Um den Nachlass des bekannten Anarchisten Augustin Souchy, der als Syndikalist 1920 am Treffen der Kommunistischen Internationalen teilgenommen und mit Lenin diskutiert hatte, zu retten, trampten 1984 mehrere Afas-Aktivist*innen nach München und bewahrten die Materialien in Rucksäcken vor der Zerstörung. Heute werden tonnenschwere Zeugnisse schon mal in großen LKW angefahren, wie kürzlich das Archiv des Informationszentrums 3. Welt (IZ3W) aus Freiburg.
»Post bitte beim Knüllermarkt abgeben«, steht auf einem kleinen Schild an der Wand eines Gebäudes in der Duisburger Innenstadt. Es ist im Architekturstil der 70er Jahre gebaut und ähnelt einem Bunker. »Willkommen im Archiv für Alternatives Schrifttum«, sagt Bernd Drücke zum Empfang im zweiten Stock. Dort sehen die Besucher*innen erst einmal zahlreiche Kartons mit Plastikblumen, Perücken und anderem Inventar des Billigmarktes, bis sie in einen Flur mit Plakaten aus der feministischen und ökologischen Bewegung der letzten Jahrzehnte kommen. Auf den Tischen liegen …
Die Zukunft der Freien Archive zwischen staatlicher Förderung und Autonomie.
„Niemals werden zwanzig Foliobände eine Revolution machen. Die kleinen Broschüren sind es, die zu fürchten sind“. Dieser dem französischen Philosophen Voltaire zugeschriebene Satz könnten sich die Freien Archive auf ihre Eingangstüren kleben. Schließlich sind solche Broschüren „in den Sammelstellen für die papiergewordenen Relikte der autonomen, antifaschistischen, feministischen und anderer außerparlamentarischen Bewegungen“ in großen Mengen zu finden. So klassifiziert der Leiter des Archivs für alternatives Schrifttum (afas) Jürgen Bacia die ca. 100 Freien Archive, die zurzeit noch in Deutschland existieren. Betrieben werden sie überwiegend von Menschen, die es sich zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben, die Hinterlassenschaften der sozialen Bewegungen, in denen sie selber aktiv waren, zu sammeln und aufzubewahren.
In den Hochzeiten der Bewegung wurde diese Tätigkeit eher belächelt. Flugblätter und Broschüren sollten unmittelbar in eine politische Auseinandersetzung einwirken. Dass diese Produkte einmal historische Dokumente werden würden, war für viele der Beteiligten kein Thema. Doch das hat sich geändert. Viele der an sozialen Bewegungen Beteiligten haben im Alter ein großes Interesse daran, die Bewegungen, in denen sie viel Zeit und Engagement gesteckt hatten, vor dem Vergessen zu bewahren. Daher wollen viele von ihnen ihre Sammlungen einen der Freien Archive überlassen. So soll auch verhindert werden, dass Erb_innen nach den Tod von politischen Aktivist_innen die oft ungeordneten Materialen entsorgen. Es ist oft eher ein Glücksfall, wenn sie in einen Freien Archiv ihren Platz finden.
Deren Mitarbeiter_innen aber stoßen in vielerlei Hinsicht bei ihrer Arbeit an die Grenzen. Die Finanzierung ist oft nicht gesichert und die Arbeit kann nur mit viel Selbstausbeutung aufrecht erhalten werden. Daher hat der Freiheitsbegriff für Bacia auch seine Ambivalenz. Der Freiheitsbegriff hat durchaus etwas Ambivalentes. „Einerseits arbeiten die Freien Archive möglichst hierarchiefrei, zumeist kollektiv und erliegen weniger den Zwängen großer Institutionen. Andererseits sind die Menschen, die dort arbeiten, häufig frei von regelmäßigen Einkünften und arbeiten unter ökonomischen Bedingungen, die keine Gewerkschaft akzeptieren würde.“ Bacia hat zusammen mit der Mitarbeiterin des Leitungsteams des Archivs der Deutschen Frauenbewegung in Kassel schon 2013 im Verlag des Archivs der Jugendkulturen unter dem Titel „Bewegung bewahren – Freie Geschichte von unten“ einen Band herausgegeben, das einen guten Einblick in die Szene der Freien Archive und ihre aktuellen Probleme gibt.
Vom Bewegungsarchiv zum Dienstleister
Dabei wird auch deutlich, wie sich die Freien Archive im Zeitalter der Digitalisierung verändern Voltaires Bonmot hatte von den Zeiten der Französischen Revolution bis zum Ende des 20. Jahrhunderts seine Gültigkeit. Doch im Zeitalter der Digitalisierung ersetzen zunehmend Internetblogs die kleinen Broschüren. So müssen Menschen, die an aktuellen politischen Themen interessiert wird, nicht mehr in alten Ordnern stöbern. Doch schon, wenn es um die Geschichte der sozialen Bewegungen vor 30 Jahren geht, stößt man bei einer Internetrecherche schnell an die Grenzen. Es sei denn, deren Geschichte wird von Freien Archiven digitalisiert und online gestellt. So hat das im Umfeld der Westberliner Hausbesetzer_innenbewegung der 1980er Jahre entstandenen Bildarchiv Umbruch zahlreiche Fotos und Videos der Volkszählungsboykottbewegung im Internet zugänglich gemacht. Wenn man in Suchmaschinen hingegen die Begriffe „Kamphofhütte Bielefeld“ eingibt erhält man einen Treffer. Dabei war die Errichtung dieser Hütte Mitte der 1980er Jahre im ostwestfälischen Bielefeld, ein frühes Beispiel einer „Recht auf Stadt-Bewegung“ und prägte für mindestens 2 Jahre einen großen Teil der außerparlamentarischen Linken Ostwestfalens. Das Beispiel zeigt, dass ohne das Engagement der Freien Archive Aktivitäten der außerparlamentarischen Linken dem Vergessen anheimfallen.
Staatsknete oder Widerstand?
Um diese Aufgaben weiter erfüllen zu könne, brauchen die Freien Archive und ihre Mitarbeiter_innen eine staatliche Förderung bei Wahrung ihrer politischen Autonomie, ist die Meinung eines Kreises von Freie Archivar_innen, die Konzepte für eine langfristige Sicherung der Sammlungen erarbeiten. Sie verweisen auf die Archive der DDR-Opposition, wie das Robert Havemann Archiv in Berlin oder das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte Matthias Domaschk“,, die großzügig gefördert werden. Cornelia Wenzel kann auf solche Beispiele auch bei der Frauenbewegung verweisen. Doch Kritiker_innen fragen kritisch nach, ob noch von einer Autonomie der Freien Archive geredet werden kann. So wird in den Archiven der DDR-Oppositionsbewegung nur noch am Rande erwähnt, dass die dokumentierten Gruppierungen keine Wiedervereinigung sondern eine reformierte DDR anstrebten. Und bei den Erfolgen der Archive der Frauenbewegung sollte nicht vergessen werden, wie mit dem Nachlass der engagierten Antifaschistin und Pazifistin Fasia Jansen in Oberhausen umgegangen wird. „Bis heute sind die Materialien teilweise im Rathaus in Kartons untergebracht, andere in einem großen Raum im Infozentrum Gedenkhalle. ein Ort, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist“, schreibt Jansens langjährige Mitstreiterin und Freundin Ellen Diederich. Deswegen sind viele in der Freien Archie-Szene skeptisch, wenn es um die Forderung nach staatlicher Unterstützung geht. Das Berliner Bildarchiv Umbruch, das im Umfeld der Instandbesetzer_innenbewegung der 1980er Jahre entstanden ist, empfiehlt hingegen, die Freien Archive sollten zu den Idealen der Freien Archive zurückkehren. Schließlich seien die gegründet worden, um den Nachgeborenen Unterstützung bei ihren Protesten zu geben. Wenn die Miete für die Archivräume steigt, sei es daher sinnvoller, gemeinsam mit den Nachbarinnen den Widerstand zu organisieren, als mehr Unterstützung vom Staat zu fordern
Freie Archive dokumentieren die Kämpfe sozialer Bewegungen über mehrere Jahrzehnte. Doch viele arbeiten unter prekären Bedingungen. Ob mehr staatliche Förderung helfen würde, ist umstritten.
Flugblätter, Broschüren, Plakate, Liederbücher – die sozialen Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte haben eine Menge Papier hinterlassen. Oft sind die Materialien im politischen Handgemenge entstanden. Die Verfasser haben sich kaum Gedanken darüber gemacht, dass die handgeschriebene Broschüre mit dem Anti-AKW-Symbol oder das Flugblatt mit dem Symbol der Frauenbewegung einmal Dokumente der Zeitgeschichte werden könnten.
Doch schon in der Hochzeit der unterschiedlichen sozialen Bewegungen gab es eine kleine Gruppe von Menschen, die nicht nur Zeitungen auswertete und Artikel ausschnitt, sondern auch Flugblätter, Broschüren und Plakate der sozialen Bewegungen archivierte. Für viele dieser Menschen wurde die Archivarbeit eine Lebensaufgabe, ihre Sammlungen bilden bis in die Gegenwart den Kern der sogenannten Freien Archive.
Der Leiter des »Archivs für alternatives Schrifttum« (afa), Jürgen Bacia, bezeichnet sie als »Sammelstellen für die papiergewordenen Relikte der autonomen, antifaschistischen, feministischen und anderen außerparlamentarischen Bewegungen«. Gemeinsam mit Cornelia Wenzel vom Kasseler »Archiv der Deutschen Frauenbewegung« hat er unter dem Titel »Bewegung bewahren« 2013 das Standardwerk zum Thema Freie Archive herausgegeben. Deren Bedeutung ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Viele sozial oder politisch Engagierte wollen verhindern, dass Bewegungen, in die sie viel Kraft und Zeit gesteckt haben, vergessen werden. Im Alter kümmern sich viele dieser Menschen darum, die Zeugnisse ihrer Tätigkeit an Freie Archive zu übergeben. Manchmal sind es aber auch die Erben, die mit einem oft ungeordneten Nachlass konfrontiert sind. So landen viele Materialien auf dem Müll, wenn sie nicht durch glückliche Fügungen Eingang in ein Freies Archiv finden.
Diese Archive stoßen immer öfter an ihre Grenzen. »Die Menschen, die dort arbeiten, sind häufig ohne regelmäßige Einkünfte und arbeiten unter ökonomischen Bedingungen, die keine Gewerkschaft akzeptieren würde. Wir regeln das mit viel Selbstausbeutung«, beschreibt Bacia die Arbeit vieler Archivare.
Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede, wie bei einem bundesweiten Workshop der Freien Archive Ende Mai in Berlin deutlich wurde. Da blitzte kurzzeitig manche alte Kontroverse wieder auf. So sprach ein Archivar vom Berliner Schwulenmuseum bei seiner Projektvorstellung von den »Bewegungen mit den Sternchen«, die dort ebenfalls Platz gefunden hätten. Damit meinte er die Kämpfe von Lesben und Transpersonen, die im Schwulenmuseum dokumentiert werden. »Wir sind aber keine Sternchen«, kam der Widerspruch von Frauen, die auf dem Treffen Archive der feministischen Bewegung vertreten. Der Dissens konnte schnell beigelegt werden.
Die Frage, ob die Freien Archive staatliche Mittel fordern sollen, dürfte für mehr Diskussionen sorgen. »Während die Archive der DDR-Oppositionsbewegung mittlerweile großzügig gefördert werden, fühlt sich für die Zeugnisse der westdeutschen Alternativ- und Protestbewegung bisher niemand zuständig«, kritisiert Bacia. Er fordert staatliche Förderung bei vollständiger Wahrung der Unabhängigkeit. Wenzel verweist darauf, dass verschiedene Archive der Frauenbewegung eine finanzielle Förderung durchzusetzen konnten, ohne ihre Autonomie aufzugeben.
Das »Bildarchiv Umbruch«, das im Umfeld der Westberliner Instandbesetzerbewegung der achtziger Jahre entstanden ist, empfiehlt den Freien Archiven hingegen, zu ihren Gründungsideen zurückzukehren. Schließlich sei es damals nicht darum gegangen, Protestgeschichte zu historisieren, sondern darum, neue Generationen zu unterstützen. Wenn die Miete für die Archivräume steigt, sei es daher sinnvoller, gemeinsam mit den Nachbarn den Widerstand dagegen zu organisieren, als mehr Unterstützung vom Staat zu fordern.