Gedenkort zu Wohnungen

KREUZBERG  Widerstand  gegen Baumaßnahmen  in der ehemaligen  NS-Dienststelle für  jüdische Zwangsarbeit

Mehr als 26.000 Berliner Jüdinnen und Juden wurden zwischen 1938 und 1945 in der „Zentralen Dienststelle für Juden“ in Fontanepromenade 15 in Kreuzberg für die Zwangsarbeit in verschiedenen Betrieben eingeteilt. Die Volkswirtin Elisabeth Freund war eine von ihnen. In ihren Aufzeichnungen „Als Zwangsarbeiterin in Berlin“ schrieb sie, dass die NS-Behörde in der Fontanepromenade von den Betroffenen „Schikanepromenade“ genannt wurde Die Historikerin Sieglinde Peters klassifizierte die „Zentrale Dienststelle für Juden“ bei der Einweihung des Gedenkzeichens 2013 als „eine zivile Behörde mit Handlangerdiensten zur Selektion, Ausbeutung und Vernichtung“. Doch die vor der Jahren eingeweihte Stele ist zurzeit verhüllt – und es ist nicht sicher, ob und wann sie wieder zugänglich sein wird. Denn im Frühjahr 2015 wurde das geschichtsträchtige Gebäude für knapp 800.000 Euro an die „Fontanepromenade 15 GbR“ verkauft. Und Ende August 2016 erteilte das Bezirk samt Friedrichshain-Kreuzberg der Gesellschaft eine Baugenehmigung. Vor einigen Wochen haben die Bauarbeiten an dem historischen Gebäude nun begonnen. Geplant ist der Umbau „in  Büros und Wohnungen“, wie auf einem Zettel vor Ort zu lesen ist.

Die vor drei Jahren eingeweihte Gedenkstele ist zurzeit verhüllt

Die Stadtteilinitiative „Wemgehört Kreuzberg“ fordert in einem Offenen Brief einen Baustopp und die Rücknahme der Baugenehmigung. „Wir halten es für einen absoluten Skandal, dass ein solcher Geschichtsort der Immobilienspekulation geopfert und nicht als Gedenkort zur jüdischen Zwangsarbeit und zum Holocaust öffentlich genutzt wird“, heißt es in dem Schreiben. Dort werden der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und das Land Berlin dafür kritisiert, dass sie die Chance nicht genutzt habe, durch einen Kauf des Gebäudes dafür zu sorgen, dass es als Geschichtsort erhalten bleibt. Die Stadtteilinitiative will sich nicht damit zufrieden geben, dass der einstige Bezirksamtssprecher Sascha Langenbach die Hoffnung äußerte, dass auch der private Investor das Gebäude seiner historischen Bedeutung entsprechend nutzen wird. Lothar Eberhardt, der seit Langem in der Geschichtsarbeit engagiert ist, nennt im Gespräch zwei Gebäude, die in letzter Zeit durch die Immobilienwirtschaft enthistorisiert worden seien: das ehemalige Berliner Arbeitshaus in Rummelsburg und das ehemalige NS-Kriegsgericht in Charlottenburg. Die kürzlich gegründete Initiative Gedenkort Fontanepromenade sieht noch eine Chance, eine solche Entwicklung in  Kreuzberg zu verhindern. Ihre Mitglieder haben Schreiben an die Berliner SenatorInnen für Kultur und Bauwesen gerichtet. Und warten nun auf die Antworten.

Taz 19.12.2016

PETER NOWAK

Rebellisches Schlesien. Geschichte über soziale Kämpfe in Oberschlesien

DVD von Darius Zalega polnisch mit Untertiteln

Der Film stellt eine Region als Ort von Kämpfen und Streiks vor, die oft mit deutschnationalen Ansprüchen konnotiert ist

Der Titel mag manche Linke irritieren. Denn wenn es um Schlesien geht, sind oft die Vertriebenenverbände nicht weit und deren Rebellion gegen die Anerkennung von historischen Tatsachen nach der Niederlage des NS ist manches noch in schlechter Erinnerung. Doch darum geht in dem Film nicht. Er ist vielmehr eine einstündige Lektion in Geschichte von Unten in einer Region in Polen, die einmal Schlesien hieß. Der Film beginnt am Ende der Epoche, die die HistorikerInnen aus Verlegenheit Mittelalter genannt haben. Der Begriff soll nur dazu diesen, eine Brücke zwischen der Antike und der Neuzeit herzustellen. Was weniger bekannt ist: Mitte des 16. Jahrhunderts gab es wichtige Neuerungen im Bergbau –  und massive Kämpfe der Beschäftigten. Mit den blutig niedergeschlagenen Protesten der Bergleute beginnt der Film und endet in den 90er Jahren als sich erneut Lohnabhängige gegen die Abwicklung ihrer Arbeitsplätze wehren. Dazwischen finden sich fast 500 Jahre Geschichte von Unten am Beispiel einer Region, die ein Zentrum der ArbeiterInnenklasse war.

Abwechselnd auf Deutsch und Polnisch berichten die ChronistInnen von den unterschiedlichen Kämpfen. Was sich viele Jüngere vielleicht nicht vorstellen können. Es gab ein Leben vor dem Internet und auch damals verbreitete sich die Kunde von Streiks, Kundgebungen und Demonstrationen schnell. Dafür sorgten unter Anderem Lieder, in denen die Kämpfe besungen, AusbeuterInnen verspottet und Opfer der Repression des Staates und der Polizei besungen wurden. Wir lernen in dem Film auch davon einige dieser Lieder kennen.

Regisseur des Filmes, der bereits vor Wochen in Katowice Premiere hatte, ist Dariusz Zalega. Er stößt damit auch eine Diskussion über eine Gedenkpolitik an. Schließlich gibt es bis heute keinen Erinnerungsort für die 17 vom Militär während eines Streiks im Januar 1919 Ermordeten. Sie demonstrierten für Lohnerhöhungen im damaligen Königshütte, dem heutigen Chorzów, als das Militär schoss. Nun sollte sich in Deutschland bloß niemand über eine ungenügende Gedenkpolitik in Polen empören. Für die über 40 Toten, die vor Januar 1920 vor dem Reichstag erschossen wurden, als Berliner ArbeiterInnen gegen die Entmachtung der nach der Novemberrevolution gestärkten ArbeiterInnenräte protestieren, gibt es bis heute ebenfalls keinen Erinnerungsort. Es gäbe viele Beispiele mehr. Rebellisches Schlesischen macht an einen Landstrich deutlich, dass es eine Geschichte der Kämpfe und Revolte gab, die durchaus nicht abgeschlossen ist. Wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen, sollten wir uns auch fragen, ob wir die unabgegoltenen Forderungen der damaligen Kämpfe heute nicht noch immer aktuell sind. So sollte eine aktuelle Beschäftigung mit der rebellischen Geschichte in Schlesien und anderswo nicht bei einer Diskussion über Gedenkorte stehen bleiben Am besten erinnern wir an die Kämpfe und die, die daran beteiligt waren, die in diesen Kämpfen verfolgt, verwundet und ermordet wurden, wenn wir die damaligen Forderungen heute wieder aufnehmen und dabei auf darauf verweisen, dass dafür schon lange vor uns Menschen auf den Barrikaden gestanden haben. Es ist die alte Frage, woher wir kommen, wohin wir gehen. Dafür ist es notwendig, dass wir die Kämpfe von damals kennen, dass wir mehr über die ProtagonistInnen erfahren, ihre Träume, ihre Utopien, ihre Erfolge und ihre Niederlagen. Daher sind Filme wie „Rebellisches Schlesien“ so wichtig.

Artikelübersicht Dezember 2016

Peter Nowak

„Alle Wärme geht vom Menschen aus“

Aktionskunst Mit seinem Büro für ungewöhnliche Maßnahmen begleitete Kurt Jotter die Alternativbewegung. 2013 gab es ein Comeback des Büros – derzeit ist Jotter mit Performances vor allem beim Mietenthema aktiv

taz: Herr Jotter, Sie haben zuletzt zahlreiche Performances mit MietrebellInnen gemacht. Warum engagieren Sie sich in diesem Gebiet so stark?

Kurt Jotter: Es gehört zu den Grundstandards der Menschlichkeit, eine Wohnung zu haben. Sie ist gewissermaßen die dritte Haut des Menschen. 85 Prozent der MieterInnen in Berlin sind existenziell auf bezahlbare Wohnungen und die Mieterrechte angewiesen. Zu diesem gesellschaftlichen Bewusstsein möchte ich mit künstlerischen und medialen Mitteln beitragen.

Sie haben bereits vor fast 30 Jahren in Westberlin eine MieterInnenbewegung unterstützt. Was hat sich seitdem geändert?

Mit der Lichtkunstaktion „Berlin wird helle“ haben wir damals zum Frühjahrsbeginn 1987 mit dem Berliner Mieterverein gegen die Aufhebung der Mietpreisbindung in Westberlin protestiert. Wir projizierten auf Hunderte Häuserwände Protest-Dias der Mieter und Entwürfe eines großen Künstlerwettbewerbs. Das war im Rahmen einer Kampagne, die mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und den Oppositionsparteien und allen Initiativen ein erfolgreiches Bürger-Mieter-Begehren startete. Das macht deutlich, dass die Aktionen von einer Massenbewegung unterstützt wurden, die es heute nicht gibt.

Wie würden Sie Ihre künstlerische Arbeit beschreiben?

Ich sehe mich als politischen Aktions-, Konzept- und Multi-Media-Künstler und arbeite interdisziplinär zwischen Print, Theater, Video und Performance – im Sinne von „Realmontagen“ im öffentlichen Raum. Meine frühkindliche Heimat liegt bei den dadaistischen Rebellen, John Heartfield, der frühe Meister der Fotomontage, war der erste Impulsgeber. Das Bild wird zur Gesamtmontage, als theatralische Inszenierung mit Humor, sodass das Lachen im Hals stecken bleibt. Dadurch entsteht der Anreiz, sich mit der Sache zu befassen. Es geht auch darum, ein Gefühl der Befreiung zu erzeugen im Sinne von Dario Fo: „Es wird ein Lachen sein, das sie beerdigt.“

Humor und Politik, das harmoniert ja nicht immer. Hatten Sie nicht manchmal Probleme mit Ihren Aktionen bei den linken AktivistInnen?

Wir agierten innerhalb der damals schnell wachsenden Bürgerinitiativ- und Alternativbewegung, die sich von der Realitätsferne und Humorlosigkeit der K-Gruppen frühzeitig abgesetzt hatte. Unsere damals entstandenen Plakate waren in dieser ständig wachsenden Bewegung sehr gefragt und finanzierten unsere Arbeit über Jahre. Gemeinsam mit der 2014 verstorbenen Kulturwissenschaftlerin Barbara Petersen gründete ich 1977 die Künstlergruppe „Foto, Design, Grafik, Öffentlichkeit“ (FDGÖ) – der Name spielte auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die Berufsverbote an.

Mit dem 1987 gegründeten Büro für ungewöhnliche Maßnahmen (BfM) bekamen Sie Preise, es wurde in Spiegel, „Tagesschau“ und vielen anderen Medien über verschiedene Aktionen berichtet. Was waren die Höhepunkt Ihrer Arbeit?

Am 11. Juni 1987 der Mauerbau auf der Kottbusser Brücke als „Anti-Kreuzberger-Schutzwall“ gegen die Abriegelung Kreuzbergs beim Berlinbesuch von Ronald Reagan, danach die Jubelparade als Abgesang auf die Berliner 750-Jahr-Feiern mit 5.000 ParodistInnen aus der gesamten Szene und vieles andere mehr, einiges ist auch auf Wikipedia zu lesen. Auch Soloaktionen erregten Aufsehen: zum Beispiel eine lebende Haider-Karikatur in Salzburg, die in blauem FPÖ-Schal als Exhibitionist mit einem Hakenkreuz vorm Geschlechtsteil dessen Salon-Faschismus demonstrierte – bis zur Festnahme.

Nach einer längeren Pause machte sich das Büro für ungewöhnliche Maßnahmen seit 2013 mit Aktionen wieder an ein Comeback. Gerade eben waren Sie aber auch Mitorganisator des stadtpolitischen Hearings der Initiativen zu den Koalitionsverhandlungen. Geht es jetzt in die Realpolitik?

Bei mir gab es nie diese Trennung von Kunst und Politik oder Form und Inhalt. Ich bin froh, wieder in Berlin aktiv zu sein und hoffentlich wieder in der Heimstätte des „Büros“, der ehemals besetzten Fabrik „Kerngehäuse“. Hier denkt man wieder an den Druck und die Kraft der alten Zeiten und weiß, was alles möglich sein kann.

Was ist Ihr persönlicher Antrieb bei Ihren Aktivitäten?

Für mich waren immer zwei Faktoren entscheidend: Gerechtigkeit und Effektivität. Eine noch so gute künstlerische Public Relations nützt überhaupt nichts, wenn das zu stärkende Subjekt als Bewegung zersplittert und keine relevante Kraft mehr ist. Hier können Impulse zur Vernetzung und Vereinigung für die PR entscheidend sein. Was bleibt, ist auch die Rückbesinnung auf die Grundlagen der Menschlichkeit. Zum Schluss unseres Textes „Das Lachen im Halse“ heißt es: „Erster Vorschlag zur notwendigen Neuauflage der Energie-Debatte: Alle Wärme geht vom Menschen aus – der Rest kommt von der Sonne.“

1950 geboren, ist seit Ende der 1970er Jahre als Aktionskünstler im politischen Kontext aktiv. 1987 gründete er mit Barbara Petersen das Büro für ungewöhnliche Maßnahmen (BfM). Für seine Aktionen erhielt das Büro 1988 den Kulturpreis der Kulturpolitischen Gesellschaft zugesprochen. 2013 hat Jotter die aktionskünstlerische Arbeit des Büros wieder aufgenommen. Aktuell ist er vor allem in der MieterInnenbewegung aktiv

http://www.taz.de/!5362194/

Interview Peter Nowak

Self-Tracking und kybernetischer Kapitalismus

Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp[1] eine bezeichnende Episode, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät verkündete am Bildschirm: „Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 1.000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 1.500.“ Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Demonstrationsschritte und die Route genau aufgezeichnet, auch konnte man die Laufgeschwindigkeit feststellen, und obendrein erfuhr Schaupp noch, wie viele Kalorien er für die Demonstration verbraucht hatte. Solch ein perfektes Demonstrationsprotokoll dürfte der Polizei und den unterschiedlichen Verfassungsämtern ungeahnte Überwachungsmöglichkeiten bieten.

Trotzdem erfreut sich Self-Tracking ungebrochener Beliebtheit. Nicht Datenschutz und Datenminimierung, sondern die ungebremste Offenlegung ganz privater Daten sind Kennzeichen einer Bewegung, die ihr Leben von der Arbeit über das Joggen bis zum Schlaf von digitalen Geräten minutiös aufzeichnen und überwachen lässt und die Daten dann noch via Facebook weiterverbreitet.

Simon Schaupp hat in seinem kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienenem Buch „Digitale Selbstüberwachung. Self Tracking im kybernetischen Kapitalismus“[2] dieses Phänomen eingeordnet: in die Bemühungen nämlich, den Kampf gegen alles, was die reibungslose Anpassung an die kapitalistischen Erfordernisse und Zumutungen behindert, ins eigene Individuum zu verlagern.

„Denn im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Jogginggrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen.“

Schaupp zeigt in dem Buch anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie diese Selbstkonditionierung funktioniert. So findet man auf der Homepage des Self-Tracking-Anbieters Runtastic[3] solche Selbstbezichtigungen:

Gegen mich selbst anzutreten und mein Bestes zu geben macht Spaß und ist dank der Rekorde-Funktion auch ganz easy! Es fühlt sich toll an, meine eigenen Bestleistungen immer wieder zu unterbieten und meine neuesten Rekorde auf Runtastic.com zu bewundern.

Runtastic-User

Jede Woche warte ich gespannt auf meinen Fitnessbericht. Grüne Zahlen & Pfeile motivieren mich immer wieder aufs Neue! Ich will mich ja schließlich jede Woche verbessern!

Runtastic-User

„Entdecke die Geheimnisse des Superhelden“, fordert eine andere Werbeseite[4] für potentielle Selbstoptimierer, die immer und überall die Gewinner sein wollen. Auch Diätprogramme[5] arbeiten nach dem Prinzip, wonach mit Disziplin und mit eisernen Willen alles zu schaffen sei. Da ist es nur konsequent, dass ein Zeitsoldat das Abnehmen zu einer Frage der Disziplin erklärt. Auf anderen Self-Tracking Werbeanzeigen finden sich Bergsteiger, die mit Erfolg und vielen Strapazen einen Gipfel erklommen haben.

Es ist bezeichnend, das mit Bergsteigern und Soldaten zwei Gruppen Role-Models für das Self-Tracking sind, die immer wieder auch Tote und Schwerverletzte zu verzeichnen haben. Die Botschaft ist klar: Beim Rattenretten im kapitalistischen Alltag ist Schonung von Gesundheit und Leben etwas für Loser und Versager. Und sie sind in der Werbewelt der Self-Tracker wohl auch das Schlimmste, was man sich denken kann.

Sehr überzeugend hat Schaupp den Begriff des kybernetischen Kapitalismus als Bezeichnung der aktuellen Regulationsphase eingeführt, der, anders als bekannte Begriffe wie Postfordismus, deutlich macht, dass weiterhin die kapitalistische Verwertung dominiert. Die These von Schaupp lautet, dass das Self-Tracking „Teil einer kapitalistischen Landnahme ist, im Zuge derer sich Unternehmen die Produkte unbezahlter Arbeit in Form von Daten aneignen und als Waren verkaufen“.

Der Soziologe interpretiert den kybernetischen Kapitalismus als Reaktion auf die systemischen Notstände des Postfordismus, wie den Zwang zur ständigen Rationalisierung und der Ausweitung der Warenproduktion. Hier liefert Schaupp einen materialistischen Erklärungsansatz für den Tracking-Boom. Wenn der kapitalistische Imperativ „Du bist nichts, Deine Arbeitskraft ist alles“ verinnerlicht ist, können die ideologischen Staatsapparate, die seit Beginn des Kapitalismus mit Ideologie und Repression dafür gesorgt haben, dass sich die Subjekte der Kapitallogik beugen, etwas in den Hintergrund treten. Verschwinden werden sie aber nicht.

Die Situation ist vergleichbar mit einer Großdemonstration, bei der die eigenen Ordner für Ruhe und Ordnung sorgen. Dann bleibt die Polizei manchmal in den Seitenstraßen und ist im ersten Augenblick nicht sichtbar präsent. Da aber auch da immer die Möglichkeit besteht, dass die störrischen Elemente die Oberhand gewinnen, ist sie jederzeit einsatzbereit. Nicht anders ist der Umgang mit der individuellen Polizei. Wenn es jemand nicht mehr so angenehm empfindet, immer und überall kapitalgerecht zu agieren, gibt es vielfältige Druckmittel von außen.

Viele Self-Tracking-Technologien werden schon längst von diversen Firmen zur Totalüberwachung der Beschäftigten eingesetzt. „RescueTime ist eine Aufklärungsanwendung für Firmen, die Manager informiert hält über ihre wertvollste Ressource“, heißt auf der Webseite der Zeitmanagement-Software[6].

Die Überwachung wird dann als Kultur der Arbeitsplatztransparenz schöngeredet. Tatsächlich handelt es sich um eine einseitige Form der Transparenz. Der Kapitalbesitzer bekommt den Zugriff auch auf die letzten Geheimnisse der Lohnabhängigen. In den fordistischen Arbeitsverhältnissen gab es immer noch einige Nischen, wo sich die Beschäftigten zumindest für kurze Zeit dem Diktat der Maschinen entziehen konnten. Das fällt im Zeitalter der neuen Technologien immer schwerer.


Längst haben Politik und Wirtschaft Druckmittel in Stellung gebracht, falls die Freiwilligkeit nicht mehr gewährleistet ist. Schon hat das Gesundheitsministerium in Großbritannien Ärzte aufgefordert, sie sollten ihren Patienten Self-Tracking-Anwendungen verschreiben, „damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen“.

Schon längst haben die Krankenkassen begonnen, besonders eifrige Self-Tracker mit Prämien zu belohnen. Wer nicht mitmacht, zahlt mehr. Auch die Europäische Kommission setzt angesichts von prognostizierten 3,4 Milliarden Menschen, die 2017 ein Smartphone benutzen, große Hoffnungen darauf, dass mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget erzielt werden können.

Hier wird schon deutlich, dass in der nächsten Zeit Self-Tracking-Methoden Teil der Politik werden können. Wer sich dem verweigert, muss zumindest mit höheren Krankenkassenprämien rechnen. Es könnte allerdings durchaus auch staatliche Sanktionen für Tracking-Verweigerer geben.

In der Öffentlichkeit werden sie schon jetzt als Menschen klassifiziert, die mit ihrer Lebensweise unverantwortlich umgehen und die sozialen Systeme unverhältnismäßig belasten. Unter dem Begriff Quantified Self hat der Publizist Sebastian Friedrich[7] die unterschiedlichen Tracking-Methoden in sein kürzlich erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft[8] aufgenommen.

Es steht dort neben Einträgen wie „Rennrad“ oder „Marathonlauf“, die in kurzen Kapiteln als Teil der neoliberalen Alltagspraxis vorgestellt werden. Die Stärke des Büchleins besteht darin, Alltagsbeschäftigungen aufzunehmen, die sich auch im kritischen Milieu reger Zustimmung erfreuen und die oft gar nicht mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht werden.

Dabei zeigt Friedrich überzeugend, wie der erste Marathonlauf in New York wenige Hundert Interessierte anlockte, bevor er zu jenen Massenaufläufen wurde, die heute weltweite ganze Stadtbereiche lahmlegen. Mittlerweile beteiligen sich daran ganze Firmenbelegschaften daran, die so ihre Leistungs- und Leidensfähigkeit unter Beweis stellen. Eine Verweigerung würde sich wohl äußerst negativ für die Karriere auswirken. Das ist auch ein zentraler Begriff im Lexikon der Leistungsgesellschaft.

Im letzten Kapitel seines Buches stellt Schaupp die Frage, ob in einer Gesellschaft, die nicht von der Kapitalverwertung bestimmt ist, Self-Tracking-Methoden in emanzipatorischem Sinne verwendet werden könnte. Doch eine Antwort gibt er darauf nicht.

Dabei hätte er vielleicht einen Hinweis darauf geben können. Der von ihm mehrfach zitierte Stafford Beer, ein wichtiger Theoretiker der Kybernetik, war auch in Chile unter der Regierung der sozialistischen Regierung Allende an einem Projekt[9] beteiligt, das eine wirtschaftliche Planung mit Hilfe kybernetischer Methoden erproben sollte.

Dadurch sollte eine Planung mit den Belegschaften und großer Teile der Bevölkerung gewährleistet werden. Der rechte Putsch gegen die Unidad-Popular-Regierung beendete diesen Versuch, Kybernetik in emanzipatorischem Sinne zu nutzen. Das durch den Roman von Sascha Rehs Roman „Gegen die Zeit“[10], in dem dieses Projekt im Mittelpunkt steht, wurde es auch hierzulande wieder bekannt[11].

Es ist schade, dass Schaupp darauf nicht zumindest kurz hinweist, weil in seinem theoretischen Teil Stafford Beer schließlich eine wichtige Rolle spielt.

Er stellt nur klar, dass Self-Tracking in den aktuellen Machtverhältnissen eine wichtige Rolle bei der Selbstzurichtung und Konditionierung des Subjekts für die Zumutungen des Kapitalismus spielt. Gerade diese Alltagspraxen der Leistungsgesellschaft sind eine Antwort auf die Frage, warum der Neoliberalismus so stark ist und selbst die Krisen der letzten Jahre scheinbar schadlos überstanden hat.

Schon lange wird die Phrase vom Neoliberalismus in den Köpfen strapaziert. Der Self-Tracking-Boom ebenso wie die Marathonwelle zeigt deutlich, was damit gemeint ist. Dann stellt sich auch die Frage, ob es nicht Zeit für eine Bewegung ist, die sich diesen Self-Tracking-Methoden bewusst verweigert.

Wenn Menschen offen erklären, sich nicht ständig optimieren zu wollen, nicht den Anspruch zu haben, immer mehr Rekorde und Höchstwerde aus sich herausholen zu wollen, dann würde sicher nicht gleich der kybernetische Kapitalismus in eine Krise geraten.

Aber man darf auch nicht vergessen, dass konservative Theoretiker die wachsende Alternativbewegung der 1970er Jahre für die Krise des Fordismus mitverantwortlich machten. So könnte auch eine No-Tracking-Bewegung zumindest das Image ankratzen, das sich heute alle ganz freiwillig und mit großer Freude für den Sport, das Unternehmen und die Nation Opfer bringen.

Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Self-Tracking-und-kybernetischer-Kapitalismus-3491907.html?view=print


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Links in diesem Artikel:
[1] http://turn-de.academia.edu/SimonSchaupp
[2] http://www.graswurzel.net/verlag/digital.php
[3] https://www.runtastic.com/de/premium-mitgliedschaft/info
[4] https://www.flowgrade.de/
[5] http://www.fitforfun.de/tests/ausprobiert/abnehmen/weight-watchers-abnehmen-in-der-punkte-welt_aid_13221.html
[6] https://www.rescuetime.com/
[7] http://www.sebastian-friedrich.net/
[8] https://www.edition-assemblage.de/lexikon-der-leistungsgesellschaft
[9] http://www.cybersyn.cl/imagenes/documentos/textos/Eden%20Medina%20JLAS%202006.pdf
[10] https://www.schoeffling.de/buecher/sascha-reh/gegen-die-zeit
[11] http://www.deutschlandradiokultur.de/sascha-reh-gegen-die-zeit-ein-historisches-experiment.950.de.html?dram:article_id=328089

Aus der Reihe getanzt

»Anna Estorges dite Rirette Maîtrejean 1887 – 1968« steht auf der Gedenktafel eines Urnengrabs auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. Dort liegt die in Deutschland bisher unbekannte französische Anarchistin begraben.

Lou Marin hat nun im Verlag Graswurzelrevolution die erste deutschsprachige Biographie von Rirette Maitrejean herausgebracht. Damit erinnert er an eine jahrzehntelang in der anarchistischen Bewegung tätigen Frau, die bald aus der Reihe tanzte und dafür in den eigenen Kreisen angefeindet wurde. Schließlich hatte sie eine scharfe Kritik an dem Flügel der anarchistischen Bewegung formuliert, der vor mehr als 100 Jahren Attentate, bewaffnete Raubüberfälle und Bombenanschläge als »Propaganda der Tat« verherrlichte.

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Wenn deutsche Geopolitik mit Menschenrechtspolitik verwechselt wird

Warum besuchen die Bundesabgeordneten nicht Grup Yorum statt einen Bundeswehrstandort, wenn sie sich für die Menschenrechte in der Türkei einsetzen wollen?

Spätestens seit der Repression gegen die liberale Presse in der Türkei ist die Kritik an der Menschenrechtspolitik der Erdogan-Regierung wieder unüberhörbar. Der Streit, wie sich die deutsch-türkische Kooperation gestalten soll, wird wieder lauter.

Oppositionspolitiker und Medien monieren, dass die Erdogan-Regierung schon viele rote Linien überschritten habe, und rufen dazu auf, die Beziehungen mit ihr zu überdenken. So fragt die Badische Zeitung in einen Kommentar nach einer roten Linie:

Wie sollen die Partner und Verbündeten der Türkei damit umgehen? Erdogan testet offenbar aus, wie weit er gehen kann. Er weiß: Die EU braucht ihn in der Flüchtlingskrise. Das stimmt. Aber es darf kein Freibrief für den Staatschef sein, der immer mehr zum Despoten mutiert. Die Europäer müssen Erdogan genauer auf die Finger sehen. Deutsche Abgeordnete sollten nicht nur die Bundeswehrsoldaten in Incirlik besuchen, sondern sich auch für die Zustände in türkischen Gefängnissen, das Schicksal verhafteter Journalisten und Foltervorwürfe interessieren.

Badische Zeitung[1]

Die Zeitung spricht im letzten Satz tatsächlich ein reales Problem an. Politiker aller Parteien, einschließlich der doch vorgeblich bundeswehrkritischen Linken[2], melden sich in den letzten Wochen zum Besuch auf dem Bundeswehrstützpunkt Incirlik an und beschweren sich, wenn der Besuch von der türkischen Regierung verweigert oder verzögert wird. So können sich die Politiker der unterschiedlichen politischen Parteien auch noch ein wenig als Opfer des Erdogan-Regime gerieren. Doch was hat der Truppenbesuch eigentlich mit der türkischen Menschenrechtspolitik zu tun?

Dass deutsche Abgeordnete überall dort selbstverständlich Einlass begehren, wo die die Bundeswehr ihr Camp aufgeschlagen hat, hat etwas mit deutschen Geopolitik sowie der Nato-Strategie zu tun. Es gibt seit Jahren Kritik an der Rolle der Bundeswehr in Incirlik sowohl in Deutschland[3] als auch in der Türkei. Vor allem dort ist die Kritik meist antimilitaristisch motiviert. Die Nato und die Bundeswehr verweisen[4] darauf, dass Incirlik eine wichtige Rolle beim Kampf gegen den IS spielt. Antimilitaristische Gruppen bezeichnen es hingegen als paradox, dass die Nato von dem Stützpunkt den IS bekämpft, während die türkische Regierung zumindest bis vor wenigen Monaten den IS unterstützte und noch heute andere Islamisten deckt.

Tatsächlich gäbe es für Bundeswehrbesuche von Abgeordneten, die sich mit Opfern der Repression des Erdogan-Regimes solidarisieren wollen, aktuell viele Orte, die sie besuchen können. Incirlik gehört nicht dazu.

Da wäre ein Istanbuler Kulturzentrum zu nennen, das am 21. Oktober von der Polizei gestürmt wurde, weil dort die linke türkische Band Grup Yorum gespielt hat. Nachdem die Polizei abgezogen war, hinterließen sie ein verwüstetes Kulturzentrum und zerschlagene Musikinstrumente. In dem Video „Zerschlagene Instrumente[5] ist zu sehen, wie die Musiker von Grup Yorum mit den zerstörten Instrumenten die Melodie eines in der Türkei beliebten Kampf- und Freiheitsliedes einstimmen.

Der Besuch eines Politikers, dem es um die Menschenrechte in der Türkei geht, bei der Band und in dem Kulturzentrum, wäre schon deshalb sehr hilfreich, weil die Repression gegen die international bekannten linke Band in den hiesigen Medien nicht erwähnt wurde. Diese selektive Wahrnehmung von Menschenrechtsverletzungen ist nicht verwunderlich. Schließlich verstehen sich die Musiker als Teil einer linken Bewegung, die in der Türkei seit Jahren die Schließung des Nato-Stützpunktes Incirlik fordert. Deswegen muss Grup Yorum auch in Deutschland mit Repressalien und rigiden Auflagen rechnen. Das letzte Beispiel war ein Konzert der Band in Fulda Anfang Juli[7]. So durften nach den Auflagen der Stadt[8] weder T-Shirts noch DVDs der Band verkauft oder durch Spenden weitergegeben werden. Auch eine Gage durfte der Band nicht gezahlt werden.Der Politiker der GrünenAnton Hofreiter[9], der wenige Stunden vor dem Auftritt der Band beim gleichen Fest eine Rede[10] gehalten hatte, ließ eine Pressenachfrage unbeantwortet, ob er von den Auflagen gegen die Grup Yorum Protest eingelegt hat. Da muss es nicht verwundern, wenn da auch kein Bundestagsabgeordneter in der Türkei die Band besucht, wenn ihre Konzerte gestürmt und ihre Instrumente von der Polizei zerschlagen werden. Sie besuchen lieber alle „unsere Truppe“ in der Türkei und verwechseln deutsche Geopolitik mit dem Kampf für die Menschenrechte in der Türkei.


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Peter Nowak

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.badische-zeitung.de/kommentare-1/leitartikel-nahe-an-der-roten-linie–129312038.html
[2] http://www.zeit.de/news/2016-09/21/deutschland-auch-linken-politiker-neu-reist-mit-bundestags-ausschuss-nach-incirlik-21120802
[3] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr-in-incirlik-omnid-nouripour-warnt-vor-eskalation-a-1103057.html
[4] http://www.einsatz.bundeswehr.de/portal/a/einsatzbw/!ut/p/c4/LYvBCoMwEET_KGtoIdSbwUuvvVR7kdUssjQmkq4VpB_fBJyBgZnHwAuyA355RuEY0EMH_cT1uKtxdzQQhw_KkSu-ZSPvz4nkIHiWsyM1xUBSUigI55wTSkxqjUl8IVtKmSh20Fe6tdpcq1P61xhjb53Wl_ZuH7AuS_MHlSnIzQ!!/
[5] http://weltnetz.tv/video/954-zerschlagene-instrumente
[6] https://www.facebook.com/grupyorum1985/posts/1145213442229550
[7] http://osthessen-news.de/n11535006/riebold-nennt-buergermeister-wehner-der-verlaengerte-arm-erdogans.html
[8] http://fuldawiki.de/fd/index.php?title=Stadtverordnetenversammlung_Juli_2016#Aktuelle_Stunde:_Auflagen_zu_Grup_Yorum_.28T.C3.BCrkische_Musikgruppe.29
[9] http://toni-hofreiter.de/
[10] https://www.gruene-fulda.de/verschiedenes/

Künstlerische Selbstjustiz gegen Google

Über das Elitebewusstsein von Hipster-Protesten

„You(Tube, Einf.d.A.) censors inside“ und „Demokratie ist in deinem Land nicht verfügbar #Erdogan# Türkei“  lauteten die Parolen[1], die am Dienstag auf die Google-Zentrale in Hamburg projiziert wurden.

Verantwortlich für den Lichtprotest ist das Künstlerkollektiv Pixelhelfer-Foundation[2], das auf seiner Homepage erklärt, man wollte mit den „Idealen der Freimaurer“ die Prinzipien der französischen Revolution verteidigen.

Unsere Selbstjustiz der Kunst bietet alle Möglichkeiten für eine nachhaltige Veränderung innerhalb der Gesellschaft.Pixelhelper

Pixelhelper

Mit der Lichtkunst-Aktion an der Google-Zentrale sollte gegen das zu Google gehörende Online-Video-Portal Youtube protestiert werden, das ein ZDF-Interview in der Türkei gelöscht hat, teilt der Lichtkünstler und Pixelhelper-Aktivist Oliver Bienkowski mit. Es ist nicht das erste Mal, dass die Lichtkünstler gegen Zensur, Menschenrechtsverletzungen und Geschichtsrevisionismus in der Türkei protestieren.

Lichtkunst-Aktion am Eingang zur Google-Zentrale. Bild: Pixelhelfer

Am  31. Mai 2016 machte das Künstlerkollektiv mit einer Aktion am Bundeskanzleramt auf den Umgang der türkischen Politik mit den Genozid an den Armeniern aufmerksam. Auch Zitate des berühmten Böhmermann-Schmähgedichtes, von dem sich der türkische Präsident Erdogan so sehr beleidigt fühlt, dass er noch immer gegen den Moderator klagt, hat Pixelhelper Ende Mai an die türkische Botschaft projiziert, nicht ohne darüber zu informieren, dass die Passagen vom Hamburger Landgericht erlaubt worden seien.

Mit einer ähnlichen Aktion an der Botschaft von Katar in Berlin wurde auf die desaströsen Bedingungen aufmerksam gemacht, mit denen die Stadien und Anlagen für die Fußball-Weltmeisterschaft von einen multinationalen Heer von Lohnabhängigen errichtete werden müssen.

Politisierung der Hipster?

Es handelt sich also um eine durchaus begrüßenswerte Erweiterung der Protestagenda, die hier vorgeführt wird. Sie könnte auch zu einer Politisierung der Hipster beitragen, die eben mit ihren Mitteln und unter ihren Bedingungen politischen Protest versuchen.

Doch, ähnlich wie neuere Kunstprotestaktionen, so z.B. das Zentrum für politische Schönheit[3], kommt auch Pixelhelper mit einem Gestus daher, als hätte man dort den politischen Protest erst erfunden und es hätte davor nichts gegeben.

Unsere Selbstjustiz der Kunst bietet alle Möglichkeiten für eine nachhaltige Veränderung innerhalb der Gesellschaft.Pixelhelper

Pixelhelper

Der selbstgewisse Ton, der anscheinend von keinem Zweifel angerührt wird, erinnert an Äußerungen von Zentralkomitees der unterschiedlichen kommunistischen Gruppen in der Vergangenheit, nur dass heute, wenn von Revolution die Rede ist, die bürgerliche Demokratie als Ziel gemeint ist. Dabei werden politisch äußerst fragwürdige Analogien gezogen. So wurde beim Lichtprotest an der türkischen Botschaft Erdogan mit Hitler-Bart ausgestattet.

„Pixelhelper reagiert auf die Gefängnisstrafe für Can #Dündar und Erdem #Guel in der Türkei. Eine Lichtprojektion von Adolf #Hitler und #Erdogan steht symbolisch für die schlimmen Verbrechen gegen die Menschenrechte die Erdogans Politik ausmachen“, heißt es zur Begründung. Ist den Verantwortlichen bis heute nicht aufgefallen, dass sie damit die Verbrechen des Nationalsozialismus relativieren, der eben nicht nur einige Intellektuelle und Journalisten ins Gefängnis gebracht hat?

Hier zeigen sich auch die politischen Grenzen der neuen Protestgruppen, die viel von Demokratie und Verteidigung des Humanismus reden, mit „Leidenschaft für eine bessere Welt“ eintreten, aber über Kapitalismus und Unterdrückungsverhältnisse nichts wissen wollen.

Bürgerliches Avantgardebewusstsein

Mit dem Zentrum für politische Schönheit teilen auch die Pixelhelper die Überzeugung, dass nur eine kleine Minderheit die Gesellschaft nachhaltig verändern kann. „Zweifeln Sie niemals daran, dass eine kleine Gruppe ernsthafter und engagierter Menschen die Welt verändern kann. Tatsächlich sind sie die einzigen, die dies vermögen“, wird auf der Homepage prominent die US-Ethnologin Margareth Mead[4] zitiert.

Nun ist es evident, dass kleine Gruppen von Menschen, wichtige Impulse für die Veränderung der Gesellschaft geben können. Dass sie aber die einzigen sein sollen, die das können, zeugt von einem bürgerlichen Elitebewusstsein, das gar nicht davon ausgeht, dass alle Menschen selber Geschichte schreiben und Verhältnisse kritisieren sollen – weil sie dazu angeblich nicht in der Lage sind?

Dieses Bewusstsein einer Elite für das Gute wird wiederholt, wenn Spenden mit dem Satz eingeworben werden: „Seien Sie dabei, wenn eine kleine Gruppe von Menschen eine große Veränderung in der Gesellschaft anstößt.“

Kommunistische Parteien hatten mit ihren Avantgardekonzept noch den Anspruch, eine Revolution voranzutreiben. Heute muss das bürgerliche Avantgardekonzept schon dazu herhalten, um die Menschenrechte zu verteidigen. Wenn die Ziele, die sich Pixelhelper setzt, tatsächlich nur noch die Sache einer kleinen Gruppe sind, dürfte es schlecht um die Verwirklichung aussehen.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49681/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

https://drive.google.com/drive/folders/0B56kcv_8jha2endLVTRMOWViYzg?usp=sharing

[2]

http://pixelhelper.org/de

[3]

http://politicalbeauty.de

[4]

http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/margaret-mead/

Peter Brückner und die deutschen Verhältnisse

Aus dem Abseits, Deutschland 2015, Regie: Simon Brückner. (Der Film wurde am 29.8.2016 in 3sat ausgestrahlt.)

Der Film Aus dem Abseits bringt uns einen linken Intellektuellen wieder näher, der zur Zielscheibe des Modell Deutschlands von Helmut Schmidt wurde.

Simon Brückner war vier Jahre alt, als sein Vater 1982 in Nizza einem schweren Herzleiden erlag. Fast 25 Jahre später macht er sich im Film Aus dem Abseits auf die Suche nach seinem abwesenden Vater. Er präsentiert uns einen weitgehend in Vergessenheit geratenen, linken Intellektuellen, der in den Jahren des Modells Deutschlands von Helmut Schmidt zur Zielscheibe von Mob, Politik und Justiz in der BRD geraten war. Zweimal wurde er suspendiert, mehrere Razzien musste er über sich ergehen lassen. Altnazis schrieben Brückner Drohbriefe, und als die Fernsehnachrichten seinen Tod meldeten, applaudierten brave Deutsche in einer Krankenhauskantine spontan, erzählt eine Brückner-Vertraute im Film.

Der Mob hasste in Brücker einen linken Intellektuellen jüdischer Herkunft, für den Revolution und schönes Leben zusammengehörten und der sich dabei auch mit machen linken zeitgenössischen Dogmatikern zerstritt. Simon Brückner geht zurück in die Kindheit seines Vaters, als seine jüdische Mutter Deutschland noch rechtzeitig verließ, aber ihren Sohn im Teenageralter zurückließ. Der hatte in der NS-Zeit am eigenen Leib erfahren, dass, zumal in Deutschland, das Abseits der einzig sichere Ort ist. Früh beobachtete er die NS-Volksgemeinschaft und merkte auch selbstkritisch an, dass ihn seine jüdische Herkunft davor bewahrte, Teil dieser Volksgemeinschaft zu werden. Er schrieb auch von der Faszination, die der Ausbruch aus dem spießigen Internat in die NS-Jungschar bedeutete.

Brückners frühe Jahre in der DDR

Doch schon bald überwog beim jungen Brückner die Abscheu vor dem NS. Er wird aus dem Internat geworfen und zieht nach Zwickau, wo er als Jugendlicher allein lebt, was in der damaligen Zeit eine absolute Ausnahme war. In Zwickau fand er auch Kontakt zum kommunistischen Widerstand, den er nach 1945, nachdem er den Faschismus mit viel Glück überlebt hatte, aufrechterhielt. Brückner trat in die KPD ein und begann unmittelbar nach dem Krieg mit dem Aufbau einer Sozialpsychologie im Interesse des Proletariats. Ein solch eigensinniger Kommunist in der DDR, das konnte nicht gutgehen.

Doch gerade zu diesem Lebensabschnitt hätte man sich mehr Nachfragen im Film gewünscht. Viele Fragen bleiben offen. Schließlich erfahren wir, dass Brückner als KPD-Mitglied gegen das Zusammengehen mit der Sozialdemokratie in die SED war. Da standen ja wohl andere Gründe dahinter, als dass SPD-Mitglieder ihren Antikommunismus pflegen wollten. War er also der Meinung, dass die Kommunisten nicht mit den Reformisten der SPD kooperieren sollen? Ob sich da noch Forscher finden, die nach den einschlägigen Dokumenten suchen? Lebt vielleicht noch jemand von dieser Zwickauer Clique und kann sich noch an Brückner erinnern?

Im Film bleibt hier eine Leerstelle. Wir erfahren nur, dass bei Brückner eine Tuberkulose wieder ausbrach. Seine mit den britischen Alliierten nach Deutschland zurückgekehrte Mutter sorgte dafür, dass er in den Westen kam. Doch die Beziehung zur Mutter hielt nicht lange. Er brach den Kontakt ab. Es werden Ausschnitte aus seinen frühen Briefen zitiert, die zeigen, dass Brückner seiner Mutter nicht verzieh, dass sie ihn allein in Deutschland zurückgelassen hatte und ein Geschenk, das er ihr als Zehnjähriger besorgte, achtlos weggeworfen hatte.

Brückner hat wenig über diese frühen Jahre erzählt. Selbst seine letzte Lebensgefährtin, Barbara Sichtermann, wusste von Brückners Vorleben nach ihren Angaben nichts. Doch es ist durchaus verständlich, dass er damit nicht hausieren ging. Schließlich wird im Film ein Brief zitiert, aus dem hervorgeht, dass er nicht in eine Organisation der Verfolgten des Naziregimes eintreten wollte, weil er sich nicht als Opfer sah.

Dass er seine DDR-Geschichte nicht bekannt machte, dürfte zwei Gründe gehabt haben: Als früheres KPD-Mitglied wäre er in der Adenauerära noch mehr ins gesellschaftliche Abseits geraten. Zugleich gerierte er sich nicht als kommunistischer Renegat. Er gehörte wie Heiner Lipphardt und Ernst Bloch zu den linken Kritikern des Stalinismus und Nominalsozialismus, die sich weigerten, als Kronzeugen für den real existierenden Kapitalismus zu dienen. Da ist sein Schweigen verständlich.

Irritierender ist ein Interview mit einer Freundin und Kommune-Mitbewohnerin im Westberlin der 60er Jahre, die berichtet, dass Brückner körperliche Zuwendungen von der Frau forderte, und wenn sie sich weigerte, regte er sich so auf, dass sie befürchtete, er bekomme einen Herzinfarkt. Sie fühlte sich sexuell erpresst. Es ist erfreulich, dass Simon Brückner auch diese Seite seines Vaters nicht unerwähnt lässt.

Lang lehre Peter Brückner

Viel Raum nimmt natürlich der linke Intellektuelle Brückner ein. Wir sehen ihn in Teach-Ins, als Kundgebungsredner, bald auch in eigener Sache. Denn er gehörte zu denen, die, als der Staat mit Repression drohte, nicht klein beigaben sondern kämpften, und so auch Protagonist einer Solidaritätsbewegung wurden, die über die BRD hinausging. «Lang lehre Peter Brückner» lautete die Parole vieler Demonstrierenden in jenem deutschen Herbst, dessen Protagonist Helmut Schmidt im November letzten Jahres gestorben ist und mit viel Lob bedacht wurde. So ist Simon Brückners Film auch ein Antidot zur Schmidtomanie, die den Mann, der im Notstandsfall mal nicht in die Gesetzbücher gucken wollte und von dem der Spruch stammt, dass die Wehrmachtsangehörigen gut harmonierten, zur Lichtgestalt stilisierten.

Aus dem Abseits gibt denen, die im Schmidtschen «Modell Deutschland» ausgegrenzt und kriminalisiert wurden, ein Forum. Der Film zeigt auch die Folgen der Kriminalisierung. So begann Barbara Sichtermann mit ihrer Arbeit als Schriftstellerin, weil nach Brückners Entlassung das Geld fehlte. Für seinen Nizza-Urlaub musste er einen Kredit aufnehmen. Gerade weil der Film von Simon Brückner ein Spurensucher seines Vaters und eines linken Intellektuellen ist, bleiben viele Fragen offen. Das ist aber gut so und könnte dazu führen, dass auch wieder die Bücher von Brückner gelesen werden. Das wäre erfreulich, weil sich dort viele nützliche Anregungen für alle Menschen finden, die sich vom scheinbaren kapitalistischen Endsieg nicht dumm machen lassen und weiterhin überzeugt sind, dass die Welt unvernünftig eingerichtet ist und es eine Revolution braucht, um das zu verändern.

Seit einigen Jahren trifft sich alljährlich ein Kreis von Interessierten zum Peter-Brückner-Kongress. Der Aktualität Bruckners wurde ein Buch gewidmet. Der Film könnte jetzt helfen, dass der Kreis derer, für die die Parole «Lang lehre Peter Brückner» größer wird.

PDF Version Artikellink per Mail Drucken Soz Nr. 10/2016 |
http://www.sozonline.de/2016/10/peter-brueckner-und-die-deutschen-verhaeltnisse/

Peter Nowak

Unter Schutz gestellt – und abgerissen

GENTRIFZIERUNG Friedrichshainer Geschichtsverein kritisiert Abriss von zwei denkmalgeschützten Häusern in der Rigaer Straße

Die Zukunft des sozial-, industrie-und baugeschichtlich interessanten Bauobjektes ist immer noch ungewiss“: So wird, ein wenig umständlich, im Programmheft des Landesdenkmalsamts (LDA) zum Tag des Offenen Denkmals eine Exkursion zu den Eckert’schen Häusern in der Rigaer Straße 71–73 beworben. Wanja Abramowski vom Friedrichshainer Geschichtsverein
Hans Kohlhase e. V. leitet die Tour – und spricht von einer bewussten Irreführung durch das Landesdenkmalamt. „Zu dieser Führung hat das Landesdenkmalamt in seinem Programmheft einen Text veröffentlicht, in dem entgegen den Tatsachen behauptet wird, die Zukunft des Denkmalobjektes sei ungewiss, obwohl es bereits vor Redaktionsschluss des Programmhefts abgerissen wurde“, kritisiert Abramowski. Tatsächlich ist von den 1875 errichteten Eckert’schen Häusern nur noch ein Trümmerhaufen zu sehen. Am 30. Juni sind die Häuser überraschend abgerissen worden. Nachdem der 2008 vom Friedrichshainer Geschichtsverein beantragte Denkmalschutz von der damals im Bezirk regierenden SPD abgelehnt wurde, hatten die Grünen die ältesten Häuser im Friedrichshainer Nordkiez vor zwei Jahren dann doch noch unter Denkmalschutz
gestellt. Für Abramowski war das aber nur ein taktisches Manöver des Bezirks im Zuge der Verhandlungen mit dem neuen Investor für das Grundstück:  Abramowski spricht von Denkmalschutz für den Abriss. Auf dem Areal plant die CGGruppe
ein Nobelobjekt, das sie als Carree Sama Riga bewirbt. In den letzten Wochen hatte die Stadtteilinitiative „Keine Rendite
mit der Miete“ mehrere Protestaktionen gegen den geplanten Neubau organisiert, durch den die AnwohnerInnen Mietsteigerungen im Kiez befürchten. Am kommenden Samstag organisieren die AnwohnerInnen ein Straßenfest in der Rigaer
Straße, auch der Widerstand gegen den Neubau soll dort thematisiert werden.

aus taz vom 12.9.2016
PETER NOWAK

»Wir waren die ersten Mitstreiter«

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Der Umsetzer, Westberlin 1976, 75 Min.

Antonia Lerch und Benno Trautmann drehten vor 40 Jahren den Film »Der Umsetzer«. Er behandelt die Vertreibung von Mietern aus den Westberliner Stadtteilen Wedding und Kreuzberg. 1976 hatte er Premiere, erregte einiges Aufsehen und gewann diverse Preise. 40 Jahre später wurde er wiederentdeckt.

Sie haben 1976 mit Ihrem Film »Der Umsetzer« Furore gemacht. Was war der Gegenstand des Films?

Lerch: Es ging um die Stadtzerstörung in Westberlin, um die Zerstörung von Stadtvierteln und alten Häusern, die man nur hätte renovieren müssen. Diese Zerstörung hat dann auch die alten Nachbarschaften, das ganze soziale Gefüge kaputtgemacht.

In vielen Filmrezensionen wird erwähnt, dass Sie den Film ohne finanzielle Förderung gedreht haben. Wie haben Sie ihn finanziert?

Lerch: Wir haben Mama, Papa, Bruder, Schwester, den Onkel und die Tante angepumpt. Außerdem haben wir Film­aktien für 100 Mark an Verwandte und Freunde verkauft. Es war aber eine Lachnummer, weil unsere Reisekosten und die Kosten für den Druck ungefähr so hoch waren wie die Einnahmen aus dem Verkauf der Filmaktie. Die Schauspieler haben umsonst gearbeitet, weil sie das Thema wichtig fanden. Alle Leute hinter der Kamera haben auf einen Teil ihrer Gage verzichtet.

Antonia Lerch und Benno Trautmann

Antonia Lerch und Benno Trautmann (Foto: privat)

Trautmann: Das Kopierwerk, der Kameraverleih und andere Firmen haben uns unterstützt. Am Ende hatten wir aber trotzdem 100 000 Mark Schulden. Diese Schulden konnten wir ein Jahr später durch den Verkauf des Films wieder zurückzahlen.

Wie haben die Wohnungsbaugesellschaften und die Politik auf den Film reagiert?

Lerch: Der Berliner Wohnungsbausenator und die Wohnungsbaugesellschaften haben mit einstweiligen Verfügungen reagiert. Sie wollten die Ausstrahlung des Films im ZDF verbieten. Aber der Intendant des ZDF war so mutig, die einstweiligen Verfügungen zurückzuweisen und den Film zu zeigen.

Im Märkischen Viertel, wohin viele Mieter aus dem Wedding umgesiedelt wurden, hat sich in den siebziger Jahren ein über Jahre währender Mieterwiderstand entwickelt. Hatten Sie Kontakt zu rebellischen Mietern?

Lerch: Ja, von Anfang an bis zum Ende der Dreharbeiten. Die Pointe des Films: Ein alter Nachtwächter rebellierte gegen seine Umsetzung, solange es ging. Schlussendlich wurde das Haus doch abgerissen. Er war der letzte Mieter im Haus. Alle anderen hatten schon aufgegeben. Er hielt durch, obwohl Gas und Strom abgestellt wurden. Er wurde schließlich von Polizei und Feuerwehr aus seiner Wohnung geholt. Auch in Kreuzberg gab es Mieter, die rebellierten. Aber auch sie wurden letztlich exmittiert und die Häuser wurden gesprengt.

Im Film stehen die Ohnmacht und die Resignation der Mieter vor der Allmacht der Wohnungsbaugesellschaften und ihres Umsetzers im Mittelpunkt. Erst ganz am Ende zeigt sich widerspenstiges Verhalten von Mietern. Wollten Sie damit deutlich machen, dass Mieterprotest vor 40 Jahren eher die Ausnahme war?

Lerch: Es gab sehr viel Widerstand. Wir waren Teil dieses Widerstands und wir haben zusammen mit anderen Aktionen und mit diesem Film politisch etwas erreicht. »Der Umsetzer«, der erfolgreich wochenlang in zwei Kinos in Berlin und auch in anderen Städten gezeigt wurde, hat sogar die ganze Politik der sogenannten Stadtsanierung, die wir Zerstörung nennen, verändert. Aber leider war es fast schon zu spät, zu viele Häuser waren ja schon zerstört. Immerhin haben wir, zusammen mit anderen Aktionen, den Abriss von drei Häusern in der Kohlfurter Straße in Kreuzberg verhindert. Das wurde damals groß gefeiert.

Ihr Film gewann zahlreiche Preise und wurde in vielen Zeitungen besprochen. Gab es auch Interesse von Mieterinitiativen und sozialen Bewegungen?

Lerch: Ja. Das Interesse besteht ja bis heute.

Die Jury der Evangelischen Filmarbeit schrieb bei ihrer Preisverleihung, dass der Film eine Kritik an der Verplanung von Menschen und einer wachsenden Bürokratie leiste. Ist das auch eine Kritik am sozialen Wohnungsbau, der mit dem Anspruch antrat, moderne gesunde Wohnungen für alle zu bauen, während manche Menschen lieber in ihren unsanierten Altbauwohnungen mit Außenklo bleiben wollten?

Lerch: Das ist eine Kritik an den Wohnungsbaugesellschaften. Sie haben Propaganda gemacht. Es war reine Lügenpropaganda. Die Wohnungsbaugesellschaften haben nur die Interessen der Bauindustrie vertreten, niemals die Interessen der Mieter. Man hat ihnen Badezimmer und größere Wohnungen versprochen, bekommen haben sie aber viel kleinere und teurere Wohnungen. Ein Kind bekam ein sieben Quadratmeter großes Kinderzimmer. So viel ist auch für einen Hund vorgeschrieben. Und dazu hat man die Menschen aus ihrem sozialem Umfeld, ihrem Kiez, an den Stadtrand vertrieben. Das war besonders für alte Menschen ein Desaster.

Aber war das Leben in den Altbauten die Alternative?

Lerch: Ihre Wohnungen hätten nur saniert werden müssen, dann hätten sie auch ein Badezimmer mit Klo bekommen, und sie hätten ihr soziales Umfeld behalten. Aber sie wurden, wie es auch heute wieder passiert, an den Stadtrand vertrieben.

Vier Jahrzehnte nach der Premiere wird »Der Umsetzer« auf Mieterveranstaltungen und in Programmkinos wiederentdeckt. Verwundert Sie diese Wiederentdeckung?

Lerch: Wir sind nicht verwundert. Es freut uns, das ist ein Revival des Films. Er weckt auch das Interesse der Mieter, die jetzt ähnliche Probleme haben. Sie fliegen auch aus ihren Wohnungen, nur aus anderen Gründen. Sie fliegen aus ihren Wohnungen, weil sie zu Eigentumswohnungen gemacht werden, was damals nicht der Fall war. Unser Haus ist saniert worden mit Geldern der Stadt, wir sagten: kaputtsaniert. Nach Ablauf von zehn Jahren hat der Eigentümer das Recht, die sanierten Wohnungen in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Der Film trifft den Nerv der Zeit. Es ist auch eine Wiederholung der Desaster von 1975. Jetzt geht es um Kapitalvermehrung und Privatinteressen von Eigentümern: Investoren aus China, Dänemark, Italien, Griechenland, Großbritannien, den USA, aber auch Deutschland wollen Wohnungen kaufen und die Miete erhöhen.

In den vergangenen beiden Jahren wurden Filme wie »Mietrebellen« und »Verdrängung hat viele Gesichter« vor einem großen Publikum gezeigt. Sehen Sie sich da nicht in der Rolle der Pioniere des Mieterfilms in Berlin?

Lerch: Wir waren die ersten Mitstreiter, ganz am Anfang der Geschichte. Wir haben unsere Wohnung verteidigt. Wir wohnen in Kreuzberg, damals wie heute. Damals wurde in unserer Nachbarschaft ein Haus nach dem anderen gesprengt. Tag für Tag.

Wie haben Sie das Material für den Film zusammengetragen?

Trautmann: Wir lebten mittendrin. So ist unser Erstlingsfilm entstanden. Wir waren Studenten. Rechts und links fielen die Häuser. Wir haben uns plötzlich konfrontiert gesehen mit dieser Geschichte. Wir haben Soziologen, Stadtplaner, Architekten und Mieter bei den Mieterversammlungen kennengelernt. Sie haben uns ihre Geschichten erzählt und wir haben uns engagiert. Wir sind 1974 in unsere Wohnung eingezogen, jeden Tag wurden Häuser gesprengt. Wir sind Filmemacher, und wenn man über diese Geschichte keinen Film macht, muss man schon saublöd sein. Ich schrieb dann ein Drehbuch. Wir haben bei verschiedenen Wohnungsbaugesellschaften recherchiert, wir haben mit den sogenannten Umsetzern geredet, um herauszufinden, wie sie arbeiten. Irgendwann rief irgendeine Wohnungsbaugesellschaft an und machte uns ein Angebot, das wir ablehnen mussten: Sie wollten uns für 10 000 Mark kaufen.

Könnten Sie sich vorstellen, einen aktuellen Mieterfilm zu drehen?

Lerch: Ja.

Interview: Peter Nowak

Im Rahmen der Filmreihe »Wohnraum Berlin – Mieterkämpfe, Spekulation, Verdrängung« ist der Film »Der Umsetzer« am Montag, dem 26. September, und Mittwoch, dem 28. September, jeweils um 17 Uhr in Berlin im Lichtblickkino in der Kastanienallee 77 zu sehen. Am 14. September wird er um 20 Uhr in der Kollekivbar in der Pflügerstraße 52 in Neukölln gezeigt.

http://jungle-world.com/artikel/2016/36/54819.htm

Interview: Peter Nowak

FPÖ verliert in erster Instanz gegen Filmpiraten

Einen ersten juristischen Erfolg erzielte das Erfurter Kollektiv Filmpiratinnen und Filmpiraten e.V. gegen die Freiheitliche Partei Österreich (FPÖ). Das Wiener Handelsgericht wies eine Klage der FPÖ zurück, die die Existenz des linken Medienkollektivs gefährdet hätte. Die rechte Partei hatte die Videoaktivist_innen vor dem Handelsgericht wegen falscher Anschuldigungen und Behinderung der Meinungsfreiheit verklagt. Dabei hatten die Filmpiraten nur ihr Urheberrecht verteidigt. Auf dem Kanal FPÖ-TV wurden ohne ihre Zustimmung und ohne Nennung der Quellen Ausschnitte eines Videoberichts der Filmpiraten zum Fall des Jenaer Antifaschisten Josef F. verwendet.Der Student wurde 2013 bei einer Demonstration gegen den von der FPÖ organisierten Wiener Akademikerball unter der Beschuldigung des schweren Landfriedensbruchs festgenommen und saß trotz unklarer Beweislage monatelang in Untersuchungshaft. Die Filmpiraten forderten von der FPÖ eine Unterlassungserklärung, ihr Videomaterial nicht mehr zu verwenden.

Die nun vom Handelsgericht abgewiesene Anzeige war eine Retourkutsche der rechten Partei. „Bei der Verwendung von urheberrechtlich geschütztem Material ist in aller Regel davon auszugehen, dass dies nicht unbeschränkt und frei von jeglichen Restriktionen geschehen kann“, belehrt Richter Heinz-Peter Schinzel in der Urteilsbegründung die FPÖ-Juristen. Der Richter teilt auch die Befürchtung der Filmpiraten, dass die Verwendung ihres Materials durch die FPÖ den falschen Eindruck entstehen lassen könne, das antifaschistische Videokollektiv billige die Berichterstattung der rechten Partei. Jan Smendek vom Verein Filmpiraten bezeichnet die Abweisung der FPÖ-Klage gegenüber „M“ als ersten Schritt in die richtige Richtung. Weil die FPÖ Berufung gegen das Urteil eingelegt hat, sei es aber noch zu früh, von einem endgültigen Erfolg zu sprechen.

FPÖ verliert in erster Instanz gegen Filmpiraten

M-Logo Menschen Machen Medien Schriftzug

von Peter Nowak

Juristische Schlappe für FPÖ

Erster Erfolg für Erfurter Filmpiraten im Streit mit österreichischer Rechtspartei

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Demonstranten protestieren in Wien gegen den Akademikerball der FPÖ
Foto: dpa/Herbert P. Oczeret

Einen ersten juristischen Erfolg hat das Erfurter Kollektiv Filmpiraten gegen die rechtspopulistische Freiheitliche Partei Österreich (FPÖ) erzielt. Das Wiener Handelsgericht wies eine Klage der FPÖ zurück, die womöglich die Existenz des Medienkollektivs gefährdet hätte, das der außerparlamentarischen Linken nahesteht. Die rechte Partei hatte die Filmaktivisten vor dem Handelsgericht wegen falscher Anschuldigungen und Behinderung der Meinungsfreiheit verklagt. Dabei hatten die Filmpiraten lediglich ihr Urheberrecht verteidigt.

In dem Fall ging es um ein Verfahren gegen den Jenaer Antifaschisten Josef S. in Wien. Die österreichische Justiz hatte dem Studenten schweren Landfriedensbruch bei Protesten gegen den Akademikerball im Jahr 2013 vorgeworfen. Dazu lädt die rechtspopulistische FPÖ alljährlich Ende Januar Politiker der rechten Szene Europas ein. Wegen der monatelangen Untersuchungshaft trotz unklarer Beweislage sprachen Menschenrechtsorganisationen von einer Kriminalisierung des Antifaschisten. Der Jenaer Oberbürgermeister Albrecht Schröder (SPD) verlieh S. einen Preis für Zivilcourage.

Die FPÖ stellte Ausschnitte eines Videoberichts der Filmpiraten über den Prozess gegen Josef S. und die Preisverleihung auf ihren Kanal FPÖ-TV. »Sie haben die Aufnahmen in einen neuen Kontext gesetzt und gleichzeitig gegen die CC-Lizenz verstoßen, die nicht-kommerzielle Nutzung und Weitergabe unter gleichen Bedingungen voraussetzt«, sagte der Videojournalist Jan Smendek vom Verein der Filmpiraten dem »neuen deutschland«.

Die nun vom Handelsgericht abgewiesene Anzeige war eine Retourkutsche der rechten Partei. Bei der Verwendung von urheberrechtlich geschütztem Material sei in aller Regel davon auszugehen, dass dies nicht unbeschränkt und frei von jeglichen Restriktionen geschehe, erklärte Richter Heinz-Peter Schinzel in der Urteilsbegründung. Der Richter äußerte auch Verständnis dafür, dass durch die Verwendung des Materials durch die FPÖ der falsche Verdacht entstehen könnte, dass die antifaschistischen Filmpiraten die Berichterstattung der rechten Partei billige.

Jan Smendek nannte die Abweisung der FPÖ-Klage einen kleinen Schritt in die richtige Richtung. Doch noch sei es zu früh, von einem Erfolg zu sprechen. Denn die FPÖ hat Berufung gegen das Urteil eingelegt. Der juristische Streit geht also weiter. Die Filmpiraten seien ein kleiner Verein, für den ein teures und zeitaufwendiges Verfahren schwierig sei, erklärt Smendek. »Wahrscheinlich ist dies genau die Intention der FPÖ.«

Er verweist auf die hohen Gerichtskosten, die den Filmpiraten durch das Verfahren bereits entstanden seien. »Nur durch eine Spendenkampagne konnten wir das durchstehen«, so der Videojournalist.

Auch in Österreich überzieht die FPÖ linke Kritiker mit Klagen, beispielsweise die »Initiative Heimat ohne Hass«, die Zeitschrift »Linkswende« und den österreichischen Datenforensiker Uwe Sailer, der sich seit Jahren gegen die FPÖ engagiere. »Die durch die österreichische Parteienfinanzierung solvente Partei versucht, ihre Kritiker mit den Klagen finanziell unter Druck zu setzen«, vermutet ein Autor in der »Linkswende«.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1024373.juristische-schlappe-fuer-fpoe.html

Peter Nowak

Zwischen den Zäunen


GARTENKINO Im Sommer sind die Laubenkolonien in Berlin besonders einladend für Spaziergänge. In ihrem Film „Grenzgärtner“ erzählen Julia Mittwoch und Maite Bueno Clemente über Konflikte im Kleingarten

Gleich in der ersten Szene auf der Leinwand sehen wir Plastikstühle, Sonnenschirme und eine Menge Gartenzwerge. Doch eine
Eloge an ein Kleingartenidyll in Berlin ist der Dokumentarfilm „Grenzgärtner“ nicht geworden. Die Filmemacherinnen Julia
Mittwoch und Maite Bueno Clemente erzählen über die Treptower Gartenanlage Kreuztal und ihr Neuköllner Gegenstück Helmutstal und über die Mauer, die die beiden Gartenhälften 28 Jahre trennte. Am Ende wurde es ein Film über die Mauern in den Köpfen der KleingärnterInnen, die bis heute nicht gefallen sind.
Die Mauer im Garten

Julia Mittwoch ist in Treptow aufgewachsen und kennt das Gebiet seit frühester Kindheit. Bei ihren Spaziergängen entdeckte sie auf der Gartenanlage zwei denkbar unterschiedliche Welten, getrennt durch einen frisch errichteten Stacheldraht. Damals hatten sich in den Lauben, die wegen des Baus der A 100 abgerissen werden sollten, Romafamilien, KünstlerInnen und Obdachlose einquartiert. „Ich stand zwischen diesen kaputten Lauben inmitten des hohen Unkrauts und sah herüber auf die „andere Seite“ der noch bestehenden Kleingartensiedlung. Dort weht die Deutschlandfahne und der Rasen war auf drei Zentimeter getrimmt“, beschreibt die Regisseurin das Bild, das sie zu dem Film motivierte. Das Duo verbrachte viel Zeit in den Gartensiedlungen und vor allem in den Vereinskneipen, um an die Leute heranzukommen. Acht Personen haben sie in ihrem Alltag im Garten begleitet, fünf wurden zu HauptprotagonistInnen. Dazu gehört auch Wolfgang Noak, 80 Jahre alt, der sich stolz unter Schildern präsentiert, auf denen die Regeln verkündet werden, an die sich in der Gartenanlage alle zu halten haben.
Als die Mauer mitten durch die Gartenanlage lief, scheute er auch die Kontakte zur DDRStaatssicherheit nicht. Schließlich
waren die ja auch für klare Regeln. Den Vorwurf, er habe es an Distanz zur Stasi fehlen lassen, kontert Noak im Film mit
dem Bekenntnis, dass er doch als Nazi gelte. Als Beleidigung empfand er das genauso wenig wie seine MitgärtnerInnen.
Echauffiert haben sie sich alle über die Fremden, die sich in den Hütten auf der Nachbaranlage ihr Domizil errichtet hatten.
Gesprochen mit den neuen NachbarInnen hatte keine der GrenzgärtnerInnen. „Die sollen in ihrer Höhle bleiben und wir bleiben in unserer“, brachte eine Frau ihr Desinteresse an einen Kontakt auf den Punkt. Eine andere Gartenfreundin erklärte, sie sei nach der Maueröffnung noch nie im anderen Teil von Berlin gewesen: „Was soll ich dort?“ Im Film kommt auch Hassan K. zu Wort, der wegen seiner türkischen Herkunft von mehreren Siedlungen abgewiesen wurde, und als er endlich einen Garten gefunden hatte, mit rassistischen Anfeindungen konfrontiert war. Dass der Film kein Randthema behandelt, zeigte sich Ende Juni 2016, als bekannt wurde, dass der Gartenverein „Frieden“ in Tempelhof eine MigrantInnenquote von 20 Prozent eingeführt hat. Wenn die erfüllt ist, werden nichtdeutsche BewerberInnen abgewiesen, auch wenn Parzellen frei sind. Doch
der Film könnte auch dazu motivieren, den Kampf um die Hegemonie im Kleingarten nicht den Grenzwächtern zu überlassen.
In einer Pankower Kleingartensiedlung kandidierten junge Leute für den Vorstand und versuchten gegen den Widerstand
der Alteingesessenen die Vereinsstrukturen aufzubrechen. Sollte das Beispiel Schule machen, könnte die deutsche Gartenkultur, wie sie einige ProtagonistInnen im Film vertreten, bald der Vergangenheit angehören.

■■Am 12. 8. läuft der Film um 19 Uhr im Kino Moviemento am Kottbusser Damm 22. Im Anschluss gibt es eine Diskussion mit den Regisseurinnen

DONNERSTAG, 1 1. AUGUST 2016  Taz Berlin Kultur

http://www.taz.de/!5324854/

Peter Nowak

Autonomes Filmprojekt

Berlin. Eine Crowd-Funding-Kampagne für das Filmprojekt „Decknamen Jenny“ von der selbstverwalteten Berliner Filmhochschule filmarche e.V. läuft noch bis Anfang August. Ein Team der Filmhochschule will  diesen Film gemeinsam mit LeihendarstellerInnen drehen, heißt es auf der Internetseite des Films , auf der bereits einzelne Rollen zur Besetzung ausgeschrieben  sind.  Der Plot zeichnet die Geschichte der jungen autonomen Mary, die nach einer gescheiterten militanten Aktion mit den Auswirkungen von staatlicher Repression konfrontiert ist. Den Soundcheck liefert die Band Guts Pie Eartshot (https://www.startnext.com/deckname-jenny).

aus Neues Deutschland vom 27.7.2016

http://www.pressreader.com/

Peter Nowak

Archäologie des Widerstands

Die Zukunft der Freien Archive zwischen staatlicher Förderung und Autonomie.

„Niemals werden zwanzig Foliobände eine Revolution machen. Die kleinen Broschüren sind es, die zu fürchten sind“. Dieser dem französischen Philosophen Voltaire zugeschriebene Satz könnten sich  die  Freien Archive auf ihre Eingangstüren kleben. Schließlich sind  solche Broschüren „in den  Sammelstellen für die papiergewordenen Relikte der autonomen, antifaschistischen, feministischen und anderer außerparlamentarischen   Bewegungen“ in großen Mengen zu finden. So klassifiziert  der Leiter des  Archivs für alternatives Schrifttum  (afas)   Jürgen Bacia die ca. 100 Freien Archive, die  zurzeit noch in Deutschland existieren. Betrieben werden sie überwiegend von Menschen, die es sich zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben, die Hinterlassenschaften der sozialen Bewegungen, in denen sie selber aktiv waren, zu sammeln und aufzubewahren.

In den Hochzeiten der Bewegung wurde diese Tätigkeit eher belächelt. Flugblätter und Broschüren sollten unmittelbar in eine politische Auseinandersetzung einwirken. Dass diese  Produkte einmal historische Dokumente werden würden, war für viele der Beteiligten kein Thema. Doch das hat sich geändert. Viele der an sozialen Bewegungen Beteiligten haben im Alter ein großes Interesse daran, die Bewegungen, in denen sie viel Zeit und Engagement gesteckt hatten, vor dem Vergessen zu bewahren.  Daher wollen viele von ihnen ihre Sammlungen einen der Freien Archive überlassen.  So soll auch verhindert werden, dass Erb_innen nach den Tod von politischen Aktivist_innen die oft ungeordneten Materialen   entsorgen. Es ist oft eher ein Glücksfall, wenn sie in einen Freien Archiv  ihren Platz finden.

Deren Mitarbeiter_innen aber stoßen in vielerlei Hinsicht bei ihrer Arbeit an die Grenzen.  Die Finanzierung ist oft nicht gesichert und die Arbeit kann nur mit viel Selbstausbeutung aufrecht erhalten werden. Daher hat der Freiheitsbegriff für Bacia auch seine Ambivalenz. Der Freiheitsbegriff hat durchaus etwas Ambivalentes.  „Einerseits arbeiten die Freien Archive möglichst hierarchiefrei, zumeist kollektiv  und erliegen  weniger den Zwängen großer Institutionen. Andererseits sind  die Menschen, die dort arbeiten,  häufig frei von regelmäßigen Einkünften und arbeiten unter ökonomischen Bedingungen, die keine Gewerkschaft akzeptieren würde.“ Bacia hat zusammen mit der Mitarbeiterin  des Leitungsteams des Archivs der Deutschen Frauenbewegung in Kassel schon 2013 im Verlag des Archivs der Jugendkulturen unter dem Titel „Bewegung bewahren – Freie Geschichte von unten“ einen Band herausgegeben,   das einen guten Einblick in die Szene der Freien Archive und ihre aktuellen Probleme  gibt.

Vom Bewegungsarchiv zum Dienstleister

Dabei wird auch deutlich, wie sich  die Freien Archive im Zeitalter der Digitalisierung verändern Voltaires Bonmot hatte von den   Zeiten der Französischen Revolution bis zum Ende des 20. Jahrhunderts seine Gültigkeit. Doch im  Zeitalter der Digitalisierung ersetzen zunehmend Internetblogs die kleinen Broschüren. So müssen Menschen, die an aktuellen  politischen Themen interessiert wird, nicht mehr in alten Ordnern stöbern. Doch schon, wenn es um die Geschichte der sozialen Bewegungen vor 30 Jahren geht, stößt man bei einer Internetrecherche schnell an die Grenzen.     Es sei denn, deren Geschichte wird von Freien Archiven digitalisiert und online gestellt. So hat das im Umfeld der Westberliner  Hausbesetzer_innenbewegung   der 1980er Jahre entstandenen Bildarchiv Umbruch zahlreiche Fotos und Videos der Volkszählungsboykottbewegung  im Internet zugänglich gemacht. Wenn man in  Suchmaschinen hingegen die Begriffe  „Kamphofhütte   Bielefeld“ eingibt erhält man einen Treffer.  Dabei  war die Errichtung dieser Hütte Mitte der 1980er Jahre im ostwestfälischen Bielefeld, ein frühes Beispiel einer „Recht auf Stadt-Bewegung“ und prägte für mindestens 2 Jahre einen großen Teil der außerparlamentarischen Linken  Ostwestfalens. Das Beispiel zeigt, dass ohne das Engagement der Freien Archive  Aktivitäten der außerparlamentarischen Linken dem Vergessen anheimfallen.

Staatsknete oder Widerstand?

Um   diese Aufgaben weiter erfüllen zu könne, brauchen die Freien Archive und ihre Mitarbeiter_innen eine staatliche Förderung bei Wahrung ihrer politischen Autonomie, ist die Meinung eines Kreises von Freie Archivar_innen, die Konzepte für eine langfristige Sicherung der Sammlungen erarbeiten. Sie verweisen auf die Archive der DDR-Opposition,  wie das Robert Havemann Archiv in Berlin oder das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte Matthias Domaschk“,, die großzügig gefördert werden. Cornelia  Wenzel kann   auf  solche Beispiele auch bei der Frauenbewegung  verweisen.         Doch Kritiker_innen fragen kritisch nach, ob noch von einer Autonomie der Freien Archive geredet werden kann. So wird in den Archiven der DDR-Oppositionsbewegung nur noch am Rande erwähnt, dass die dokumentierten    Gruppierungen keine Wiedervereinigung sondern eine reformierte DDR anstrebten.  Und bei den Erfolgen der Archive der Frauenbewegung sollte nicht vergessen werden, wie mit dem Nachlass  der engagierten Antifaschistin und Pazifistin Fasia Jansen in Oberhausen  umgegangen wird. „Bis heute sind die Materialien teilweise im Rathaus in Kartons untergebracht, andere in einem großen Raum im Infozentrum Gedenkhalle. ein Ort, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist“, schreibt Jansens langjährige Mitstreiterin  und Freundin Ellen Diederich. Deswegen sind viele in der Freien Archie-Szene skeptisch, wenn es um die Forderung nach staatlicher Unterstützung geht.  Das Berliner Bildarchiv Umbruch, das im Umfeld der Instandbesetzer_innenbewegung der 1980er Jahre entstanden ist,  empfiehlt hingegen, die Freien  Archive sollten  zu den Idealen der Freien Archive   zurückkehren.  Schließlich seien die  gegründet worden,  um den Nachgeborenen Unterstützung  bei ihren  Protesten  zu geben.   Wenn die Miete für die Archivräume steigt, sei es daher sinnvoller,  gemeinsam mit den  Nachbarinnen den Widerstand zu  organisieren, als mehr Unterstützung vom Staat zu fordern

aus ak 617 vom 21.Juni 2016

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Peter Nowak