Sie erhielten kein Rederecht auf dem Reichsrätekongress vom 16. bis zum 20. Dezember 1918 in Berlin: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Und so entschied sich die Mehrheit der Delegierten wider das Rätesystem für Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung, also die parlamentarische Demokratie. „Rosa, Karl & die Räte“ weiterlesen
Ver.di: Justizbeamte und Gefangene nicht der gleichen Gewerkschaft
Die Gefangenengewerkschaft (GG/BO) ist in den letzten Monaten schnell gewachsen, hat auch in Österreich Mitglieder gewonnen. Von den Basisgewerkschaften IWW und FAU wird sie unterstützt. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat allerdings Probleme mit den KollegInnen hinter Gittern. In einer Radiosendung über den gewerkschaftlichen Kampf der Gefangenen erklärte der Justizvollzugsbeamte und Vorsitzende der Bundesfachkommission Justizvollzug bei ver.di, Andreas Schürholz, auf die Frage einer Unterstützung der GG/BO: »Wir haben uns intensiv damit auseinandergesetzt, sind aber übereinstimmend zu der Überzeugung gekommen, dass wir das als ver.di nicht leisten können. Wir sind quasi die Vertreter des Staates, die Gefangenen haben unseren Anordnungen zu folgen.«
In einer Replik warf der Pressesprecher der GG/BO, Oliver Rast, Schürholz »fehlendes gewerkschaftliches Bewusstsein« vor. Statt die Durchsetzung gewerkschaftlicher Mindeststandards auch für Gefangene einzufordern, sehe der ver.di-Mann seine Rolle darin, »den Staat in der Gestalt als Bediensteter der Vollzugsbehörde zu vertreten, sowie für die Durchsetzung von Unterordnung und Gehorsam bei den Gefangenen zu sorgen«.
Auf Nachfrage wollte Barbara Wederhake von der Fachgruppe Justiz in der ver.di-Bundesverwaltung Schürholz’ Äußerungen nicht kommentieren. Es gebe allerdings keinen Beschluss von ver.di zur GG/BO. Die zuständigen Gremien hätten sich mit der Frage nicht beschäftigt. Dass Schürholz erklärt hatte, dass Justizangestellte und Gefangene nicht in einer Gewerkschaft organisiert sein können, findet Wederhake allerdings verständlich. Es könne zu dieser Frage allerdings in ihrer Gewerkschaft unterschiedliche Meinungen geben. Tatsächlich haben sich in den vergangenen Monaten zahlreiche ver.di-Gliederungen und soziale Verbände mit der GG/BO solidarisch erklärt. Dazu gehört der ver.di-Erwerbslosenausschuss Berlin und die verr.di-Jugend, aber auch der Rat der Paritätischen Verbände.
Die Polizei geht mittlerweile von einer Vortäuschung einer Straftat durch Kinzel aus
Am 4. Januar soll das Kreisvorstandsmitglied der Schweriner Linkspartei, Julian Kinzel, in Wismar Opfer einer Messerattacke geworden sein. Nach seinem Bericht und dem des Kreisverbands sollen ihn drei Täter vermutlich aus „rechtsextremistischen“ Kreisen niedergeschlagen und mit einem Messer 17 Mal auf ihn eingestochen haben. Nur seine dicke Winterjacke habe schwere Verletzungen verhindert, hieß es (Messerattacken auf Linksparteiaktivist [1]).
U.a. hatte auch der Fraktionsvorsitzende der Linken im Deutschen Bundestag, Dietmar Bartsch, den Vorfall zum Anlass [2] genommen zu fordern, dass es „gegenüber rechtsradikalem Gedankengut und Gewalt in unserer Gesellschaft keine Toleranz geben“ dürfe.Er schrieb weiter: „Wer nimmt den Tod eines 20-Jährigen in Kauf, dessen pol. Gesinnung ihm nicht gelegen ist? Rasche Genesung, Julian“
Mittlerweile wird von unterschiedlicher Seite Kinzels Version des Tathergangs bezweifelt. Dabei scheint allerdings die Tatsache, dass sich der Linksparteiaktivist zunächst in medizinische Behandlung begab und anschließend mit Vertrauten redete, bevor er über das Internetportal der Polizei Strafanzeige stellte, kein Hinwies auf fehlende Glaubwürdigkeit. Auch dass er danach nicht der Presse zur Verfügung steht, wäre für einen Menschen verständlich, der einen solchen Überfall erlebt hat. Gravierender ist jedoch das Verschwinden des Wintermantels, den Kinzel angeblich getragen hat und der ihm bei der Messerattacke vor schwereren Verletzungen verschont haben soll.
Nachdem ein medizinisches Gutachten zu dem Ergebnis kommt, dass die Art der Verletzungen an Kinzels Arm nicht mit dem ihm geschilderten Tathergang übereinstimmt, erklärte die Schweriner Polizei in einer Pressemitteilung [3], Kinzel habe den Überfall erfunden; und kündigte ein Ermittlungsverfahren wegen Vortäuschung einer Straftat gegen ihn an.
Die Reaktion der Medien ist sehr unterschiedlich. Während im Hamburger Abendblatt ein Fragezeichen hinter den Vorwurf; Kinzel habe den Überfall nur vorgetäuscht, gesetzt [4] wurde, nahm Zeit-Online das Ergebnis des Ermittlungsverfahren vorweg und titelte „Kinzel täuschte Messerattacke vor“ [5].
Eine Erklärung von Kinzel oder seinen Anwalt zu den Widersprüchen zum Tathergang und des Ergebnisses des Gutachtens wäreallerdings jetzt dringend notwendig. Auch der Kreisverband der Linken [6] hat sich seit der Verurteilung des angeblichen Angriffs nicht mehr geäußert.
Die neue Ausgabe des »Telegraph« überzeugt mit Tiefgang und Witz
Kurz vor Jahresende ist die neue Ausgabe der Zeitschrift »telegraph« erschienen, gegründet als Sprachrohr der linken DDR-Opposition, die 1989 nicht auf die Straße gegangen ist, um in der BRD anzukommen. Auch in der aktuellen Doppelnummer werden den Lesern auf 184 Seiten viele Argumente gegen die herrschenden Verhältnisse geboten. Statt einer Einleitung wird ein Ausschnitt aus dem Kommunistischen Manifest abgedruckt, in dem beschrieben wird, wie die zur Macht gelangte Bourgeoisie sämtliche feudalen, patriarchalen Verhältnisse zerstört. Thomas Konicz ist mit einem Vorabdruck seines in den nächsten Monaten erscheinenden Buches »Kapitalkollaps« vertreten. Dort klassifiziert er den Islamismus und die nationalistischen Bewegungen in vielen europäischen Ländern als »zwei gleichermaßen irre Ideologien, die auf den unverstandenen Krisenprozess mit verstärkter Identitätsproduktion, mit einer erzreaktionären Sehnsucht nach der herbei halluzinierten heilen Vergangenheit und dem eliminatorischem Hass auf alles Andersartige reagieren«.
Obwohl die »telegraph«-Herausgeber mittlerweile auf den Zusatz »ostdeutsche Zeitschrift« verzichten, behandeln viele Beiträge Themen aus Ostdeutschland und Osteuropa. So gibt es ein Interview mit Aktivisten der Interventionistischen Linken (IL), die ihre Kindheit und Jugend in der späten DDR verbrachten. Der Mitgründer der Ostberliner Antifa, Dietmar Wolf, geht auf die Räumung der besetzten Mainzer Straße vor 25 Jahren ein und beschreibt die Konflikte in der linken DDR-Opposition, die sich am Umgang mit militantem Widerstand entzündeten. Der auch als nd-Autor bekannte Karsten Krampitz widmet sich Pfarrer Oskar Brüsewitz aus Zeitz, dessen Selbstverbrennung sich am 18. August 2016 zum 40. Mal jährt. Dabei legt Krampitz bisher wenig bekannte Quellen offen, die Brüsewitz als christlichen Fundamentalisten und Antisemiten zeigen, der die NS-Judenvernichtung als Gottes Wille begrüßte. Krampitz zeigt, wie ein anonymer ND-Kommentar, in dem Brüsewitz als Pfarrer bezeichnet wurde, »der nicht alle fünf Sinne beisammen hatte« nicht nur wütende Leserbriefe, sondern auch Redaktionsbesuche und eine Anzeige empörter Christen in der DDR zur Folge hatte.
Weitere Artikel widmen sich dem Balkan und Transnistrien. Unter den zahlreichen Kulturbeiträgen verdient die Würdigung des jüdischen Regisseurs Claude Lanzmann zu seinem 90. Geburtstag durch die Filmemacherin Angelika Nguyen besondere Erwähnung. Die Taxigeschichten von Yok und die Fußballgeschichte von Florian Ludwig sind Beispiele für gut geschriebene Unterhaltung mit Witz und Tiefgang.
telegraph 131/132, 184 Seiten, 9 Euro, beziehbar über
Am gestrigen Monat sind Pegida-Anhänger in Berlin und Potsdam – mit wenig Erfolg – auf die Straße gegangen.
Noch bevor der Bärgida-Aufmarsch vor dem Berliner Hauptbahnhof am Montag begonnen hatte, schallten die Parolen der Gegendemonstraten von „NoBärgida über den Platz. Bald stellte sich heraus, dass die Gegner mit über 200 Demonstrierenden gegenüber den knapp 120 „Bärgida“-Teilnehmern in der Mehrheit waren.
Einziger „Bärgida“-Redner war der „pro Deutschland“-Funktionär Karl Schmitt, der seit Monaten die Aufmärsche anmeldet und eröffnet. Im Mittelpunkt seiner Rede standen die Kölner Ereignisse in der Silvesternacht. Dabei erging sich Schmitt in verschwörungstheoretischen Vermutungen, dass die „Globalisten“ solche Ereignisse gezielt planten, um eine „braune Menschenrasse“ zu erzeugen, über die angeblich schon vor Jahrzehnten in den USA geschrieben worden sei. Zudem würden, so Schmitt, die Globalisten gezielt die „Abschaffung der Völker“ betreiben, um ihren sozialistischen Zielen näher zu kommen. Das Interesse der Zuhörer hielt sich in bei solchen Ausführungen allerdings in Grenzen. Größeren Applaus erhielt Schmitt nur, als er das Hochziehung der Grenzen und die schnelle Abschiebung von Flüchtlingen forderte und seine Rede mit dem Bekenntnis beendete, solange wieder auf die Straße zu gehen, bis Deutschland wieder den Deutschen gehöre.
Nach knapp 30 Minuten war die Kundgebung beendet und ein Großteil der Teilnehmer stieg in zwei Busse nach Potsdam. Damit sollte der erste „Spaziergang gegen die Islamisierung des Abendlandes“ von Pogida am 11. Januar in der Brandenburger Landeshauptstadt unterstützt werden. Doch der erste öffentliche Auftritt des neuen Pegida-Ablegers hatte große Startschwierigkeiten. Zunächst wurden die Busse aus Berlin durch Blockaden eines Gegenbündnisses behindert. Danach wurde auch die geplante Demonstrationsroute blockiert. So beschränkte sich die erste Pogida-Aktion auf langes Stehen auf dem Potsdamer Bassinplatz. Gegen 22.15 Uhr drängte die Polizei auf die Auflösung der Kundgebung und geleitete die Teilnehmer zum Hauptbahnhof. Nach Angaben der „Potsdamer Neuesten Nachrichten“ (PNN) wurde erstmals bei einem NPD-gesteuerten Protest gegen eine Flüchtlingsunterkunft in der vergangenen Woche öffentlich zu Pogida aufgerufen. Der Anmelder Christian M. aus Potsdam habe auf seiner Facebook-Seite offen mit der NPD sympathisiert.
Finanzielle Förderung durch einen konstruierten Extremismusverdacht in Frage gestellt
Ausgerechnet ein früherer LINKE-Politiker wärmt einen Extremismusverdacht der Bundesfamilienministeriums auf und bringt ein linksalternatives Jugendzentrum in Cottbus damit in Bedrängnis.
Der Name »Zelle 79« klingt für manche Ohren vielleicht nach Gefängnis. Für die linksalternative Szene in der Lausitz ist es aber ein wichtiger Freiraum für ihre Subkultur. Das Jugendkulturzentrum hat sich nach seinem Standort in der Cottbuser Parzellenstraße 79 benannt. Die Themenpalette der in dem Haus stattfindenden Aktivitäten ist groß, wie ein Blick auf den aktuellen Veranstaltungskalender zeigt. Für die nächsten Wochen sind Solidaritätspartys für Flüchtlinge sowie Diskussionen zu sozialen und antifaschistischen Themen geplant.
Seit einigen Wochen plagen die Mitarbeiter und Nutzer des Kulturzentrums Zukunftssorgen. Auf der letzten Stadtverordnetenversammlung Mitte Dezember stellte der fraktionslose Stadtverordnete Jürgen Maresch, von Beruf Bundespolizist, die finanzielle Förderung des Projektes zur Diskussion. Er habe über die »Zelle 79« recherchiert und dabei auf deren Webseite einen Link zur Wochenzeitung »Jungle World« entdeckt, ließ er wissen. Die Verfassungstreue der Zeitung stellte er infrage. Dabei berief er sich auf eine Antwort des Bundesfamilienministeriums auf eine parlamentarische Anfrage aus dem Jahre 2012. Damals war das Ministeramt von der konservativen CDU-Politikerin Kristina Schröder besetzt, die sich den Kampf gegen angeblichen linken Extremismus auf die Fahnen geschrieben hatte.
In der »Jungle World« sind Mareschs Quelle zufolge »Hinweise auf Veranstaltungen aus dem linksextremistischen Spektrum« zu finden. Zudem greife die Wochenzeitung »regelmäßig Themen aus dem linksextremen Spektrum« auf.
Maresch, der ab 2009 mehrere Jahre der Linksfraktion im Landtag angehörte, stieß mit seinen unabgesprochenen Initiativen die damaligen Fraktionskollegen immer wieder vor den Kopf. Er handelte oft aus dem Bauch heraus. Manche seiner Vorstöße kollidierten mit der Linie der Partei. So machte er zum Beispiel Front gegen die Rote Hilfe und lehnte eine Kennzeichnungspflicht für Polizisten strikt ab.
Bei der Kommunalwahl 2014 wurde Maresch noch für die LINKE ins Cottbuser Stadtparlament gewählt, doch die dortige Linksfraktion weigerte sich, mit ihm zusammenzugehen. Mittlerweile ist Maresch aus der Partei ausgetreten und dem Landtag gehört er auch nicht mehr an.
Seine Anfrage zur »Zelle 79« habe nichts mit links oder rechts zu tun, beteuerte er. »Nach den Ereignissen in Leipzig, wo zahlreiche Kollegen von mir verletzt worden sind, sehe ich mich sehr wohl im Recht, diesbezüglich da nachzufragen, ohne dass man hier gleich irgendwelche Unterstellungen erfährt«, begründete Maresch sein Nachfragen. In Leipzig war es im Dezember bei Protesten gegen einen Neonaziaufmarsch zu Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen.
»Wo der Zusammenhang zum Engagement des ›Vereins für ein multikulturelles Europa‹ besteht, bleibt offen«, erklärte Erika Schmidt von diesem Trägerverein der »Zelle 79«. Bei Mitarbeitern und Unterstützern des Zentrums stößt Maresch Vorstoß auf völliges Unverständnis.
Da auch Stadtverordnete der CDU Bedenken gegen die weitere Förderung der Zelle 79 äußerten, wurde die Entscheidung vertagt. Auf der Sitzung des Jugendhilfeausschusses am 4. Januar haben sich Vertreter verschiedener Parteien für eine weitere Förderung des Projekts ausgesprochen. Entschieden wird allerdings erst bei der nächsten Stadtverordnetenversammlung am 27. Januar. Bis dahin wollen die Mitarbeiter weiter für ihre Sache mobilisieren. Es dürfe nicht sein, dass durch unbegründete Unterstellungen ein wichtiges Projekt im schlimmsten Fall nicht mehr unterstützt wird, betonte Erika Schmidt.
Die Debatte über den Pressekodex zur Nennung der Zugehörigkeit zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten: Eine differenzierte Sichtweise ist nicht das Anliegen der rechten Gegner des Kodex
Nach der Kölner Silvesternacht sind neben Politik und Polizei auch die Medien in die Kritik geraten. Ihnen wird vorgeworfen, die Nationalität, Hautfarbe und Religion der vermutlichen Straftäter am Kölner Bahnhofsplatz nicht genannt zu haben. In der Kritik steht nicht zum ersten Mali die freiwillige Selbstverpflichtung, der Codex des Deutschen Presserats [1]. In der Richtlinie 12 [2] dieses Codex heißt es:
„In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“
Diese Richtlinie orientiert sich an Artikel 3 des Grundgesetzes [3], wonach niemand wegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden darf. In die Überlegungen des Codex flossen natürlich die historischen Erfahrungen ein, die immer wieder zeigten, wohin Hetze gegen Minderheiten führte.
Die antisemitische Hetze, die die jüdische Bevölkerung stigmatisierte, hat in Deutschland die Shoa erst möglich gemacht. In jüngerer Zeit hat der Theaterregisseur Milo Raumit seinem Stück Hate Radio [4] die Rolle der Medien beim Genozid in Ruanda thematisiert.
Dass es seit Anfang der 1990er Jahre in den deutschen Medien zu einer größere Sensibilität für Diskriminierung in der Berichterstattung kam, lag auch an den rechten Angriffen auf Geflüchtete, aber auch am Alltagsrassismus, der verstärkt wahrgenommen wurde. Es waren Antidiskriminierungsbüros und Menschenrechtsgruppen, die immer wieder auf die Notwendigkeit einer diskriminierungsfreien Berichterstattung hinwiesen.
Diese Auseinandersetzungen waren die Grundlage für diesen Codex und für das Bemühen vieler Medien, die freiwilligen Grundsätze einzuhalten. Die Kritik daran gab es von Anfang an: Nicht nur rechte, auch manche liberalen Zeitungen waren dagegen, dass die Nationalität von möglichen Straftätern nicht genannt wird.
Warnung vor einer „schrecklichen Debatte“
Nach dem Kölner Skandal hat sich die Debatte emotionalisiert. Nichtsdestoweniger gibt es argumentative Begründungen für die Nennung der Nationalität der möglichen Täter. So steht für den Medienstaatssekretär der NRW-Landesregierung Jan Eumann die Nennung eindeutig im Einklang mit dem Codex desPresserats [5].
„Die Angabe der Herkunft ist in diesem Fall notwendig, um das Geschehen einordnen zu können“, findet Eumann. Dagegen beklagt die Taz eine „Erosion journalistischer Standards“, wofür sie das Internet verantwortlich macht. Es sei eine Illusion, zu glauben, bestimmte Informationen ließen sich „außen vor halten“. Hinzu komme der „Druck der rechten Gegenöffentlichkeit aus dem Netz“, die schnell mit dem Vorwurf bei der Hand sei, „die Medien würden aus falsch verstandener Toleranz und ‚politischer Korrektheit‘ die Verbrechen von Migranten verschweigen oder schönfärben“.
Um dem zu entgehen, seien „auch seriöse Medien im vorauseilenden Gehorsam dazu übergegangen, die Herkunft von Straftätern offensiv zu benennen – jedenfalls, so lange es sich um migrantische Straftäter handelt“.
Der Bonner Medienanwalt Gernot Lehr [6] sieht eine solche Gefahr auch und rät daher umso mehr zur Differenzierung. Lehr warnt vor einer „schrecklichen Debatte“, in der die – noch weitgehend unaufgeklärten – Übergriffe auf Frauen am Kölner Hauptbahnhof instrumentalisiert würden, um „gegen Flüchtlinge insgesamt Stimmung zu machen“.
Die Debatte um den Pressecodex wird seit einigen Jahren mit wachsender Heftigkeit geführt. Bereits 2013 forderte der Dortmunder Journalistikprofessor Horst Pottker unter der Überschrift „Schluss mit der Selbstzensur“ [7] die Herkunft von Straftätern in den Medien zu benennen. In einer Replik [8] konterte die Journalistin Canan Tapcu, es sei besser politisch korrekt als politisch falsch zu berichten. Sie schildert den konkreten Vorfall, der die damalige Debatte anheizte.
„Über das, was am 2.Dezember 2012 in Almere bei Amsterdam geschah,gibt es zwei Nachrichtenversionen. Die eine lautete: Drei junge Fußballspieler, die aus Marokko stammen, haben nach einem Spiel einen Linienrichter verprügelt. Der 41-Jährige starb später an den Folgen des brutalen Angriffs. Die andere lautete: Drei junge Fußballspieler haben nach einem Spiel einen Linienrichter verprügelt. Der 41-Jährige starb später an den Folgen des brutalen Angriffs.“
Die Journalistin endet mit der Frage „Welche Fassung gibt die Wahrheit besser wieder?“. Man könnte die Frage noch erweitern: Welche zusätzlichen Informationen bekommt der Leser, wenn er die Nationalität der mutmaßlichen Straftäter erfährt? Dabei muss man natürlich neben den Medien auch das journalistische Format unterscheiden.
Bei einer Reportage, die sich sehr detailliert einem Milieu zuwendet, kann die Nennung von Nationalität und Religion durchaus zum Verständnis der handelnden Personen beitragen. Bei einem kurzen, womöglich noch im Boulevardstil aufgemachten Beitrag aber sorgt die Nennung von Nationalität und Hautfarbe eher für Emotionalisierung und Stigmatisierung. Nehmen wir die Silvesternacht von Köln.
Es ist nicht klar, was mit Gewissheit behauptet werden kann, wie viele Geflüchtete oder Migranten nachweislich an Diebstählen und sexuellen Übergriffen beteiligt waren, gegen wen aus welchen genauen Vorwürfen heraus welche strafrechtliche Ermittlungen laufen, etc.. Dabei muss auch die Unschuldsvermutung berücksichtigt werden, was Boulevardzeitungen oft unter den Tisch fallen lassen. Aber: Solange niemand wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt ist, hat er als unschuldig zu gelten.
Die Medienberichterstattung hat aber schon längst zu einer Vorverurteilung beigetragen. Mit dem Effekt, dass die Nennung von Nationalität, Hautfarbe und Religion nicht nur die betroffenen Personen, sondern kollektiv gleich die ganze genannte Gruppe zu stigmatisieren droht. Es sind dann alle Flüchtlinge, Angehörige einer bestimmten Religion oder einer bestimmten Nationalität, die verdächtigt werden, kriminell zu handeln.
Vor allem ein boulevardesker Stil fördert eine solche Stigmatisierung. Reportageartige oder essayistische Formate können durch ihre dichte Beschreibung einer Person oder einer Situation eine solche Stigmatisierung vermeiden. Dort steht dann im besten Fall der Moslem oder der Kameruner nicht für eine kollektive Gruppe, sondern für eine bestimmte Person, die dort im Mittelpunkt steht.
Lizenz zur Hetze
Eine differenzierte Sichtweise ist nicht das Anliegen der verschiedenen rechten Webseiten, die seit Jahren den Presse-Codex bekämpfen und ihn nun nach den Kölner Übergriffen schleifen wollen. Ihnen geht es dabei nicht um Aufklärung und Information. Sie wollen Material für ihre Hetze gegen Geflüchtete und alle, die nicht ins biodeutsche Bild passen. Ein Wegfall dieses Presse-Codes würde von diesem Milieu als großer Erfolg wahrgenommen.
Schon das sollte Anlass sein, aufmerksam zu sein, wenn eine diskriminierungsfreie Berichterstattung als Diktatur der politisch Korrekten diffamiert wird. Andererseits war und sind nicht alle Gegner des Pressecodes in der politischen Rechten angesiedelt. Es gibt durchaus auch Argumente aus liberaler und libertärer Tradition gegen diese Richtlinien.
So gibt es die nicht unberechtigte Überzeugung, eine diskriminierungsfreie oder – arme Gesellschaft kann nicht über Verordnungen erreicht, sondern nur von Unten erkämpft werden. Dieses Argument scheint mir unter all den Kritiken am Pressecodex am Stichhaltigsten. Trotzdem kann es für hier und heute lebende Nichtdeutsche eine Unterstützung sein, wenn bestimmte grobe Diskriminierungen staatlich sanktioniert werden. Wie bei allen gesetzlichen Bestimmungen handelt es sich um eine schwierige Gratwanderung.
Die Badische Zeitung hat gut begründet [9], warum sie den Pressecodex nicht für obsolet hält:
„Für strafrechtliche Ermittlungen mögen Angaben über die Hautfarbe und Nationalität von möglichen Tätern von Interesse sein. Journalisten sollten sich aber weiterhin von den Prinzipien des Pressecodex leiten lassen, auf das Schüren von Vorurteilen verzichten und Menschen nach ihrem Tun und nicht nach ihrer Nationalität, Hautfarbe und Religion beurteilen.“
Wenn Journalist_innen bei Berichten über Straftaten auf die Nennung von Nationalität, Religion und Hautfarbe von Tätern verzichten, handeln sie im Einklang mit der Selbstverpflichtung des Deutschen Presserats. Nach den sexistischen Angriffen in der Kölner Silvesternacht geraten Medienvertreter_innen auch aus diesem Grund in die Kritik.
Sie hätten nicht gemeldet, dass viele der Verdächtigen keine deutschen Staatsbürger sind, lautet der Vorwurf. Doch das ist keine Zensur. Eine diskriminierungsfreie Berichterstattung ist das Ziel der Richtlinie 12.1. des Pressekodex des Deutschen Presserates. Dort heißt es: „In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht“. Damit soll das Schüren von Vorurteilen gegenüber Minderheiten verhindert werden. Die Begründung orientiert sich am Grundgesetz, nach dem niemand wegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden darf. Nicht erst seit den Ereignissen von Köln bekämpfen rechte Kreise diese gesetzlich nicht bindende Selbstverpflichtung als Diktat der Political Correctness. Dabei sind in diese Überlegungen einer möglichst diskriminierungsfreien Berichterstattung nicht nur die historischen Erfahrungen eingeflossen, die vor allem in Deutschland zeigen, welche Folgen Hetze gegen Minderheiten haben kann. Besonders nach den rassistischen Anschlägen in den 90er Jahren machten sich Journalist_innen verstärkt Gedanken über eine diskriminierungsfreie Berichterstattung. Vielerorts gab es intensive Diskussionen von Vertreter_innen lokaler Antidiskriminierungsbüros, Menschenrechtsgruppen und Journalist_innen. Die Zahl der Medien wuchs, deren Berichterstattung im Sinne der Richtlinie 12.1 steht. „tageszeitung“ und „Frankfurter Rundschau“ waren dabei Vorreiter.
In Zeiten von Pegida und der verstärkten Hetze in diversen Internetforen hat das Anliegen nichts von seiner Dringlichkeit verloren. Für strafrechtliche Ermittlungen mögen Angaben über die Hautfarbe und Nationalität von möglichen Tätern von Interesse sein. Journalist_innen sollten sich aber weiterhin von den Prinzipien des Pressekodex leiten lassen, auf das Schüren von Vorurteilen verzichten und Menschen nach ihrem Tun, nicht nach ihrer Nationalität, Hautfarbe und Religion beurteilen.
Der Schweriner Linksparteiaktivist Julian Kinzel verdankt einzig seiner dicken Winterjacke, dass er bei einer Messerattacke in Wismar[1] keine schwereren körperlichen Verletzungen davon trug.
„Die drei Täter schlugen ihn nieder und stachen, nach Aussage der behandelnden Ärzte, mit einem Messer etwa 17-mal auf ihr Opfer ein. Dabei wurde er als ’schwule Kommunistensau‘ beschimpft. Dies und die Bekleidung eines der Täter mit szenetypischer Bekleidung (Thor Steinar) nähren den Verdacht, dass es sich um eine rechtsextremistisch motivierte Straftat handelt“, heißt es auf der Homepage der Schweriner Linkspartei.
Wismar hat in den vergangenen Jahren schon öfter durch rechte Gewalt für Aufsehen gesorgt. So wurde dort 2007 eine Demonstration gegen rechte Gewalt von einem von Neonazis bewohnten Haus aus angegriffen[2]. Zwei Jahre später gingen Neonazis vor einem rechten Szeneladen erneut auf demonstrierende Antifaschisten mit Gewalt vor. Auf einen Video[3] ist zu sehen, wie Polizisten nur mit gezogener Waffe die Rechten vor weiteren Angriffen auf die Demonstranten abhalten konnten. Doch die rechte Gewalt ist längst ein bundesweites Problem.
Der Bundesvorstand der Linken stellt den Angriff gegen Kinzel in den Rahmen der wachsenden rechten Radikalisierung, die in den letzten Monaten in Deutschland zu verzeichnen war. „Seit Monaten erleben wir einen zunehmenden Extremismus von rechts, eine zunehmende Radikalisierung, die bis in die Mitte der Gesellschaft reicht: Angriffe auf Flüchtlinge, Flüchtlingsunterkünfte, ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, auf Politikerinnen und Politiker und deren Büros. Demgegenüber steht eine unzureichende Anzahl an Täterermittlungen und eine unterirdische Aufklärungsquote“, schreibt[4] der Bundesgeschäftsführer der Linken Matthias Höhn.
In den letzten Monaten sind die Angriffe auf Parteibüros der Linken stark angewachsen[5]. Dabei wurden Mitarbeiter als „Volksverräter“ beschimpft und verbal mit dem Tode bedroht. Neben Aktivisten der Linken waren auch Grüne[6] und Sozialdemokraten betroffen, die sich für die Rechte der Geflüchteten eingesetzt haben. Es ist eindeutig, dass die Hetze gegen Geflüchtete ein Katalysator der rechten Angriffe ist. Dabei geraten auch Unterstützer aus Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen ins Visier der Rechten.
Schüsse auf Geflüchtete
Am 4. Januar 2016 haben sich auch die monatelangen Angriffe auf Geflüchtete noch einmal verschärft. Im hessischen Dreieich wurde erstmals in eine bewohnte Unterkunft geschossen[7]. Ein junger Syrer wurde getroffen und musste im Krankenhaus behandelt werden. „Kurz vor 02.30 Uhr wurden auf ein Fenster des Gebäudes mehrere Schüsse abgegeben, von denen einer den dort Schlafenden leicht verletzte. Der Mann wurde in ein Krankenhaus gebracht und konnte dies nach kurzer ärztlicher Behandlung wieder verlassen“, heißt es in einer Pressemeldung[8] des Polizeipräsidiums Südhessen.
Neben diesen spektakulären Angriffen wächst auch der Alltagsrassismus rund um Flüchtlingsunterkünfte in bestimmten Regionen. Dazu gehört Marzahn-Hellersdorf, das sich Neonazis und Rechtspopulisten schon 2013 als den Stadtteil ausgesucht haben, in denen sie sich als Nachbarn und besorgte Bürger für die Errichtung einer national befreiten Zone organisierten (Willkommensgruß für Flüchtlinge und Polizeischutz[9]). Nachdem sie ihr Ziel nicht erreichen konnten, hat der Alltagsrassismus in der Region zugenommen.
Erst vergangenen Monat fand der letzte registrierte rassistische Angriff in dem Stadtteil satt. „Tatort war die bereits in 2014 und 2015 extrem belastete Gegend um die Kreuzung Blumberger Damm/Landsberger Allee“, erklärt[10] eine Mitarbeiterin der Antirassistischen Registrierstelle an der Alice Salomon Hochschule.
Ihrer kontinuierlichen Recherche[11] ist es zu verdanken, dass die rechte Alltagsgewalt registriert wird. Vor allem vor und nach dem Einzug der Geflüchteten in die ehemalige Schule in dem Stadtteil wurde die Situation von einem großen Teil der Medien sehr genau beobachtet. Doch das hat sich mittlerweile geändert. Wenn nicht besonders spektakuläre Angriffe wie in Dreieich passieren, sind die Medienreaktionen mittlerweile gering. Der Alltagsrassismus, mit dem die Geflüchteten, aber auch die Bewohnerinnen und Bewohner, die sich mit ihnen solidarisieren, konfrontiert sind, wird so normalisiert.
Die Beschäftigten von Amazon erhalten Unterstützung im Arbeitskampf. David Johns ist Mitglied des »Streik-Solibündnisses Leipzig«, das zum Konsumentenstreik bei dem Versandhandel aufruft, um die Forderung nach einem Einzelhandelstarifvertrag zu unterstützen.
Wie können Kunden die Beschäftigten bei Amazon unterstützen?
Der Konsumentenstreik funktioniert ganz einfach: Man bestellt bei Amazon Waren und schickt diese – am besten mit einer Solidaritätsnachricht an die Streikenden – nach Erhalt umgehend zurück. Die Aktion kostet Amazon unmittelbar Geld, da unprofitable Mehrarbeit entsteht und der Händler sich vertraglich verpflichtet, bei einem Warenwert von über 40 Euro die Portokosten für die Hin- und Rücksendung zu übernehmen.
Wie haben die Kollegen und Verdi auf das Vorhaben reagiert?
Einige Gewerkschaftsfunktionäre haben sich klar abgegrenzt und hervorgehoben, dass Verdi nichts mit der Kampagne zu tun hat. Andere haben unseren Aufruf übernommen und die Aktion unterstützt. Bei vielen Streikenden ist die Kampagne sehr gut angekommen. Der Aufruf wurde erst veröffentlicht, nachdem wir die Einzelheiten mit Beschäftigten aus mehreren Standorten abgestimmt hatten. Wir haben von vielen ein sehr positives Feedback erhalten.
Wissen Sie, wie viele Kunden sich bisher beteiligt haben?
In unserem Aufruf bitten wir darum, uns Fotos von den Solidaritätsbotschaften zu schicken. Wir haben schon viele Fotos erhalten und können die Solidarität nun auch für Beschäftigte außerhalb der Retourenannahme sichtbar machen. Wir haben viele Anfragen für Flyer und Poster bekommen und Material in viele Städte geschickt. Trotzdem ist das Ausmaß der Beteiligung schwer abzuschätzen.
Wann endet die Kampagne?
Sie soll noch bis Ende Januar dauern, dann kommen die ganzen Retouren aus dem Weihnachtsgeschäft. Bis dahin brauchen wir noch viel Unterstützung!
Sie arbeiten nicht bei Amazon. Warum solidarisieren Sie sich dennoch mit den Beschäftigten?
Der Kampf bei Amazon hat eine hohe Signalwirkung auf die Branche, da sich viele andere Unternehmen an dem Flaggschiff orientieren. Erkämpfte Erfolge können andere Belegschaften motivieren, sich gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen zu wehren. Die lange Dauer des Kampfes hat es möglich gemacht, gute Kontakte zu den Streikenden aufzubauen.
An einen trüben Januartag 1933 wurde die russische Kommunistin Sinaida Wolkowa in Berlin beerdigt. Sie hatte im Alter von 31 Jahren Selbstmord verübt. Ihr Vater konnte nicht an ihrer Beerdigung teilnehmen, weil er im türkischen Exil lebend von den meisten europäischen Staaten kein Visum bekommen hatte. «Sämtliche Formalitäten rund um die Beerdigung erledigte daher Alexandra Pfemfert. Sie hatte sich um Sinaida gekümmert, seitdem die Trotzki-Tochter im Herbst 1931 nach Berlin gekommen war», schreibt der Historiker Marcel Bois in der aktuellen Ausgabe des JahrBuchs für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (www.arbeiterbewegung-jahrbuch.de).
Bois zeigt in seinem Beitrag, welch große Rolle Alexandra Ramm-Pfemfert und Franz Pfemfert in Deutschland nicht nur für die Betreuung von Trotzkis Tochter spielten. Das Ehepaar hatte auch einen großen Anteil daran, dass Trotzkis Schriften im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht und gedruckt wurden. Dabei hatte der Rätekommunist Franz Pfemfert durchaus ideologische Konflikte mit Trotzki. Doch die Pfemferts wollten den im innerparteilichen Machtkampf mit Stalin Unterlegenen unterstützen, schreibt Bois. Fragt sich nur, warum sein sehr informativer Aufsatz mit der politisch fragwürdigen Überschrift «Eine transnationale Freundschaft im Zeitalter der Extreme: Leo Trotzki und die Pfemferts» versehen wurde.
Der britische Historiker Gleb Albert beschäftigt sich in diesem Jahrbuch mit der Haltung des Anarchisten Erich Mühsam zur Sowjetunion und kommt zu dem Schluss, dass er noch Ende der 20er Jahre eine Grundsympathie mit dem Land der Oktoberrevolution hegte. Eine von der Roten Hilfe geplante Rundreise Mühsams durch die Sowjetunion wurde allerdings von KPD-Funktionären wie Wilhelm Pieck verhindert, die fürchteten, Mühsam könnte auch politische Gefangene in der UdSSR ansprechen. Gleb weist allerdings nach, dass die Vorgespräche für die Rundreise schon recht weit gediehen ware und daran auch führende anarchistische Aktivisten beteiligt waren.
Der Historiker Gerhard Engel widmet sich dem Sozialdemokraten Alfred Henke, der in der Zeit der Novemberrevolution in Bremen auf dem linken Flügel der USPD stand und heftig die SPD bekämpfte, nur um zwei Jahre später wieder in den Schoß der Sozialdemokratie zurückzukehren. Mit der Geschichte der Mietenkämpfe am Ende der Weimarer Republik greift der junge Historiker Simon Lengemann ein sehr aktuelles Thema auf. Angesichts von Mietrebellen, die sich in verschiedenen Städten gegen die Verdrängung wehren, wächst das Interesse an der Geschichte. Lengemann zeigt viele Parallelen zu einer Bewegung auf, die vor über 80 Jahren die Parole «Erst das Essen – dann Miete» ausgab.
Mit seiner breiten Themenwahl wendet sich das JahrBuch nicht nur an Historiker und Sozialwissenschafter, sondern auch an politisch Interessierte. Die Texte sind überwiegend auch für Nichtstudierte verständlich geschrieben. Seit 2012 wurde das JahrBuch dreimal jährlich vom Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung herausgegeben. Ab 2016 wird das Heft im Metropol-Verlag unter dem Titel Arbeit – Bewegung – Geschichte. Zeitschrift für historische Studien erscheinen.
JahrBuch zur Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung,
Der Autor zeigt die Bedeutsamkeit der revolutionären Organisationen für die Weimarer Republik auf.
Trotz ihrer Bedeutung für die politischen Entwicklungen wurde die in der Zeit von 1918 bis 1920 aktive Rätebewegung in Deutschland von der Geschichtswissenschaft kaum beachtet. Die ArbeiterInnen- und Soldatenräte hatten das Ziel einer grundsätzlichen politischen und sozialen Umwälzung. Deshalb galten konservativen HistorikerInnen die Räte als Vorboten der kommunistischen Revolution. Viele linke HistorikerInnen sahen in den Räten wiederum nur eine Art Übergangsregierung. Ihre Rolle sollten eigentlich Arbeiterparteien übernehmen.
Überschätzt wurde nach Ansicht Einiger die Bedeutung der KPD innerhalb der revolutionären Bewegung, vor allem von DDR-WissenschaftlerInnen. Schließlich hatte die erst an der Jahreswende 1919 gegründete Partei gar nicht die Möglichkeiten, einen großen Einfluss auf die revolutionären Entwicklungen dieser Zeit zu nehmen. Fraglich ist, ob sich die Räte nicht selber entmachteten, als sie mit großer Mehrheit auf dem Reichsrätekongress, der im Dezember 1918 in Berlin tagte, für eine parlamentarische Demokratie votierten? Für viele HistorikerInnen war das Kapitel der Räte damit beendet.
Erst in den letzten Jahren haben sich ForscherInnen wieder verstärkt mit der Rätebewegung befasst und dargestellt, dass diese keine unbedeutsamen Akteure einer kurzen historischen Episode waren, wie es die bisherige Geschichtswissenschaft suggeriert. Ihr Einfluss sollte nicht unterschätzt werden. So waren beispielsweise die von den Freikorps blutig niedergeschlagenen Streiks im März 1919 von der Rätebewegung getragen. An diese republikweite Streikbewegung knüpft auch der Berliner Historiker Axel Weipert in seinem Buch „Die Zweite Revolution – Rätebewegung in Berlin 1919/1920“ an. Sehr detailliert geht Weipert auf die Rolle der Räte in der Streikbewegung vom Frühjahr 1919 ein. Dabei sieht er in der schlechten Koordination der Bewegung einen Hauptgrund für deren Niederlage. Noch bevor der Streik in Berlin begonnen hatte, war er in anderen Teilen der Republik schon niedergeschlagen.
Das vergessene Massaker vor dem Reichstag
Ein großer Verdienst von Weipert sind seine Forschungen zu einem weitgehend vergessenen Blutbad vor dem Reichstag am 13. Januar 1920. Freikorps schossen in eine von der Rätebewegung organisierte Demonstration gegen das beschlossene Reichsrätegesetz sowie die damit einhergehende Entmachtung der Räte in den Betrieben. 42 Tote und über 100 zum Teil Schwerverletzte waren die Folge. Damit fand der von der SPD-gestellten Regierung zumindest tolerierte Terror der Freikorps, dem bereits 1919 Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, aber auch tausende namenlose ArbeiterInnen zum Opfer fielen, seine Fortsetzung. Die alten Machtverhältnisse sollten nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft wieder hergestellt werden. Weipert sieht in dem Massaker vor dem Reichstag keine unglückliche Verkettung von nicht beherrschbaren Umständen, wie manche Liberale die staatliche Repression zu entschuldigen versuchen:
„Der 13. Januar ist in vielerlei Hinsicht ein Lehrstück über die politischen Verhältnisse Deutschlands in jener Zeit. Besonders deutlich zeigte sich hier, wie grundlegend unterschiedlich das Politikverständnis in der Rätebewegung einerseits und in den etablierten Institutionen andererseits war. (…) Während im Reichstagsgebäude die Parlamentarier berieten, standen draußen die Demonstranten, ohne direktes Mitspracherecht, dafür aber bedroht und schließlich beschossen von den bewaffneten Organen des Staates. Man glaubte, die Volksvertreter vor dem Volk schützen zu müssen. Und das mit reinen Gewissen – denn, wie der Reichskanzler formulierte, es handelte es sich um nichts weniger als die ‚Verteidigung des heiligsten Volksrechts, der Meinungsfreiheit der Volksvertreter‘. Das war ein bemerkenswertes Demokratieverständnis. Nicht der Wille des Volkes und dessen Meinungsfreiheit standen im Mittelpunkt, sondern die Meinungsfreiheit der Parlamentarier“ (S. 185).
Sebastian Haffner, einer der wenigen bürgerlichen Publizisten, der nicht auf dem rechten Auge blind war, zog 1969 in seinem Buch „Die verratene Revolution/Deutschland 1918/19“ eine Linie vom Staatsterror in der Frühphase der Weimarer Republik zum Aufstieg des Nationalsozialismus. Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vom 15. Januar 1919 war für ihn der Beginn eines Weges, der ins Dritte Reich führte, „der Auftakt zu den tausendfachen Morden der Noske-Zeit, zu den millionenfachen Morden in den folgenden Jahrzehnten der Hitler-Zeit“. Haffner war ein Zeitgenosse, der Augen und Ohren offenhielt und den Terror der frühen Jahre der Weimarer Republik nicht vergaß. Heute ist der blutigste Angriff auf eine Demonstration in der Weimarer Republik weitgehend unbekannt.
Vielleicht trägt seine Forschungsarbeit dazu bei, dass am 20. Januar 2020, wenn sich der Staatsterror vor dem Reichstag zum hundertsten Mal jährt, ein Erinnerungs- und Gedenkort für die Opfer eingerichtet wird.
Von Schüler –und Erwerbslosenräten
Echte Pionierarbeit leistet Weipert auch da, wo er sich detailliert mit den Schüler- und Erwerbslosenräten befasst. Hier wird deutlich, dass der Rätegedanke in den Jahren 1919/1920 nicht nur in den Großfabriken, sondern in weiten Teilen der Gesellschaft verankert war. Dass die Räte nicht per se revolutionär waren, wie Weipert bereits im Vorwort betont, zeigte sich an der Aktivität von Schülerräten in den bürgerlichen Stadtteilen Berlins, die sich dafür einsetzten, dass der Sohn des ermordeten Sozialisten Karl Liebknecht vom Gymnasium verwiesen wurde. Der bürgerliche Nachwuchs wollte nicht mit dem Sohn eines „Roten“ die Schulbank drücken. Allerdings waren diese reaktionären Räte die absolute Minderheit. Mehrheitlich organisierten sich in den Räten linke ArbeiterInnen sowie von der Produktion Ausgeschlossene. Sehr aktiv waren im Jahr 1920 vor allem die Erwerbslosenräte, deren Verhältnis zu den sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften konfliktreich war. In einem eigenen Kapitel geht Weipert auf die Konzepte zur politischen Aktivierung von bis dato unterrepräsentierten Frauen in Räten ein. Er zeigt auf, dass die geringe Teilnahme von Frauen innerhalb der Rätebewegung zumindest problematisiert wurde: „Einmal zeigte sich, dass während der ganzen Zeit der Rätebewegung, vom November 1918 bis weit in das Jahr 1920 hinein, immer wieder Vorschläge für eine wirkungsvolle Einbindung von Frauen in die Räte erarbeitet und publiziert wurden“ (S. 340).
Pionierarbeit leistet Weipert auch da, wo er die kurze Geschichte der Revolutionären Betriebsrätezentrale nachzeichnet, mit der AktivistInnen den Räten eine Struktur geben wollten. In der Abwehr gegen den Kapp-Putsch erfuhren die Räte noch einmal einen Aufschwung. Danach aber spielte die Rätebewegung keine große Rolle mehr. Führende AktivistInnen wie Richard Müller engagierten sich kurzzeitig in der KPD, bis sie im Linienstreit unterlagen und ausgeschlossen wurden. Erst am Ende der Weimer Republik wurde mit den Mieterräten diese Politikform wieder aufgegriffen. Weipert hat mit seiner gut lesbaren Arbeit nicht nur eine wichtige historische Arbeit über ein Stück vergessener linker Geschichte geleistet. Er hat auch für die heutige politische Praxis Anstöße geliefert. „Gerade in der Verbindung von basisdemokratischen und sozialistischen Ansätzen sehe ich eine wichtige Alternative zu einem übervorsichtigen Reformismus und dem zu Recht gescheiterten autoritären Sozialismusmodell à la DDR“, erklärte Weipert in einem Interview in der Berliner Tageszeitung taz die Aktualität der Rätevorstellungen.
zusätzlich verwendete Literatur:
Sebastian Haffner (1969): Die verratene Revolution – Deutschland 1918/19. Stern-Buch, Hamburg.
Wie die patriarchalen Angriffe auf Frauen instrumentalisiert werden
Wollten die Moslems in der Silvesternacht in der Domstadt Köln schon mal die islamische Machtübernahme proben? Den Eindruck könnte man haben, wenn man die Reaktionen auf die sexistischen Angriffe von hunderten betrunkener Männer in Köln liest. Relativ sachlich wird der Tathergang auf der Webseite der Kölner Polizei geschildert [1]. Da heißt es ganz ohne ethnische Zuschreibung:
31.12.2015 – 21 Uhr:
„Auf dem Bahnhofsvorplatz und der Domtreppe befinden sich bereits 400 – 500 augenscheinlich alkoholisierte Personen, die durch aggressives Verhalten auffallen. Es handelt sich in der Mehrzahl um Männer, die unkontrolliert Böller und Raketen abbrennen und diese zum Teil gegen Unbeteiligte einsetzen.“
31.12.2015 – 23.30 Uhr:
„Aus Sicherheitsgründen räumen Beamtinnen und Beamte der Polizei Köln und der Bundespolizei die Domtreppe und den Bahnhofsvorplatz. Durch das konsequente Einschreiten der Polizisten werden Personengruppen aufgebrochen, die Situation beruhigt sich zunehmend.“
1.1.2016 – 0.45 Uhr:
„Um den Abreiseverkehr zu gewährleisten, gibt die Polizei den Zugang zum Hauptbahnhof wieder frei. Als die Platzfläche sich erneut füllt, verhält sich die Masse der anwesenden Personen ruhig. Erste geschädigte Frauen erstatten Strafanzeige wegen Diebstahlsdelikten und schildern teilweise auch sexuelle Übergriffe. Die Polizei passt das Einsatzkonzept sofort an und konzentriert Einsatzkräfte erneut im Bereich des Hauptbahnhofs. Passantinnen werden gewarnt und von Beamtinnen und Beamten sicher durch die Menschenmenge begleitet. Bei aggressiven und auffälligen Personen werden Gefährderansprachen und Identitätsfeststellungen durchgeführt. Platzverweise werden ausgesprochen.“
4.1.2016 – 4 Uhr: Die Lage hat sich abschließend beruhigt.
Die ersten Gedanken zu diesem Ablaufbericht waren: Da haben wohl einige Männer Silvester wie so oft wieder einmal genutzt, um sich als Macker und Sexisten aufzuspielen. Das kommt wohl nicht nur in Köln alljährlich vor. Nur gibt es heute zum Glück genügend Frauen, die ein solches Verhalten nicht mehr bereit sind hinzunehmen, was an den vermehrten Anzeigen deutlich wird.
Überdies scheint auch die Polizei heute genügend sensibilisiert zu sein, solche patriarchale Angriffe nicht mehr einfach hinzunehmen. Das ist sicher ein Fortschritt. Denn man braucht nur auf eine Dorfkirmes oder auf das Münchner Oktoberfest gehen und man wird eine Menge patriarchaler und sexistischer Angriffe auf Frauen auflisten können. Nur war es zumindest vor Jahren noch für die betroffenen Frauen nicht einfach, danach eine Anzeige zu erstatten. Da gab es bei der weitgehend patriarchal geprägten Polizei durchaus Verständnis für feiernde Männer und ihr Verhalten gegenüber Frauen.
So könnten die sexistischen Angriffe von Köln der Aufhänger sein, um auch bundesweit deutlich zu machen, dass es künftig sowohl bei Silvesterfeiern als auch bei Feten Nulltoleranz für sexistische und patriarchale Anmache aller Art gibt. Zudem könnte darüber diskutiert werden, wie sich Frauen mit und auch auf Wunsch ohne polizeiliche Unterstützung gegen sexistische Angriffe vor Ort wehren. Auch dazu gibt es in der Frauenbewegung seit Jahrzehnten praktische Überlegungen. Nur hat sich dafür ein Großteil der öffentlichen und veröffentlichenden Meinung bisher wenig interessiert.
Frauen, die sich selbstbewusst gegen Sexisten zur Wehr setzten, hatten eher mit Häme und Angriffen zu kämpfen, als das sie unterstützt wurden. Das könnte sich seit Köln ändern. Dabei könnte daran erinnert werden, dass nicht nur für Frauen Angsträume auf deutschen Straßen nicht akzeptabel sind. „Egal, ob sich Migranten durch Neonazis und rassistische Mobs bedroht fühlen oder Frauen durch Männergewalt: Angsträume in unseren Städten und Gemeinden darf es nicht geben“, erklärt die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion Ulla Jelpke mit Recht.
Statt über Männergewalt wird über Ausländer geredet
Doch die mediale Aufarbeitung der Vorfälle geht in eine andere Richtung. Nicht Männergewalt, sondern Ausländerkriminalität steht im Mittelpunkt. „Plötzlich geht es, die Wahrheit auszusprechen“, heiß [2]t es auf der rechten Webseite PI. Was die rechte Wahrheit ist, wird auch gleich deutlich gemacht. Dass mit den Flüchtlingen mehr Kriminalität ins Land komme und dass angeblich ausländische Straftäter eingedeutscht werden.
Auf PI-News wird nicht zufällig positiv auf die Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer Bezug genommen, obwohl dort sonst auch immer gegen Genderpolitik mobilisiert wird. Doch beim Versuch, Gewalt gegen Frauen zu einem Ausländerthema zu machen, sind sich Emma und PI einig. „Das sind die Folgen einer falschen Toleranz“, schreibt [3]Alice Schwarzer. Dabei geht es aber in großen Teilen ihres Artikels gar nicht um Gewalt gegen Frauen:
„Für die Glücklichen, die nicht dabei waren auf der Gang-Bang-Party rund um den Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht: Auf Focus Online steht ein Video, auf dem wir sehen können, wie junge Männer arabischer bzw. nordafrikanischer Herkunft Krieg spielen, mitten in Köln. Sie ziehen in Truppen über den Platz, bilden Fronten und feuern aus „Pistolen“ Feuerwerkskörper mitten in die Menge. Und keiner hindert sie daran.
Eine Gruppe von bis zu tausend dieser jungen Männer hatte sich in der Silvesternacht laut Polizei vor der Kulisse von Bahnhof und Kölner Dom zusammengerottet. Vor Ort anwesend: 143 Polizeibeamte, von der Kölner Polizei sowie von der Bundespolizei. Schließlich gab es in ganz Europa Terrorwarnungen und gelten Hauptbahnhof und Dom als besonders gefährdet. Doch der Terror kam (noch) nicht aus der Kalaschnikow oder von Sprengstoffgürteln, er kam aus Feuerwerkspistolen und von Feuerwerkskrachern. Und von den grabschenden Händen der Männer. Die Jungs üben noch.“
Hier übt jemand noch, wie sie Autorin der PI-News werden kann, könnte man nach dieser Vermischung von sexistischen Angriffen mit einem sicher unvorsichtigen, aber an Silvester nicht unüblichen Umgang mit Feuerwerksmaterial sagen. So richtig ins rechte Licht setzt sich Schwarzer in dem Beitrag, wenn sie raunt, dass hier noch keine Kalaschnikows und Sprengstoffgürtel zum Einsatz kamen. Hier wird zumindest unterschwellig suggeriert, dass es sich bei den sexistischen Attacken tatsächlich um eine vorweggenommene Sharia-Aktion handeln könnte.
Importierter Sexismus?
Wie bereits seit Jahren versucht wird, den Antisemitismus als Islam-Export von Deutschland wegzureden, als wäre die Shoa kein deutsches Projekt gewesen, so wird jetzt versucht, den Sexismus und die patriarchale Gewalt mit dem Flüchtlingsthema zu verknüpfen. Dabei müsste gerade Alice Schwarzer als Veteranin der feministischen Bewegung wissen, dass sexualisierte Gewalt in allen patriachalen Gesellschaften Alltag war und noch immer ist. Genau dagegen haben sich Feministinnen organisiert.
Anders als Alice Schwarzer hat die Feministin Antje Schrupp [4] diese feministische Grundwahrheit noch nicht vergessen. Sie weist in einem Interview mit Recht darauf hin, dass die Faktenlage zur Kölner Silvesternacht noch sehr gering ist. So beziehe sich ein Großteil der genannten Anzeigen gar nicht auf sexuelle Gewalt. Die bisher gesicherten Zahlen würden hingegen an sexuelle Gewalt, wie sie auch auf dem Oktoberfest vorkomme, erinnern. Das wäre gerade kein Argument, diese Gewalt zu bagatellisieren.
Aber es ist kein Problem von Geflüchteten oder Ausländern, sondern von Männern. Wenn in den letzten Tagen immer wieder von Gruppen arabisch oder nordafrikanisch aussehenden Männern geredet wird, ist auch das eher Stimmungsmache. Denn es ist die Frage, sind es deutsche Staatsbürger, sind darunter überhaupt Geflüchtete? Sind darunter diejenigen, denen sexuelle Gewalt vorgeworfen wird?
Das sind die Fragen, die noch offen sind. Wenn dann sofort eine Verbindung zwischen den sexuellen Angriffen in Köln und den Geflüchteten hergestellt wird, dann geht es eben gerade nicht um den Kampf gegen Patriarchat und Sexismus. Vor allem deutsche Männer stellen sich schon mal die Bescheinigung aus, bestimmt keine Sexisten zu sein.
Sie gerieren sich so, als hätten sie auch noch den Feminismus entdeckt, bis sie dann wieder eine Kampagne gegen die „Genderdiktatur“ ausrufen. Dass die sexistischen und patriarchalen Männer genau wie die Antisemiten aus allen Ländern und Kulturen kommen können, ist längst bekannt. Doch wer das Problem ethnisiert, hat andere Ziele als die Rechte der Frauen zu stärken.
Schnell ist der Vorwurf der Islamophobie in der Welt, wenn auch der Islam in Gegenwart und Vergangenheit kritisiert wird
Hat die Wochenzeitung Kontext [1], die am Samstag immer der Taz beiliegt, eine neue Form der „Islamophobie“ entdeckt? Fast scheint es so, wenn man den Artikel Angst vor Spenden [2] in der aktuellen Ausgabe liest. Da beschreibt der Vorsitzende eines islamischen Vereins in Stuttgart, wie er einmal für Geflüchtete spenden wollte und nicht gleich mit offenen Armen aufgenommen wurde:
„Im Spätsommer wollten seine Gemeindemitglieder einen Lkw voller Kleider und Sachspenden in der Flüchtlingsunterkunft beim Bürgerhospital abliefern. Dort sei man sehr freundlich gewesen, habe sie aber wieder weggeschickt: ‚Aus Sicherheitsgründen‘, erzählt er und lacht etwas gequält: ‚Die dachten wohl, da sei ein Bombengürtel drin.'“
Tatsächlich machte die islamische Gemeinde damit nur eine Erfahrung, die in den Zeiten als Deutschland scheinbar ein einig Land von Helfern schien, viele machen mussten. Ihnen wurde gesagt, was auch vom Bürgerhospital in der Kontext zitiert wird. „Wir sind keine Altkleidersammlung, wo man Klamotten, die man nicht mehr braucht, abladen kann.“
Damit hätte es sein Bewenden haben können. Schließlich werden in der nachrichtenarmen Zeit zwischen den Jahren schon mal Nichtmeldungen zu größeren Artikel. Aber die Autorin ließ es eben nicht damit bewenden. Übergangslos finden sich neben der Stellungnahme des Bürgerhospitals die kryptische Schlussfolgerung: „Es ist nicht immer einfach mit der Flüchtlingshilfe. Vor allem, wenn sie von Muslimen organisiert wird.“
Damit wird die Position der islamischen Gemeinde übernommen, die in der Zurückweisung der Spende einen Affront gegen den Islam sah. Dabei wird aber in dem Artikel die kurze Stellungnahme des Bürgerhospitals überhaupt nicht entkräftet, dass es eben nur um die Zurückweisung nicht gebrauchter Kleidung ging und dass davon sehr viele Spender betroffen waren. In dem Artikel wird dann noch beschrieben, wie wichtig dem islamischen Verband das Spenden für Geflüchtete sei und wie unfair es dort empfunden werde, dass der Vereinsname nicht genannt wird, wenn es um Flüchtlingsspenden geht.
Brauchen Geflüchtete Spenden von religiösen Verbänden?
Was man aber in dem langen Artikel vermisst, ist eine kritische Frage zum Versuch, von welcher Seite auch immer, sich über Flüchtlingsspenden ins gute Licht der Öffentlichkeit zu setzen. Nun ist das das Ziel aller öffentlich wirksamen Verbände und die Presse- und Öffentlichkeitsarbeiter werden genau dafür bezahlt.Daher kann man nicht den islamischen Verein dafür kritisieren, dass er sich auch über die Flüchtlingshilfe in ein gutes Licht rücken will.
Von einer Wochenzeitung mit aufklärerischer Perspektive hätte man aber schon erwarten können, dass sie im Artikel kritisch hinterfragt, ob Geflüchtete überhaupt Spenden von religiösen Verbänden brauchen. Soll es jetzt einen Wettbewerb der verschiedenen konfessionellen Vereine bei den Spenden geben? Und geht dabei wirklich nur um Sympathiewerbung? Soll nicht mit der Spende auch gleich ein Anspruch auf das Seelenheil der Geflüchteten ausgedrückt werden?
Dann wären die christlichen Verbände für die syrischen Christen zuständig und die islamischen Verbände haben auch deshalb ein so großes Interesse als Spender genannt zu werden, weil viele der Geflüchteten offiziell den islamischen Glauben haben. Aber fängt nicht schon hier das Problem an?
Nicht nur von Rechten wird die Mehrheit der Geflüchteten als Moslems bezeichnet. Bei Pegida und Co. ist damit natürlich eine Ablehnung und Ausgrenzung verbunden. Auch verschiedene Regierungen ost- und mitteleuropäischer Staaten haben schon abgelehnt, Moslems als Flüchtlinge aufzunehmen. Diese Haltung wird zu Recht als Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen bezeichnet. Nun ist das ganz gewiss nicht die Intention des Kontext-Artikels.
Im Gegenteil: Der steht für eine weitverbreitete Haltung im linksliberalen und antirassistischen Milieu, den Rechten dadurch entgegen zu treten, in dem man das, was die ablehnen, befürwortet. Das führt dann zu einer fast unkritischen Berichterstattung über Aktivitäten islamischer Verbände. Wenn die schon von rechts so angegriffen werden, wollen wir erst gar keine Kritik üben, ist die Devise. Die Haltung ist aber fatal, weil sie letztlich von den gleichen Prämissen wie die Rechten ausgeht und nur zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen kommt.
Ein Großteil der Geflüchteten sind Moslems, darüber sind sich beide Seiten einig. Nur für die Kontext-Redakteurin folgt daraus die Konsequenz, dass das Engagement islamischer Verbände in der Flüchtlingshilfe viel stärker in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden muss. Dabei werden alle Geflüchteten, die vielleicht als Konfession Moslem angeben, umstandslos vereinheitlicht. Es wird dann sofort dafür ausgegangen, dass sich islamische Verbände ihrer annehmen müssen.
Dabei wird unterschlagen, dass viele Menschen, die vielleicht die islamische Konfession haben, denkbar unterschiedlich sind. Viele verstehen sich gar nicht als Moslem, wollen zumindest nicht von einem islamischen Verein vertreten werden. Aber gerade diese Individualität, die ja beim Asylrecht der Schlüsselbegriff ist, geht verloren, wenn man diese Religionsklassifizierungen einfach übernimmt.
Ausgeblendet wird auch, dass es unter den Geflüchteten viele Menschen gibt, die aus verschiedenen Gründen vor islamistischen Menschenrechtsverletzungen flüchteten. Das kann der IS sein, das kann aber auch der Tugendterror islamischer Regierungen in Iran, im Irak oder der Türkei sein. Schwule, Frauenaktivistinnen, nonkonforme Künstler und Linke werden nicht nur vom IS und al-Qaida verfolgt.
Haben die überhaupt Interesse, von einem islamischen Verband Spenden zu bekommen? Diese Frage taucht in dem Kontext-Artikel überhaupt nicht auf. Auch nicht die Schlussfolgerung, dass alle Spenden an eine einheitliche Instanz, am besten eine Hilfsorganisation übergeben werden sollen und die Spender gar nicht gegenüber den Flüchtlingen in Erscheinung treten.
Das würde das Konzept vieler Vereine, Sympathiewerbung durch Spenden zu bekommen, vielleicht erschweren, wäre aber der beste Weg, die Geflüchteten vor einem Wettlauf um die konfessionelle Spendenbereitschaft zu bewahren.
Religion raus aus dem Kindergarten
Eigentlich müsste eine solche säkulare Position zu den Essentials von Linken und Liberalen gehören. Doch in Zeiten, in denen unter dem Banner des christlichen Abendlandes gegen den Islam demonstriert wird, scheinen viele aus dem linken und liberalen Milieu den Kampf um den Säkularismus vergessen zu haben. Wie schnell ist der Vorwurf der Islamophobie in der Welt, wenn auch nur der Islam in Gegenwart und Vergangenheit kritisiert wird.
Da argumentieren auch Linke und Liberale, dass für viele Menschen der Koran ein heiliges Buch ist und ihnen Satire und kritische Auseinandersetzung mit dem Buch nicht zuzumuten sei. Das aber ist der Verrat der Linken und Liberalen am Säkularismus. Damit lassen sie auch die Menschen im Stich, die von den Religionen dieser Welt, in letzter Zeit besonders unter der Ägide des Islam, verfolgt, gedemütigt und sogar mit dem Leben bedroht werden.
Ja, es ist auch Glaubenden zuzumuten, dass deren heiligen Schriften in die historische Realität geholt werden und dabei gar nichts Heiliges darin entdeckt wird. Besonders fatal ist, dass der Verrat vieler Linken am Säkularismus den Rechten in die Hände spielt. Das kann man an der Reaktion aus einem Vorbericht [3] zu einer Studie über den Einfluss von Salafisten auf Kindergärten in Österreich deutlich sehen.
Sicherlich gibt es zu der Repräsentativität der Umfragen noch Klärungsbedarf. Doch der Taz-Korrespondent von Österreich Ralf Leonhard schreibt [4] zu Recht, dass man mit der Kritik an den Untersuchungsmethoden nicht um die Prüfung der Vorwürfe herum kommt. Für Linke und Liberale gibt es aber noch eine andere Frage: Wo bleibt ihre Forderung nach einer säkularen Bildung, die impliziert, dass sämtliche Glaubensrichtungen in Kitas und Schulen nichts verloren haben?
Statt sich also an der Diskussion zu beteiligen, ob die Studie aussagekräftig ist oder nicht, könnte mit einer offensiven Forderung nach einer säkularen öffentlichen Erziehung ein Thema aufgegriffen werden, dass die Rechten für ihre Propaganda nutzen. Dass es denen nicht um eine säkulare Erziehung geht, zeigt sich daran, dass viele derer, die gegen den Islam auf die Straße gehen, durchaus für ein striktes christliches Wertesystem eintreten und im Kampf gegen Gendertheorien und moderne Erziehung mit ihren größten Gegner einig sind.
„Islamismus zurückdrängen – Menschenrechte bewahren“, lautet das Motto des Kompetenzzentrums Islam [5] bei der Aktion 3. Welt Saar, eine der wenigen Gruppen in der NGO-Landschaft, die ihren Kampf für eine säkulare Gesellschaft gerade in dem Augenblick verstärkt, wo die Notwendigkeit dafür größer denn je ist. Warum wird der Kampf für eine säkulare Gesellschaft nicht auch bei den Pegida-Gegnern stärker in den Mittelpunkt gestellt?
Schließlich würde man dann nicht nur auf die vorgeblichen Abendlandverteidiger reagieren, sondern eine Alternative aufzeigen, die Menschen, die unter den unterschiedlichen real existierenden Religionen und ihren Kirchen leiden, mobilisieren könnte.
Warum Wagenknechts Positionierung bei aller Kritik im Detail ein wichtiges Contra gegen die deutsche Militärpolitik ist
Die nachrichtenarme Zeit Ende Dezember eignet sich immer gut, um einen medialen Shitstorm zu erzeugen. Die Zutaten sind einfach. Man sage das, was man schon so oft gesagt habe, spitze es zu, dass es auch richtig provokativ wirkt und dann braucht man etwas Zeit und Glück und es gibt ein Medienthema. In den letzen Tagen hat das die Covorsitzende der Linksparteifraktion, Sarah Wagenknecht, gut hingekriegt.
Nachdem sie in einem dpa-Interview noch einmal ihre Position bekräftigt hat, dass sie die Angriffe der Anti-IS-Koalition in Syrien als Terror bezeichnet hat, wurde genau das zur Schlagzeile [1] vieler Medien. Nun kann doch einer linken Oppositionspolitikern doch gar nichts Besseres passieren, als wenn ihre Position einmal zur Schlagzeile in großen bürgerlichen Zeitungen wird.
Inhaltlich hat Wagenknecht diese Position bereits in der Parlamentsdebatte über den Syrieneinsatz der Bundeswehr [2] vertreten. Nur hatte ihre Position da wesentlich weniger Aufmerksamkeit bekommen. Im dpa-Interview hat die Politikerin ihre Position noch einmal zugespitzt, in dem sie die Soldaten der Anti-IS-Koalition und die IS verglich:
„Natürlich ist es kein geringeres Verbrechen, unschuldige Zivilisten in Syrien mit Bomben zu ermorden, als in Pariser Restaurants und Konzerthäusern um sich zu schießen.“
Das eine sei „individueller, das andere staatlich verantworteter Terror“.
Das ist eine alte Position der entschiedenen Antimilitaristen, die immer fragen, was denn einen von einer staatlichen Armee zu Tode gebrachten Menschen unterscheidet von einem, der durch eine Gang umkam. Doch in erster Linie die Konsequenzen für den Täter: In einem Fall wird er strafrechtlich verfolgt, im anderen Fall kann er einen Orden bekommen oder befördert werden. Das ist beispielsweise Oberst Klein passiert, der für die toten Zivilisten in Afghanistan verantwortlich war, die umgekommen sind, als sie an einem mutmaßlich von Taliban entführten Tanklastzug Benzin abzapften.
Zunächst muss man froh sein, dass Wagenknecht diesen gesinnungspazifistischen Ansatz wählt. Denn damit macht sie in dieser Frage deutlich, dass es ihr nicht ums Mitregieren geht .Denn dann hätte dieser moralische Grundsatz schnell ausgedient.
Positionen des radikalen Pazifismus
Eine Partei, die in der Bundesregierung mitverwalten will, muss vorher ihren Frieden mit der Bundeswehr und ihren Einsätzen gemacht haben. Dass ist der alten PDS und auch der Linkspartei immer wieder deutlich gemacht worden. Daher gehört der Kampf um den Erhalt der antimilitaristischen Grundsätze seit Jahren zu den am meisten umkämpften Fragen innerhalb der Linkspartei.
So kann Wagenknechts Formulierung auch als innerparteiliches Signal verstanden werden. Mit ihr ist eine weitere Aufweichung der antimilitaristischen Positionen nicht zu machen. Freilich sind diese Positionen des radikalen Pazifismus nicht die Positionen auch des linken Flügels der Arbeiterbewegung, der im 1. Weltkrieg die Kriegskredite ablehnte. Der damalige führende Protagonist dieser Strömung, Lenin ging scharf mit dem vom ihm als kleinbürgerlichen Pazifismus bezeichneten Position ins Gericht und verteidigte einen linken Antimilitarismus, der gerade eine Beteiligung an einen Krieg, wenn er zum Sturz der alten Gesellschaft führte, nicht ausschloss.
Von der Position des radikalen Pazifismus aus lässt sich auch hier fragen, was den Unterschied ausmacht, ob jemand von einem Kämpfer der Revolution oder der alten Mächte ums Leben kommt. Und Pazifisten haben diese Frage auch immer wieder gestellt. Es ist auch wichtig, diese Frage immer wieder gestellt zu bekommen. Nur dadurch kann verhindern werden, dass man Menschen eben als Material sieht, die für noch so hehre Zwecke in den Tod geschickt werden. Erst als sich nach der Oktoberrevolution viele Protagonisten diese Frage nicht mehr stellen, geriet sie auf eine Ebene, die in den Stalinismus mündete.
Genau deswegen ist es wichtig, dass heute oppositionelle Kräfte solche grundsätzlichen Fragen aufwerfen. Gerade weil man damit keine Regierung stellen kann, dürfte Wagenknechts Wortwahl auch manche in ihrer eigenen Partei sicher nicht glücklich machen. Da es auch unabhängig von der Position zu dem Militäreinsatz auch nach der nächsten Bundestagswahl keine realistische Option auf eine Regierungsbeteiligung unter Einbeziehung der Linkspartei auf Bundesebene geben wird, dürfte sich die innerparteiliche Diskussion darum in Grenzen halten.
Zumal auch deutlich wurde, dass die Linkspartei als klar antimilitaristische Kraft eher Wähler gewinnt als wenn sie sich als bessere Grüne oder bessere SPD gibt. Dann wird doch gleich das Original gewählt. Da auch in einer größeren Öffentlichkeit der Unterschied zwischen einer radikalpazifistischen Position wie sie Wagenknecht jetzt vertreten hat und einer antimilitaristischen Position, die Beteiligung an Militäreinsätzen unter bestimmten Umständen nicht ausschließt, kaum bekannt ist, bleibt hier die Botschaft übrig, Wagenknecht hat die antimilitaristische Fahne hochgehalten.
Wenn die Toten Nebenwirkungen sind
Die harschen Reaktionen auf ihr Interview dürften sie und auch viele Menschen im Umfeld der Linkspartei bestärken. So kommentierte Daniel Deckers auf faznet [3]:
„Auch als Nichtjurist muss man wissen, dass es unter allen Umständen ein Verbrechen ist, Unschuldige gezielt zu ermorden. Der Tod Unbeteiligter hingegen ist die Nebenwirkung einer Handlung, die möglichst vermieden werden muss – und weithin vermieden wird –, damit Gewalt legitim angewendet wird. Wer wider besseres Wissen von dieser Unterscheidung absieht, der verwirkt nicht de jure, aber de facto den Anspruch auf Gehör. Die Opfer des IS von Paris bis Sindschar werden derart verhöhnt, dass sich die Terrormiliz noch ermuntert fühlen könnte, Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu nehmen.“
Damit aber stieg der Faz-Kommentator nicht nur in die Debatte ein, sondern erklärt die Toten der Anti-IS-Einsätze zu „Nebenwirkungen, die weitgehend vermieden werden müssen“. Und wenn nicht? Darüber schweigt sich der Kommentator aus. Es ist die Frage, die sich die Angehörigen der Opfer von Oberst Klein in Kunduz ebenso stellen, wie die Eltern, die ihre Tochter beim Angriff auf die Brücke von Vavarin verloren [4] und vor keinem Gericht eine Entschädigung [5]durchsetzen [6] konnten.
Während alle nach Polen gucken, wird hier der Bundestag mal einfach übergangen
Wagenknecht hat die Diskussion in einer Zeit angestoßen, wo die Bundeswehr bei dem Mittun in den Kriegen überall auf der Welt so ausgelastet ist, dass sogar die Einführung der Wehrpflicht wieder in die Diskussion gebracht [7] wird. Nur gut, wenn zumindest eine Oppositionspartei hier ganz klar nein sagt.
Zudem will die Bundeswehr beim neuen Einsatz in der Türkei das Parlament gar nicht erst fragen. Es war schon immer für die Planer von Militäreinsätzen ein Gräuel, wenn sie sich von Zivilisten sagen lassen mussten, ob sie überhaupt starten dürfen. Daher wurde immer dann, wenn die Zeiten kriegerischer wurden, die parlamentarische Kontrolle ausgehebelt. In dieser Reihe steht auch die Ausschaltung des Parlaments durch die Bundesregierung.
Nun ist in den letzten Tagen in Europa viel von der Aushebelung der Gewaltenteilung gesprochen wurden. Dabei ging es allerdings um den Umbau innerhalb des polnischen Staates durch die neue rechtskonservative Regierung. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die in dieser Frage mit Recht so kritischen Medien zumindest einen Teil der Kritik auch an der Ausschaltung des Bundestag beim neuen Bundeswehreinsatz geübt haben. Denn wo ist der Unterschied, ob eine Regierung ein Gericht oder ein Parlament ausschaltet?
Solange hier sowenig Kritik an solchen Maßnahmen geübt wird, ist Wagenknechts Position tatsächlich ein notwendiges Contra. Auf Facebook [8] hat sie ihre Position auch nach der Kritik noch einmal bekräftigt:
„Was für ein Aufschrei in den etablierten Parteien, nur weil ich die Verlogenheit der westlichen Politik benenne: Natürlich ist es kein geringeres Verbrechen, unschuldige Zivilisten in Syrien mit Bomben zu ermorden, als in Pariser Restaurants und Konzerthäusern um sich zu schießen. Es gibt keine Toten erster und zweiter Klasse. Und es ist eine Lüge, dass die Bombardierungen Syriens wenigstens dabei helfen würden, den IS zu schwächen. Sie stärken ihn.“
Sicher könnte die radikalpazifistische Position hinterfragt werden. Schließlich wird Wagenknecht nicht die Toten der Anti-Hitler-Koalition und der Wehrmacht miteinander aufrechnen. Genau dazu käme es aber, wenn man eine solche radikalpazifistische Position jenseits von Zeit und Ort vertreten würde. Genau die Position aber vertreten Wagenknecht und auch die Linke in Bezug auf den 2. Weltkrieg nicht.
Daher hätte man sich hier eine größere Differenzierung gewünscht. In der aktuellen Debatte aber, wo die Bundesregierung ihre größere Macht auch militärisch absichern will, ist eine solche Position bei aller Kritik im Detail auf jeden Fall jenen linken Hobbystrategen vorzuziehen, die wie der Publizist Matthias Küntzel einem Krieg des Westens gegen die „Koalition der Wahnsinnigen“ das Wort reden, die nach Küntzel von der „Hamas bis zur Hizbollah, von den Muslimbrüdern zu al-Qaida, vom Islamischen Staat bis zum iranischen Regime reicht [9]“.
Von den Zivilisten, die in einem solchen großen Krieg umkommen würden, redet Küntzel mit keiner Silbe. Und mit einer solchen Position kann man auch keine Opposition gegen die deutsche Militärpolitik formulieren.