicht klar benannt.
Der Stadtteil Silberhöhe in Halle scheint sich zu einem rassistischen Brennpunkt zu entwickeln. Gibt es antifaschistische Gegenstrategien?
Die Diskussion über antifaschistische und antirassistische Gegenstrategien steht eher noch am Anfang. Es gab bisher neben einer Kundgebung des Bündnisses gegen Rechts eine antifaschistische Demonstration dort, die aber für manche zu provokativ gewesen ist.
Welche Rolle spielen organisierte Nazis in dem Stadtteil?
Die mischen dort mit. Die Nazi-Homepage »hallemax.de« versucht, die Leute angesichts der Situation zu polarisieren und aufzuwiegeln. Sollte es rechte Aufmärsche geben, ist aber auch ein breiterer Widerstand dagegen zu erwarten. Gegen Naziaufmärsche ist die Mobilisierung einfach. Gegen den Alltagsrassismus vorzugehen, ist da schon schwerer.
Esst viel frisches Obst und Gemüse! Vermeide fetthaltige Nahrung und Süßigkeiten! Auf dem ersten Blick scheinen diese Ratschläge sehr vernünftig zu sein. Wer wollte bestreiten, dass ein frischer Apfel bekömmlicher ist als ein überzuckerter Powerdrink. Daher beginnt der Medizinjournalist Matthias Martin Becker sein Buch »Mythos Vorbeugung« ebenfalls mit einem Ratschlag: »Lieber nicht rauchen! Oder wenigstens weniger. Steigt auf Eure Fahrräder, es wird Euch nicht schaden! Wahrscheinlich«.
Becker begründet kenntnisreich, dass auch eine gesunde Ernährungs- und Lebensweise keine Garantie für ein Leben ohne Krankheiten ist. Dieser Eindruck werde aber bei vielen Kampagnen erzeugt. Krankheit wird so zum individuellen Versagen. Den Patienten wird vorgeworfen, die sozialen Sicherungssysteme durch ihre ungesunde Lebensweise zu belasten. Dabei zeigt Becker in seinem Buch immer wieder auf, dass Gesundheit und Krankheit durchaus eine Klassenfrage ist. Engagierte Mediziner und Sozialpolitiker wie der ehemalige Präsident der Berliner Ärztekammer Ellis Huber verwiesen bereits in den 80er Jahren auf den Zusammenhang von Armut und Gesundheit. »Wenn Sie sich in die U1 setzen und in Richtung Krumme Lanke fahren, dann sie verlieren sie an jeder Station zwei Monate Lebenserwartung«, zitiert Becker Huber über einen Streifzug durch das Westberlin der frühen 80er Jahre. Zwischenzeitlich hat sich die Linienführung der U-Bahn in Berlin geändert, nicht aber das Gesundheitsgefälle zwischen bürgerlichen und proletarischen Stadtteilen. Noch deutlicher ist die Differenz bei der Lebenserwartung in London. »In der britischen Hauptstadt beträgt der Unterschied zwischen den wohlhabenden und den ärmsten Bezirken 17 Jahre«, schreibt Becker.
Für die meisten gesundheitlichen Probleme in der Gesellschaft sei eher die Ungleichheit verantwortlich. Sie zu überwinden, sei demnach die beste Vorbeugung. Auch diese Erkenntnis ist keineswegs neu, wie Becker am Beispiel des Mediziners und Sozialpolitikers Rudolf Virchow zeigt. Als Teil einer Expertenkommission besuchte er 1848 das von einer schweren Epidemie betroffene Oberschlesien und fand dort Menschen in unbeschreiblicher Armut und katastrophalen hygienischen Verhältnissen. Virchow merkte schnell, dass er sich mit sozialen Bestrebungen in der preußischen Feudalgesellschaft Feinde machte und konzentrierte sich ganz auf seine medizinische Arbeit. Becker zeigt auf, dass gerade im Zuge der Krise in Ländern wie Griechenland und Spanien Krankheiten, die bisher als beherrschbar galten, wieder eine tödliche Gefahr vor allem für arme Menschen werden. Sein gut lesbares, informatives Buch ist auch eine Streitschrift gegen die Privatisierungstendenzen im Gesundheitswesen.
Martin Matthias Becker: Mythos Vorbeugung, Wien 2014. Promedia Verlag, 224 Seiten, 17,90 €.
Die Entscheidung der Grand Jury, die Tötung eines schwarzen Jugendlichen nicht zu ahnden, zeigt auch Folgen einer Auslagerung der Rechtssprechung an die Bevölkerung
In diesen Tagen fühlen sich manche an die 1960er und 1970er Jahre erinnert, wenn sie die Bilder von protestierenden schwarzen US-Amerikanern sehen, die empört sind, dass der Tod des unbewaffneten Jugendlichen Michael Brown ungesühnt bleiben soll. Eine aus Bürgern von Ferguson, dem Tatort, zusammengesetzte Grand Jury, stufte den schießenden Polizisten als unschuldig ein und lehnte die Einleitung eines Verfahrens ab.
Hier wird aber auch deutlich, was passiert, wenn man Recht in die Hände des „Volkes“ gibt, was heute oft positiv gesehen wird. Tatsächlich wird hier „Volkes Stimme“ zum Recht erklärt. Eine mehrheitlich weiße Bevölkerung, für die schwarze Jugendlichen schon per se verdächtig sind und die ihnen die Schuld gibt, wenn sie getötet werden, kann hier ihr Ressentiment justitiabel machen. Hier wird auch deutlich, dass es keineswegs ein Fortschritt ist, wenn Recht und Gesetz in „Volkes Hand“ gelegt wird. Es wäre vielmehr eine emanzipatorische Forderung, diese Entscheidung der Grand Jury durch ein unabhängiges Gericht außerhalb Fergusons anzufechten, das dann tatsächlich eher nach sachlichen Rechtsmaßstäben als nach Ressentiment entscheiden könnte.
Der „Rassenkonflikt“ kehrt zurück in die Schlagzeilen
Wenn nun Springers konservatives Flaggschiff „Die Welt“ nach der Entscheidung der Jury titelt: „Amerikas ungelöster Rassenkonflikt explodiert“ [1], dann fühlt man sich auch wieder in die 1960er Jahre in Westdeutschland versetzt, wo schon die Wortwahl deutlich machte, dass ein Großteil der Journalisten damals ihren Beruf im Nationalsozialismus erlernt haben.
Eigentlich müsste sich im Jahr 2014 herumgesprochen haben, dass es keine Rassen und dementsprechend auch keinen Rassenkonflikt gibt. In den USA wie auch in anderen Ländern gibt es allerdings rassistische Unterdrückung. Nun werden sich viele Menschen wundern, dass auch nach fünf Jahren Obama-Regierung diese Unterdrückung noch eine solch‘ große Rolle spielt.
Die Empörung, die sich in den letzten Stunden auf den Straßen von Ferguson und anderen US-Städten zeigte, hat auch damit zu tun, dass viele Menschen der Meinung waren, die Zeiten, in denen das Töten schwarzer Menschen straffrei bleibt, gehörten der Vergangenheit an. Viele der Menschen, die jetzt auf die Straße gehen, gehörten zu denen, die den Amtsantritt von Obama mit großer Hoffnung begleiteten, die in der ersten Amtsperiode von einer neuen Zeit träumten, in der Rassismus, wenn nicht verschwunden, so doch zumindest zurückgedrängt ist.
Es gab nach der Amtseinführung des ersten schwarzen Präsidenten viele Stimmen, die darin einen endgültigen Sieg der Bürgerrechtsbewegung sahen. Bei ihnen ist die Enttäuschung jetzt besonders groß darüber, dass die Tötung eines unbewaffneten schwarzen Menschen noch immer ohne Konsequenzen bleibt.
Wie ein Bürgerrechtler vom FBI in den Tod getrieben werden sollte
Gleichzeitig wurde erst in diesen Tagen wieder deutlich, wie sehr auch die gewaltfreie Bürgerrechtsbewegung der 1960er und 1970er Jahre im Visier der Staatsapparate stand. Erst vor wenigen Tagen veröffentlichte [2] die New York Times einen vom FBI fabrizierten Brief an Martin Luther King, in dem dieser mit Bezug auf eine außereheliche Beziehung zum Selbstmord gedrängt worden war.
Der anonyme Drohbrief sollte den Eindruck vermitteln, von einem enttäuschten Mitkämpfer Kings verfasst worden zu sein. Tatsächlich war er von einem Stellvertreter des FBI-Chefs Hoovers formuliert worden. In dem Brief wird Pastor King als „bösartiges, abnormes Tier“ beschimpft. Er mündet in die Drohung:
Für Sie gibt es nur einen Ausweg. Den schlagen Sie besser selbst ein, ehe Ihr abscheuliches, abnormes und betrügerisches Wesen vor der Nation ausgebreitet wird.
Wie Martin Luther King waren in den 1960er Jahren zahlreiche Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung und des Black Power Movement Adressaten von fingierten Briefen, die das Ziel hatten, Streitereien in die Bewegung zu tragen, vorhandene Spannungen auszuweiten und bekannte Aktivisten zu verunsichern, ja sogar in den Tod zu treiben.
Der DDR-Geheimdienst wurde wegen der Anwendung ähnlicher Mittel in abgeschwächter Form gegen Oppositionelle mit Recht heftig verurteilt. Das Urteil „Unrechtsstaat“ gründet auch darauf. Die Frage bleibt, ob dann auch die USA und viele andere Staaten unter dieses Verdikt fallen müssten.
Der Kampf um das »Recht auf Stadt« und gegen Zwangsräumungen wird in vielen Ländern geführt. Inzwischen gibt es auch Versuche transnationaler Vernetzung der Mieterbewegung. Der Filmemacher Matthias Coers und der Politikwissenschaftler Grischa Dallmer sind seit Jahren in der Berliner Mieterbewegung aktiv, haben die Veranstaltungsreihe »Wohnen in der Krise« mitgestaltet und an dem Film »Mietrebellen« mitgearbeitet. Mit ihnen sprach die Jungle World über Wohnungskrisen, Widerstand und internationale Organsiation.
Sie haben kürzlich in Moskau Ihren Film »Mietrebellen« über die Berliner Mieterbewegung gezeigt. Wen interessiert das dort?
Coers: Wir wurden mit dem Film vom kritischen Kunst- und Medienfestival Media Impact mit Unterstützung des Goethe-Instituts Moskau eingeladen. Im Anschluss an die Präsentation gab es mit über 40 Zuschauern eine Diskussion zum Verständnis der Situation in Berlin, aber auch über die Frage des Wohnens in der russischen Metropole. Für die Lage der Mieter in Berlin gab es starke Empathie, aber es gab auch Erstaunen darüber, mit welchem Aufwand und mit welcher Heftigkeit zum Beispiel Zwangsräumungen in Deutschland durchgesetzt werden.
Gab es Kontakte mit russischen »Mietrebellen«?
Coers: Von einer Mieterbewegung kann dort nicht gesprochen werden, was schon an der Struktur des Wohnens liegt. Die meisten Menschen leben in Wohnungen, die ihnen nach Ende des Realsozialismus überschrieben wurden. Sie sind mit dem Aufbringen von Erhaltungs- und Energiekosten belastet. Zudem übersteigen die Wohnkosten oft das Einkommen. Zur Miete wohnen ist nicht die Regel, auch wenn sich die Mieterrechte im vergangenen Jahr etwas verbessert haben sollen. Doch sind für eine 60-Quadratmeter-Wohnung schnell 1 000 Euro monatlich fällig, auch wenn sie eher in der Peripherie liegt. Wobei zum Beispiel eine Lehrerin oft nur 400 bis 500 Euro im Monat verdient. Beim Erwerb von Eigentumswohnungen werden zum Beispiel in den Innenstadtbezirken von Moskau schnell 8 000 Euro pro Quadratmeter fällig.
Ihre Reihe »Wohnen in der Krise« war eines der wenigen Beispiele für transnationale Kontakte unter widerständigen Mieterinnen und Mietern. Wie ist das Projekt entstanden?
Dallmer: Die Reihe »Wohnen in der Krise«, deren Dokumentation als Youtube-Kanal häufig abgefragt wird, ist aus den Diskussionen des Donnerstagskreises der Berliner Mietergemeinschaft entstanden. Nach der kritischen Auseinandersetzung mit Methoden der militanten Untersuchung und des Community Organizing war das Bedürfnis groß, die Lebenswirklichkeit und die konkreten Fragen des Wohnens in verschiedenen europäischen Ländern in den Blick zu bekommen und zu verstehen. Wir haben Experten und Aktivisten eingeladen und lokale Videos übersetzt, so konnten in Berlin bisher unbekannte Informationen aus den Nachbarländern zusammengetragen werden. In den als PDF zur Verfügung stehenden Ausgaben der Zeitschrift Mieter Echo des vorigen Jahres sind die Veranstaltungsinhalte auch noch einmal verschriftlicht zu finden. Die entstandenen Kontakte werden weiter gepflegt, tatsächlich und konkret zum politischen Austausch genutzt und sind schon bei Aktionen auf europäischer Ebene zum Tragen gekommen.
Kam es durch die Veranstaltungsreihe zu einer besseren Koordination?
Dallmer: Ja, es sind lebendige Kontakte nach Polen, Spanien, Griechenland, Russland, in die Niederlande, Frankreich, die Türkei, Großbritannien und Schweden entstanden. In Wechselwirkung mit unserer Reihe hat sich auch die »Europäische Aktionskoalition für das Recht auf Wohnen und die Stadt« herausgebildet, in der inzwischen Gruppen aus 20 Ländern zusammenarbeiten. Derzeit bilden sich internationale Arbeitsgruppen zu den Themen Finanzialisierung des Wohnungsmarkts, Europäische Charta für das Recht auf Wohnen und Widerstand gegen Zwangsräumungen.
Coers: Trotzdem dürfen diese Verbindungen in Relation zu den Angriffen, denen die Menschen derzeit in den Fragen des Wohnens ausgesetzt sind, nicht überschätzt werden. Die Aktiven sind teils im professionellen Bereich des Wohnrechts, der Sozialfürsorge oder in wissenschaftlichen Zusammenhängen zeitlich stark eingebunden und nur wenige können einen Großteil ihrer Arbeitszeit in die Entwicklung von europäischer Zusammenarbeit investieren. So bleibt der Austausch lose, auch wenn eine Tendenz zur Verstetigung spürbar ist.
Warum entwickeln sich transnationale Kontakte in der Mieterbewegung besonders schwer?
Coers: Einerseits sind es die zeitökonomischen Grenzen der Beteiligten, die räumlichen Entfernungen und die Sprachgrenzen, die immer wieder aufs Neue überwunden werden müssen. Entscheidend ist aber, dass auch große Gruppen mit Hunderten dauerhaft Aktiven wie »Recht auf Wohnen« (Droit Au Logement, DAL) in Frankreich oder die »Plattform der Hypothekenbetroffenen« (Plataforma de Afectados por la Hipoteca, PAH) in Spanien in den jeweiligen Ländern mit den konkreten Aufgabenstellungen und Problemen stark beschäftigt sind. Von einer transnationalen Ebene ist nicht direkt praktische Hilfe zu erwarten, sondern es geht um Austausch, Erfahrungs- und Wissensvermittlung, letztlich darum, die eigene Situation besser zu verstehen und angehen zu können. Allein das praktische Wissen darum, dass an unterschiedlichsten Orten mit unterschiedlichen Strategien widerständig Auseinandersetzungen geführt werden, wirkt bestärkend. Auch transnationale Gewerkschaftsarbeit hat auf europäischer Ebene leider zu wenig Relevanz. Die Arbeitszusammenhänge einer Mieterbewegung von unten sind um ein Vielfaches fragiler, verschaffen sich aber durchaus Gehör.
Dallmer: Es gibt Schwierigkeiten, doch es zeigen sich momentan immer mehr Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Bereichernd für die eigene Praxis sind die Aktivitäten der Freundinnen und Freunde aus den anderen Ländern allemal. Eine Frage ist beispielsweise der Bezug auf die Europäische Union. Soll für verbindliche europäische Vereinbarungen im Bereich des Wohnens gekämpft werden oder nicht? In Ländern mit geringem Mieterschutz wird diese Frage oft bejaht, da man sich von internationalem Druck Verbesserungen erhofft. In Ländern, wo gute Mieterrechte realisiert wurden, herrscht eine gewisse Skepsis, ob so das lokale Mietrecht nicht eingeschränkt werden könnte. In der Europäischen Aktionskoalition wird gerade debattiert, ob gemeinsam gegen internationale Akteure auf dem Immobilienmarkt, etwa das Immobilienverwaltungsunternehmen Camelot, vorgegangen werden kann.
Welche Rolle spielt dabei die Tatsache, dass in einigen Ländern viele Menschen in Eigentumswohnungen leben, in anderen, wie Deutschland, aber mehrheitlich zur Miete?
Dallmer: Protest und Widerstand richten sich an unterschiedliche Adressaten. Während es in Deutschland oft um Mietzahlungen an private Vermieter geht, sind es in Spanien die Banken, an die Kredite zurückgezahlt werden sollen. Wegen der Finanzialisierung der Immobilienunternehmen und da die meisten Menschen, die Kredite zurückzahlen sollen, dies auf absehbare Zeit nicht schaffen und somit nie wirkliche Eigentümer werden, hat sich bei Mieterkämpfen im Ruhrgebiet der Kampfruf »Wir sind alle Mieter der Banken« etabliert. Man ist sich näher, als es oft erscheint.
Coers: Nach Filmdiskussionen in Neapel, Wien, Glasgow, Amsterdam, Córdoba, Moskau und Diskussionsberichten aus Dublin, London, New York, dem Kosovo und Mexiko muss man sagen, dass es nicht darauf ankommt, ob zur Miete oder in Eigentumswohnungen gewohnt wird. Die Menschen werden aktiv, wenn die Wohnraumversorgung nicht mehr gewährleistet ist oder die Wohnraumkosten sie erdrücken. Und sie denken auch entsprechend über die nationalen Grenzen hinweg solidarisch. Es ist aber deutlich geworden, dass ein Wissensaustausch stattfinden muss, damit die jeweilige konkrete krisenhafte Situation auch verstanden werden kann. Verallgemeinert formuliert, ist bei den Aktivisten und Gruppen zum Thema Wohnen die Frage nach sozialer Gerechtigkeit sehr präsent. Auf mögliches Versagen jeweiliger Volkswirtschaften wird vornehmlich nicht geschaut, sondern eher auf die politische und ökonomische Verfasstheit in transnationaler Perspektive.
Es gab Ende Oktober in Córdoba eine europäische Konferenz der Bewegung gegen Zwangsräumungen. Wurde dort auch über diese Schwierigkeiten der Koordination geredet?
Dallmer: Ja, allerdings sind diese internationalen Kooperationen noch ganz jung und da ist es nicht verwunderlich, dass viele Fragen bisher noch offen sind. Die meisten Beteiligten waren sich einig, dass es erst einmal entscheidend sei, ein Bewusstsein füreinander zu bekommen. Aktive aus verschiedenen Ländern traten an uns heran, um »Mietrebellen« in ihren Stadtvierteln aufzuführen.
Gab es Fortschritte bei der transnationalen Koordination der Mieterbewegung?
Dallmer: Es gibt auf jeden Fall einige Fortschritte. Bei einem internationalen Treffen in London zu Protesten gegen die Immobilienmesse MIPIM sind beispielsweise viele Gruppen aus Osteuropa das erste Mal überhaupt aufeinandergetroffen und planen jetzt ein osteuropäisches Treffen der Mieterbewegungen mit Berliner Beteiligung.
Coers: Unser persönlicher Beitrag besteht aktuell darin, den Film »Mietrebellen« auch international zu verbreiten, um über die Verhältnisse hier aufzuklären und am Beispiel von Berlin zu ermutigen, dass es sich lohnt, den aufgezwungenen Zumutungen mit Ausdauer widerständig entgegenzutreten, und dass sich zugleich auch schon kleinteilige Erfolge lohnen.
In Budapest, Den Haag, Barcelona, Poznań, Brest, Bukarest, Athen und Istanbul sowie in Toronto, Seoul, Hongkong und Mumbai sind überwiegend in Zusammenarbeit mit politischen Gruppen Aufführungen in Planung. Zudem beteiligen wir uns an einer weiteren Veranstaltung der Reihe »Wohnen in der Krise« zur historischen und aktuellen Situation in Graz und Wien
Der von der extremen Rechten unterstützte Demonstration gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft am Samstag in Berlin-Marzahn ist zwar weit hinter den Erwartungen geblieben – für den heutigen Montabend wird aber schon wieder zu einem erneuten Aufmarsch aufgerufen.
Ein Desaster für Neonazis, Flüchtlingsgegner und besorgte Anwohner“. So wie die „taz“ kommentierten auch zahlreiche andere Medien, den Versuch, die von bekannten Kadern der NPD und der Partei „Die Rechte“ unterstützten Proteste gegen eine Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Marzahn auszuweiten. Nachdem bei drei Montagsdemonstrationen die Zahl der Teilnehmer/innen zugenommen hatte und einige Anwohner sich offen mit den extremen Rechten solidarisierten (BnR berichtete), sollte der Protest am 22. November ausgeweitet werden.Unter dem Motto „Gegen Asylmissbrauch den Mund aufmachen“ wurde am frühen Samstagnachmittag zu einer Demonstration aufgerufen, die den Anspruch hatte „Bürgerinnen und Bürger aus der Mitte der Gesellschaft“ anzusprechen. Deshalb war auf Parteifahnen verzichtet worden. Wie bei den drei Montagsdemonstrationen zuvor, waren auch am Samstag Deutschlandfahnen in verschiedenen Größten zu sehen. Doch in der Diktion des Aufrufs zeigte sich die extrem rechte Handschrift deutlich. Die Abrechnung mit einer „asozialen Politik“ wird gefordert und „Identität und für eine solidarische Gemeinschaft“ dagegen gesetzt.
Schon bald zeigte sich allerdings, dass die Teilnehmerzahl der als „besorgte Bürger“ firmierenden Gegner der Flüchtlingsunterkunft mit knapp 800 Menschen hinter ihren Erwartungen geblieben ist. Zudem hatte ein breites Bündnis aus Politik und Zivilgesellschaft zu Protesten aufgerufen und Teile der geplanten Marschroute besetzt. Von der eigentlich acht Kilometer langen Demonstrationsroute blieb am Ende eine kurze Strecke übrig. Die lange Wartezeit führte dazu, dass die rechte Demo auf knapp 200 Menschen schrumpfte. Dafür wurden die Ansprachen am offenen Mikrofon immer aggressiver.
„Die Kräfte bestmöglich bündeln“
„Wir Deutschen haben auch Rechte und zwar mehr Rechte als so genannte Flüchtlinge“, rief ein Redner. Eine Rednerin echauffierte sich, dass „Deutschland immer mehr zu einem Selbstbedienungsladen für kriminelle Ausländerbanden verkommt“. Da war schon klar, dass die geplante Verbreiterung des Protests gegen die Flüchtlingsunterkunft nicht gelungen war.
Die Rechtsextremisten hatten gehofft, unter dem Label besorgter Bürger und dem Verzicht auf Parteifahnen wieder größere Aufmärsche organisieren zu können. In den vergangenen Jahren hatten demokratische Bündnisse der Zivilgesellschaft und juristische Entscheidungen Aufmärsche wie in Dresden zum Jahrestag der alliierten Bombardements oder in Wunsiedel zum Todestag von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß verhindert. Mit den Protesten gegen die Flüchtlingsunterkünfte sollte sich auch die zerstrittene Rechte ein Thema konzentrieren, bei dem es unter ihnen keine Differenzen gibt. Im Aufruf der Flüchtlingsgegner heißt es: „Es wird Zeit, die Kräfte bestmöglich zu bündeln und ein Zeichen im Namen aller Betroffenen zu setzen“. Das Kalkül schien aufzugehen. So hieß es auf der rechtspopulistischen Internetseite PI („Political Incorrect“) nach der dritten Montagsdemonstration gegen Flüchtlingsunterkünfte: „In Berlin bewegt sich was“. Am Samstag zumindest war bei den Gegnern der Flüchtlingsunterkünfte eher Stillstand als Bewegung angesagt.
Für den heutigen Montagabend ruft die „Bürgerbewegung Marzahn“ allerdings zu einer erneuten Montagsdemonstration unter dem Motto „Nein zum Containerdorf“ auf.
Seit einigen Wochen geht in verschiedenen Städten Deutschlands eine rechte Querfront auf die Straße, die von neonazistischen Kameradschaften bis zu Teilen der CDU reicht
„Ein Desaster für Neonazis, Flüchtlingsgegner und besorgte Anwohner“. So wie die Taz [1] kommentierten auch zahlreiche andere Medien angesichts der Versuche, die von bekannten Kadern der NPD und der Partei „Die Rechte“ unterstützten Proteste gegen eine Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Marzahn auszuweiten.
Nachdem bei drei Montagsdemonstrationen die Zahl der Teilnehmer zugenommen hatte und einige Anwohner sich offen mit den Rechten solidarisierten, sollte der Protest am 22. November auf eine neue Stufe gehoben werden. Unter dem Motto „Gegen Asylmissbrauch den Mund aufmachen“ [2] wurde am frühen Samstagnachmittag zu einer Demonstration aufgerufen, die den Anspruch hatte, „Bürgerinnen und Bürger aus der Mitte der Gesellschaft“ anzusprechen. Deshalb war auf Parteifahnen verzichtet worden.
Wie bei den drei Montagsdemonstrationen zuvor waren auch am Samstag Deutschlandfahnen in verschiedenen Größen zu sehen. Doch in der Diktion des Aufrufs zeigte sich die rechte Handschrift deutlich. Die Abrechnung mit einer „asozialen Politik“ wird gefordert und „Identität“ und „eine solidarische Gemeinschaft“ dagegen gesetzt. Schon bald zeigte sich, dass die Teilnehmerzahl der als „besorgte Bürger“ firmierenden Gegner der Flüchtlingsunterkunft mit knapp 800 Menschen hinter ihren Erwartungengeblieben zurückgeblieben ist. Zudem hatte ein großes Bündnis zu Protesten aufgerufen [3] und Teile der geplanten Demoroute besetzt. Die eigentlich 8 Kilometer lange Demoroute musste daher auf eine ganz kurze Strecke gekürzt werden.
Die lange Wartezeit führte dazu, dass die Demo der Flüchtlingsgegner auf knapp 200 Menschen schrumpfte. Dafür wurden die Ansprachen am offenen Mikrofon immer aggressiver. „Wir Deutschen haben auch Rechte und zwar mehr Rechte als sogenannte Flüchtlinge“, rief ein Redner. Eine Rednerin echauffierte sich, dass „Deutschlandimmer mehr zu einem Selbstbedienungsladen für kriminelle Ausländerbanden verkommt“. Doch da war schon klar,dass die geplante Verbreiterung des Protests gegen die Flüchtlingsunterkunft nicht gelungen ist. Statt der geplanten Route von fast 8 Kilometer war am Samstagabend nach 800 Metern Schluss.
Wenn Rechte zu besorgten oder engagierte Bürger werden
Die Rechten hatten gehofft, unter dem Label „besorgte Bürger“ und dem Verzicht auf Parteifahnen wieder größere Aufmärsche organisieren zu können. In den letzten Jahren verhinderten demokratische Bündnisse und administrative Entscheidungen rechte Aufmärsche in Dresden [4] gegen die alliierte Bombardierung oder in Wunsiedel [5] zum Todestag von Rudolf Hess.
Mit den Protesten gegen die Flüchtlingsunterkünfte sollte sich auch die zerstrittene Rechte auf ein Thema konzentrieren, bei dem es unter ihnen keine Differenzen gibt. Im Aufruf zur Demo in Marzahn wird das ganz klar benannt: „Es wird Zeit, die Kräfte bestmöglich zu bündeln und ein Zeichen im Namen aller Betroffenen zu setzen.“ Das Kalkül schien aufzugehen. So hoffte [6] man auf der rechtspopulistischen Internetseite PI nach der dritten Montagsdemonstration gegen Flüchtlingsunterkünfte: „In Berlin bewegt sich was.“
Am vergangenen Samstag war hingegen bei der rechten Demo vor allem Stillstand angesagt.
Die neue rechte Demostrategie hat einen Dämpfer erlitten. Gescheitert ist sie damit aber noch nicht. Denn es sind die Bedingungen für Proteste gegen rechte und rechtspopulistische Aufmärsche nicht überall so ideal wie in der Metropole. Zumindest die Antifaschisten in Dresden wollen sich daran ein Beispiel [7] nehmen.Dort ist bereits fünfmal immer am Montagabend ein Bündnis „Patriotischer Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ [8] auf die Straße gegangen. Auch dort wurde das gleiche Konzept wie in Marzahn und an anderen möglichen Standorten für Flüchtlingsunterkünfte gefahren.
Parteifahnen bleiben zu Hause und unter dem Label besorgter Bürger formiert sich eine Volksfront von Rechts, die auf parlamentarischer Ebene derzeit nicht zu Stande kommt. Auf diesen neuen Demonstrationen marschieren neben rechten Mitgliedern vonKameradschaften oder der NPD auch Anhänger von rechtspopulistischen Gruppen, die bisher immer sehr auf Distanz zu den offenen Nazistrukturen bedacht waren.
Dass selbst bei Teilen der CDU die Distanz gegen Rechtaußen zumindest auf der Straße abnimmt, zeigte sich am 9. November dieses Jahres in Erfurt. Ausgerechnet am Jahrestag der Reichspogromnacht gingen CDU-Mitglieder mit Rechtspopulisten und Neonazis [9] gegen eine von der Linkspartei gestellte thüringische Landesregierung auf die Straße. Die Erfurter Jusos [10] sprachen von einer deutschnationalen Querfront.
Die zahlreichen kritischen Berichte über diesen neuen rechten Schulterschluss scheinen zumindest führende Thüringer CDU-Funktionäre wenig zu beeindrucken. Der CDU-Landesvorsitzende von Thüringen, Mike Mohring, kündigte an, wenn es sein Terminkalender erlaubt, bei schon angekündigten weiteren Protesten gegen eine linksreformistische Koalition in Erfurt dabei zu sein. Die rechte Volksfront bezeichnete [11] Mohring als engagierte Bürger und übernimmt damit bis in die Diktion die Lesart der neuen rechten Volksfront.
Unter dem Label besorgte oder engagierte Bürger verschwindet die Tatsache, dass darunter Kader rechter und teilweise sogar neonazistischer Gruppierungen sind, die bisher selbst bei Rechtskonservativen nicht als bündnisfähig galten. Dass es hier Aufweichungen gibt, zeigte sich auch bei der HoGeSa-Demonstration am vorletzten Samstag in Hannover, der von den rechtspopulistischen PI Vorbildcharakter für die rechte Volksfront [12] auf der Straße zugeschrieben wird. Als Redner trat auch der umtriebige Politiker der Partei „Die Freiheit“, Michael Stürzenberger, auf. Die Partei hatte lange Zeit zumindest offiziell von diesen Milieu Abstand gehalten.
Umsichgreifen von marktförmigen Extremismus
Die Versuche des Aufbaus einer rechten Volksfront auf der Straße stehen auch nicht im Widerspruch zur jüngsten Studie [13] der SPD-nahen Friedrich Ebert Stiftung, die in diesen Tagen unter dem Titel „Fragile Mitte –Feindselige Zustände“ [14] veröffentlicht wurde. Danach sind die offen rechtsextremen und menschenfeindlichen Einstellungen gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen. Doch die Zustimmung zu einzelnen Facetten extrem rechter Ideologeme wie der Abwertung von erwerbslosen Menschen und Geflüchteten ist nach wie vor sehr hoch.
Der Ko-Autor der neuen Studie Andreas Hövermann [15]konstatierte das Umsichgreifen eines „marktförmigen Extremismus, der Selbstoptimierung, Wettbewerbsideologie und ökonomistische Werthaltungen propagiert. Chauvinismus und Sozialdarwismus sind Elemente des marktförmigen Extremismus“, erläutert der Forscher und stellt damit eine Verbindung zwischen dem neuen rechten Denken und den Zumutungen des Kapitalismus her, wie es bereits vor einigen Jahren mehrere Bündnisse gegen Sozialchauvinismus [16]getan haben.
Die Ergebnisse dieser Studie korrespondieren durchaus mit den neuen rechten Bewegungen auf der Straße, die eben gerade diese rechten Elemente des marktförmigen Extremismus herausgreifen und damit bündnisfähig auch bei Menschen werden wollen, die sich nicht als Rechte verstehen.
Antifaschisten diskutierten über die Aufmärsche rechter Fußballfans
Der Auftauchen der »Hooligans gegen Salafisten« in Köln hat viele überrascht. Auch Antifaschisten und linke Fußballfans. Über Erklärungen und Gegenstrategien wurde am Donnerstag in Berlin debattiert.
Seit in Köln vor einigen Wochen Tausende unter dem Label »Hooligans gegen Salafisten« (HoGeSa) auf die Straße gegangen sind, häufen sich in den Medien Berichte über diese neue Gruppierung. Glaubt man den Presseberichten sei diese »völlig überraschend aus dem Nichts aufgetaucht«. Auch viele aktive Antifaschisten waren von einem so großen Aufmarsch rechter Fußballfans überrascht. »Ich hatte gehofft, die Ära der rechten Massenaufmärsche wäre in Deutschland vorüber. Seit dem HoGeSa-Auftritt in Köln bin ich mir da nicht mehr so sicher«, brachte am Donnerstagabend ein Teilnehmer einer Veranstaltung in Berlin diese Stimmung auf dem Punkt.
Die Diskussionsrunde widmete sich der Frage, wie die HoGeSa einzuschätzen ist und ob sie Vorläufer hat. Eingeladen waren Referenten von Berliner Antifagruppen und vom (BAFF). Dessen Vertreter Roland Zachner (Name geändert) erinnerte zunächst an die Gründungsära der BAFF vor über 20 Jahren. Nach den Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte haben sich die in vielen Fußballstadien schon länger aktiven Neonazis lautstark bemerkbar gemacht Dass Fußballfans schon viel länger zur Zielgruppe von Neonazis gehörten, verdeutlichte Zachner am Beispiel von Michael Kühnen. Der damals umtriebige Jungnazi umwarb bereits in den 1970er Jahren gezielt Hooligans.
Dass der Einfluss der Rechten in den Stadien in den letzten Jahren zurückgedrängt werden konnte, sei auch das Verdienst linker Ultragruppen, sagte Zachner. Für den langjährigen BAFF-Aktivisten ist das Auftauchen der HoGeSa paradoxerweise auch eine Folge von erfolgreichem antifaschistischem Widerstand: »Nachdem immer mehr rechte Straßenaufmärsche, wie die Demonstrationen zum Jahrestag der alliierten Bombardements in Dresden oder die Aufmärsche zum Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Hess in Wunsiedel verhindert werden konnten, hätten die Rechten ihre Aktivitäten wieder vermehrt in die Fußballstadien verlegt.«
Doch bleibt HoGeSa nur ein Label, das zurzeit in rechten Kreisen gerne benutzt wird und sich schnell wieder abnutzt? Diese Frage mochte niemand beantworten. Doch Nico Steinert (Name geändert) von der Berliner North East Antifa (NEA) wies auf die Heterogenität des Hooligan-Netzwerkes hin. Nach dem schlagzeilenträchtigen Aufmarsch in Köln hätten bereits die ersten Differenzierungsprozesse eingesetzt. Dabei habe die HoGeSa auch massiven Gegenwind aus den eigenen Reihen erfahren. Geplante und schon öffentlich angekündigte Aufmärsche in Hamburg und anderen Städten mussten abgesagt werden, weil die dortigen Hooligans eine Teilnahme ablehnten. Ob der HoGeSa-Aufmarsch am 15. November in Hannover für die Szene ein Erfolg war, werde intern kontrovers diskutiert. Ein Teil beschwerte sich, dass sie sich nur in dem von der Polizei abgesteckten Areal bewegen konnten. Auch die starke Präsenz rechter Parteien wie NPD und Die Rechte sorge in Teilen der Hooliganszene für Kritik. Andere wiederum sähen den Aufmarsch in Hannover als Erfolg für die HoGeSa. Schließlich zählten zu den Referenten Mitglieder rechtsbürgerlicher Parteien, die lange Zeit die Kooperation mit offenen Nazis abgelehnt hatten. So gehörte ein Münchner Aktivist der Partei »Die Freiheit« zu den Rednern. Auch die antiislamische und rechtspopulistische Internetseite Politically Incorrect (PI) zählte zu den Unterstützern der HoGeSa. Der NEA-Vertreter erklärte, er habe den Eindruck, als würden diejenigen, die in den letzten Jahren auf PI mit rassistischen oder homophoben Zuschriften aufgefallen sind, nun auf die Straße gehen. Trifft dies zu, dann ist die HoGeSa kein kurzlebiges Phänomen und Antifaschisten müssen sich noch länger mit der Gruppierung beschäftigen.
Immer mehr Soligruppen organisieren Unterstützung für Arbeitskämpfe in der Bundesrepublik
Am Wochenende trafen sich Streikkomitees aus verschiedenen Städten in Frankfurt am Main, um ihre Erfahrungen auszutauschen. Verabredet wurde, die Amazon-Beschäftigten weiter zu unterstützen.
Stell Dir vor, bei Amazon wird gestreikt und vor den Werktoren verhindern Unterstützer, dass Streikbrecher zum Einsatz kommen. Genau so könnte die nächste Streikwoche des Amazon-Versandhandels aussehen. Denn mittlerweile gibt es in mehreren Städten politische Gruppen, die Streikende von außen unterstützen. Am Wochenende trafen sich ca. 30 Personen in Frankfurt am Main zum zweiten bundesweiten Vernetzungstreffen.
Ende Juni hatte in Leipzig das erste bundesweite Treffen stattgefunden. In der Stadt gibt es seit einem Jahr eine hauptsächlich von Studierenden getragene Initiative, die den Beschäftigten des dortigen Amazon-Stützpunktes bei ihrem Arbeitskampf den Rücken stärkt.
Auch in anderen Auseinandersetzungen gründeten sich Soli-Komitees für Streiks. So führten beim Einzelhandelsstreik von 2013 Unterstützergruppen in Erfurt und Berlin Solidaritätsaktionen durch, ebenso an der Berliner Charité und beim Hamburger Verpackungshersteller Neupack.
Über das politische Ziel, prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen zu bekämpfen, waren sich die Teilnehmer beim Treffen in Frankfurt einig. Im Detail gab es aber durchaus Differenzen. Soll lediglich ein bundesweites Netzwerk der Streiksolidarität aufgebaut werden, wie es dem Bündnis »Streik-Soli-Leipzig«, das zu dem Treffen eingeladen hatte, vorschwebt? Oder soll sich das Bündnis auch ein Selbstverständnis geben, wie es die Gruppe »Kritik und Klassenkampf« aus Frankfurt am Main vorschlug? Für manche standen im ersten Teil des Treffens solche Organisationsfragen zu stark im Vordergrund. So rutschte der Erfahrungsaustausch der Streiksoligruppen in die späten Abendstunden.
Als es aber um die Unterstützung des Amazon-Streiks ging, waren sich die Teilnehmer einig. Auf Vorschlag eines Amazon-Beschäftigten soll das nächste Treffen der »Streiksolidarität« im Frühjahr am Werkstandort Bad Hersfeld stattfinden. Vielleicht werden aber manche den osthessischen Kurort bereits vorher durch Solidaritätsaktionen kennenlernen.
Auch im Reproduktionsbereich soll die Streiksolidarität ausgebaut werden. Der Studierendenverband der LINKEN, SDS.Die Linke, lädt für das kommende Wochenende nach Frankfurt ein, um die Unterstützung für den Kitastreik im nächsten Jahr vorzubereiten.
Über die Idee für eine Konferenz zur außerbetrieblichen Streiksolidarität wurde noch nicht entschieden. Eine solche Konferenz böte die Chance, sich eine Geschichte anzueignen, die nicht erst 2013 begonnen hat. Bereits 2008 war der damalige Einzelhandelsstreik in Berlin von eigenständigen Unterstützungsaktionen linker Gruppen begleitet. Die Initiative ging damals vom Euro-Mayday-Bündnis aus, das mehrere Jahre lang am 1. Mai versuchte, Demonstrationen von Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen zu organisieren. Höhepunkt der damaligen Solidaritätsarbeit war die Aktion »Dichtmachen«, bei der im Juni 2008 eine Berliner Reichelt-Filiale für mehrere Stunden blockiert wurde. Im Film »Ende der Vertretung« wurde die durchaus nicht konfliktfreie Kooperation der Unterstützergruppen mit den DGB-Gewerkschaften thematisiert. Und in Nordrhein-Westfalen gab es eine monatelange Unterstützungsarbeit für den Streik von Beschäftigten der Cateringfirma Gate Gourmet, der von Basisgewerkschaften geführt wurde.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass Deutschland arbeitslosen Zuwanderern aus anderen EU-Ländern Hartz IV verweigern darf. Die Jungle World hat mit Lutz Achenbach gesprochen. Er ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Sozialrecht in Berlin und vertritt EU-Bürger, denen Hartz-IV-Leistungen verweigert werden.
Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass Deutschland einer Rumänin Hartz-IV-Leistungen verweigern kann. Sind Sie enttäuscht?
Es hätte natürlich auch gute Argumente dafür gegeben, der Frau aus Rumänien Leistungen nach Hartz IV zuzusprechen, beispielsweise das Diskriminierungsverbot innerhalb der EU. Viele hätten sich auch gewünscht, dass das Gericht grundsätzlicher über die Frage entscheidet, welche Verbindung ein EU-Bürger zum deutschen Arbeitsmarkt in Deutschland haben muss, wenn er Leistungen nach Hartz IV bekommt. Das hat der EuGH nicht gemacht.
Wird durch das Urteil die Situation für EU-Bürger erschwert, Leistungen nach Hartz IV zu beantragen?
Zunächst einmal wurde ein Einzelfall entschieden, der mit der Frage, mit der wir uns seit langem befassen, nicht direkt etwas zu tun hat.
Warum?
In dem konkreten Fall, über den der EuGH am Dienstag entschieden hat, ging es um eine Rumänin, die mit ihren Kind bei ihrer Schwester in Leipzig lebt und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht. Hier hat das Gericht entschieden, dass keine Hartz-Leistungen gezahlt werden müssen. Wir kennen aber viele Fälle von EU-Bürgern, die dem Arbeitsmarkt in Deutschland zur Verfügung stehen und teilweise auch schon hier gearbeitet haben, denen Hartz-IV-Leistungen verweigert werden. Darüber hat das Gericht nicht entschieden und das Urteil ist damit nicht unmittelbar auf sie anwendbar.
Welche Verschärfungen plant die Politik, um EU-Bürger von den Leistungen auszuschließen?
Gerade wurde eine Änderung des Freizügigkeitsgesetzes auf den Weg gebracht, die das Recht zur Arbeitssuche auf sechs Monate begrenzt. Wer länger bleiben will, muss gegenüber der Ausländerbehörde nachweisen, begründete Aussicht zu haben, eingestellt zu werden. Damit wird das Problem weg von den Sozialbehörden hin zu den Ausländerbehörden geschoben, wo sich die Bundesregierung eine restriktivere Auslegung erhofft.
Die Realofraktion versuchte einen Durchmarsch, doch Gysi spielte vorerst noch nicht mit
Eigentlich war es um den Flügelstreik bei der Linkspartei in den letzten Monaten stiller geworden. Selbst Kritiker des gegenwärtigen Führungsduos bescheinigten Bernd Riexinger und Katja Kipping, dass sie es vermocht haben, der zerstrittenen Partei wieder gemeinsame Ziele zu vermitteln. Die Unterschiede in vielen Fragen sind damit nicht vom Tisch. Aber es ist ihnen gelungen, die Partei wieder auf die Fragen zu konzentrieren, bei denen es weitgehende Einigkeit gibt – und bei denen sie realen Einfluss nehmen kann. Das sind Kämpfe gegen prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen und bestimmt nicht der Frieden im Nahen Osten.
Das hätten Inge Höger, Heike Hänsel und Annette Groth wissen müssen, als sie gegen den Willen und die Beschlusslage der Fraktion am 9. November ein Tribunal gegen Israel in Berlin veranstalten wollten und dazu einen kanadischen und US-amerikanischen Antizionisten einluden. Man kann den Abgeordneten glauben, dass sie den Termin nicht bewusst auf den Jahrestag der Reichspogromnacht gelegt haben. Doch scheinen sie sich auch ansonsten nicht viele Gedanken vor dem Treffen gemacht zu haben.
Wer das Video [1] über den Auftritt der bunt zusammen gewürfelten Gruppe bei Gysi gesehen hat, denkt eher an eine Folge von „Neues aus der Anstalt“ als an den Besuch einer Gruppe von parlamentarischen Israelkritikern, die sich bei Gysi darüber beschweren wollen, dass ihre Veranstaltungen abgesagt wurden. Hatte die Gruppe eigentlich vor dem Besuch darüber gesprochen, was sie dort erreichen und wie sie vorgehen wollten?
Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder unangemeldete Blitzbesuche von Hausbesetzern oder Wagenplatzbewohnern bei Politikern, wenn Räumungen drohten. Die waren allerdings wesentlich besser vorbereitet als diese Gysi-Visite. Auf dem Video ist zu sehen, dass die Abgeordneten ahnten, dass da etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Warum aber wurde das Video dann trotzdem ins Netz gestellt? Das kann eigentlich nur die Tat von Personen sein, die die Gruppe nicht nur öffentlich diskreditieren, sondern auch den mühsam erkämpfen Parteifrieden zerstören wollen. Das ist gründlich gelungen.
„Ihr sprecht nicht für uns“
Wenige Tage nachdem das Gysi-Mobbing für Aufsehen sorgte, legte die Realofraktion [2] die Axt an die Parteieinheit. Ihr Aufruf unter den Titel „Ihr sprecht nicht für uns“ [3] hätte leicht als Dokument der Parteispaltung in die Geschichte eingehen können. Schon der Titel ist verräterisch. Denn tatsächlich war bereits klar, dass die genannten Bundestagsabgeordneten in vielen Fragen nicht im Namen der Unterzeichner des Aufrufs sprechen, in der Nahostfrage schon gar nicht.
Nur stand das nicht infrage und die Gescholtenen hatten auch gar nicht diesen Anspruch. Die Frage ist doch vielmehr, ob sie mit ihren Postionen für ihre Wähler und den Parteiflügel, den sie repräsentieren, sprechen. Die beiden linken Strömungen Sozialistische Linke [4] und Antikapitalistische Linke [5] haben sich in ihren Erklärungen [6] hinter die Kritisierten gestellt, was absehbar war.
So ging es bei dem Aufruf eben nicht darum, dass die Abgeordneten in der Nahostfrage nicht für die Realofraktion sprachen. Diese nutzte vielmehr den unprofessionellen Auftritt für den Versuch eines Durchmarsches. Sie wollte die Kooperation mit der Parteilinken aufkündigen. Dabei handelten die Parteirealos durchaus nicht ungeschickt.
Demnächst soll in Thüringen der erste Ministerpräsident der Linkspartei gewählt werden. Schon im Vorfeld verrenkt sich Bodo Ramelow so sehr, dass er sogar strukturelle Ähnlichkeiten des Geheimdienstes der DDR und des NS festzustellen [7] glaubt, ohne die nicht nur strukturellen, sondern auch personellen Verbindungen zwischen den Geheimdiensten des 3. Reiches und seines westlichen Nachfolgerstaates auch nur zu erwähnen.
Sollte Ramelow trotz durchaus noch möglicher Hindernisse seinen Traum, erster linker Ministerpräsidenten zu werden, realisieren können, wird die Zerreißprobe für die Partei erst beginnen. Denn dann muss er Bundeswehrempfängen ebenso seinen Segen geben wie den Treffen der verschiedenen Industrielobbygruppen. Schließlich geht es ja um den Standort Thüringen und dem ist jeder Ministerpräsident jenseits der unterschiedlichen Parteipolitik verpflichtet.
Ein linker Parteiflügel, der den Genossen Ministerpräsidenten dann immer wieder an das Parteiprogramm erinnert, wäre da nur hinderlich und könnte die Regierung des ersten linken Ministerpräsidenten in Turbulenzen bringen. Für den Realoflügel ist allerdings eine erfolgreiche linke Landesregierung ein Baustein für eine Regierungsbeteiligung auch auf Bundesebene. Das viel zitierte rot-rot-grüne Bündnis wird es nur geben, wenn eine solche Konstellation in Thüringen nicht schon in den ersten Wochen scheitert.
Die ehemalige PDS-Politikerin Angela Marquardt, die vor einigen Jahren zur SPD wechselte, wo sie deren Denkfabrik [8] leitet, machte im Jungle World-Interview [9] klar, dass ein solches Bündnis alle Reformen unter den Haushaltsvorbehalt stellen wird. Die von Kapitallobbygruppen geforderte und von der Politik umgesetzte Schuldenbremse wird von ihr nicht Infrage gestellt. Das macht deutlich, wie eng der Spielraum für Reformen in einer solchen linken Reformkoalition sein wird. Ein linker Parteiflügel, der immer wieder auf die Beschlüsse der Linkspartei hinweist, würde da nur stören. Deswegen wollte der Realoparteiflügel sich seiner entledigen, bevor die Generalprobe in Erfurt beginnt.
Gysi als Parteiretter
Ihr Kalkül hätte aufgeben können. Ein Großteil der Medien hätte, wie schon vor 30 Jahren bei den Grünen, auf Seiten der Realos gestanden. Der linke Flügel hätte die Legislaturperiode, unter welchem Label auch immer, zwar noch im Parlament gesessen, wäre aber von den Medien so nachdrücklich als Fundamentalisten denunziert worden, dass sie keine Wahlen hätten gewinnen können. Die Realofraktion hätte dagegen die Medien auf ihrer Seite gehabt.
Doch Gregor Gysi spielte dabei nicht mit und ließ die Realos scheitern. Nebenbei machte er aber auch klar, dass er mehr als Riexinger und Kipping das Zentrum der Partei ist. Er nannte den Realoaufruf interessant, schloss sich ihm aber nicht an und warnte davor, den internen Streit weiterzuführen. Damit verhinderte er eine Parteispaltung. Die wäre nicht zu verhindern gewesen, wenn sich Gysi auf Seiten der Realos gestellt und das nicht nur mit politisch klargestellt, sondern auch als Betroffener des unangemeldeten Besuchs argumentiert hätte.
Jetzt wird darüber spekuliert, ob sich die Parteirealos von Gysi verraten fühlen. Doch Gysi hat durch seine jüngste Parteirettung deutlich gemacht, dass in der Partei weiterhin ohne ihn nichts läuft. Seine Aktion wird sicher auch einen Preis haben. Es war schon deutlich, dass die Parteilinke in den letzten Tagen alles vermied, um Öl ins Feuer zu gießen.
Sollte es zu einer Ramelow-Regierung in Thüringen kommen, wird man das noch öfter erleben. Kommt sie nicht zustande oder scheitert schnell, dürften die Realos erneut den linken Flügel dafür verantwortlich machen und versuchen, ihn abzustoßen. Ob sich Gysi dann noch mal als Parteiretter erweist, ist fraglich.
In mehreren Berliner Stadtteilen finden seit Wochen Demonstrationen gegen Flüchtlingsunterkünfte statt. Neben Angehörigen der rechten Szene, die die Infrastruktur stellen, beteiligen sich daran auch Anwohner.
Am Montagabend marschierten rund 200 Menschen durch den Stadtteil Buch im Norden Berlins. Fast zeitgleich beteiligten sich an dem Tag nach Veranstalterangaben über 1000, Polizeiangaben zufolge 700, Personen an einer mehrstündigen Demonstration durch den Berliner Stadtbezirk Marzahn gegen ein dort geplantes Containerdorf für Flüchtlinge. Unter den Demonstrierenden befanden sich der Berliner NPD-Vorsitzende Sebastian Schmidtke und Angehörige von Kameradschaften. Statt Partei- beziehungsweise Organisationsbannern waren Deutschlandfahnen in allen Größen sowie das Berliner Wappen zu sehen. An der Spitze trugen Rechtsextremisten ein Transparent mit dem Motto „Wache auf! Handeln statt klagen“. Gleich dahinter wurde ein Transparent mit der Parole „Wir haben die Schnauze voll“ mitgeführt. Dieser Spruch wurde auch häufig skandiert.Mit gezielten Ansprachen an die Bewohner der Häuserblocks in Marzahn, an denen die Demonstration dicht vorbei zog, warben Redner für die Ziele des Aufzugs. So versuchte ein älterer Mann die Menschen, die auf ihren Balkonen standen, über Megaphon zur Teilnahme zu bewegen. „Wir sind keine Krawallmacher, sondern anständige Bürger“, rief er immer wieder. „Auch Sie werden durch die Parteien ausgebeutet, verarmen im Alter und müssen vielleicht Flaschen sammeln“, appellierte er an die Zuschauer. Vereinzelt stießen solche Ansprachen auf Zustimmung. Die Organisatoren sprachen von einem großen Erfolg, weil sich von Montag zu Montag die Teilnehmerzahl erhöht habe.
„Wir wollen keine Asylantenheime“
Im hinteren Teil des Demonstrationszugs trugen Teilnehmer Schilder mit der Aufschrift „Wir sind keine Nazis“. Damit wollten sie sich allerdings nicht von ihren rechten Mitdemonstranten distanzieren, sondern von der Medienberichterstattung, die die Teilnahme der Neonazis thematisierte. Immer wieder wurde Lügenpresse, Lügenpresse“ skandiert. „Warum sprecht ihr immer von Nazis, wenn Ihr irgendwo stolze und freie Deutsche trefft?“, hieß es auf dem Plakat eines Marschierers. Die Hauptparole lautete allerdings „Wir wollen keine Asylantenheime“. Immer mal wieder riefen Jungrechte statt dessen „Asylantenschweine“, wurden aber von Ordnern freundlich auf die korrekte Formulierung hingewiesen.
Manchem Demonstranten wurde auf dem langen Zug auch etwas langweilig. Während im hinteren Teil einige ältere Deutschlandfahnen-Träger über die letzte „pro Deutschland“-Kundgebung fachsimpelten, vermissten einige junge Rechtsextremisten „ein Paar Zecken, die wir aufmischen können“. Die rund 400 Gegendemonstranten waren von der Polizei in einen anderen Teil von Marzahn geleitet worden. Zum Abschluss brachte das rechtsextreme Rapduo „A3stus“ noch pathetische Lieder über Deutsche, die angeblich von Ausländern ermordet werden, zu Gehör.
Bereits am kommenden Samstag ist der nächste Aufmarsch gegen die Flüchtlingsunterkunft in Marzahn geplant, der um 13.00 Uhr beginnen soll. Die Mobilisierung in rechten Kreisen hat bereits begonnen.
Politische Online-Kampagnen, „Klicktivismus“ und die Unterfütterung solcher Bewegungen: Indiz für eine Schwächung der Protestkultur?
„Demokratie braucht Bewegung“, lautete der Titel eines Kongresses, der am Wochenende in Berlin stattgefunden [1] hat. Oft gehört und schön gesagt, könnte man denken. Doch veranstaltete den Kongress mit Campact [2] ausgerechnet eine Organisation, die nicht wenige für den Ausdruck einer Schwundstufe der Protestkultur halten. Die Bewegung, die Campact meint, erschöpft sich oft in der Fingerübung, die man braucht, um mit einem Click eine der Kampagnen von Campact zu unterstützen, lautet die Kritik.
Vergesst den Klicktivismus
Dafür wurde sogar ein eigener Begriff kreiert: „Klicktivismus“ (oder „Clicktivismus“). Er hat sich allerdings als Synonym für eine Widerstandssimulation noch nicht wirklich durchgesetzt. Dabei ist die Kritik alt [3] und wird mittlerweile auch von Menschen vertreten, die aus dem Umfeld der Campact-Gründer kommen.
So wird Attac-Mitbegründer Felix Kolb, der noch vor zwei Jahren in einem Taz-Streitgespräch [4] das Hohelied auf die grundsätzlich „gerecht und demokratisch strukturierte Gesellschaft“ in Deutschland sang, heute in der Taz als Clicktivismus-Kritiker zitiert [5].
Nun könne man es sich leicht machen und Kritiker des Neides zeihen, die ein nach den eigenen Ansprüchen nicht erfolgloses Projekt schlecht reden wollen. Schließlich kommt Campact aus einer Bewegung, die nicht mehr über Gesellschaft im Allgemeinen und Kapitalismus im Besonderen reden wollte, sondern konkrete Probleme in der Gesellschaft in ihren Kampagnen aufgreifen und Abhilfe schaffen wollte. Politisch Verantwortliche wurden so nicht etwa infrage gestellt, sondern sie wurden dafür kritisiert, dass sie nicht öfter und wirkungsvoller eingreifen.
Campact – die Bildzeitung der Protestbewegung?
Ein gutes Beispiel ist die aktuelle Campact-Kampagne gegen Kohleverstromung [6]. In der Kurzformel „Herr Gabriel, Kohlekraft abschaffen“ gelingt Campact etwas, wofür die Bildzeitung mit ihren Schlagzeilen seit Jahren bekannt ist: Komplexe Sachverhalte werden in wenigen Worten zusammengefasst, die scheinbar alle verstehen, dazu werden auch schnell mal neue Wörter kreiert.
Kohlekraft ist dafür ein gutes Beispiel, weil damit semantisch an die momentan gesellschaftlich in Deutschland eher abgelehnte Atomkraft erinnert wird. Was ist dagegen einzuwenden, wenn nun die Methode der Bild-Schlagzeilen umgekehrt und für die Protestbewegung genutzt wird?
Doch Kritiker bezweifeln, dass solche Methoden einfach anders genutzt werden können. Auf jeden Fall wird durch die Campact-Kampagnen der Appell an Staat und Regierung wieder populär gemacht. Das zeigt sich schon daran, dass an die politisch Verantwortlichen adressiert wird, im Fall der Kohleverstromung an den zuständigen Minister Gabriel.
Vor kurzem hatten Umweltaktivisten sogar eine Demo organisiert [7], bei der Bundeskanzlerin Merkel dafür kritisiert [8] wurde, dass sie nicht zum Klimagipfel nach New York jettete, sich also eigentlich umweltpolitisch vorbildlich verhielt. In den letzten Jahren wandten sich Initiativen unter dem Motto „Atomausstieg selber machen“ [9] gegen die Hoffnungen, die man in Regierungen und Staat setzt. Nun hat Campact allerdings die Staatsgläubigkeit nicht erfunden, sondern nur auf die Höhe der technischen Möglichkeiten gehoben.
Schließlich gab es bereits vor der massenhaften Computernutzung die Unterschriftenappelle, die auch nur eine Fingerübung zur Voraussetzung hatten. Eine der bekanntesten Unterschriftensammlungen in den 1980er Jahren in der BRD war der Krefelder Appell [10], der sich gegen die Stationierung neuer Nato-Mittelstreckenwaffen in Westeuropa wandte und für eine globale Abrüstung eintrat.
Schon durch den Appell-Charakter wird deutlich, dass solche Aufrufe an Regierungen adressiert sind. Doch hier wird auch ein Unterschied zu den Online-Kampagnen von Campact deutlich. Die Unterschriften wurden im öffentlichen Raum gesammelt, sei es an Infoständen, auf Demonstrationen oder gelegentlich sogar bei Hausbesuchen. Den Unterschriften gingen oft lange Debatten voraus, für das Unterschriftensammeln bereiteten sich politische Gruppen vor, schulten sich in ihrem Auftreten, verfassten Flugblätter mit Argumenten für das Anliegen der Unterschriftensammlung.
Das zeigte, dass eine Unterschriftensammlung, so sehr sie am Ende auch nur ein Appell an die Regierungen war, ohne eine politische Bewegung nicht erfolgreich sein konnte. Ein Online-Appell wird aber in der Regel am Computer und nicht im öffentlichen Raum vollzogen. Es braucht also gerade keine politische Bewegung dafür und er löst auch keine aus.
Dem steht nicht entgegen, dass Campact-Organisatoren betonen, dass der Klick auf eine Petition nicht alles ist und sie diese Kampagnen durchaus in größere Bewegungen einbetten wollen. Das ist auch gelegentlich der Fall. So existiert eine Bewegung für gesunde Ernährung [11], die von Campact unterstützt [12] wird. Es fragt sich allerdings, welchen Anteil Campact dabei überhaupt hatte.
Denn es ist ja gerade die Besonderheit einer Bewegung auf der Straße, dass nur dort interagiert werden und Erfahrungs- und Lernprozesse stattfinden können. Dabei können auch Menschen, die noch auf eine Änderung der Regierungen hofften zusammen die Erfahrung machen, dass strukturelle Probleme und nicht der Wille einer Regierung für die kritisierten Zustände verantwortlich sind. So entsteht in einer Protestbewegung Gesellschaftskritik.
Eine hauptsächlich auf Onlinekampagnen ausgerichtete Bewegung aber macht solche Lernprozesse zumindest schwieriger. Beim Jubiläumskongress blieb Campact ganz in ihrer Tradition. Während der Ort nur nach Anmeldung bekannt gegeben wurde, und daher spontanen Besuchern die Teilnahme kaum möglich war, wurde auf den Livestream [13] verwiesen. Bewegung brauchte es dafür nun wirklich nicht.
Ein Gastbeitrag von Campact zur Kritik an Online-Petitionen
Peter Nowaks Beitrag Wenn Bewegung zur Fingerübung wird reproduziert mit Blick auf Campact eine These, die so alt ist wie das Instrument der Online-Petitionen. Das Verdikt: „Klicktivismus“! Online-Petitionen reduzierten das Engagement auf das bequeme Klicken mit der Maus. Dieses Urteil ist politischen Eliten recht – und es ist ungefähr so absurd wie der Vorwurf, ein Schraubenzieher eigne sich nicht dazu, einen Nagel in die Wand zu schlagen.
In Köln demonstrierten vor zwei Jahren belgische Arbeiter vor der Europazentrale von Ford. Nun fand der erste Prozess gegen einen der Arbeiter statt.
Demonstranten werden nach einer Kundgebung von der Polizei eingekesselt und erkennungsdienstlich behandelt. Einige Monate später treffen die ersten Strafbefehle ein. Ein solches Szenario kennen Linke hierzulande zur Genüge. Doch der Kessel, mit dem die Kölner Polizei am 7. November 2012 auf eine unangemeldete Protestaktion reagierte, war eine Ausnahme. Betroffen waren 250 Arbeiter aus dem belgischen Genk, die vor der Kölner Europazentrale des Autoherstellers Ford gegen die geplante Schließung ihres Werks protestierten.
»Wir wollten unsere Kölner Kollegen warnen. Jeden Tag kann es passieren, dass die da oben weitere Stellenstreichungen und ganze Werksschließungen verabschieden«, hieß es in einer Erklärung der belgischen Ford-Arbeiter. Gewerkschaftslinke aus verschiedenen Branchen solidarisierten sich mit den belgischen Arbeitern. »Sie riefen zur grenzenlosen Solidarität gegen Fabrikschließungen auf, statt wie die Mehrheit des DGB und auch vieler Betriebsräte Lobbyarbeit für ihren eigenen Standort zu machen«, erklärten linke Gewerkschafter des Bochumer Opel-Werks. Dort sorgte lange eine kämpferische Belegschaft dafür, dass auf Entlassungen und drohende Stilllegungen von Werksbereichen mit Protestaktionen reagiert wurde. Doch während des vergangenen Jahrzehnts hat sich die Belegschaft im Bochumer Opel-Werk verändert. Viele im Arbeitskampf erfahrene Beschäftige wurden verrentet oder verließen mit einer Abfindung den Betrieb. Der Rückgang der Protestbereitschaft wurde auch bei den Betriebsratswahlen deutlich, die lange Zeit einflussreiche linksoppositionelle Liste »Gegenwehr ohne Grenzen« (GoG), die sich gegen Standortnationalismus wendet, ist erstmals nicht mehr vertreten. Für die geschrumpfte Gewerkschaftslinke waren die Proteste der Genker Beschäftigten eine Möglichkeit an die Tradition anzuknüpfen. Nachdem im vorigen Herbst 15 belgische Ford-Arbeiter, die an den Protesten in Köln beteiligt waren, Strafbefehle erhalten hatten, gründeten sie den »Solikreis 7. November«, der eine Einstellung sämtlicher Verfahren forderte. Nur gegen fünf Beschuldigte wurden die Strafbefehle zurückgezogen. Am 20. Oktober begann vor dem Kölner Amtsgericht der erste Prozess. Mehr als 60 Gewerkschafter aus Deutschland und Belgien bekundeten vor dem Gericht ihre Solidarität. Am Mittwoch voriger Woche wurde der Belgier Gaby Colebunders wegen Missachtung des Vermummungsverbots zu einem Verwarnungsgeld in Höhe von 600 Euro verurteilt, das auf ein Jahr zur Bewährung ausgesetzt wurde. Alle anderen Anklagepunkte, wie beispielsweise schwerer Landfriedensbruch, hatte das Gericht fallengelassen.
Der »Solikreis 7. November« sprach von einem Freispruch zweiter Klasse und einem Erfolg der Solidaritätsarbeit. Diese sei jedoch noch längst nicht beendet. Die neun noch ausstehenden Verfahren sind vom Gericht für Sommer 2015 angesetzt worden. Der Bevollmächtigte der IG-Metall Köln, Witich Roßmann, sprach von einer Überreaktion und forderte eine Einstellung der Verfahren. »Polizei und Staatsanwaltschaft werden lernen müssen, konstruktiv und verständnisvoll mit den unterschiedlichen europäischen Protestkulturen umzugehen«, so Roßmann. Der Verweis auf angeblich unterschiedliche nationale Arbeitskampfkulturen wurde von linken Gewerkschaftern kritisiert. Sie erinnerten daran, dass ein hauptsächlich von Migranten getragener Streik 1973 bei Ford in Köln unter dem Beifall des IG-Metall-Vorstands mit einem brutalen Polizeieinsatz und Ausweisungen von Arbeitern geendet hatte. Die Hetze der Medien gegen den GDL-Streik in der vorigen Woche machte deutlich, dass der Gebrauch des Streikrechts in Deutschlands keineswegs Konsens ist. Befürwortern fiel zur Verteidigung der GDL lediglich ein, Konkurrenz tue nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch den Gewerkschaften gut. Die belgischen Ford-Arbeiter und ihre Unterstützer halten es eher mit einem Wert, der in der deutschen Gewerkschaftsbewegung selten anzutreffen ist: der transnationalen Solidarität.