Ist Kritik an Situation in Jobcenter gleich ein Fall für die Justiz?

Die Mail einer Regionaldirektorin der BA wirft Fragen auf

Der gewaltsame Tod einer Jobcentermitarbeiterin aus Neuss vor einer Woche sorgt weiter für heftige Diskussionen unter aktiven Erwerbslosen. Ein Erwerbsloser hatte die Mitarbeitern mit einem Messer angegriffen und tödlich verletzt, nachdem er bei einem anderen Mitarbeiter gegen seinen Willen eine Vereinbarung unterschreiben musste, die auch seinen Datenschutz tangierte. Der Mann wollte nach einer Bedenkzeit seine Unterschrift unter die Einwilligung zurückziehen, traf aber den zuständigen Mitarbeiter nicht mehr an.

Der tödliche Angriff wurde von den Erwerbslosen verurteilt, aber in Foren wurde auch über die Zustände in den Jobcentern diskutiert, die solche Bluttaten erst möglich machen. Diese Diskussionen ebenso wie die Presseberichte zum Thema scheinen beim zuständigen Jobcenter auf Unmut zu stoßen. Das Erwerbslosenforum Deutschland hat nun eine Mail bekannt gemacht, die von der Vorsitzenden der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesanstalt für Arbeit, Christiane Schönefeld, an alle Mitarbeiter der Arbeitsagenturen und Jobcenter in NRW geschickt wurde. Gleich zu Beginn wird Medienschelte geübt: „Der traurige Anlass hat bundesweit Bedeutung. Von einem Teil der Medien wird der Tod unserer Kollegin in der Berichterstattung zum Anlass genommen, Missstände und gesellschaftliche Verwerfungen anzuprangern.“

Zudem scheint die BA systematisch Internetforen und Blogs auf mögliche strafbare Äußerungen im Zusammenhang mit dem Tod der Mitarbeiterinnen zu kontrollieren. Schönefeld schreibt in der Mail von „verharmlosenden, verfälschenden und sogar menschenverachtenden Beiträgen“ und kündigt an: „Wir werten diese Beiträge bundesweit auf justiziable Äußerungen aus und die Verfasser werden gerichtlich belangt.“

Werner Marquis, der bei der Regionaldirektion der Bundesanstalt für Arbeit für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, bestätigte gegenüber Telepolis die Echtheit des Schreibens. Die vom Erwerbslosenforum veröffentlichte Version sei allerdings nur ein Ausschnitt des Schreibens, das Schönefeld bereits am 1. Oktober verfasste. Mit der Veröffentlichung habe man keine Probleme, weil die BA davon ausgehe, dass von ihr verschickte Mails gestreut würden, betonte Marquis. Zur Art der Kontrolle der Internetbeiträge konnte er sich nicht äußern. Es werde aber alles dokumentiert, und es seien auch erste Anzeigen in Fällen gestellt worden, in denen die Äußerungen strafrechtlich relevant waren.

Kooperation angemahnt

Im Erwerbslosenforum seien Beiträge, in denen Verständnis für die Bluttat gezeigt wurde und das Opfer zum Täter gemacht wurde, konsequent gelöscht worden, betont Martin Behrsing gegenüber Telepolis. Auch Postings aus dem rechten Umfeld, in dem die nichtdeutsche Herkunft des Täters zum Anlass für offen rassistische Hetze genutzt wurde, seien ebenfalls sofort entfernt worden. Doch auch über die Diktion von Schönefelds Schreiben zeigt er sich befremdet. Schließlich könnten auch Berichte von Betroffenen, die über ihre Erfahrungen am Jobcenter berichten, in die Nähe von Straftaten gerückt werden. Schließlich hat das ELO bereits Erfahrungen mit juristischen Ermittlungen, nachdem Erwerbslose eine Entführung in einem Aachener Jobcenter diskutiert und kommentiert hatten.

„Wir wünschen uns, dass es ein Nachvollziehen für viele betroffene Erwerbslose gibt, die durch nicht zu rechtfertigende Sanktionen bzw. Zahlungseinstellungen kaum noch Verständnis für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufbringen können“, betont Behrsing und sprach sich für mehr Kooperation zwischen Erwerbslosen und Jobcentermitarbeitern aus .

Vor allem die gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter der Jobcenter müssten ein Interesse daran haben, dass eine Diskussion über die Zustände und den Druck in den Jobcentern beginnt. Schließlich klagen auch Jobcenter-Mitarbeiter in persönlichen Gesprächen, dass sie selber Druck von ihren Vorgesetzen ausgesetzt sind, den sie wiederum an die Erwerbslosen weitergeben sollen oder müssen. In Frankreich hatte sich vor einigen Jahren die Mitarbeiterin eines Arbeitsamtes persönlich verpflichtet, keinen Druck auf Erwerbslose auszuüben. Erwerbslose haben in Deutschland unter dem Motto „Fabienne gesucht“ Unterstützung von Jobcenter-Mitarbeitern angemahnt. Das Schreiben von Schönfeld vermittelt hingegen ein ganz anderes Signal.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152945
Peter Nowak

Umfairteiler und Fairsenker

Vermögensabgabe, Vermögenssteuer – und schon geht es gerecht zu im Kapitalismus. Das forderten am Wochenende 40 000 Menschen während eines Aktionstags unter dem Motto »Umfairteilen«. Die Befürworter dieser Vorstellungen blamieren sich angesichts des herrschenden Klassenkampfes von oben.

Die Forderungen waren bescheiden: Vermögende sollen sich in Deutschland etwas stärker als bisher am Steueraufkommen beteiligen, eine einmalige Vermögensabgabe und eine dauerhafte Vermögenssteuer sollen eingeführt werden. Mit diesem Ziel beteiligten sich am Wochenende etwa 40 000 Menschen in über 40 Städten an einem Aktionstag unter dem Motto »Umfairteilen«. In einem Mobilisierungsvideo verdeutlichten Aktivisten ihre Vorstellung von einem fairen Kapitalismus, indem sie symbolisch Attrappen von Goldbarren und Geldsäcken zugunsten von Bildung, Pflege und Energiewende umschichteten.

Die Veranstalter sprechen erwartungsgemäß von einem »vollen Erfolg«, wie es etwa in einer Pressemitteilung von Attac heißt. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband sieht gar einen »Durchbruch in der Gerechtigkeitsdebatte«. Auf den ersten Blick scheinen solche optimistischen Beurteilungen nicht unangebracht, schließlich gingen Menschen in fünfstelliger Zahl für mehr soziale Gerechtigkeit auf die Straße. Doch der vermeintliche Erfolg wird erheblich relativiert, wenn man bedenkt, dass an dem Bündnis zahlreiche große Gewerkschaften und Sozialverbände beteiligt waren und die Beteiligung dank des dezentralen Charakters des Aktionstages erheblich erleichtert wurde. So demonstrierten also doch nur 40 000 Menschen, und noch dazu für einen fairen Kapitalismus. Zudem waren die Veranstalter sehr daran interessiert, Grüne und SPD bloß nicht zu verärgern. So wurde in den Materialien zum Aktionstag kein kritisches Wort zur »Schuldenbremse« und der Agenda 2010 verloren.

In Hamburg sorgte die Beteiligung des Vorsitzenden der größten griechischen Oppositionspartei Syriza, Alexis Tsipras, dafür, dass die Spitzenpolitiker von SPD und Grünen die Abschlusskundgebung vorzeitig verließen. „Die Aussagen von Alexis Tsipras widersprechen unseren europapolitischen Überzeugungen“, wurden führende Hamburger Grüne in der Taz zitiert. Der Auftritt eines Redners, der mit dem Euroaustritt Wahlkampf mache, sei »ein schwieriges Signal«. In Leserkommentaren wurde darauf hingewiesen, dass der Grüne entweder keine Ahnung habe oder bewusst falsche Behauptungen verbreite. Tatsächlich sprachen sich der Linkssozialist Tsipras und die Mehrheit der Syriza im Wahlkampf vehement für einen Verbleib in der Euro-Zone, aber für eine Neuverhandlung der Schuldenvereinbarungen aus. Es waren vielmehr deutsche Politiker der Union und der FDP, die wiederholt forderten, Griechenland solle die Euro-Zone verlassen. Einige haben diese Forderung auch an die derzeitige griechische Regierung gestellt. Mit dem Streit um Tsipras’ Rede haben SPD und Grüne noch einmal deutlich gemacht, dass auch sie die Politik der Bundesregierung unterstützen, wenn es um das über Griechenland verhängte Spardiktat geht.

In der vergangenen Woche hatten sowohl in Griechenland als auch in Italien, Spanien und Portugal und am Sonntag schließlich auch in Frankreich Zigtausende gegen die EU-Sparpolitik protestiert. In allen Ländern wurde dabei auch das deutsche Sparmodell kritisiert. Auf diese europaweiten Proteste bezog sich während des Aktionstags vor allem das linke Bündnis »Kapitalismus fairsenken«, das mit dem Anspruch antrat, »mit kreativen Aktionen vereinfachte und verkürzte Forderungen« des Bündnisses »Umfairteilen« zu kritisieren. Dabei geht es vor allem um die Vorstellung eines fairen Kapitalismus. »Gerechtere Lebensbedingungen sind nicht durch Umverteilung zu erreichen, sondern durch Demokratisierung der Produktionsmittel und somit Vergesellschaftung der Gewinne«, heißt es im Aufruf des Bündnisses »Kapitalismus Fairsenken«, in dem Gruppen aus dem Umfeld der Interventionistischen Linken vertreten sind, die sich im Mai auch an den Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt und bereits vorher an verschiedenen Protesten gegen die derzeitige Krisenpolitik beteiligt haben. Vom Bündnis M31, das mit dezidiert antikapitalistischen Forderungen zum europaweiten Aktionstag im März aufgerufen hatte, gab es hingegen keine Stellungnahme zum Aktionstag und den derzeitigen europaweiten Protesten.

Der Aktionstag hat noch einmal deutlich gemacht, wie nötig Kritik von links ist. Denn die Protestbewegung in Deutschland unterscheidet sich erheblich von denen anderer europäischer Länder. Während in Spanien, Griechenland und Portugal Grundsätze, wie sie vom Bündnis »Kapitalismus fairsenken« formuliert wurden, in weiten Teilen der Protestbewegung befürwortet werden, wurden sie während des Aktionstags in Deutschland nur vom äußerst linken Flügel vertreten. Die Mehrheit hängt hierzulande der Illusion von einem fairen Kapitalismus an.

Dabei hat die Bundesregierung in den vergangenen Wochen noch einmal vorgeführt, was Klassenkampf von oben ist. Der neue Entwurf des »Armuts- und Reichtumsberichts« und die Reaktionen der Bundesregierung nach der Veröffentlichung haben den Kritikern der Ideologie vom fairen Kapitalismus eigentlich beste Argumente geliefert. Die arme Bevölkerung und der öffentliche Haushalt werden ärmer, die vermögenden Schichten reicher, lautet das wenig überraschende Fazit des Berichts. So stand dem Rückgang des Nettovermögens des deutschen Staats von Anfang 1992 bis Anfang 2012 um 800 Milliarden Euro im gleichen Zeitraum die Zunahme des Nettovermögens privater Haushalte von 4,6 Billionen auf zehn Billionen gegenüber. Doch für große Teile der Bundesregierung war nicht die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich das Problem, sondern der Bericht, der diese Entwicklung in Zahlen fasst.

Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) ließ prompt mitteilen, er verweigere dem Entwurf die Zustimmung, weil dieser eine Debatte über eine stärkere Vermögensbesteuerung auslösen könnte. Dabei bemängelte Rösler vor allem einen Passus in dem Bericht, in dem von einem Prüfauftrag die Rede ist, »ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann«. Für Rösler und die FDP scheint eine solche Frage schon den Sozialismus heraufzubeschwören. »Noch mehr Umverteilung« sei für sein Ministerium nicht zustimmungsfähig, ließ er über das Handelsblatt mitteilen.

Nicht nur seine Parteikollegen unterstützten ihn, sondern auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stimmte ihm zu. Höhere Steuern schadeten vor allem dem Mittelstand in Deutschland, lautete die Begründung. Michael Fuchs, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union, warf Arbeitsministerin Ursula von der Leyen vor, mit der Veröffentlichung des Berichts den Koalitionsvertrag zu verletzen. Finanzstaatssekretär Steffen Kampeter (CDU) entdeckte in dem Bericht gar »Linksrhetorik pur«. Innerhalb weniger Wochen wurde die Arbeitsministerin so gleich zweimal des Linksabweichlertums bezichtigt. Auch mit ihrem Vorschlag für eine Zusatzrente war sie in diesen Verdacht geraten, obwohl in ihrem Rentenmodell eine lange Lebensarbeitszeit und eine private Rentenversicherung festgeschrieben sind.

Nach der Schelte für den Armuts- und Reichtumsberichts stellte sie ohnehin klar, dass sie keinerlei Steuererhöhung anstrebe, sondern als Mittel gegen die großen Einkommensunterschiede die Förderung der privaten Spendenbereitschaft favorisiere. Sie bekannte sich also zu einer Sozialpolitik, die auf den Willen zur Wohltätigkeit statt auf soziale Rechte setzt. Solche Vorstellungen finden auch in anderen Parteien Zustimmung, von der SPD über die Grünen bis hin zur Piratenpartei. Es ist anzunehmen, dass an solchen Fragen keine Koalitionen scheitern würden. Daher ist es umso absurder, wenn auch in Teilen der sozialen Bewegung ein Jahr vor der Bundestagswahl schon wieder die längst blamierte Hoffnung von der Mehrheit links von FDP und Union beschworen wird, die dafür sorgen soll, dass der Kapitalismus etwas fairer wird.

http://jungle-world.com/artikel/2012/40/46322.html

Peter Nowak

Erwerbslose zum Bombenräumen?

Aufregung in Pirna – Jobcenter nimmt Hartz-IV-Jobverpflichtung zurück
Im Hammerpark in Pirna werden noch immer Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg vermutet. Nun sollten Erwerbslose das Gelände vom Gehölz befreien, um einer Bombenräumtruppe besseren Zugang zu dem Gelände zu verschaffen.

Bombenentschärfungen bringen immer Schlagzeilen. Jüngstes Beispiel: Die Sprengung einer US-Fünf-Zentner-Fliegerbombe, die bei Bauarbeiten im Münchener Stadtteil Schwabing entdeckt wurde. Tausende Menschen aus den umliegenden Häusern mussten einen Tag lang evakuiert werden. Weil auch die aus Brandenburg und Thüringen geholten Sprengmeister zu dem Ergebnis kamen, dass bereits ein Hammerschlag reichen könnte, um den Blindgänger zur Explosion zu bringen, wurde er unter Verwendung von Strohballen als Dämmstoff kontrolliert gesprengt – was zahlreiche Gebäude in der Umgebung in Brand setzte.
Melderecht

Weil solche Darstellungen erst vor kurzen über Bildschirme flimmerten, sorgte ein bombiges Jobangebot in Pirna auch schnell für Aufregung. Für das vom Plauener Jobcenter initiierte Projekt Zukunft e.V. wurden neun Erwerbslose zum Roden des Waldes verpflichtet.

Weil für sie als Hartz-IV-Empfänger eine Ablehnung des Jobs mit Sanktionen verbunden gewesen wäre, kann von einer Freiwilligkeit keine Rede sein. »Wer sich weigert, entsprechende Maßnahmen seitens des Jobcenters durchzuführen, muss mit massiven Sanktionen in Form von Leistungsentzug rechnen«, schreibt auch eine Anti-Hartz-Initiative.

Nach Kritik ruderten die Jobcenter-Mitarbeiter zurück und erklärten alles zu einem großen Missverständnis. Den Mitarbeitern des Jobcenter seien die Gefahren nicht bekannt, gewesen. »Hätten wir von den Bomben gewusst, hätten wir der Aktion nie zugestimmt.«

http://www.neues-deutschland.de/artikel/800332.erwerbslose-zum-bombenraeumen.html
Peter Nowak

Steinbrück wegen Nebeneinkünfte in der Kritik

In der SPD werden Forderungen nach Offenlegung der Honorare für Vorträge laut

Schon wenige Tage nach seiner Nominierung steht der designierte SPD-Kanzlerkandidat in der Kritik. Es geht um die Offenlegung seiner Nebeneinkünfte. Dass diese Forderung aus den Reihen des CSU-Vorsitzenden Seehofer kommt, ist nicht weiter verwunderlich und gehört nun mal zum Wahlkampf. Gravierender für Steinbrück ist die Tatsache, dass ähnliche Forderungen nach Transparenz auch aus den eigenen Reihen kommen.

So forderte der Vorsitzende des SPD-Arbeitnehmerflügels Klaus Barthel Steinbrück auf, seine kompletten Nebeneinkünfte und die Steuererklärung öffentlich zu machen. Eine solche Forderung aus den eigenen Reihen kann getrost als Misstrauenserklärung verstanden werden. Denn, wenn die SPD auch fast alle sozialdemokratischen Grundsätze über Bord geworfen hat, so hat sie doch den Moralismus beibehalten, der es dem Spitzenpersonal schwer macht, dicke Autos zu fahren und mit ihren hohen Eingaben allzu offen zu protzen. So etwas ist in den SPD-Ortsvereinen verpönter als die Durchsetzung einer neuen Agenda 2010.

Steinbrück muss also aufpassen, dass er die vielzitierte Parteiseele nicht zu stark strapaziert. Dabei wird er von der konservativen FAZ bestärkt, den Forderungen aus der eigenen Partei nicht nachzugeben und dem linken Flügel zu zeigen, wie viel Beinfreiheit er unter einem Kandidaten Steinbrück noch hat.

„Der linke Flügel zeigt dem Ungeliebten gleich zu Beginn seiner Kandidatur, dass er keine Schonung zu erwarten hat, jedenfalls nicht aus den eigenen Reihen. Der Angegriffene kontert, er habe seine Anzeigepflichten, denen er als Abgeordneter unterliegt, erfüllt. Mehr musste und sollte er auch nicht preisgeben“, heißt es dort. Doch politisch wird er schon, wenn nicht seiner Partei, dann doch den potentiellen Wählern, erklären müssen, warum er bei der Wirtschaftskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer einen Vortrag gehalten und dafür mindestens 7000 Euro erhalten hat. Die Kanzlei war auch am Bankenrettungsgesetz beteiligt, das Steinbrück als Bundesfinanzminister zu verantworten hatte.

Für den Ko-Vorsitzenden der Linkspartei, Bernd Riexinger, verwischen sich die Grenzen zwischen Staat und Banken auf gefährliche Weise, wenn ein Minister hochdotierte Reden bei der Kanzlei hält, mit der auch als Minister zu tun hatte.

Sind die Nebeneinkünfte wirklich nur Privatsache?

Bisher kann sich Steinbrück darauf berufen, dass seine Nebeneinkünfte aus Reden und aus Einnahmen von Buchveröffentlichungen und Aufsichtsratsmandaten juristisch wahrscheinlich nicht zu beanstanden sind. Es ist auch schon länger bekannt, dass Steinbrück zu den Rekordhaltern bei den parlamentarischen Nebenverdienern gehört. Er hat sich aber bisher auf den Standpunkt gestellt, dass die Einkünfte seine Privatsache sind. Daher hat er sich bisher auch geweigert, die genaue Höhe seiner Nebeneinkünfte anzugeben.

Auch die Frage, ob er Teile seiner Nebeneinkünfte gespendet hat, wollte er nicht beantworten. Ob er diese Linie durchhalten kann, nachdem selbst in der eigenen Partei schon Kritik laut wurde, ist fraglich. Allerdings wird auch die SPD-Basis genau überlegen, wie weit sie mit ihrer Kritik an Steinbrücks Nebeneinkünften gehen will. Schließlich könnte es sich der Kandidat noch einmal überlegen und die SPD düpieren. Scheint doch die Kandidatur finanziell für Steinbrück ein Verlustgeschäft zu sein, zumindest wenn er sich an die Zusicherung hält, künftig keine bezahlte Redeaufträge mehr anzunehmen.

Doch bieten sich auch andere Angriffspunkte für Kritiker. Schon vor seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten gab es Kritik an seinen Bemühungen als Finanzminister, Sponsoren für eine Schachweltmeisterschaft zu werben, die dazu führten, dass er den Werbebrief ins Netz stellte.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152908
Peter Nowak

Kann Steinbrück Merkel schlagen und ihre Politik fortsetzen?

Mit der einstimmigen Nominierung von Peer Steinbrück macht die SPD deutlich, dass sie gerne den Kanzler stellen, aber nichts ändern will

Kaum hatte der SPD-Vorstand Peer Steinbrück zum Kanzlerkandidaten nominiert, prangt auf der SPD-Homepage schon die neue Parole „Peer Steinbrück soll Kanzler werden“. Dass die Nominierung offiziell erst auf dem SPD-Parteitag im Dezember erfolgt, wird einfach unterschlagen. Vergessen sind alle Beteuerungen, dass es für solche Parolen ein Jahr vor den Wahlen viel zu früh ist. So lautete die offizielle Sprachregelung aus der SPD-Führung bis vor einigen Tagen. Da lautete der offizielle Zeitplan aber auch noch, der Kandidat werde erst nach den Landtagswahlen im Frühjahr nächsten Jahres nominiert.

Dass sich dieser Zeitplan nicht einhalten lassen würde, war längst klar. Dass dann allerdings die Nominierung so rasch erfolgte, zeigt wie stark die SPD angesichts der unverändert guten Zustimmungswerte für Merkel unter Druck geraten war. Wenn zumindest die Möglichkeit eines SPD-Kanzlers glaubwürdig aufrecht erhalten werden soll, musste die SPD nun handeln. Da war auch klar, dass Steinbrück der Gewinner war. Denn eigentlich hat die SPD nur eine Chance auf das Kanzleramt, wenn eine Koalition zwischen Grünen und FDP zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen wird. In den letzten Tagen haben FDP-Politiker aus der zweiten Reihe diese Variante in die Diskussion gebracht, vor allem um der Union, die sich schon längst auf eine große Koalition einstellt, deutlich zu machen, dass sie auch eine andere Regierungsvariante anvisieren kann.

Die Ampelkoalition überhaupt in die Diskussion gebracht zu haben, bringt der FDP auch in aktuellen Koalitionsauseinandersetzungen Punkte. Die Partei macht damit deutlich, dass mit ihr zu rechnen ist. Allerdings wird diese Variante bis zum Wahltag so vage bleiben, wie sie es jetzt ist. Außerdem werden alle Beteiligten, nicht zuletzt die FDP, nicht müde werden, eine solche Variante konsequent zu dementieren. Auch die Grünen und die SPD werden möglichst vermeiden wollen, auf Wählerfragen zu antworten, wie sie einen fairen Kapitalismus und eine Bändigung der Finanzmärkte, wie es im Steinbrück-Sprech heißt, mit der FDP durchsetzen wollen.

1,80 Meter Beinfreiheit für ein Bündnis mit der FDP?

Wenn es nach der Bundestagswahl nur eine SPD-Kanzlerschaft mit Hilfe der FDP geben kann, ist schon jetzt absehbar, dass die SPD ein solches Bündnis mittragen wird. Schließlich wird dort nicht von ungefähr ein Helmut Schmidt besonders verehrt, der immer im Bündnis mit der FDP regiert hat. Schmidt war auch einer der ersten Sozialdemokraten, der Steinbrück als Kanzlerkandidat ins Gespräch brachte. Damals gab es noch heftigen Widerspruch von der sogenannten SPD-Linken. Als vor einigen Tagen dann bekannt wurde, dass Schmidts Wunschkandidat das Rennen macht, gab es noch ein leichtes Grummeln vom SPD-Linken Stegner.

Dass Steinbrück nun vom SPD-Präsidium einstimmig nominiert wurde, zeigt nur, dass sich die SPD-Linke wie immer klaglos der Parteiraison unterordnete. Sie wird auch so handeln, wenn Steinbrück der Partei den Preis präsentiert, den die FDP für eine Koalition mit der SPD verlangen würde. Dass ist die schon berühmte Beinfreiheit von 1,80 Meter, die Steinbrück sofort für sich einforderte, wenn er die Kandidatenrolle spielt. Damit knüpft er auch nahtlos an Helmut Schmidt an, der soviel Beinfreiheit beanspruchte, dass er gegen den Willen von immer mehr Sozialdemokraten die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa durchsetzte. Die Union musste die Stationierung dann nach 1982 nur noch technisch umsetzen.

Da es anders als zu Schmidt-Zeiten wohl kaum zu einem SPD-FDP-Bündnis reichen würde, bleiben die Grünen die großen Unbekannten. Da dürfte es noch einige Verrenkungen der grünen Seele geben, aber die Trittins, Roths und Künasts dieser Republik werden mit viel Verve auch ein Bündnis mit der FDP verteidigen, wenn es die einzige Möglichkeiten dieser grünen Gründerkoalition ist, doch noch Ministerämter zu erlangen. Denn die vierzigjährigen Parteifreunde stehen schon in den Staatlöchern und wollen die Gründer auf das Altenteil verbannen.

Kann die Linkspartei von Steinbrück profitieren?

Daher ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass die SPD unter Steinbrück Merkel schlagen kann, um deren Politik fast unverändert fortzusetzen. Wo es jetzt heißt, Merkel gelingt es auch sozialdemokratische Elemente in ihr Politikkonzept zu integrieren, so würde man Steinbrück nachsagen, er kann auch christdemokratische Elemente mit berücksichtigen. Der hat schon erklärt, er wolle von der SPD enttäuschte bürgerliche Wähler ansprechen.

Das geht natürlich nur, wenn man ziemlich nahtlos an deren Vorstellungen anknüpft. Einen Gewinner der Nominierung Steinbrücks gibt es schon: die Linkspartei. Die hat sich nach ihrem letzten Parteitag mit dem Gewerkschaftler Bernd Riexinger und der Exponentin der Emanzipatorischen Linken Katja Kipping aus der Skandalberichterstattung gebracht. Wenn nun manche ostdeutsche Landespolitiker befürchten, der Partei könnte der Mief der PDS- und DDR-Vergangenheit abhanden kommen, kann das für eine neue sozialdemokratische Partei auch als Kompliment gelesen werden.

Ein Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der ein Bündnis mit der FDP zumindest nicht ausschließt, verschafft der Linken wohl mehr als 1,80 Meter Beinfreiheit, um sich eigenständig zu profilieren. Wenn sie sich nicht ganz dumm anstellt und bei der SPD als Juniorpartner anbiedert, könnte ihr das ein passables Wahlergebnis garantieren.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152892
Peter Nowak

Faire Krisenproteste in Deutschland

Der Aktionstag Umfairteilen machte auch noch einmal die große Spannbreite der Protestbewegung in der Eurozone deutlich

Im Rahmen des Aktionstages Umfairteilen haben sich in über 40 Städten in Deutschland nach Veranstalterangaben ca. 40.000 Menschen beteiligt. Die Forderungen des Aktionsages beschränkten sich im Wesentlichen darauf, dass Vermögende sich wieder mehr am Steueraufkommen beteiligen sollen. Für die Organisatoren wäre das eine faire Lösung. Konkret geht es um eine einmalige Vermögensabgabe und die Einführung einer Reichensteuer. Im Vorfeld haben Aktivisten schon symbolisch „Goldbarren“, „Münzen“ und „Geldsäcke“ zugunsten wichtiger gesellschaftlicher Bereiche wie Bildung, Pflege und Energiewende umgeschichtet.

Durchbruch in der Gerechtigkeitsdebatte?

Die Veranstalter sehen den Aktionstag erwartungsgemäß als vollen Erfolg, wie es in einer Pressemitteilung von Attac heißt. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband spricht von einem Durchbruch in der Gerechtigkeitsdebatte.

Nun scheinen solche optimistischen Beurteilungen nicht unangebracht, wenn Menschen in fünfstelliger Zahl in Deutschland für mehr soziale Gerechtigkeit auf die Straße gehen. Wenn man aber bedenkt, dass an dem Bündnis zahlreiche große Gewerkschaften und Sozialverbände beteiligt waren und dass wegen des dezentralen Charakters des Aktionstages eine Beteiligung erheblich erleichtert wurde, relativiert sich der „Erfolg“ beträchtlich.

Man kann daher auch sagen, dass nur 40.000 Menschen für mehr Gerechtigkeit auf die Straße gehen, obwohl der erst vor wenigen Tagen bekannt gewordene neue Armuts- und Reichtumsbericht die besten Argumente für das Bündnis geliefert hat. Zudem hat die Bundesregierung noch zusätzlich eine Steilvorlage geliefert, weil sie sich darüber gestritten hat, ob der Bericht überhaupt veröffentlicht werden soll, weil er doch Argumente für eine Debatte um Steuererhöhungen für Vermögende biete. Für die FDP aber auch große Teile der Union aber ist das fast schon Sozialismus.

Zudem wurde in den Forderungen zum Aktionstag kein kritisches Wort zur Schuldenbremse verloren, weil man damit schließlich den Mehrheitsflügel von SPD und Grünen verärgert hätte. Doch so viel Entgegenkommen wurde von den Hamburger Sozialdemokraten und Grünen nicht belohnt. Sie störten sich daran, dass in der Hansestadt auch der Vorsitzende der größten griechischen Oppositionspartei Syriza, Alexis Tsipras, redete. Sie beließen es dabei nicht mit einer Presserklärung sondern verließen die Kundgebung vor seiner Rede.

Der Auftritt eines Redners, der mit der Idee eines Euroaustritts Wahlkampf macht, sei „ein schwieriges Signal“, wird ein führender Hamburger Grüner von der taz zitiert. Leser haben sofort darauf hingewiesen, dass der Grüne entweder keine Ahnung hat oder bewusst falsche Behauptungen verbreitet. Denn Tsipras und die Mehrheit der Syriza haben sich im Wahlkampf vehement für ein Verbleiben in der Eurozone, aber für eine Neuverhandlung der Schuldenvereinbarungen ausgesprochen. Es waren vielmehr Politiker der Union und der FDP, die sofort erklärten, dann müsse Griechenland den Euro verlassen, einige haben diese Forderung auch an die aktuelle griechische Regierung gestellt. Mit diesem Streit haben zumindest SPD und Grüne deutlich gemacht, dass für sie Solidarität mit der von der wesentlich von Deutschland initiieren EU-Sparpolitik nicht infrage kommt.

Fairteilen oder fairsenken?

Erst in der letzten Woche sind sowohl in Griechenland, aber auch in Italien, Spanien und Portugal Zigtausende gegen die EU-Sparpolitik auf die Straße gegangen. Darauf haben sich innerhalb des Aktionstages vor allem linke Bündnisse bezogen, die zu den Protesten aufriefen, aber die Diktion des Aktionstages kritisierten. Dazu gehört vor allem ein Zusammenschluss, der unter dem Motto Kapitalismus fairsenken den Anspruch formuliert hat, „mit kreativen Aktionen auf vereinfachte und verkürzte Forderungen“ des Umfairteilenbündnisses hinzuweisen. Es wendet sich vor allem gegen die Vorstellung eines fairen Kapitalismus. „Gerechtere Lebensbedingungen sind nicht durch Umverteilung zu erreichen, sondern durch Demokratisierung der Produktionsmittel und somit Vergesellschaftung der Gewinne“, heißt es dort.

In dem Bündnis Kapitalismus Fairsenken sind auch Gruppen aus dem Umfeld der Interventionistischen Linken vertreten, die sich im Mai an den Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt/Main und auch vorher an verschiedenen Krisenprotestaktionen beteiligt haben. Der bundesweite Aktionstag hat auch noch einmal deutlich gemacht, wie weit die Protestbewegungen im europäischen Rahmen voneinander entfernt sind. In Spanien, Griechenland und Portugal sind Grundsätze, wie sie Kapitalismus Fairsenken formuliert, in weiten Teilen der Protestbewegung Konsens, in Deutschland ist es der linke Flügel beim Aktionstag.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152883
Peter Nowak

»Unser Weg ist nicht der einzig wahre«

Kaum eine Erwerbslosengruppe hält so lange durch wie die ALSO in Oldenburg – ein Gespräch über die Gründe
Die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) feiert ihr 30-jähriges Bestehen, was in der Erwerbslosenbewegung eine Rarität ist. PETER NOWAK sprach für »nd« mit dem ALSO-Aktivisten MICHAEL BÄTTIG, was sie anders machen, als andere Gruppen. Bättig ist seit Jahren bei der Gruppe aktiv.

nd: Wieso gibt es die ALSO seit 30 Jahren, während viele andere Erwerbslosengruppen immer wieder zerfallen? Was machen Sie anders?
Bättig: Das liegt an unserer Organisationsform: Wir kämpfen für kommunale Zuschüsse, organisieren Spenden und nutzen das Geld für eine unabhängige Sozialberatung in einem eigenen sozialen Zentrum mit moderner Infrastruktur. Wir sind undogmatisch und offen und behaupten nicht, unser Weg sei der einzig wahre. Deshalb stecken wir unsere Kraft auch mehr in unsere Organisation, Aktionen und Vernetzung als in die Kritik an Anderen. Wir haben uns zu einem Projekt entwickelt, das vielleicht ein kleines Beispiel für Selbstorganisation mit dem Ziel einer gerechten und solidarischen Gesellschaft sein könnte.

Hat sich Ihre Arbeit durch Hartz IV geändert?
Als die Arbeitsmarktreformen eingeführt wurden, sind Erwerbslosigkeit, Armut und Ausgrenzung für einen historischen Moment zur zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden. Hartz IV fasst alle Erwerbslosen in den Jobcentern zusammen und wirft die Frage auf, unter welchen Bedingungen Menschen in dieser Gesellschaft leben, arbeiten und wohnen sollen. Aber über die Ausdehnung von Arbeit in jeder Form und um jeden Preis bis in die letzten Winkel der Gesellschaft werden sie gleichzeitig stigmatisiert, mobilisiert und wieder auseinandergetrieben. Es ist nicht nur die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die weitere Prekarisierung der Arbeit, sondern die systematisch und flächendeckend betriebene Ausmerzung jeglicher »Nicht-Arbeit« aus unser aller Leben, mit der Hartz IV auch zur Desorganisation solidarischer, antikapitalistischer Projekte beigetragen hat. Selbst bei mehr als fünf Millionen Erwerbslosen hat kein Mensch mehr Zeit.

Ihre Gruppe begleitet Erwerbslose zu Terminen im Jobcenter. Welche Erfahrungen machen Sie dabei?
Begleitaktionen sind Prozesse der Selbstermächtigung und Selbstorganisation. Die Anwesenheit einer weiteren Person hilft, vorenthaltene Leistungen durchzusetzen. Die Aktionen sind praktische Demonstration von Gegenmacht und Aufklärung: Fiese Sachbearbeiter werden in ihre Schranken verwiesen, und die entwürdigende Alltagsmassenverwaltung der Jobcenter wird für einen Moment aufgebrochen. Das stärkt das Selbstbewusstsein, gibt Würde zurück. Im glücklichen Fall führen die Aktionen dazu, dass sich die Leute in Zukunft gegenseitig begleiten. Im unglücklichen Fall werden sie beim nächsten »Alleingang« zusammengefaltet und ziehen daraus die übliche Lehre, »dass man besser die Fresse hält«. Begleitaktionen hätten das Potenzial zu einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung über die Jobcenter hinaus. Darüber müsste eigentlich bundesweit nachgedacht werden.

Die ALSO hat vor zwei Jahren maßgeblich die Demonstration »Krach schlagen statt Kohldampf schieben« organisiert und dafür ungewöhnliche Bündnispartner wie die Milchbauern gewonnen, die über niedrige Milchpreise klagen. Was ist Ihr Resümé?
Wir haben uns neu bewegt. Bündnisse von Erwerbslosennetzwerken mit der Ökologiebewegung, mit kämpferischen Bauern und kritischen Verbraucherverbänden hat es vorher so nicht gegeben. Wir haben dadurch politisch die Verbindung von Hartz-IV-Regelsätzen und Niedrigeinkommen mit Fragen ökologischer Lebensmittelproduktion und -verteilung hergestellt. Dass die Form der industriellen Nahrungsmittelproduktion, die Zerstörung der Umwelt und die Ausbeutung der endlichen Ressourcen weltweit zu Schranken bei der vollständigen Aneignung von äußerer Natur und menschlicher Arbeitskraft geworden sind, zeigt ein Blick in jede Tageszeitung. Aber das ist nur eine Chance, der Rückenwind, der bläst: Ob daraus eine internationale Protestbewegung wird, liegt auch an uns.

Müsste sich die Erwerbslosenbewegung europaweit vernetzen?

Mit über 18 Millionen ist die Zahl der Erwerbslosen ist der EU auf ein neues Rekordniveau gestiegen. In Spanien und Griechenland ist jeder Vierte erwerbslos, bei Jugendlichen ist es jeder Zweite. Es wäre schön, wenn von deutschen Erwerbslosennetzwerken Signale der Solidarität in diese Länder gesendet und aus diesen Ländern empfangen werden könnten. Am besten sind gemeinsame Aktionen wie etwa Blockaden vor einschlägigen Institutionen. Vielleicht führt die weitere soziale und ökonomische Entwicklung in Europa dazu, dass sich so etwas entwickelt. Es wäre naiv zu glauben, dass Deutschland weiter eine Insel der Glückseligen bleiben kann.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/239756.unser-weg-ist-nicht-der-einzig-wahre.html
Interview: Peter Nowak

Rösler und der Romneyeffekt

Auch in Deutschland gehört eine Verachtung der Einkommensschwachen bei Politikern, die Ungleichheit fördern, längst zum Alltag

Der Staat wird ärmer und die vermögenden Schichten reicher, lautet das Fazit des Reichtumsberichts der Bundesregierung. Dabei handelt es sich um die Folge einer Politik, die von den Bundesregierungen unterschiedlicher Couleur in den letzten Jahren betrieben wurde. Die Ergebnisse des Berichts sind wahrlich keine Überraschung, wie der soziale Kahlschlag in vielen Kommunen zeigt. Doch für Teile der Bundesregierung scheint das Problem nicht die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, sondern der Bericht, der diese Fakten in Zahlen fasst.

Der FDP-Wirtschaftsminister Philipp Rösler ließ prompt via Handelsblatt mitteilen, dass er die Veröffentlichung des Reichtumsberichts nicht mitträgt, weil die Gefahr bestehe, dass er für eine Diskussion um eine stärkere Vermögensbesteuerung herangezogen werden könnte.

Dabei stieß sich Rösler vor allem an dem Passus in dem Bericht, in dem von einem Prüfauftrag die Rede ist, „ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann“. Hier wird also die Frage aufgeworfen, ob es sich eine Gesellschaft leisten kann, dass mitten im wachsenden Reichtum für Wenige, die Einrichtungen der sozialen Daseinsvorsorge für die Mehrheit der Bevölkerung, seien es Schwimmbäder, Theater oder der öffentliche Nahverkehr immer mehr reduziert werden müssen.

Linksabweichlerin von der Leyen?

Doch für Rösler und die FDP scheint allein schon eine solche Frage den Sozialismus heraufzubeschwören. „Noch mehr Umverteilung“ sei für sein Ministerium nicht zustimmungsfähig, ließ er dem Handelsblatt mitteilen. Bald stellten sich nur seine Parteifreunde, sondern auch Bundeskanzlerin Merkel hinter ihm. Höhere Steuern würden vor allem den Mittelstand in Deutschland schaden, hieß es.

Der konzernnahe wirtschaftspolitische Sprecher Michael Fuchs der Union warf seiner Parteifreundin, der Arbeitsministerin von der Leyen vor, mit der Veröffentlichung des Armutsberichts den Koalitionsvertrag zu verletzen. Finanzstaatssekretär Steffen Kampeter sah in dem Bericht gar „Linksrhetorik pur“. Innerhalb weniger Wochen wurde damit von der Leyen zweimal in die Nähe einer Linksabweichlerin gerückt. Auch mit ihrer Initiative für eine Zusatzrente geriet sie in diesen Ruch, obwohl bei ihrem Modell eine lange Lebensarbeitszeit und eine private Rentenversicherung festgeschrieben sind.

Nachdem von der Leyen dann auch noch das um Nuancen sozialere Rentenmodell der SPD gelobt hat, gab es erste Kommentare, die sich schon Gedanken darüber machen, ob sich von der Leyen vielleicht als Merkel-Nachfolgerin in einer großen Koalition nach den nächsten Wahlen ins Spiel bringen will. Schließlich hatte auf dem SPD-Zukunftskongress der rechte Sozialdemokrat und aussichtsreiche Bewerber für die SPD-Spitzenkandidatur Peer Steinbrück erstaunlich deutlich erklärt, keinen Posten in einem Kabinett unter Merkel annehmen zu wollen Natürlich fiel manchen Kommentatoren sofort auf, dass er einen Posten unter von der Leyen nicht ausgeschlossen hat.

Allerdings sollte der aktuelle Streit auch nicht überinterpretiert werden. Von der Leyen hat als Arbeitsministerin eine andere Rolle in der Bundesregierung als Rösler und auch Merkel und muss hier die soziale Komponente berücksichtigen. Es dürfte sich bei den aktuellen Auseinandersetzungen um die Altersarmut und den Reichtumsbericht also eher um ein Spiel mit verteilten Rollen innerhalb der Bundesregierung handeln als um einen grundlegenden Richtungsstreit.

Dabei hat allerdings die soziale Komponente eindeutig eine Minderheitenposition. Merkel und Rösler machen hier noch einmal deutlich, dass ihnen die Interessen der Kapitalbesitzer alle näher sind als der Menschen, die sich wegen mangelndem Einkommen immer mehr einschränken müssen. Schließlich ist es die Folge einer nicht nur von der gegenwärtigen Bundesregierung vorangetriebenen Politik. Die Vermögenssteuer ist schon unter Rot-Grün beträchtlich gesenkt worden.

„Eure Armut kotzt uns an“
US-Präsidentschaftskandidat Romney geriet vor wenigen Tagen in die öffentliche Kritik, als er auf einer nicht für die große Öffentlichkeit bestimmten Rede vor vermögenden Wahlhelfern davon sprach, dass er es nicht als seine Aufgabe ansieht, sich um die ärmere Hälfe der US-Bürger, die auf staatliche Leistungen angewiesen ist, zu kümmern. Sofort merkten Kritiker an, so etwas könne sich ein Präsidentschaftskandidat nur in den USA erlauben.

Die Reaktion von Rösler, Merkel und Co. auf die Veröffentlichung des Reichtumsbericht zeigt, wie unrecht sie haben. Auch in Deutschland gehört eine Verachtung der Einkommensschwachen bei denen, die mit ihrer Politik Ungleichheit fördern, längst zum Alltag. Westerwelle hat mit seinem Lamento über die spätrömische Dekadenz dafür ebenso die Stichworte geliefert wie Sarrazin mit seiner Hetze gegen Transferleistungsbezieher. In dieser Tradition stehen auch Merkel und Rösler, wenn sie schon in einem Bericht über die Armut die Gefahr sehen, es könne eine Diskussion aufkommen, wie die Einkommensverhältnisse fairer gestaltet werden könnten.

Das ist das erklärte Ziel eines breiten Bündnisses, das mit einem Aktionstag am 29. September an die Öffentlichkeit treten will. Zu den Aktionsformen gehören unter anderem eine Demonstration, die rückwärts läuft, um den sozialen Rückschritt deutlich zu machen. Ob man damit allerdings die Romney-Adepten an der Spree beeindruckt, darf bezweifelt werden. Vielleicht würde ihnen eher der Spiegel vorgehalten, wenn Demonstranten mit Merkel- und Röslermasken Schilder mit der Aufschrift „Eure Armut kotzt uns an“ tragen würden.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152819
Peter Nowak

Strafrecht nicht effektiv

Die Fraktion der Piraten will »Schwarzfahren« entkriminalisieren

Im letzten Jahr verbüßten nach Auskunft der Berliner Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz 1269 Personen eine Freiheitsstrafe in Berliner Gefängnissen, weil sie wegen Fahrens ohne Fahrschein im öffentlichen Nahverkehr erwischt wurden und die verhängte Geldstrafe nicht zahlen konnten. Im Jahr 2010 verbüßte ein Drittel der Insassen der JVA Plötzensee eine mehrmonatige Haft wegen Beförderungserschleichung, wie der Vorgang in der Juristensprache heißt.

Die Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus strebt eine Entkriminalisierung des Fahrens ohne Ticket an. Sie will einen Antrag in das Abgeordnetenhaus einbringen, in dem das Land Berlin aufgefordert wird, sich im Bundesrat dafür einzusetzen, dass das Delikt der Beförderungserschleichung aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird. Am Montagabend hatte die Piratenfraktion zu dieser geplanten Bundesratsinitiative zur Podiumsdiskussion verschiedene Juristen ins Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen. Vor dem nicht sehr zahlreich erschienenen Publikum sprach sich der Jurist des Verbandes deutscher Verkehrsunternehmer Thomas Hilpert vehement gegen die Initiative aus. Sie fördere diejenigen, die »eine gestörte Beziehung zum Recht haben«, monierte er.

Hilpert räumte ein, dass die intensiven Fahrscheinkontrollen nicht mehr Geld in die Kassen der Verkehrsbetriebe spülen. Schließlich muss das Personal bezahlt werden. Hilpert sieht in den Kontrollen vor allem ein Disziplinierungsinstrument. Das es nur bei den Menschen funktioniert, die noch das Geld für ein Ticket haben, gab Rechtsanwalt Oliver Heischel zu bedenken. Der Vorsitzende des Vollzugsbeirates berichtet aus seiner alltäglichen Berufspraxis, dass es »die Ärmsten der Armen« sind, die wegen mehrmaligem Fahren ohne Ticket im Gefängnis sitzen, weil sie die Geldstrafe nicht zahlen können. Auch der Richter am Berliner Landgericht Ulf Buermeyer sieht im Strafrecht »kein effektives Mittel«, um mit sozialen Problemen umzugehen. Hier konnte der rechtspolitische Sprecher der Piratenpartei Simon Weiß anknüpfen. »Viele Menschen fahren ohne Ticket, weil sie kein Geld haben und nicht, weil sie ein gestörtes Verhältnis zum Recht haben. Hier ist das Strafrecht völlig fehl am Platze« widersprach er dem Juristen der Verkehrsbetriebe.

Allerdings betonte Weiß mehrmals, dass es seiner Partei nicht darum gehe, das Fahren ohne Fahrschein zu legalisieren. Schließlich könnten die Verkehrsbetriebe Schadenersatz mit Hilfe des Zivilrechts durchsetzen, gab er zu bedenken. Auf den Einwurf von Hilpert, wie Menschen, die so arm dran sind, dass sie die Geldstrafen nicht zahlen können, für die zivilrechtlichen Forderungen aufkommen sollen, konnte Weiß wenig erwidern. Es war ein Zuhörer, der in seinem kurzen Redebeitrag für ein Recht auf Mobilität unabhängig vom Geldbeutel eintrat. Solche sozialen Forderungen werden von Erwerbslosengruppen und der Initiative »Berlin fährt frei« propagiert. Auf der Podiumsdiskussion kamen sie nicht zu Wort. »Ich unterstütze die Entkriminalisierung, doch ich sehe es als einen Schwachpunkt, dass die soziale Komponente zu kurz kam«, lautet das Fazit einer Erwerbslosenaktivistin gegenüber »nd«.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/239172.strafrecht-nicht-effektiv.html
Peter Nowak

Kanton Bern darf weiter schnüffeln

Auskunftspflichten in Sozialhilfegesetz bestätigt

Die Schweiz gilt als Eldorado für Millionäre, die vehement auf ihr Bankgeheimnis bestehen. Für Sozialhilfebezieher gelten solche Privilegien nicht. Dass stellte kürzlich das Bundesgericht in einem Urteil klar, in dem es die Verfassungsmäßigkeit des seit Beginn dieses Jahres in Kraft befindliche Sozialhilfegesetzes des Kantons Bern überprüfen sollte. Geklagt hatten die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (DJB) und das Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen Kabba. Ihr Hauptstreitpunkt in war der Zwang zur Datenabgabe, die in dem Berner Sozialhilfegesetz festgeschrieben ist. So müssen: Bewerber um Sozialhilfe bereits Einreichen ihres Antrags eine Vollmacht ausstellen, welche den Sozialbehörden Einblick in sensible persönliche Informationen wie Krankenakten oder Bankdaten ermöglichen soll.Zudem sollen Vermieter, Firmen, Familienangehörige oder WG-Mitbewohner bei Nachfragen der Sozialbehörden zur Datenabgabe verpflichtet werden. Kritiker sprechen von einem Zwang zur Denunziation.
Eine Mehrheit der Richter erklärte den Passus für verfassungsgemäß, eine Minderheit betonte in einem Sondervotum, dass in dem Sozialhilfegesetz festgelegt wird, dass die Vollmacht nur als letztes Mittel zur Anwendung kommen solle.
Für den Gerichtspräsidenten Rudolf Ursprung sind die er Zweifel, ob die buchstabengetreue Lesart des Gesetzes verfassungskonform ist, nicht beseitigt Die Sozialdienste hätten aber kein Interesse an einer verfassungswidrigen Auslegung, begründete das Mitglied der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP),warum er das Gesetz trotz Zweifel für verfassungskonform hält
.. Die SVP war in den letzten Jahren unter ihrem Vorsitzenden, dem Chemiefabrikanten Blocher, weit nach rechts gerückt und sorgt mit Kampagnen gegen Migranten, Moslems aber auch gegen Sozialhilfeempfänger für Schlagzeilen. Die Kläger zeigten sich trotz ihrer Niederlage in einer Erklärung zufrieden, dass das Gericht erkannt habe, dass die Vollmacht aus rein politischen Gründen in das Gesetz geschrieben wurde. Außerdem hoffen sie, dass mit dem Urteil einer extensiven Auslegung der Vollmacht Grenzen gesetzt sind. Besonders zufrieden zeigen sich allerdings neben der SVP die wirtschaftsliberale FDP. Nachdem die Verschärfung im Kanton Bern vor Gericht bestand hatte, gibt es auch in anderen Kantonen Überlegungen ähnliche Regelungen einzuführen. Die von manchen Demokratietheoretiker hochgelobten Volksabstimmungen sind dagegen kaum ein Hindernis, weil Interessen von Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängern dort in der Regel keine Mehrheit bekommen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/238491.
kanton-bern-darf-weiter-schnueffeln.html

Peter Nowak

„Selbst bei mehr als fünf Millionen Erwerbslosen hat kein Mensch mehr Zeit“

Arbeitslosen- und Erwerbslosengruppen haben in der Regel keinen langen Bestand. Doch gibt es Ausnahmen

Die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) feiert ihr dreißigjähriges Jubiläum. Telepolis sprach mit ALSO-Aktivist Michael Bättig über die Gründe für diese Kontinuität.

Lieber Kraft in das Ziel stecken als in die Kritik anderer Gruppen

Telepolis: Warum konnte sich die ALSO im Gegensatz zu vielen andere Erwerbslosengruppen so lange halten?
Michael Bättig: Das liegt an unserer Organisationsform – weil wir für kommunale Zuschüsse kämpfen, Spenden organisieren und das Geld für eine unabhängige Sozialberatung in einem eigenen sozialen Zentrum mit moderner Infrastruktur nutzen. Zudem sind wir undogmatisch und offen für verschiedene Wege und Veränderungen. Wir stecken unsere Kraft mehr in unsere Organisation, in die Vorbereitungen für Aktionen und in die Vernetzung als in die Kritik an anderen Gruppen. Zudem beanspruchen wir nicht, dass unser Weg sei der einzig wahre ist.

„Flächendeckend betriebene Ausmerzung jeglicher Nicht-Arbeit aus unser aller Leben“

Telepolis: Wie hat sich eure Arbeit mit der Einführung von Hartz IV geändert?
Michael Bättig: Erwerbslosigkeit, Armut und Ausgrenzung sind für einen historischen Momente zur zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden. Hartz IV hat alle Erwerbslosen gemeinsam in den Jobcentern zusammengefasst und die Frage aufgeworfen, unter welchen Bedingungen Menschen in dieser Gesellschaft leben, arbeiten und wohnen sollen.

Aber über die Ausdehnung von Arbeit in jeder Form und um jeden Preis bis in die letzten Winkel der Gesellschaft werden sie gleichzeitig stigmatisiert, mobilisiert und wieder auseinandergetrieben. Es ist nicht nur die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die weitere Prekarisierung der Arbeit, sondern die systematisch und flächendeckend betriebene Ausmerzung jeglicher „Nicht-Arbeit“ aus unser aller Leben, mit der Hartz IV auch zur Desorganisation solidarischer antikapitalistischer Projekte beigetragen hat. Selbst bei mehr als fünf Millionen Erwerbslosen hat kein Mensch mehr Zeit.

Praktische Demonstration von Gegenmacht und Aufklärung

Telepolis: Die ALSO hat seit Jahren mit Begleitaktionen im Jobcenter Erfolge erreicht. Welche Rolle spielen diese Aktionen?
Michael Bättig: Begleitaktionen sind Prozesse der Selbstermächtigung und Selbstorganisation. Vorenthaltene Leistungen können durchgesetzt, Würde kann zurück gewonnen und Selbstbewusstsein kann gestärkt werden. Sie sind praktische Demonstration von Gegenmacht und Aufklärung: Fiese Sachbearbeiter werden in ihre Schranken verwiesen, und die entwürdigende Alltags-Massenverwaltung der Jobcenter wird für einen Moment aufgebrochen.

Im glücklichen Fall führen sie dazu, dass die Leute sich in Zukunft gegenseitig selbst begleiten, im unglücklichen Fall werden sie beim nächsten „Alleingang“ zusammengefaltet und ziehen die übliche Lehre, „dass man besser die Fresse hält“. Zahltage und Begleitaktionen könnten aber mit ihren Prinzipien zu einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung über die Jobcenter hinaus entwickelt werden. Über ihren aktuellen Zustand müsste deshalb bundesweit reflektiert werden.
Peter Nowak

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152784

Holland-Wahl bestätigt die deutsche Linie

Die Sozialisten haben es doch nicht geschafft, zur stärksten Linkspartei zu werden

Als Niederlage für „die EU-Feinde“ wertete nicht nur die Zeit den Ausgang der Wahlen in den Niederlande. Vielleicht nicht ganz so polemisch in der Wortwahl wird der Wahlausgang in anderen Medien kommentiert. Doch der Tenor ist fast überall ähnlich. Auch in Zeiten der EU-Krise können die EU-Befürworter Erfolge verbuchen.

Damit wird eine Propaganda fortgesetzt, die auch die letzte Phase des Wahlkampfes in den Niederlande selber bestimmte. Eine Kostprobe davon gab die sozialdemokratische Ökonomin und Mandatsträgerin Esther-Mirjam Sent in einem Interview mit der Tageszeitung wenige Tage vor der Wahl. Die Redakteurin und die Interviewpartnerin spielten sich dort gegenseitig die Bälle zu. „Da sind die Rechtspopulisten und die Sozialisten, die mit ihrem Frontmann Emile Roemer gut in den Umfragen dastehen. Was ist los in den Niederlanden?“, liefert die Journalistin die Steilvorlage für die Sozialdemokratin. „Zurzeit haben wir keine klare Orientierung. Das befördert zwei Reflexe. Der erste ist die Sehnsucht nach vergangenen Tagen. Diesen Reflex findet man am äußeren Rand des Parteienspektrums wieder, in der PVV und der SP. Die eine Partei ist sehr rechts, die andere ganz links, aber beide sind konservativ. Ein zweiter Reflex ist die Hinwendung zu weiteren Regeln. Beides ist aussichtslos. Wir müssen uns neu definieren und die Bürger müssen aktuelle Werte mitproduzieren“, antwortete diese.

Holländische Syriza?

Das Beschwören irgendwelcher nicht näher benannten Werte wird mit einer Art neuer Totalitarismustheorie garniert. Da sind die Konservativen von links und rechts oder eben laut Zeit die Euro-Feinde. Dass es sich in einem Fall um die rechtspopulistische, antiislamische Freiheitspartei handelt, die gute Kontakte zu neurechten Strömungen verschiedener europäischer Ländern unterhält, während es sich bei den Sozialisten um eine Art holländischer Linkspartei handelt, wird dabei unterschlagen.

Diese aus einer maoistischen Kleinstpartei hervorgegangenen Linkssozialisten erlebten in den letzten Jahren einen rasanten Aufstieg. In den letzten Wochen wurde schon als Schreckgespenst an die Wand gemalt, dass womöglich diese Sozialisten zur stärksten Partei auf der Linken aufsteigen könnten und in führende Regierungspositionen aufrücken könnten. Die Sozialisten sind sicher keine Europafeinde, aber sie haben sich unter ihren Vorsitzenden Roemer für ein Europa eingesetzt, das sich vom dem von Deutschland diktierten Spardiktat emanzipiert. Insofern können die holländischen Sozialisten durchaus mit der griechischen Syriza verglichen werden. Auch deren Parteivorsitzender kann immer wieder seine Sympathie für die EU und den Euro betonen. Solange er den deutschen Sparkurs vehement ablehnt, gilt er als Anti-Europäer.

Nun können die deutschen Medien und die Bundesregierung beruhigt sein. In Holland, einem Gründungsmitglied der EU, bleiben die fundamentalen Kritiker des deutschen Kurses außerhalb der Regierung. Sicher gibt es auch bei den holländischen Sozialdemokraten einige kritische Stimmen gegenüber einem zu rigiden Sparkurs und einen Appell für einige Lockerungsübungen. Aber in der erwarteten großen Koalition mit den Rechtsliberalen, die als treue Anhänger der deutschen Linie in Holland gelten, werden sie sich wie ihre deutschen Parteifreunde mit einigen netten Formulierungen zufrieden geben.

In deutschen Medien wird schon zu einer schnellen Bildung einer großen Koalition aufgerufen. Schließlich sind solche deutsche Siege im EU-Raum in diesen Tagen nicht so häufig. Nun gab es gleich zwei innerhalb weniger Tage. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum EMS stärkt die deutsche Rolle in mehreren Punkten. Zudem hat das Bild von den vielen Senderwagen aus ganz Europa, die vor dem Eingang des Gerichtsgebäudes auf das Urteil warteten, von dem angeblich das Schicksal Europas abhänge, das Selbstbewusstsein der politischen Klasse in Deutschland gestärkt. Merkel hat daher gleich davon gesprochen, dass es ein guter Tag für Deutschland und die EU war. Der Ausgang der holländischen Wahl würde von ihr sicher auch so kommentiert. Die meisten Medien machen schon in der Wortwahl deutlich, dass für sie ein Kritiker eines deutschen Europas nur ein EU-Feind sein kann.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152775
Peter Nowak

Digital unsozial

Nicht nur in der Diskussion um den Lebensunterhalt ihres Geschäftsführers zeigt die Piratenpartei, dass sie prekär Beschäftigte, Arbeitslose und Benachteiligte nicht zu ihrer Klientel zählt.

»Ich gehe«, erklärte der politische Geschäftsführer der Piratenpartei, Johannes Ponader, in der vergangenen Woche. Die Ankündigung seines Rückzugs bezog sich nicht auf sein Parteiamt, sondern auf das Jobcenter. Der Theaterpädagoge hatte bisher Arbeitslosengeld II bezogen. Um seinen Lebensunterhalt ohne Leistungen nach dem Hartz-IV-Gesetz bestreiten zu können, stellte Ponader mit Unterstützung der Piratenpartei einen Spendenaufruf ins Netz.

Nachdem der Parteifunktionär während einer Fernsehdebatte im Mai als ALG-II-Bezieher geoutet worden war, entspann sich in Internetforen eine heftige Debatte darüber, wieso der politische Geschäftsführer einer Partei von Hartz-IV-Leistungen lebt. Dabei wurde mit sozialchauvinistischen Tönen nicht gespart, wie sie die Autoren Christian Baron und Britta Steinwachs materialreich am Beispiel der virtuellen Angriffe gegen »Deutschlands frechsten Arbeitslosen Arno Dübel« auf den Internetseiten der Bild-Zeitung nachgewiesen haben (Jungle World 28/12).

Besonders die Aussagen einer Anonymous-Gruppe könnten sehr wohl auch von Bild-Lesern stammen. Auf Facebook kündigte sie der Piratenpartei die Freundschaft und schrieb aus diesem Anlass: »Mit diesem Spendenaufruf habt ihr euch endgültig selbst ins politische Abseits geschossen. Wie kann man jemanden, der erfolgreich das Studium der Pädagogik und der Theaterwissenschaften abgeschlossen hat, aber aus purer Bequemlichkeit nicht gewillt ist, arbeiten zu gehen, als politischen Geschäftsführer (…) mit einer derart lächerlichen Aktion auch noch im Amt halten? (…) Es macht uns traurig, mit ansehen zu müssen, wie Ponader durch sein Verhalten die jahrelange Arbeit vieler engagierter Piraten in nur wenigen Wochen zunichte macht. So leid es uns tut, aber solange Ponader noch im Amt ist und weiterhin Narrenfreiheit genießt, werden wir unseren Support für die Piratenpartei in Deutschland einstellen.«

Das Bild vom studierten Faulenzer, der zu bequem zum Arbeiten ist, gehört schon lange zum Ressentiment, das erwerbslosen Akademikern entgegenschlägt, die ihre Arbeitskraft nicht zu jedem Preis verkaufen wollen. Dass Ponader als politischer Geschäftsführer einer Tätigkeit in Vollzeit nachgeht, die als Ehrenamt nicht bezahlt wird, war den Anonymous-Schreibern offenbar keine Zeile wert. Anscheinend wäre es für sie statthaft, wenn Ponader neben seiner zeitaufwendigen Parteitätigkeit seinen Lebensunterhalt mit einem Nebenjob bestreiten würde. Wer braucht schon Schlaf?

Auch innerhalb der Partei melden sich diejenigen zu Wort, die es offensichtlich als ein besonderes Privileg Ponaders sehen, unentgeltlich für die Partei arbeiten zu dürfen. So verurteilten Florian Zumkeller-Quast und Paul Meyer-Dunker, der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende der Jungen Piraten, in einem offenen Brief nicht etwa die Tatsache, dass der Geschäftsführer ohne Bezahlung bei der Partei tätig ist, sondern die Spendensammlung für Ponader. Sein Verhalten sei untragbar, hieß es in dem Schreiben. Er habe seine Position genutzt, um »persönliche Vorteile« zu erlangen. Wenn er der Meinung sei, dass für die Arbeit eine Aufwandsentschädigung angemessen sei, solle er sich um entsprechende Beschlüsse bei seiner Partei bemühen, riet der Parteinachwuchs dem Geschäftsführer.

Angesichts solcher Stimmen aus der Partei und ihrem Umfeld wirkt das Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, Peter Arlt, wie die Stimme der Vernunft. Nachdem der ALG-II-Bezug Ponaders bekannt geworden war, wollte Arlt vom Bundesvorsitzenden der Piratenpartei, Bernd Schlömer, wissen, warum die Partei ihren Geschäftsführer nicht einfach bezahlen könne. Der Pressesprecher des deutschen Erwerbslosenforums, Martin Behrsing, ist sich ausnahmsweise in dieser Frage sogar einmal mit Arlt einig. Es sei nicht verständlich, warum eine Partei mit einem derartigen Mitgliederzulauf nicht in der Lage sei, ihren Geschäftsführer vernünftig zu bezahlen, sagt Behrsing der Jungle World. »Ein Ehrenamt übt man in der Freizeit aus. Es ist keineswegs ein unbezahlter Fulltime-Job und Hartz IV kein bedingungsloses Grundeinkommen«, betont der Erwerbslosensprecher. Ponader und seine innerparteilichen Kritiker inszenierten ein »absurdes neoliberales Theater«, so Behrsing. »Sowohl Ponader, der mittlerweile von Spenden lebt, als auch seine parteiinternen Kritiker, die von ihm unbezahlte Arbeit erwarten, unterbieten die durch Hartz IV verursachten Dumpinglöhne bei weitem.« Für Behrsing gilt dagegen immer noch der Grundsatz: »Keine Arbeit ohne Lohn!«

Dass darüber anscheinend bei vielen Piraten und in ihrem Umfeld keine Einigkeit besteht, und dass zudem niemand Ponader geraten hat, sich gewerkschaftlich zu organisieren und bei der Partei einen Lohn einzufordern, von dem er ohne weitere Hartz-IV-Leistungen oder Spendensammlungen leben kann, überrascht jedoch nur, wenn man die Selbsteinschätzung führender Piratenpolitiker und deren politische Praxis ignoriert. So haben Piraten in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg eindeutig die berüchtigte »Schuldenbremse« befürwortet. In verschiedenen Kommunalparlamenten haben die Vertreter der Partei für die Einsparungen bei kulturellen und sozialen Einrichtungen gestimmt, so etwa im Berliner Bezirk Pankow für die Schließung einer Seniorenbegegnungsstätte. Erst als dort die betroffenen Rentner mit einer Besetzung der Einrichtung gegen den Beschluss protestieren und so bundesweit bekannt wurden, distanzierten sich die Piratenvertreter von der Entscheidung.

Zudem hat der Parteivorsitzende Schlömer mehrmals klargestellt, dass er einer liberalen und nicht etwa einer libertären Partei vorsteht, wie manche wohlwollende Linke noch immer annehmen. Schlömer sieht seine Klientel denn auch keinesfalls in Protest-, sondern in Wechselwählern, wie er im August während einer Podiumsdiskussion mit Katja Kipping (Linkspartei) in Berlin sagte. Dabei spekuliert nicht nur er auch auf ehemalige Anhänger von Union und FDP.

Bisher gibt es wenige kritische Auseinandersetzungen mit dem unsozialen Programm der Piratenpartei. Das von Claus Leggewie und Christoph Bieber im Transcript-Verlag herausgegebene Buch »Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena« bietet zwar eine gute Analyse von deren Milieu. Doch die Sozialpolitik des Forschungsobjekts wird von den meisten Autoren, darunter Publizisten der Zeit und Süddeutschen Zeitung, einfach nachvollzogen.

Lediglich die Autorin Katja Kullmann macht in ihrem vor einigen Monaten in dem Buch »Die Piratenpartei – Alles klar zum Entern?« veröffentlichten Aufsatz darauf aufmerksam, dass soziale Begriffe im Programm der Partei absolute Ausnahmen sind. Im Grundsatzprogramm komme 44 Mal der Begriff »Freiheit« beziehungsweise »Freiheitlichkeit« vor. Immerhin acht Mal sei von den Segnungen der »Individualität« die Rede. Ein einziges Mal tauche das Wort »Solidarität« auf, führt Kullmann an. Sie sieht die Gründe dafür in der sozialen Stellung vieler Parteimitglieder. Sie klassifiziert die Partei als »Speerspitze der kreativen Klasse«, die »ihr Kapital gewinnbringend einsetzen will«. In diesem Anspruch konkurriere sie mit anderen Kapitalfraktionen, teile aber mit den Konkurrenten die Abwehr sozialer Ansprüche der Beschäftigten. So könnte der Null-Euro-Job von Ponader also tatsächlich eine Vorbildfunktion für die Unterminierung der Rechte von Beschäftigten haben.

http://jungle-world.com/artikel/2012/36/46187.html

Peter Nowak

Schön bunt, aber …

Gewerkschaftsfeind: Polnische Beschäftigte lehnen sich gegen ihren chinesischen Arbeitgeber auf
Weil ihr Arbeitgeber gewerkschaftliche Organisation verhindern will und Leute feuert, sind polnische Beschäftigte in Europa auf Tour, um für Solidarität zu werben.

„Solidarität ist gefragt“, lautet der Titel eines Aufrufs, mit dem die anarchosyndikalistische Freie Arbeiterunion (FAU) zur Unterstützung von 25 polnischen Beschäftigten mobilisiert. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Frauen, die in der polnischen Sonderwirtschaftszone Tarnobrzeg für den chinesischen Technologiekonzern Chung Hong Fernsehgeräte zusammenschraubten. Dafür sollten sie monatlich nur umgerechnet 350 Euro monatlich verdienen und das in einem Land, in dem sich die Lebenshaltungskosten dem westeuropäischen Niveau annähern. Zudem klagten die Beschäftigten über lange Anfahrtswege von mehr als einer Stunde. Die insgesamt 14 polnischen Sonderwirtschaftszonen werden in Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit eingerichtet. Doch ein Teil der Beschäftigten von Chung Hong wollte die schlechten Arbeitsbedingungen nicht hinnehmen und organisierte sich in der libertären Gewerkschaft Arbeiterinitiative (Inicjatywa Pracownicza). Der Konzern reagierte mit Repression. Zunächst wurde ein Gewerkschaftsaktivist entlassen. Als sie sich dagegen mit einen Streik wehrten, wurden am 10. Juli 2012 weitere vierundzwanzig Beschäftigte fristlos gekündigt. Sie versuchen auf juristischen Wege gegen die Entlassungen vorzugehen. Doch noch ist kein Gerichtstermin angesetzt. Die Betroffenen seien durch die Kündigung in einer schwierigen sozialen Situation, weil sich das zuständige Arbeitsamt auf dem Standpunkt stellt, die Beschäftigten hätten durch ihre gewerkschaftliche Tätigkeit ihre Entlassung selber verschuldet und ihnen die finanziellen Leistungen gekürzt, begründet der Berliner FAU-Sekreätr Andreas Förster den Solidaritätsaufruf gegenüber nd. Trotzdem haben sich die Gekündigten bisher allen Spaltungsversuchen widersetzt. Chung Hong wollte einige der Entlassenen wieder einstellen, doch die beharren auf ihrer Forderung, dass sämtliche Kündigungen zurück genommen werden müssen.

In den letzten Wochen gab es in verschiedenen europäischen Ländern Solidaritätsaktionen mit den Entlassenen, unter anderem in Großbritannien, Norwegen und Deutschland. Ende August protestierten ca. 20 Unterstützer vor der IFA-Elektronikmesse in Berlin. Der Ort wurde ausgewählt, weil Chung Hong ein wichtiger Zuliefererbetrieb für den weltweit bekannten südkoreanischen Elektronikkonzern LG (Lifes Good) ist, der zentral auf der IFA vertreten ist“, erklärt Förster.
Die Aktionen sind auch Suchprozesse. Denn die Frage, wie kann eine effektive Solidarität mit gemaßregelten Beschäftigten in einer hochgradig globalisierten Ökonomie aussehen kann, ist nach wie vor offen. In dem konkreten Fall hindert ein chinesischer Konzern polnische Beschäftigte, die begehrte Konsumartikel wie Fernsehgeräte und Smartphons auch für den Markt in Deutschland produzieren, an gewerkschaftlicher Organisierung. Förster hat auch das Bild des kritischen Konsumenten vor Augen, wenn er betont, dass es wichtig sei, bei den Käufern in Deutschland an dem konkreten Beispiel die Arbeitsbedingungen verdeutlichen, unter denen die so begehrten elektronischen Geräte produziert werden.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/237827.schoen-bunt-aber.html

Peter Nowak

Von den Schwierigkeiten, einen Flughafen zu eröffnen

Nun wird auch klar, warum Wowereit die Große Koalition vorgezogen hatte

Eigentlich sollte erst am kommenden Freitag bekannt gegeben werden, dass die Eröffnung des Hauptstadtflughafens bei Berlin abermals verschoben wird. Jetzt wird ein Zeitraum zwischen dem 20. und 27. Oktober 2013 genannt, wenn die Winterflugpläne in Kraft treten. Diese erneute Verschiebung ist nicht mehr so überraschend wie es das Canceln der mit vielen Plakaten schon wochenlang zuvor angekündigten Einweihung des Willy-Brand-Flughafens am 3. Juli dieses Jahres war. Allerdings wird das Projekt durch die terminliche Streckung noch um einige Millionen teurer. Vor allem viele Unternehmer, die langfristige Verträge auf dem neuen Areal geschlossen haben, sind sauer. Auch manche Tegeler Bewohner, die froh waren, endlich auch mal ein Open-Air-Konzert organisieren zu können, waren düpiert. Aber die Berliner, die schließlich im Nahverkehr tagtäglich Geduld zeigen müssen, reagieren eher mit Schulterzucken auf die erneute Vertagung. Manche bieten auch schon Wetten auf den Zeitpunkt an, an dem die erneute Verschiebung bekannt gegeben wird.

Wowereit hat mit großer Koalition vorgesorgt

Anders reagiert die politische Klasse in Berlin. Die erneute Verschiebung der Eröffnung wird die seit Wochen stetig sinkenden Sympathiewerte für den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit sicher nicht erhöhen. Doch der hat vorgesorgt. Manche haben sich gewundert, warum er nach den letzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus nicht das von seiner Parteibasis und vielen seiner Wählern favorisierte Regierungsbündnis mit den Grünen eingegangen ist, sondern die große Koalition mit der Union vorgezogenen hat.

Seit einigen Wochen ist klar, warum Wowereit gegen heftige Widerstände diese Kooperation suchte. Denn als Bürgermeister einer rotgrünen Koalition, die nur eine Stimme Mehrheit vorweisen konnte, hätte er sich nach dem Debakel um den Hauptstadtflughafen, über das er als Aufsichtsvorsitzender sicher weniger überrascht als die meisten Zeitungsleser war, Sorgen um den Bestand seiner Regierung machen müssen. Bei der großen Koalition können in beiden Parteien einige Parlamentäre querschießen und die Mehrheit für Wowereit steht noch immer. Zudem muss die Union jetzt offiziell Wowereit den Rücken freihalten und Kritik und Rücktrittsforderungen ihren Brandenburger Parteifreunden, die dort in der Opposition sind, überlassen.

Dafür konnten die Berliner Grünen ihre Oppositionsrolle umso lautstarker wahrnehmen und zumindest den Rücktritt Wowereits vom Posten des Aufsichtsrates des Flughafens fordern. Zudem können sie sich etwas in Interessenvertretung der Bürger üben, indem sie die Bewohner der Region um den Flughafen unterstützen, die nach einer Flugroutenänderung vergeblich ein neues Planfeststellungsverfahren forderten und nun die Verzögerung der Flughafeneröffnung nutzen, um auf eine Nachrüstung beim Lärmschutz zu drängen.

Wäre ihre Wunschkoalition in Erfüllung gegangen, hätte man die grünen Parlamentäre genauso verdruckst den Bürgermeister unterstützen hören wie jetzt die Union. Soweit bleibt alles im parlamentarischen Bereich und das Gezerre der Flughafeneröffnung gibt unfreiwillig einen guten Einblick in die Konstruktion der Rollen von Regierung und Opposition in der bürgerlichen Demokratie.

Zahlen die Beschäftigten die Zeche?

Wer in den Verzögerungen einen Schaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland sieht, vergisst, dass es im Ausland sicher wichtigere Probleme als das Eröffnungsprozedere eines Airports gibt, der international anders als Köln und Rhein/Main nicht besonders von Interesse ist.

Die größten Opfer für die Verzögerungen konnten wieder einmal die Beschäftigten auf den Flughafen zahlen. Von Anfang an war klar, dass ein Großteil zu prekären Bedingungen arbeiten wird. Jetzt nehmen die Unternehmen die durch die Eröffnungsverzögerungen entstandenen Kosten zum Anlass, um die Arbeitsbedingungen noch weiter zu drücken.

„Dieser Flughafen entwickelt sich zu einem Versuchslabor für immer prekärere Arbeitsverhältnisse in der Region“, sagte Ver.di-Sekretär Max Bitzer auf einer Konferenz vor einer Woche. Da stand die erneute Verzögerung der Eröffnung noch gar nicht fest.
Peter NowakNun wird auch klar, warum Wowereit die Große Koalition vorgezogen hatte

Eigentlich sollte erst am kommenden Freitag bekannt gegeben werden, dass die Eröffnung des Hauptstadtflughafens bei Berlin abermals verschoben wird. Jetzt wird ein Zeitraum zwischen dem 20. und 27. Oktober 2013 genannt, wenn die Winterflugpläne in Kraft treten. Diese erneute Verschiebung ist nicht mehr so überraschend wie es das Canceln der mit vielen Plakaten schon wochenlang zuvor angekündigten Einweihung des Willy-Brand-Flughafens am 3. Juli dieses Jahres war. Allerdings wird das Projekt durch die terminliche Streckung noch um einige Millionen teurer. Vor allem viele Unternehmer, die langfristige Verträge auf dem neuen Areal geschlossen haben, sind sauer. Auch manche Tegeler Bewohner, die froh waren, endlich auch mal ein Open-Air-Konzert organisieren zu können, waren düpiert. Aber die Berliner, die schließlich im Nahverkehr tagtäglich Geduld zeigen müssen, reagieren eher mit Schulterzucken auf die erneute Vertagung. Manche bieten auch schon Wetten auf den Zeitpunkt an, an dem die erneute Verschiebung bekannt gegeben wird.

Wowereit hat mit großer Koalition vorgesorgt

Anders reagiert die politische Klasse in Berlin. Die erneute Verschiebung der Eröffnung wird die seit Wochen stetig sinkenden Sympathiewerte für den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit sicher nicht erhöhen. Doch der hat vorgesorgt. Manche haben sich gewundert, warum er nach den letzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus nicht das von seiner Parteibasis und vielen seiner Wählern favorisierte Regierungsbündnis mit den Grünen eingegangen ist, sondern die große Koalition mit der Union vorgezogenen hat.

Seit einigen Wochen ist klar, warum Wowereit gegen heftige Widerstände diese Kooperation suchte. Denn als Bürgermeister einer rotgrünen Koalition, die nur eine Stimme Mehrheit vorweisen konnte, hätte er sich nach dem Debakel um den Hauptstadtflughafen, über das er als Aufsichtsvorsitzender sicher weniger überrascht als die meisten Zeitungsleser war, Sorgen um den Bestand seiner Regierung machen müssen. Bei der großen Koalition können in beiden Parteien einige Parlamentäre querschießen und die Mehrheit für Wowereit steht noch immer. Zudem muss die Union jetzt offiziell Wowereit den Rücken freihalten und Kritik und Rücktrittsforderungen ihren Brandenburger Parteifreunden, die dort in der Opposition sind, überlassen.

Dafür konnten die Berliner Grünen ihre Oppositionsrolle umso lautstarker wahrnehmen und zumindest den Rücktritt Wowereits vom Posten des Aufsichtsrates des Flughafens fordern. Zudem können sie sich etwas in Interessenvertretung der Bürger üben, indem sie die Bewohner der Region um den Flughafen unterstützen, die nach einer Flugroutenänderung vergeblich ein neues Planfeststellungsverfahren forderten und nun die Verzögerung der Flughafeneröffnung nutzen, um auf eine Nachrüstung beim Lärmschutz zu drängen.

Wäre ihre Wunschkoalition in Erfüllung gegangen, hätte man die grünen Parlamentäre genauso verdruckst den Bürgermeister unterstützen hören wie jetzt die Union. Soweit bleibt alles im parlamentarischen Bereich und das Gezerre der Flughafeneröffnung gibt unfreiwillig einen guten Einblick in die Konstruktion der Rollen von Regierung und Opposition in der bürgerlichen Demokratie.

Zahlen die Beschäftigten die Zeche?

Wer in den Verzögerungen einen Schaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland sieht, vergisst, dass es im Ausland sicher wichtigere Probleme als das Eröffnungsprozedere eines Airports gibt, der international anders als Köln und Rhein/Main nicht besonders von Interesse ist.

Die größten Opfer für die Verzögerungen konnten wieder einmal die Beschäftigten auf den Flughafen zahlen. Von Anfang an war klar, dass ein Großteil zu prekären Bedingungen arbeiten wird. Jetzt nehmen die Unternehmen die durch die Eröffnungsverzögerungen entstandenen Kosten zum Anlass, um die Arbeitsbedingungen noch weiter zu drücken.

„Dieser Flughafen entwickelt sich zu einem Versuchslabor für immer prekärere Arbeitsverhältnisse in der Region“, sagte Ver.di-Sekretär Max Bitzer auf einer Konferenz vor einer Woche. Da stand die erneute Verzögerung der Eröffnung noch gar nicht fest.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152720
Peter Nowak