Die Falle der Identitätspolitik

In Berlin wurde über „Riots“, Gewalt und Politik gesprochen – auch von Aktivisten aus den französischen Banlieues. Deutlich wurde, dass eine Absage an den Universalismus keine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung bewirkt

Der etwas missverständliche Titel „Riots. Violence as Politics“[1] hatte am vergangenen Wochenende auch manche außerparlamentarische Linke zum Besuch einer Konferenz[2] im Institut für Protest- und Bewegungsforschung[3] in Berlin motiviert. Manche hatten sich wohl angesichts des Titels eine stärkere Konzentration auf die Straßenunruhen gewünscht.

Jedenfalls verließ ein Teil der Besucher die Konferenz relativ schnell. Wer geblieben ist, konnte einen Eindruck von den politischen Verhältnissen in Frankreich bekommen, die sich gravierend von der hiesigen Frankreich-Berichterstattung der letzten Monate unterschied. Schon Monate vor dem Präsidentschaftswahlkampf fokussierte sich die Auseinandersetzung auf die Namen Le Pen versus Macron bzw. den Kampf zwischen Nationalismus und EU-Liberalismus. Unter dieser Perspektive wurden die Alltagskämpfe von vielen Menschen in Frankreich zum Verschwinden gebracht.
Wer sich nicht zwischen Macron und Le Pen entscheiden wollte, wurde angegriffen

Wer sich weder hinter Le Pen noch hinter Macron stellen wollte, wurde sogar von Medien, die sich links bzw. linksliberal nennen, verbal angegriffen. Der Vorwurf, Steigbügelhalter des Nationalismus zu sein, war häufig zu hören. Das Recht, sich der Stimmabgabe zu verweigern, nicht zur Wahl zu gehen bzw. ungültig zu wählen, wurde im Falle Frankreichs auch in linksliberalen Medien vehement infrage gestellt.

Vergessen war, dass noch 2004 der Publizist und Sozialpsychologe Harald Welzer[4] die Diskussion über den Wahlboykott[5] auch wieder in liberalen Kreisen populär machte. Auf der Konferenz in Berlin wurde nun schnell deutlich, dass es sehr viele Menschen, ja ganze Milieus, in Frankreich gab, für die weder Le Pen noch Macron eine Alternative waren.

Zum Beispiel viele derjenigen, die im letzten Jahr an der Protestwelle gegen das wirtschaftsliberale Arbeitsgesetz, das sogenannte loi travail beteiligt waren. Warum sollte Macron, der noch weitere wirtschaftsliberale Projekte plant, für diese Menschen eine Alternative sein? Doch hätten die Protestform der Platzbesetzungen, wie sie von der Bewegung in Frankreich praktiziert worden ist, natürlich ebenfalls hinterfragt werden müssen.

Keine Gesellschaftsveränderung mit Occupy und Nuit Debout

Schließlich hat auch der „Movement“-Theoretiker Michael Hardt in einem nd-Interview[6] Ernüchterndes über die Bewegung der Platzbesetzungen geäußert, die vor fünf Jahren einen kurzen medialen Hype hatten. So fällt Hardts Fazit über die auch von ihm sehr hochgelobten Bewegungen erstaunlich kritisch aus:

Zuletzt begann 2011 ein großer Bewegungszyklus. Es war die Zeit der großen Platzbesetzungen. Sie begann in Nordafrika, Ägypten und Tunesien, aber kam auch nach Europa, Spanien, Griechenland, die USA mit Occupy Wall Street, Brasilien und in die Türkei mit den Gezi-Park-Protesten. Doch diese Bewegungen hatten neben ihrer Ausrichtung aufs Lokale eins gemein: die irgendwann um sich greifende Enttäuschung über die mangelnde Langlebigkeit, und dass es ihnen nicht möglich war, wirkliche soziale Transformationen in die Wege zu leiten.
Michael Hardt

Nun ist diese Erkenntnis keine Überraschung und wurde vor fünf Jahren bereits von Linken unterschiedlicher Couleur beschimpft, weil sie mit ihrer Kritik einer neuen weltweiten Bewegung schaden würden. Geschadet hat eher, dass auch manche Linke, die es eigentlich besser wissen müssten, anfangs kritiklos diesen Hype hinterhergelaufen sind. Nun hat Hardt zumindest einige der Probleme dieser Bewegungen erkannt.

Die Art von Horizontalismus, die ich dabei im Kopf habe, könnte man am besten anhand der Platzbesetzungen und anderen Formen des Widerstandes aufzeigen. Kurz gesagt waren das führungslose Bewegungen. Ich lehne dabei nicht deren Wunsch nach Demokratie ab, aber diese Bewegungen waren nicht erfolgreich. Manchmal waren sie zwar vorübergehend sehr mächtig, aber sie waren eben immer nur sehr kurzlebig und nie kontinuierlich.
Michael Hardt

Aber die Rettung ist nah, denn Michael Hardt verkündet eine frohe Botschaft:

Toni Negri und ich beschäftigen uns in unserem neuen Buch mit der Notwendigkeit, wirklich demokratische Strukturen aufzubauen, mit denen gleichzeitig Aufgaben erfüllt werden können, die bisher normalerweise von Führungspersonen erledigt werden. Die entscheidende Frage ist also, wie man effektive und langlebige Organisationen aufbauen kann, die eben nicht auf charismatische Führer oder eine zentrale Führung von oben herab angewiesen sind.
Michael Hardt

Ob das Buch der beiden wichtigen Stimmen der globalisierungskritischen Bewegungen, das nun wahrlich nicht neue Problem von Repräsentanz versus Bestehen auf Rede in erster Person lösen kann? Wir dürfen gespannt sein. Zumal Hardt immer genügend Allgemeinplätze zur Verfügung hat, die das Gemüt der Bewegungslinken streicheln.

Was heute gefragt ist, sind die Kreativität und Vorstellungskraft der Bewegungen, um eine wirkliche Alternative zu entwickeln.
Michael Hardt


Weder rechts noch links noch universalistisch

Damit kommen wir zum zweiten Teil der Konferenz „Riots. Violence as Politics“. Dort haben Aktivistinnen und Aktivisten aus französischen Banlieues ihre Arbeit vorgestellt und sollten sich zur Frage äußern, ob sie sich vorstellen können, bei Initiativen außerhalb der Banlieues zu kooperieren. Vor allem Alamy Kanoute[7], der mit einer Bürgerliste[8] in die Kommunalpolitik eingestiegen ist und sich dabei gleichermaßen von der Linken und Rechten abgrenzt, repräsentiert einen Kommunalismus, der die Banlieues zu widerspruchsfreien Orten verklärt.

Noch vehementer wandte sich Fatima Ouassak[9] gegen eine Kooperation mit unterschiedlichen sozialen Gruppen. Dabei hätte diese Position eine gewisse Rationalität, wenn Ouassak behauptet, es gebe keine andere relevante Gruppe, mit der man zusammenarbeiten könne. Wenn sie aber gleichzeitig den Universalismus als überholtes, rassistisches Projekt der Weißen ablehnt, wird der ideologische Hintergrund deutlich.

Es geht um die Festschreibung neuer Identitäten, aber keineswegs um eine politische Emanzipation aller Menschen. Versucht wird, eine Banlieue-Identität zu konstruieren. Die diffusen Gegner sind die Weißen und der Universalismus der Linken. Wie problematisch das Konzept ist, zeigt sich schon bei der Frage, die auf der Veranstaltung gestellt wurde. Warum wird beim von allen Referentinnen und Referenten beschworenen Kampf gegen die Islamfeindlichkeit und den Rassismus kein einziges Mal der Kampf gegen den Antisemitismus genannt?

Der Soziologe Marvan Mohammed[10], der am Centre Maurice Halbwachs[11] lehrt, bestätigte, dass in den letzten Jahren die antisemitische Gewalt in Frankreich gewachsen sei. Es seien nicht nur bei den islamistischen Anschlägen Juden gezielt ermordet worden.

Antisemitismus und Sexismus – kein Thema für die Banlieues?

Die anderen Referenten schwiegen entweder oder unterstellten wie Fatima Ouassak dem Fragesteller, die Bewegungen in den Banlieues belehren zu wollen. Das Fazit ihrer Rede war klar, wer sich kritisch mit dem Antisemitismus oder der patriarchalen Gewalt auch in den Vorstädten beschäftigt, sei schon dem antimuslimischen Rassismus verfallen.

Diese Reaktion scheint verständlich, wenn es um die Versuche des Front National und anderer rechter Gruppen und Publikationen geht, Gewalt gegen Juden, Frauen und sexuelle Minderheiten zu einen reinen Problem der Banlieues und des Islams zu erklären. Doch genau so fatal ist die Gegenreaktion, die auf dem Podium in Berlin dominierte. Dort wurde suggeriert, dass diese Gewaltverhältnisse eben kein Problem sind, mit dem sich Menschen und Gruppen, die sich gegen Polizeigewalt in den französischen Vorstädten engagieren, beschäftigten müssen.

Als hätte es die Entführung und Ermordung von Ilan Halimi[12] durch eine islamistische Bande, die mit antikolonialistischer Rhetorik Geld vom Juden erpressen wolle[13], nie gegeben. Warum es den Banlieue-Aktivisten so schwer fällt, den Antisemitismus auch als ihr Problem sehen, zeigt welch fatale Wirkung die Ersetzung des Universalismus durch ein „Empowerment der Nicht-Weißen“ hat.

Die Jüdinnen und Juden werden dann zu den Weißen gerechnet und schon ist der Kampf gegen den Antisemitismus kein Problem der Nicht-Weißen. Die Soziologin Sina Arnold[14] hat in ihrer in der Hamburger Edition erschienenen Studie zum Antisemitismusdiskurs in der US-Linken[15] unter dem Titel „Das unsichtbare Vorurteil“ gut herausgearbeitet, dass auch in der US-Linken die Gewalt gegen Juden „de-thematisiert“ wird, weil sie oft generell zu den Weißen gerechnet werden und daher nicht unterdrückt werden können.

Doch daneben macht die Weigerung von akademischen Banlieue-Aktivisten, Antisemitismus auch als ihr Problem zu erkennen, deutlich, dass die Absage an den Universalismus nicht zu einer Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung führen kann. Jede Gruppe thematisiert nur noch ihre Unterdrückung und ignoriert die Gewalt und Unterdrückung, die anderen Menschen, die nicht zu ihrer Gruppe gehören, zugefügt wurde.

Es ist auch bezeichnend, dass Ouassak Familienwerte in den Banlieues beschwört. Dass auch die nicht-weiße Familie ein Ort der Unterdrückung sein kann, für Menschen, die sich nicht an die kulturell vorgegebenen Geschlechterrollen halten, für Frauen, die nicht unter Fuchtel des Vaters oder großen Bruders stehen sondern ein selbstbestimmtes Leben führen wollen, bleibt dabei ausgespart.

Kein Verweis auf gesellschaftliches Leben außerhalb der Vorstädte

Es ist bezeichnend, dass die Frage, ob denn nicht fast alle Banlieue-Bewohner gesellschaftliche Bezüge außerhalb des Stadtteils haben und ob sich dort nicht auch soziale und politische Beziehungen bilden, von keinem der Referenten beantwortet wurde. Denn die Antwort passt nicht zum Bild der konstruierten Banlieue-Identität, die zumindest Ouassak und Kanoute beschworen. Sie verfolgen ein politisches Projekt, das auf dieser Identität aufbaut und sie haben deshalb ein taktisches Verhältnis dazu.

Für eine Diskussion im Institut für Protestforschung wäre es aber sinnvoll gewesen, auch Referenten einzuladen, die genau diese Identitäten infrage stellen. Der Publizist Bernard Schmid, der detailliert die Politik des Ausnahmezustands auf der Konferenz analysierte, hätte sich in einer solchen Rolle in den Augen der Banlieue-Aktivisten schon dadurch disqualifiziert, dass er eben unter die Kategorie der Weißen fällt.

Doch es gibt auch genügend gewerkschaftliche Aktivistinnen und Aktivisten[16] aus Afrika oder anderen Regionen des globalen Südens, die sich für die Verbesserung ihrer Arbeitsverhältnisse einsetzen und dabei mit Kollegen unabhängig von ihrer Hauptfarbe und Herkunft kooperieren. Es ist allerdings nicht verwunderlich, dass diese Stimmen auf der Konferenz nicht zu hören waren.

Denn die kommunalistische Ideologie, die die Referenten vertraten, finden ihre Entsprechung in einem postmodernen Diskurs an vielen Universitäten, der den Universalismus verabschiedet hat zugunsten eines Patchwork von Minderheiten und Identitäten, die um ihre Recht und ihre Würde kämpfen. So unterschiedlich Bewegungen wie Occupy, die Aktivitäten in den französischen Banlieues und die Schriften von Michael Hardt und Antonio Negri auch sonst sind: Im wieder zelebrierten Abschied vom Proletariat und in der Beschwörung vom Mosaik der Minderheiten sind sie sich einig.

Für sie gilt, was Michael Hardt über die Platzbewegungen der letzten Jahre im Nachhinein im nd-Interview[17] konstatiert:

Doch diese Bewegungen hatten neben ihrer Ausrichtung aufs Lokale eins gemein: die irgendwann um sich greifende Enttäuschung über die mangelnde Langlebigkeit, und dass es ihnen nicht möglich war, wirkliche soziale Transformationen in die Wege zu leiten.
Michael Hardt
https://www.heise.de/tp/features/Die-Falle-der-Identitaetspolitik-3723514.html

Peter Nowak

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3723514

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.hsozkult.de/event/id/termine-33192
[2] http://gewalt.hypotheses.org/855
[3] https://protestinstitut.eu/
[4] http://www.kwi-nrw.de/home/profil-hwelzer.html
[5] http://www.bpb.de/apuz/180362/warum-ich-dieses-mal-waehlen-gehe?p=all
[6] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1050083.jetzt-ist-die-zeit-grosses-zu-tun.html
[7] http://www.lesinrocks.com/2016/04/19/actualite/almamy-kanoute-lhomme-veut-exporter-nuit-debout-banlieue-11820680/
[8] http://www.leparisien.fr/val-de-marne-94/l-ancienne-tete-de-liste-d-emergence-almamy-kanoute-sillonne-les-quartiers-26-04-2010-899828.php
[9] http://contre-attaques.org/auteur/fatima-ouassak
[10] https://www.franceinter.fr/personnes/marwan-mohammed-0
[11] http://www.cmh.ens.fr/
[12] https://web.archive.org/web/20110604025051/http://www.timesonline.co.uk/tol/sport/football/european_football/article734051.ece
[13] http://www.hagalil.com/archiv/2006/03/halimi.htm
[14] https://www.bim.hu-berlin.de/de/personen/dr-sina-arnold/
[15] http://www.his-online.de/verlag/9010/programm/detailseite/publikationen/das-unsichtbare-vorurteil/?sms_his_publikationen%5BbackPID%5D=1252&cHash=f52971f68ac0d29416cce48c863e8b24
[16] https://www.solidaires.org/
[17] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1050083.jetzt-ist-die-zeit-grosses-zu-tun.html

„Kommunismus für Kids“ und ein Hauch von McCarthyismus

Die US-Rechte schoss sich auf die Kulturwissenschaftlerin Bini Adamczak ein, weil die den Kommunismus für ein emanzipatives Zukunftsprojekt hält

„Ein Gespenst geht um in Europa“, hieß es im Kommunistischen Manifest. Mehr als 150 Jahre später hat es wohl den Kontinent gewechselt. Jetzt scheint das kommunistische Gespenst vor allem in den USA zu spuken. Die US-Rechte befürchtet, dass es in die Kinderzimmer eindringt und Kindern die Köpfe verwirrt. Doch in welcher Gestalt hat sich das Kommunismus-Gespenst in die USA eingeschlichen? In Form eines Buches, das den Titel „Communism for Kids“[1] trägt und im akademischen Mitpress-Verlag[2] erschienen ist.

Autorin des Buches ist die in Berlin lebende Kunsttheoretikerin und Publizistin Bini Adamczak[3]. Sie hat das Buch in Deutschland unter dem sperrigeren Titel „Kommunismus, kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird“ im libertären Unrast-Verlag herausgegeben[4].
„Kommunistisches Begehren, das endlich alles anders wird“

In der deutschen Ausgabe wird schnell klar, dass es sich um kein Kinderbuch handelt, sondern um ein Buch, das sich dem Kommunismus nicht mit komplexen Analysen nähern will. Bini Adamczak beschreibt ihre Intention auf der Verlags-Homepage[5] so:

Wie lässt es sich – jetzt! – fünfzehn Jahre nach dem Ende der Geschichte über das Ende der Vorgeschichte, über Kommunismus schreiben, ohne der Lächerlichkeit eines ohnmächtigen Pathos zu verfallen? Kritische Kritik + Negation der Negation? Aber: sollte sich der Kommunismus auf übelgelaunte Negation beschränken, ohne Traum und Sexappeal? Es bedarf einer kinderleichten Sprache um ein kommunistisches Begehren zu erfinden. „Den Kommunismus machen: das kann ja wohl nicht so schwer sein.“

KOMMUNISMUS ist für alle da. Einsteigerinnen und solche, die schon immer an diesem verflixten Fetischkapitel verzweifelt sind: Artisten der Negation, praktische Kritikerinnen und jene, denen das falsche Ganze einfach als zu farblos erscheint. Die kleine Geschichte erweist den Kommunismus gänzlich unzeitgemäß als das wunderlich Einfache + Schöne. Sie folgt einem kommunistischen Begehren: dass endlich alles anders wird.
Bini Adamczak

Dass es sich um kein Rechtfertigungsbuch autoritärer Staatssozialismusmodelle handelt, ist allen klar, die schon mal was von Bini Adamczak gelesen[6] haben und das Angebot des libertären Verlags kennen.

Rechte auf der Jagd gegen Linke

Die US-Rechten haben anscheinend nur den Titel „Comunisms for Kids“ gelesen und rot gesehen. Den Auftakt machte die National Review[7]. Dann zog das Buch immer weitere Kreise in rechten Netzwerken. „Sie wollen unsere Kinder“, hieß dann in The Daily Beast[8].

„Etwas muss geschehen; andernfalls könnten Eltern entdecken, dass Ideologen vom Schlage Adamzcaks wie Hitler die Kinder bereits auf ihre Seite gezogen haben“ (im Original: already have the children), heißt es am Schluss des Versuchs, das rote Gespenst zu bannen. Ein Verbot des Buches forderten die Konservativen und die extremere Rechte wollte es gar verbrennen. In Westdeutschland waren früher linke Autoren wie Bert Brecht und Anna Seghers ebenfalls mit solchen Kampagnen konfrontiert.

Bini Adamczak sieht in der rechten Kampagne einen Antikommunismus à la McCarthy. Der nahm mit Beginn des kalten Krieges auch Züge der Intellektuellenverfolgung an, weil gerade dort Kommunisten und ihre Unterstützer besonders häufig verortet wurden. Auch antisemitische Elemente waren von Anfang an Teil des McCarthyismus. Höhepunkt der damaligen Kampagne war das Todesurteil gegen die jüdischen Linken Ethel und Robert Rosenberg.

Die Historiker Sina Arnold und Olaf Kistenmacher haben im letzten Jahr diesen Fall wieder bekannt gemacht und in einem Buch[9] aufgearbeitet. Dabei sind sie in einem Kapitel auch auf die Rolle des Antisemitismus in der Kampagne eingegangen. In der aktuellen Jagd auf das Kommunismusgespenst ist dieses ideologische Gebräu wieder enthalten.

Es geht gegen Linke und besonders gegen Intellektuelle und das strukturell antisemitische Motiv vom „Kinderschänder“ findet sich dort auch wieder. Nachdem sich der Verlag mit Adamczak solidarisiert hat, lief auch die Unterstützung von US-Linken langsam an. Dem US-Philosophieprofessor Chad Kautzer[10] ist freilich zuzustimmen, wenn er schreibt[11]: „Die Linke wäre also gut beraten, Communism for Kids ebenso viel Aufmerksamkeit zu schenken, wie es die Rechte bereits tut.“

Das wäre die beste Antwort auf die rechte Kampagne und könnte auch Adamczaks andere Bücher einbeziehen. In Gestern Morgen[12] setzt sich die Autorin mit den Fragen, die in „Kommunismus für Kinder“ behandelt werden, philosophisch auseinander.

Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Kommunismus-fuer-Kids-und-ein-Hauch-von-McCarthyismus-3717633.html
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3717633

Links in diesem Artikel:
[1] https://mitpress.mit.edu/books/communism-kids
[2] https://mitpress.mit.edu
[3] https://mitpress.mit.edu/authors/bini-adamcza
[4] https://www.unrast-verlag.de/gesamtprogramm/allgemeines-programm/anarchie-autonomie/kommunismus-178-1782017-02-03-14-45-44-detail
[5] https://www.unrast-verlag.de/autor_innen/biniadamczak-144
[6] https://www.unrast-verlag.de/autor_in/biniadamczak-144
[7] http://www.nationalreview.com/corner/446670/communism-kids-book-bini-adamczak-published-mit-press
[8] http://www.thedailybeast.com/articles/2017/04/22/hey-kids-how-cool-is-communism
[9] https://www.edition-assemblage.de/der-fall-ethel-und-julius-rosenberg/
[10] http://lehigh.academia.edu/ChadKautzer
[11] http://www.akweb.de/ak_s/ak627/40.htm
[12] https://www.unrast-verlag.de/gesamtprogramm/allgemeines-programm/politik-gesellschaft/gestern-morgen-257-detail

Sturm der Entrüstung

Die US-amerikanische Übersetzung des Buches »Kommunismus – Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird« von Bini Adamczak hat einen Shitstorm ausgelöst.

Eigentlich ist eine große Medienresonanz der Wunsch jedes Autors, der ein Buch schreibt. Doch die Berliner Autorin Bini Adamczak hätte auf den Shitstorm gerne verzichtet, den die US-amerikanische Ausgabe ihres bereits 2004 im libertären ­Unrast-Verlag erschienen Buches »Kommunismus – Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird« in den USA ausgelöst hat. Nachdem MIT-Press, der Verlag der US-amerikanischen Universität Massachusetts Institute of Technology, das Buch unter dem Titel »Communism for Kids« veröffentlicht hatte, begann die rechte Kampagne. Konservative und rechte Medien wie Breitbart, The National Review und The American Conservative echauffierten sich über ein Buch, das angeblich Kinder indoktrinieren will. Die meisten Kritiker hatten wohl nicht mehr als den Titel und den Klappentext gelesen. Denn es handelt sich nicht um ein Kinderbuch. Außerdem wird in dem Buch wie in allen Texten von Bini Adamczak allen autoritären Varianten des Sozialismus eine klare Absage erteilt. Die Wissenschaftlerin setzt sich mit den Opfern des Stalinismus auseinander und stellt sich die Frage, wie im Wissen um diese Verbrechen ein antiautoritärer Kommunismus möglich ist.

»Hey Kids, How Cool Is Communism« lautet die Überschrift auf der Website The Daily Beast über einem hetzerischen Artikel, in dem Adamczak mit Hitler verglichen wird. »Etwas muss ­geschehen; andernfalls könnten Eltern entdecken, dass Ideologen vom Schlage Adamzcaks, wie Hitler, die Kinder bereits auf ihre Seite gezogen haben« (im Original: already have the children), heißt es in dem Text. In einigen rechten Postillen will man das Buch sogar verbrennen. Neben Adamczak erhielt auch der Verlag MIT-Press Hassmails und Drohungen. Doch der Verlag steht zu seiner Autorin und verteidigt die Publikation als Bei­trag zur Diskussion. Der Literaturprofessor Fredric R. Jameson betont, dass Adamczaks Buch hilfreich sei in einer Zeit, in der viele Menschen nach neuen Formen von Leben und Zusammenleben suchten.

Adamczak äußerte sich im Gespräch mit der Jungle World überrascht über das Ausmaß des Antikommunismus in den USA, der durchaus Züge des McCarthyismus trage. Sie sieht einen deutlichen Zusammenhang mit dem Rechtspopulismus Donald Trumps. Jetzt könne die Linke wieder stärker ins Visier geraten, vermutet Adamczak. Ob sie in den USA Gelegenheit hat, über ihr Buch zu diskutieren, ist noch ungewiss. Nach dem Shitstorm könnte ihr ein Einreiseverbot in die USA drohen. Bereits 2010 wurde Gabriel Kuhn, der seit langem in der anarchistischen Bewegung aktiv ist und dazu publiziert hat, ohne Begründung die Einreise in die USA verweigert.
USA

https://jungle.world/index.php/artikel/2017/20/sturm-der-entruestung

Peter Nowak

Wohnen und „Recht auf Stadt“-Kämpfe im Ruhrgebiet

MieterEcho online 09.05.2017

Zum Dokumentarfilm DAS GEGENTEIL VON GRAU

Die Filmaufführung war am Sonntagabend im Lichtblick-Kino ausverkauft. Einige BesucherInnen mussten auf einen späteren Termin vertröstet werden. Gezeigt wurde DAS GEGENTEIL VON GRAU, der neue Film des Regisseurs Matthias Coers. Dort werden über 20 MieterInnen- und Recht auf Stadt-Initiativen aus dem Ruhrgebiet vorgestellt.
Coers hat unter aktiven MieterInnen einen guten Namen. Schließlich ist er einer der Regisseure des Films Mietrebellen, der seit drei Jahren in vielen Kinos in der ganzen Republik gezeigt wird und mittlerweile in 7 Sprachen übersetzt wurde. Er zeigt die Vielfältigkeit und Entschlossenheit der Berliner MieterInnenbewegung und motiviert auch Menschen in anderen Städten und Regionen. Dazu gehören auch die AktivistInnen der Initiative „Recht auf Stadt Ruhr“. Sie haben sich an Coers gewandt, weil sie nach dem Vorbild der MIETREBELLEN eine Art Bewegungsfilm für das Recht auf Stadt im Ruhrgebiet machen wollten. 2015 hat Matthias Coers gemeinsam mit Grischa Dallmer und dem Ruhrgebiets-Team mit den Dreharbeiten begonnen und der Kontakt zu den verschiedenen Gruppen ist dann über die Stadtaktiven vor Ort entstanden. Ende März hatte der Film bei Teampremieren im https://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/das-gegenteil-von-grau.html
MieterEcho online 09.05.2017

Peter Nowak

Peter Nowak

Voneinander lernen!

Regisseur Matthias Coers spricht über Wohnkämpfe und seinen neuen Film »Das Gegenteil von Grau«

Zur Person

In dem Film »Das Gegenteil von Grau«, der am 5. Mai (19 Uhr) im Kino Moviemento und am 7. Mai (19 Uhr) im Lichtblickkino gezeigt wird, stellt der Berliner Filmemacher Matthias Coers Initiativen zum Wohnkampf im Ruhrgebiet vor. Mit dem Regisseur sprach Peter Nowak.

Wie haben Sie den Kontakt mit den Initiativen im Ruhrgebiet hergestellt?

Mit dem Film »Mietrebellen« habe ich Filmveranstaltungen im Ruhrgebiet gemacht. Dort bin ich in Kontakt gekommen mit Aktiven von »Recht auf Stadt Ruhr«, die vom Film sehr angetan waren. Gemeinsam haben wir überlegt, wie man für das Ruhrgebiet eine Art Bewegungsfilm für das Recht auf Stadt machen kann. 2015 haben wir mit den Dreharbeiten begonnen und der Kontakt zu den verschiedenen Gruppen ist dann über die Stadtaktiven vor Ort entstanden. Es gab zwar schon Verbindungen zu den Mietern vom Zinkhüttenplatz, aber so kam dann auch die Zusammenarbeit mit Freiraum- und Transition-Town-Initiativen zustande. Meine Idee vom dokumentarischen Filmen ist, Filme nicht über andere zu machen, sondern mit ihnen. Und das ist bei diesem Projekt gut gelungen, denn die Fähigkeiten und Talente liegen ja besonders vor Ort.

Der Film »Mietrebellen« handelte von Berlin, wo Sie selber in der Mieterbewegung aktiv sind. War es schwierig, in einer Region einen Film zu drehen, in der Sie nicht leben?

Da ich das Ruhrgebiet gut kenne, auch selber dort schon gearbeitet habe, und dort zudem eine offenherzige Mentalität herrscht, war es eher einfach, in einen kommunikativen und filmischen Prozess einzutreten. Es geht ja auch darum, Initiativen, die in den Nischen der Städte ihre Arbeit tun, zu sammeln und in einem Film vorzustellen. Voraussetzung dafür ist natürlich auch die Lust der Aktiven, sich an diesem Prozess zu beteiligen. Schließlich ist es das Thema des Films, wie jenseits des marktwirtschaftlichen Interesses verstetigt organisiert und gearbeitet werden kann.

Wo sind die Gemeinsamkeiten der im Film vorgestellten Projekte?

Die 20 vorgestellten Projekte engagieren sich im Ruhrgebiet zwischen Freiraum- und Wohnkämpfen, in nachbarschaftlichen Gärten und Solidarischer Landwirtschaft. Sie alle leisten Pionierarbeit in einer Region mit starkem Strukturwandel. Das Ruhrgebiet ist entstanden als eine Industriegesellschaft und ist heute eine krisenhafte Dienstleistungs- und Freizeitgesellschaft. In den so entstandenen Stadtstrukturen herrscht eine gewisse Agonie, der von den Städten mit Eventkultur begegnet werden soll.

Welches Projekt hat Sie besonders beeindruckt?

Persönlich halte ich die Initiative kitev oder Refugees’ Kitchen für beispielhaft, da sie es kontinuierlich und mit Sichtbarkeit schaffen, zusammen mit Geflüchteten und Menschen aus ganz Europa auf lokaler Ebene temporäre wie dauerhafte Residence- und Arbeitsformen zu entwickeln.


Was können die Zuschauer in Berlin von der Arbeit der Initiativen im Ruhrgebiet mitnehmen?

Auf den ersten Blick mangelt es hier nicht an emanzipativen Orten und engagierten Menschen. Aufgrund aber des großen Raum- und Flächenbedarfs sowie der ordnungspolitischen Durchsetzung als Hauptstadt und Ort kapitalistischer Macht und Normalität erhält auch Berlin eine restriktivere Seite. Es muss voneinander gelernt werden, um auf Dauer gemeinschaftliche Raumnutzung wie Urban Gardening, Wohnformen wie Genossenschaften und Wagenplätze oder emanzipatives Zusammenleben mit geflüchteten Menschen konkret zu realisieren.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1050033.voneinander-lernen.html
Interview: Peter Nowak

Klassenkampf im Kino

Filmreihe über Streiks in Berlin

Der Name der neuen Filmreihe im Berliner Kino Moviemento ist Programm: »Cinéma Klassenkampf« widmet sich aktuellen Arbeitskämpfen in Berlin. Bei der Auftaktveranstaltung Anfang März stand die Ausbeutung an der Technischen Universität im Fokus. Die zweite Ausgabe am 24. April um 19 Uhr trägt das Motto »Charité und Vivantes – Kämpfe im Gesundheitsbereich in Berlin«.

Zunächst werden aktuelle Videos dieser Arbeitskämpfe gezeigt. Im Anschluss kommen einige ProtagonistInnen zu Wort. Kati Ziemer, beschäftigt beim Charité Facility Management, Mario Kunze von der Vivantes Service Group und Dana Lützkendorf von der Charité werden über Erfolge und Schwachstellen des bisherigen Arbeitskampfes berichten. »Seit 2011 sammeln wir Filme aus der ArbeiterInnenbewegung und stellen sie auf der Seite labournet.tv kostenlos und mit Untertiteln zur Verfügung«, sagt die Mitbegründerin Bärbel Schönafinger vom Kollektiv labournet.tv dem »nd«.

Immer wieder drehen AktivistInnen gemeinsam mit KollegInnen eigene Videos. Der für manche etwas altmodisch klingende Titel wurde bewusst gewählt: »Wir hätten die Reihe auch augenzwinkernd ›Them Or Us‹ nennen können. Doch es ist vielleicht an der Zeit, den Mut aufzubringen und umkämpfte Begriffe wieder zu verwenden, damit die Kids auch mal was anderes hören als den antikommunistischen Mainstream«, so Schönafinger.

In den nächsten Monaten sollen im Rahmen von »Cinéma Klassenkampf« Film- und Diskussionsveranstaltungen zu Organisierungsansätzen im Niedriglohnsektor Gastronomie und bei den Kurierdiensten in Berlin folgen. Auch ein Rückblick auf die Bewegung »Nuit Debout«, die von Frankreich ausging und im vorigen Jahr für einige Wochen für Aufsehen sorgte, ist in Vorbereitung. »Zu den Veranstaltungen wollen wir immer Menschen einladen, die aktiv an den Kämpfen beteiligt waren«, betont Schönafinger. Sie wünscht sich, dass die Filmreihe ZuschauerInnen ermutigt, sich an ihren Arbeitsplätzen nicht alles gefallen zu lassen.

Am Ende des Gesprächs erwähnt Schönafinger, dass es auch um die Perspektive ihres Projekts geht. »Mit der Veranstaltungsreihe hoffen wir, neue Fördermitglieder für labournet.tv zu gewinnen, da dessen Finanzierung nur noch bis zum Jahresende gesichert ist.«
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1048622.klassenkampf-im-kino.html

Peter Nowak

Erst besetzt, dann gefördert

Erinnerungen an einen Jugendklub in Lichtenberg

Immer näher kam der Bürgermeister dem besetzten Jugendklub, dann klingelte er und sagte zu der Beamtin, die ihn begleitete: »Hier sehen wir ein Beispiel von Eigeninitiative, das wollen wir nicht zerstören.« Diese Szene spielte sich 1981 in der Ostberliner Pfarrstraße ab. Dort hatten junge Menschen eine leerstehende Apotheke besetzt und renoviert. Den staatlichen Stellen war das nicht lange verborgen geblieben. Doch der unverhoffte Besuch des Bürgermeisters im Rahmen einer Stadtteilbegehung hatte für die Besetzer günstige Konsequenzen. Der Klub wurde von staatlicher Seite geduldet und bekam finanzielle Unterstützung. Aus dem Jugendklub »Neues Arbeitszentrum Pfarrstraße« (N.A.Pf.) wurde der »Klub der Werktätigen« (KdW). Obwohl er von 1981 bis 1990 das Leben vor allem jüngerer und unangepasster Menschen im Kaskelkiez prägte, schien er keine Spuren hinterlassen zu haben.

Die in Mannheim geborene Künstlerin und Regisseurin Konstanze Schmitt hat die Geschichte des Klubs nun dem Vergessen entrissen. In den letzten Monaten führte sie Gespräche mit zahlreichen ehemaligen Protagonisten, mit Besetzern der ersten Stunde, mit ständigen und gelegentlichen Besuchern. Daraus hat Schmitt ein Skript entwickelt. Vier junge Schauspieler performen die unterschiedlichen Personen. Das 22-minütige Video mit dem Titel »KdW (Klub der Werktätigen)« ist Teil der Ausstellung »Agitate, Educate, Organize«, die sich der Arbeiterkultur widmet. Zu sehen ist sie in der Galerie »After the Butcher« in unmittelbarer Nachbarschaft zum KdW.

In den Gesprächen wird ein anderer Blick auf das Leben in der DDR geworfen. Es ist eine Geschichte vom Eigensinn der Menschen, die in einem Stadtteil lebten, in dem die Häuser verfallen waren. Als dann nach dem plötzlichen Tod des Parteisekretärs im Stadtteil einem der Besetzer des Jugendklubs diese Funktion angetragen wurde, war der nur dazu bereit, wenn sich im Stadtteil etwas ändert. Er hatte damit Erfolg. Kurzfristig wurden die schon beschlossenen Abrisspläne verändert und im Kaskelkiez wurden Häuser saniert und renoviert.

Das Video erzählt die Geschichte einer Initiative in der DDR, die auch durch die staatliche Förderung nicht vereinnahmt wurde. Dafür sorgten schon die Menschen, die den Klub betrieben haben. Kurz wird auf den Herbst 1989 eingegangen, als auch im KdW für wenige Wochen die Utopie einer anderen DDR geträumt wurde. Die Wende war für alle Beteiligten eine Zäsur. Die Menschen mussten sich beruflich neu organisieren und verließen ihren Kiez.

Doch es gibt einen weiteren Grund, warum die Geschichte des Klubs bisher so unbekannt blieb. Er wird in dem Video am Schluss angesprochen. Einer der Hauptorganisatoren hat als IM für die Stasi gearbeitet. Als das bekannt wurde, sind langjährige Freundschaften zerbrochen. Konstanze Schmitt gelang es, einen Teil der Klubbetreiber zum Sprechen zu bringen. Am 6. Mai werden einige von ihnen ab 19 Uhr in der Galerie »After the Butcher« über diese Geschichte einer Selbstorganisation in der DDR berichten.

»After the Butcher«, Spittastr. 25, Lichtenberg. Bis 20. Mai. Mi. 15 – 19 Uhr und nach Vereinbarung: ina@after-the-butcher.de

Peter Nowak

Raus aus dem Hamsterrad!


Die Gruppe Haus Bartleby predigt den Abschied vom Arbeitswahn – doch auch Müßiggang macht Mühe

Mit der Absageagentur machte das Haus Bartleby Furore. Zwischen 2010 und 2012 eröffnete die Gruppe in verschiedenen Städten Büros, in denen Interessierte den Personalbüros nicht etwa ihre besonderen Qualifikationen anpriesen. »Wir bieten Ihnen einen effizienten Service, wenn es darum geht, problematische Stellenangebote zu erkennen und dauerhafte Lösungen zu finden«, so bewarb die ungewöhnliche Einrichtung ihre Dienste. Die Kunden der Absageagentur teilten verschiedenen Personalbüros mit, warum sie eine miese Stelle lieber nicht antreten wollten.

»Ich möchte lieber nicht« wurde zum Leitmotiv des Haus Bartleby, einer Assoziation junger Wissenschaftler, Künstler und Autoren. Als Namensgeber hatten sie sich einen Romanhelden des US-Schriftstellers Hermann Melville ausgesucht. Der Held seiner Erzählung »Bartleby, der Schreiber« hat jahrelang unauffällig als Rechtsanwaltsgehilfe gearbeitet, bis er alle Tätigkeiten mit einem schlichten Satz ablehnte: »I would prefer not«. Der Satz kann mit »ich möchte lieber nicht« oder schlicht und prägnant mit »nein danke« übersetzt werden.

Es ist ein gutes Motto für eine Generation hochqualifizierter, prekärer Wissensproduzenten, die sich nicht mehr meistbietend verkaufen wollten. »Viele von uns waren KarrieristInnen, oder zumindest Leute, die mit den vielbeschworenen ›Chancen‹ ausgerüstet sind, die bei Anpassung ans Konkurrenzsystem ein Leben im Wohlstand der 20-Prozent-Gesellschaft ermöglichen würden«, beschreibt Alix Faßmann vom Haus Bartleby ihre Klientel. Sie ist Mitherausgeberin der Anthologie »Sag alles ab – Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik«. In dem Band fordern KünsterInnen und PublizistInnen die Absage an die »Ideologie des Arbeitswahns« und die »Rückeroberung der eigenen Besinnung« (Martin Nevoigt). Stattdessen möge man den Müßiggang, die Eleganz und die Liebe pflegen. »Hamster, halte das Rad an«, fordert das Herausgeberkollektiv.

»Linkssein ist heute die totale Karriereverweigerung«, dieses Motto fand Anklang bei vielen Prekären, die sich im Alltag ganz pragmatisch ihren Weg durch den Projekte- dschungel bahnen mussten.

Mit den Niederungen der Projektfinanzierung machten auch die Mitstreiter von Haus Bartleby Erfahrungen. »Die Arbeit von Parteistiftungen, die so schillernde Namen wie Rosa Luxemburg und Heinrich Böll tragen, hat sich leider weitgehend als dysfunktional erwiesen, was uns im größeren Maßstab nicht überrascht, jedoch uns persönlich vor Probleme in diesem Jahr stellt«, erklärt der Soziologe und Mitbegründer des Haus Bartleby Hendrik Sodenkamp gegenüber »nd«.

Das Kapitalismustribunal war das größte Projekt des Haus Bartleby. Die genannten Stiftungen hatten, so Sodenkamp, den ersten Teil des Spektakels finanziell unterstützt. Zwischen 1. und 12. Mai 2016 wurden in Wien rund 400 Anklagen aus aller Welt gegen das derzeitige ökonomische System und die Gesetze, die es tragen, verlesen und verhandelt. Dutzende bekannte Wissenschaftler nahmen an der – nach Manier einer Gerichtsverhandlung gestalteten – Performance teil, die Weltöffentlichkeit konnte dem mitunter etwas ermüdenden Verfahren zusehen.

Für die Fortführung des Tribunals gab es allerdings keine Anschlussförderung durch die Stiftungen mehr. Die Pressesprecherin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Jannine Hamilton wollte sich gegenüber »nd« im Detail nicht dazu äußern. »Die Förderung eines Projektes in einem Jahr begründet keinen Automatismus für die weitere Förderung im Folgejahr. Auch beim ›Kapitalismustribunal‹ gab es zu keiner Zeit eine Zusage zur Fortführung an die AntragstellerInnen«, betont Hamilton.

Nun wollen die Aktiven des Haus Bartleby neue Sponsoren für den zweiten Teil des Kapitalismustribunals finden. Zwischen Oktober 2017 und Juni 2018 sollen in sieben öffentlichen Verhandlungen im Berliner Haus der Demokratie exemplarisch 28 Anklagen präsentiert werden. Der Ablauf ist bereits minuziös vorgeplant: Zu jedem Generalfall werden von einem Experten der Kapitalismusanklage Beweise in Form von Urkunden präsentiert. Im Anschluss hat die Verteidigung zehn Minuten, um darauf zu reagieren. Später soll dann in einem Wiener Theater das Urteil über den Kapitalismus gesprochen werden.

Die filmische Dokumentation des Wiener Auftakttribunals wurde in einer eben zu Ende gegangen Ausstellung im Kulturverein Neukölln gezeigt und kann beim Videoportal Youtube betrachtet werden. Ein Großteil der Anklagen blieb leider recht abstrakt. So verklagte ein Antragssteller den Kapitalismus, weil er ihm durch den Zwang, seine Arbeitskraft zu verkaufen, die Lebenszeit stehle. Ein anderer Kläger beschuldigte die Banken und die Geldwirtschaft des Verbrechens.

Das Haus Bartleby ist jetzt einmal wieder sehr praktisch mit den alltäglichen Sorgen im Kapitalismus konfrontiert. Es musste seine Arbeitsräume in Berlin-Neukölln aufgeben, weil die Miete zu teuer geworden ist.

Haus Bartleby (Hg.), Sag alles ab! – Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik, Nautilus, broschiert, illustriert,

160 Seiten

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1047107.raus-aus-dem-hamsterrad.html

Peter Nowak

Klassenkampf ist nicht passé

AGIT-KINO Neue Filmreihe widmet sich hiesigen Arbeitskämpfen, etwa an den Universitäten

Der Name der neuen Filmreihe ist Programm: „Cinéma Klassenkampf“ widmet sich aktuellen Arbeitskämpfen in Berlin. Bei der Auftaktveranstaltung an diesem Montag geht es um die hiesigen Hochschulen. Der Film „Ausbeutung an der TU-Berlin“ (17 Min, BRD 2016) lässt zwei Forscherinnen zu Wort kommen, die sich bei einem Arbeitseinsatz in Uruguay gegen gesundheitsgefährdende Bedingungen wehren wollen sowie gegen eine Projektleitung, die permanent Überstunden verlangt. Doch sie finden kein Gehör und werden als Querulantinnen abgestempelt und isoliert. Zurück in Berlin, wenden sie sich an die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU), und eine lange Auseinandersetzung beginnt. „Seit 2011 sammeln wir Filme aus der ArbeiterInnenbewegung und stellen sie auf der Seite labournet.tv kostenlos und mit Untertiteln zur Verfügung“, erklärt die Mitbegründerin Bärbel Schönafinger vom Kollektiv labournet. tv der taz. Mit der Veranstaltungsreihe wolle man neue Fördermitglieder für labournet.tv gewinnen, da dessen Finanzierung nur noch bis zum Jahresende gesichert sei. Nach den Filmen soll es Diskussionen geben: so am heutigen Montag über Organisationsversuche im prekären Wissenschaftsbereich unter anderem mit der FAU, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der kürzlich gegründeten Hochschulgewerkschaft unter_bau aus Frankfurt am Main.

Aktive kommen zu Wort

In den nächsten Monaten sollen Film- und Diskussionsveranstaltungen unter anderem zum Arbeitskampf an der Charité sowie zu Organisierungsansätzen im Niedriglohnsektor Gastronomie und bei den Kurierdiensten in Berlin folgen. Auch ein Rückblick auf die Bewegung „Nuit Debout“, die für einige Wochen im vorigen Jahr von Frankreich ausgehend auch hier für Aufsehen sorgte, ist in Vorbereitung. „Zu den Veranstaltungen wollen wir immer Menschen einladen, die aktiv an den Kämpfen beteiligt waren“, so Schönafinger. „Doch ich wünsche mir vor allem, dass die Filmreihe ZuschauerInnen ermutigt, sich anihren Arbeitsplätzen nicht alles gefallen zu lassen.

Peter Nowak

aus Taz:

■■6. März, 19 Uhr, Kino Moviemento,

»Wir erlauben uns die Freiheit…«

– Neuer Film mit Originaldokumenten aus der Zeit der Autonomia“  in Italien

„Ich habe diesen Film gemacht, damit die ArbeiterInnen, die die Kämpfe führten,  nicht vergessen werden“, erklärte Pietro  Perroti bescheiden nach einer besonderen Filmpremier, auf der  über 300 Menschen in Berlin ein besonderes Dokument der  ArbeiterInnenbewegung gesehen haben. „Wir brauchen keine Erlaubnis“, lautet der programmatische Titel eines Films, der eine subjektive Geschichte der bewegen Jahre der ArbeiterInnenautonomie in den Jahren 1969 bis 1980  bei Fiat in Turin zum Thema hat.  Ohne Pietro Perroti wäre der Film nicht entstanden.  Als junger Arbeiter zieht er wie viele von Süditalien nach Turin, um bei Fiat zu arbeiten. Wie viele seiner KollegInnen wird er dort politisch aktiv und  kommt bald nicht nur mit dem Fabrikmanagement, sondern auch mit den klassischen Gewerkschaften in Konflikt, die die ArbeiterInnen vertreten wollen und mit  dem Engagement und dem Selbstvertrauen der jungen ArbeiterInnen wenig anfangen können. Denn diese wollten  sich keine Erlaubnis einholen, wenn sie aktiv werden wollen, weder vom Boss, noch von den VorarbeiterInnen noch von der Gewerkschaftsbürokratie.  So begann ab 1969 ein Jahrzehnt der Streiks, Besetzungen und Kämpfe, die Perroti mit einer kleinen Kamera  dokumentierte.
Dieses  wichtige Zeugnis  eines ArbeiteInnenaktivismus , an der sich Zehntausende über Jahre beteiligten, wurde nun auf Deutsch untertitelt.    Viele  der Beschäftigten kamen wie Perroti aus Sizilien   und gerieten mit den Normen des rigiden Fabrikregimes bei FIAT in Konflikt. „Immer wieder wurden Kollegen  beim Verlassen der Fabrik von Aufsehen kontrolliert, nur die Haare zu lang schienen. Überall  waren Zäune wie im Gefängnis, “ erinnert sich Perroti. Das von ihm kreierte Symbol eines von starken Arbeiterfäusten auseinandergedrückten Zauns war häufig zu sehen.  Perroti dokumentiert  den Aufschwung der Bewegung, als die Bosse in der Defensive waren und  Zugeständnisse machen mussten. Deutlich wird aber auch die politische Breite, die nicht konfliktfrei war. Während UnterstützerInnen der  sich damals schon staatstragend gebenden Kommunistischen Partei ihren Vorsitzenden bei einer Rede zu jubelnden, setzten viele linke Gruppen auf die Selbstorganisation. .  Ende der 1970er Jahre schlugen Staat und Konzernleitung zurück. Während die Justiz zunehmend auch gewerkschaftliche Kämpfe verfolgte, wollte das FIAT-Management mit Massenentlassungen die Ordnung im Betrieb wieder herstellen. Höhepunkt war          ein von ihnen gesponserter Marsch der sogenannten „Schweigenden Mehrheit“. Mit italienischer Flagge vorneweg  demonstrierten sie für das Ende der Arbeitskämpfe. Hier wurde  die historische Niederlag der Turiner ArbeiterInnenaktivisten   besiegelt.  Viele der Beteiligten  wollten mit Politik nichts mehr zu tun haben Doch Perroti distanziert sich nicht von den Utopien und Idealen, die die Bewegung prägte.  Das war auch der Grund, warum  er die Aufnahmen, die jahrelang im Schrank lagen, doch noch zu einem Film verarbeitete. Das wäre ohne die Unterstützung  des Istoreco Institut Reggio Emilia nicht möglich gewesen. Er zeigt auch, welche  künstlerischen Mittel die ArbeiterInnen bei ihren Aktionen einsetzen. So wurden auf Demonstrationen große Gummipuppen getragen, die die Fiat-Chefs darstellen und karikieren sollten. Später verlagerte sich der Protest auch an die Toilettenwände. Einige der frechen Sprüche gegen Management, VorarbeiterInnen und später auch StreikbrecherInnen werden im Film gezeigt.  Der Film ist aber nicht nur von  historischem Interesse. In der Diskussion nach der Berliner Premiere erinnerte ein Zuschauer  auf die aktuellen Arbeitskämpfe im Logistiksektor Norditaliens.
Peter Nowak

Wir brauchen keine Erlaubnis, von Pietro Peretti und Pier Milanese, Original mit deutschen Untertieln, 87 Minuten

Informationen und Bezug über: htpps://senzachiederepermesso.org/ Email: WirbrauchenkeineErlaubnis@gmx.de

http://www.labournet.de/express/

express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

Ausgabe: Heft 01-02/2017


Dresdner Opfermythos trifft auf Installation eines syrischen Künstlers

"Das Monument" und viele Fragen, u.a.: Welche symbolische Botschaft geht von einer von Islamisten gegen eine repressive laizistische Regierung verteidigten Barrikade aus?

Vor dem Jahrestag zur Bombardierung Dresden marschieren die Rechten wieder in der sächsischen Stadt auf. Die Mobilisierung der Gegner[1] ist in diesem Jahr allerdings schwächer als im letzten Jahr. Das dürfte auch darin liegen, dass die Nazigegner mit den allwöchentlichen Pegida-Aufmärschen ständig zu tun haben.

„Dresdner Opfermythos trifft auf Installation eines syrischen Künstlers“ weiterlesen

»Wir brauchen keine Erlaubnis«

Pietro Perroti schmuggelte eine Kamera in das FIAT-Werk in Turin und dokumentierte das »rote Jahrzehnt« bei dem Autohersteller

Im August 1969 konnte man in einem Artikel der Wochenzeitung »Die Zeit« lesen: »Nach langen Jahren paradiesischen Arbeitsfriedens brach bei Italiens größtem Automobilkonzern, Fiat in Turin, der Krieg aus. Die ›Chinesen‹, so nennt die italienische Presse die Aufrührer, hatten im Frühjahr den Krieg angezettelt. Im Grunde ist es eine Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Kommunismus chinesischer Prägung.«

Der Autor beschrieb damit den Beginn eines Jahrzehnts der Arbeitskämpfe im norditialienischen FIAT-Werk. Die Auseinandersetzung wurde von den Linken in Westeuropa mit großer Sympathie verfolgt. Ging es doch bei den FIAT-Kämpfen nicht nur um mehr Lohn, sondern auch um die Mitsprache der Arbeiter im Betrieb und ihr Recht, Versammlungen abzuhalten.

»Wir wussten, dass uns keine Gewerkschaft und keine Partei rettet, sondern dass die Arbeiter selber für ihre Rechte kämpfen müssen«, beschreibt Pietro Perroti die damalige Stimmung bei FIAT. Am Dienstag kam der ehemalige Arbeiter zur Deutschlandpremiere des Films »Wir brauchen keine Erlaubnis« nach Berlin.

Perroti ist Protagonist des Films. Als junger Arbeiter zog er nach Turin, um bei FIAT zu arbeiten und politisch aktiv zu werden. Er kaufte sich eine kleine Kamera, die er in die Fabrik schmuggelte, um dort den Arbeitsalltag in Bild und Ton festzuhalten. Dieses wichtige Zeugnis der Arbeitermilitanz, an der sich Zehntausende über Jahre beteiligten, ist nun mit Untertiteln auch in Deutschland zu sehen.

Viele der FIAT-Beschäftigten kamen damals wie Perroti aus Sizilien und gerieten mit den Normen des rigiden Fabrikregimes in Konflikt. »Immer wieder wurden Kollegen beim Verlassen der Fabrik von Aufsehern kontrolliert, nur, weil die Haare zu lang schienen. Überall waren Zäune wie im Gefängnis«, erinnert sich Perroti. Das von ihm kreierte Symbol – ein von starken Arbeiterfäusten auseinander gedrückter Zaun – war häufig zu sehen. Perroti dokumentierte den Aufschwung der Bewegung, als die Bosse in die Defensive gerieten und Zugeständnisse machen mussten.

Deutlich wird aber auch die politische Vielfalt der Kämpfenden, die nicht konfliktfrei blieb. Während Unterstützer der Kommunistischen Partei, die sich schon damals sehr staatstragend gab, ihren Vorsitzenden bei einer Rede zujubelten, setzten viele linke Gruppen auf die Selbstorganisation. Auch eine Fabrikguerilla, die militante Aktionen durchführte, hatte in der Fabrik Unterstützer.

Ende der 1970er Jahre schlugen Staat und Konzernleitung zurück. Während die Justiz zunehmend auch gewerkschaftliche Kämpfe verfolgte, wollte das FIAT-Management mit Massenentlassungen die Ordnung im Betrieb wieder herstellen. Höhepunkt war ein von ihnen gesponserter Marsch der »Schweigenden Mehrheit«. Mit italienischer Flagge vorneweg demonstrierten sie für das Ende der Arbeitskämpfe. Hier zeichnete sich die historische Niederlage der Turiner Arbeiteraktivisten ab. »Ich habe diesen Film gemacht, damit die Arbeiter, die die Kämpfe führten, nicht vergessen werden«, erklärte Perroti. Der Film hat jedoch nicht allein historischen Wert: Im Logistiksektor in Norditalien werden auch aktuelle Kämpfe von beiden Seiten mit großer Härte geführt.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1039141.wir-brauchen-keine-erlaubnis.html

Peter Nowak

Digitale Selbstüberwachung

Self-Tracking ist zu einem schnell wachsenden Trend geworden.Immer mehr Menschen überwachen mittels tragbarer digitaler Geräte minutiös ihren Lebenswandel – und das freiwillig.

Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät verkündete am Bildschirm: «Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 10 000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 15 000.» Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Schritte und die Demoroute genau aufgezeichnet, auch konnte man die Laufgeschwindigkeit feststellen und obendrein erfuhr Schaupp noch, wie viele Kalorien er an der Demo verbraucht hatte. Solch ein perfektes Demonstrationsprotokoll dürfte der Polizei und den unterschiedlichen erfassungsämtern ungeahndete Überwachungsöglichkeiten offenlegen. Trotzdem erfreut sich Self-Tracking ungebrochener Beliebtheit. Simon Schaupp hat in seinem kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienene Buch mit dem Titel «Digitale Selbstüberwachung – Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus» dieses Phänomen eingeordnet, in die Bemühungen, den Kampf gegen alles, was die reibungslose Anpassung an die kapitalistischen Erfordernisse und Zumutungen behindert, ins eigene Individuum zu verlagern.

Den Feind in Dir bekämpfen

«Denn im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Joggingrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen.» Schaupp zeigt in dem Buch anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie diese Selbstkonditionierung funktioniert. So findet man auf der Homepage des Self-Tracking-Anbieters «Runtastic» Selbstbezichtigungen dieser Art: «Gegen mich selbst anzutreten und mein Bestes zu geben macht Spass und ist dank der Rekorde-Funktion auch ganz easy! Es fühlt sich toll an, meine eigenen Bestleistungen immer wieder zu unterbieten und meine neuesten Rekorde auf Runtastic.com zu bewundern.» Auch Diätprogramme werben mit dem Grundsatz, dass mit eisernen Willen alles zu schaffen ist . Da ist es nur konsequent, dass ein Zeitsoldat das Abnehmen zu einer Frage der Disziplin erklärt. Sehr überzeugend hat Schupp den Begriff des kybernetischen Kapitalismus für die Bezeichnung der aktuellen Rgulationsphase eingeführt, der anders griffe wie Postfordismus, deutlich macht, dass weiterhin die kapitalistische Verwertungslogik dominiert. Schaupp bezeichnet Self-Tracking als «Teil einer kapitalistischen Landnahme, im Zuge derer sich Unternehmen die Produkte unbezahlter Arbeit in Form von Daten aneignen und dann als Ware zu verkaufen». Der Soziologe interpretiert den kybernetischen Kapitalismus als Reaktion auf die systemischen Notstände des Postfordismus, wie den Zwang zur ständigen Rationalisierung und der Ausweitung der Warenproduktion. Hier liefert Schaupp einen materialistischen Erklärungsansatz für den Tracking-Boom. Wenn der kapitalistische Imperativ «Du bist nichts, Deine Arbeitskraft ist alles» so verinnerlicht ist, können die ideologischen Staatsapparate, die seit Beginn des Kapitalismus mit Ideologie und Repression dafür sorgen, dass sich die Subjekte der Kapitallogik beugen, etwas in den Hintergrund treten, werden aber nie ganz verschwinden. Die Situation ist vergleichbar mit einer Grossdemonstration, bei der die eigenen OrdnerInnen für Ruhe und Ordnung sorgen. Da aber auch da immer die Möglichkeit besteht, dass die störrischen Elemente die Oberhand gewinnen, ist sie jederzeit einsatzbereit. Nicht anders ist der Umgang mit der individuellen Polizei. Wenn man es doch nicht mehr als so an genehm empfindet, immer und überall kapitelgerecht zu agieren, gibt es vielfältige Druckmittel von aussen. Viele Self-Tracking-Technologien werden schon längst von diversen Firmen zur Totalüberwachung der Beschäftigten eingesetzt. «RescueTime ist eine Aufklärungsanwendung für Firmen, die Manager informiert hält, über ihre wertvollste Ressource», heisst es auf der Webseite der Zeitmanagement-Software. Die Überwachung wird dann als Kultur der Arbeitsplatztransparenz schöngeredet, tatsächlich handelt es sich aber um eine sehr ein seitige Form der Transparenz. In den fordistischen Arbeitsverhältnissen gab es immerhin wenigstens noch einige Nischen, in denen sich die Beschäftigten zumindest für kurze Zeit dem Diktat der Maschinen entziehen konnten. Das fällt im Zeitalter der neuen Technologien immer schwerer.

Self-Tracking per Rezept

Längst haben Politik und Wirtschaft Druckmittel in Stellung gebracht, falls die Freiwilligkeit nicht mehr gewährleistet ist. Schon hat das Gesundheitsministerium in Grossbritannien Ärztinnen und Ärzte aufgefordert, ihren PatientInnen Self-Tracking-Anwendungen zu verschreiben, «damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verntwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen». Krankenkassen belohnen besonders eifrige Self-TrackerInnen mit Prämien. Wer nicht mitmacht, zahlt mehr. Auch die Europäische Kommission hofft, mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget zu erzielen. Im letzten Kapitel seines Buches stellt Schaupp die Frage, ob in einer Gesellschaft, die nicht von der Kapitalverwertung bestimmt ist, die Kybernetik im emanzipatorischen Sinne verwendet werden könnte. Eine Antwort gibt er nicht. Er hätte die Frage mit Blick auf ein historisches Beispiel bejahen können. Der von ihm mehrfach zitierte Stafford Beer, ein wichtiger Theoretiker der Kybernetik, war auch in Chile unter der Regierung der sozialistischen Regierung Allende an einem Projekt beteiligt, das eine wirtschaftliche Planung mit Hilfe kybernetischer Methoden erproben sollte. Dadurch sollte eine Planung mit den Belegschaften und grossen Teilen der Bevölkerung gewährleistet werden. Der rechte Putsch gegen die «Unidad Popular»-Regierung beendete den Versuch, Kybernetik in emanzipatorischem Sinne zu nutzen. Im Hier und Jetzt drängt sich nach der Lektüre von Schaupps empfehlenswerten Buch eine andere Frage auf: Ist es nicht höchste Zeit, dass sich die Menschen offensiver den Self-Tracking-Methoden verweigern, dem Markt und dem Staat definitiv erklären, sich nicht mehr ständig weiter optimieren zu wollen, nicht mehr immer neue Rekorde und Höchstwerte aus sich herausholen zu lassen?

Peter Nowak

vorwärts – 23. Dez. 2016

SIMON SCHAUPP: DIGITALE SELBSTÜBERWACHUNG – SELF-TRACKING IM KYBERNETISCHEN KAPITALISMUS. VERLAG GRASWURZEL-REVOLUTION, HEIDELBERG 2016. 14,90 EURO

Der Artikel ist auf Schattenblick dokumentiert:

http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/vorw1252.html

Humor eint Polizei und Autonome

Kurt Jotter will die Mieterbewegung durch Spaßguerilla-Aktionen unterstützen

»Das Lachen im Halse« lautete der Titel einer Ausstellung mit Plakaten von Ihnen im Kreuzbergmuseum. Welche Rolle spielt Humor Ihrer Arbeit?

Der spielt sicher eine große, weil übergreifende Rolle, wenn man als Multi-Media- und Aktionskünstler arbeitet, der zwischen Performance, Plakatkunst, Video, Theater und Event-Gestaltung wechselt. Ich suche zu den jeweiligen politischen, wie gesellschaftlichen Themen die passenden Formen und Kombinationen heraus. Ich sehe die Aktionen als Real-Montage im Öffentlichen Raum – als theatralische Inszenierung mit Biss und oft auch mit Satire. Das Lachen soll im Halse stecken bleiben und dadurch entsteht der Anreiz, sich mit der Sache zu befassen. Es geht auch darum, unter den Akteuren ein Gefühl der Befreiung und Erhabenheit zu erzeugen, ganz im Sinne zweier meiner Vorbilder John Heartfield und Dario Fo: »Es wird ein Lachen sein, dass sie beerdigt.«

Haben Sie auch Bekanntschaft mit der Linken oft vorgeworfenen Humorlosigkeit gemacht?

Wir agierten Mitte der 70er bereits in der damals schnell wachsenden Alternativbewegung, die sich von der Realitätsferne und Humorlosigkeit der K-Gruppen-Bewegung abgestoßen fühlte. Mit unserer künstlerischen Arbeit schufen wir andere Formen der Auseinandersetzung. Für uns gab es die Trennung in Kunst und Politik nicht. Gemeinsam mit der 2014 tragischerweise verstorbenen Kulturwissenschaftlerin Barbara Petersen gründete ich 1977 die Künstlergruppe »Foto, Design, Grafik, Öffentlichkeit« ( FDGÖ). Der Name und das Logo spielten auf die viel zitierte freiheitlich-demokratische Grundordnung und Berufsverbote an. Aber wir haben auch Aktionen ganz ohne Humor in packenden Bildern gezeigt. Beispielsweise »Schaut auf diese blutenden, leidenden TV-Geräte!« zum Golfkrieg vor der Berlinale-Eröffnung. Ein Turm mit blutgefüllten Fernsehern wurde umgestoßen, die Geräte von Sanitätern verbunden und anschließend auf Bahren vom Feld getragen – eine Metapher auf die damalige Kriegs-Berichterstattung in der Manie von Videospielen.

Mit dem 1987 gegründeten Büro für ungewöhnliche Maßnahmen bekamen Sie Preise und viele Berichte in den Medien. Was waren die Höhepunkt Ihrer Arbeit?

Da gab es am 11. Juni 1987 unsere Startaktion »Der Mauerbau auf der Kottbusser Brücke« zur Abriegelung von Kreuzberg während des Reagan-Besuchs. Auch die B750-Parade mit 3000 teilnehmenden Parodisten aus der gesamten politischen Szene als Abgesang auf die 750Jahr-Feiern war eine vielbejubelte Aktion. Danach kamen unsere Aktionen zum IWF 1988 in Berlin. Einen persönlichen Höhepunkt habe ich dann bei meinem Comeback vor drei Jahren erlebt, als ich in Realmontage einer Merkel-Performance zwei Großdemos besucht habe. Es war das bislang erhebendste Gefühl, hinter einer Maske durch zwei kleine Schlitze zusehen zu dürfen, wie sich 50 000 Demonstranten vor Lachen biegen. Der Mauerbau und »Merkel goes to demo« sind auch auf YouTube zu sehen.

Hat denn die Polizei Ihren Humor verstanden?

Ich bekam wegen dem Anti-Kreuzberger-Schutzwall eine Anzeige wegen einer nichtgenehmigten Demonstration. Der zuständige Einsatzleiter der Polizei sprach sich für einen Freispruch aus und hat sich dann oft für den Dienst bei unseren Aktionen einteilen lassen. Wir gehörten zu den einzigen, die gleichzeitig bei weiten Teilen der Autonomen und der Polizei beliebt waren. Der Humor scheint also beiden Seiten gemeinsam zu sein.

Aber es kam doch auch zu Festnahmen. War da nicht Schluss mit lustig?

Nein, Schluss war da nie. Bei meiner Solo-Aktion als lebende Karikatur auf Jörg Haider beispielsweise, der live – nur mit braunem Mantel, transparenter Strumpfhose und mit Blauem FPÖ-Schal bekleidet – als Exhibitionist mit einem dicken Hakenkreuz vorm Geschlechtsteil im öffentlichen Salzburger Raum seinen Salon-Faschismus demonstrieren durfte – bis zur Festnahme. Man lotet vorher aus, wo rechtliches Unheil droht und reizt das dann aus. Da ist dann die Berufung auf die Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit auch ein wichtiges Mittel. Also kann eine Festnahme sogar die Fortsetzung der Kunstaktion sein.

Was bedeutete der Fall der Berliner Mauer für Ihre Arbeit?

Wir weiteten unser Aktionsfeld sofort auf Ostberlin aus und nahmen Kontakt mit den oppositionellen Gruppen und den Kunststudenten aus Weißensee auf, die sich ja schon sehr kreativ auf der ersten DDR-Großdemo zeigten. Wir organisierten das Alternativen-Festival »Alles Gute wächst von Unten« und wehrten uns mit vielen aus den Kulturbereichen gegen den »Anschluss«. Wir waren mehr für eine gleichberechtigte Fusion auf Basis des Runden Tisches und gegen ein »Unheilbares Deutschland«, wie eine unserer Aktionen hieß.

Aktuell sind Sie vor allem in Mieten- und stadtpolitischen Berliner Initiativen aktiv. Wie lassen sich dort ihre Grundsätze und Vorgehensweise – auch im Zuge der aktuellen Vereinigungsprozesse der Initiativen – umsetzen?

Der Grundsatz einer gleichberechtigten Fusion gilt für alle, die nicht möchten, dass andere bei solchen Prozessen über den Tisch gezogen werden. Wir haben mit dem Hearing bereits einen Prozess eingeleitet, bei dem alle gleichberechtigt ihre Anliegen präsentieren konnten. Hierin hat uns gerade Andrej Holm sehr unterstützt. Deshalb kämpfen wir alle darum, dass er beim Senat unser Ansprech-Partner ist und bleibt. Soviel Vertrauen muss sein – von allen Seiten! Aber es ist auch das Vertrauen in ein »Gemeinsam statt Einsam« und ein Neues Wir-Gefühl, das altes Grabenkämpfen und Vormacht-Denken beiseite schiebt. »Wir müssen als verantwortlich handelnder, wichtiger Teil der Stadtpolitik wahr und ernst genommen werden. Das geht nur wenn wir uns als Teile einer Bewegung gegenseitig selbst wahr und ernst nehmen« – heißt es im Vernetzungsaufruf. Arbeitsgruppen sind gebildet und das nächste Treffen festgelegt. Damit wird dann natürlich auch die PR-Arbeit mit künstlerischen Aktionen wieder erheblich effektiver. Come together – That’s dialektik.

Interview: Peter Nowak

Kein Herz für Arbeiter

Buchbesprechung

Christian Baron: Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2016, 288 Seiten, 13 Euro, ISBN 978-3-360-01311-8

Der Aufstieg des Rechtspopulismus in vielen europäischen Ländern ruft unter Linken  Besorgnis hervor. Besonders seit klar ist, dass ein Teil ihrer Wählerbasis aus der alten Arbeiterklasse kommt. Dabei handelt es sich oft um Regionen, in denen mit den fordistischen Fabriken auch die alte Arbeiterkultur verschwunden ist. So hat der Front National in Frankreich dort, die bis in die 1970er Jahre dominierende Kommunistische Partei beerbt und wurde zur Partei des in seinem Stolz verletzten zu Proleten herabgesunkenen Proletariats. In dem Buch „Rückkehr nach Reims“ stellt sich der Soziologe Didier Eribon die Frage, warum das Band der Linken zur Arbeiterklasse durchtrennt wurde und welchen Anteil die Politik der linken Parteien daran hat (siehe Rezension in GWR 412). Eriborn spart den subjektiven Faktor nicht aus. Er beschreibt, wie er selber als Kind einer Arbeiterfamilie im akademischen Milieu von Paris Fuß fasste, bevor er als linker Akademiker in seine Heimatstadt zurückkehrt.

Nun hat Christian Baron, der Feuilletonredakteur des Neuen Deutschland, auf Eribons Spuren seine Rückkehr nach Kaiserslautern vollzogen. Gleich das erste Kapitel seines im Verlag „Das Neue Berlin“ erschienenen Buches mit dem Titel „Proleten, Pöbel, Parasiten“ beginnt mit einer Szene, die eigentlich eine Antwort auf seine im Untertitel vertretenen These sein könnte: „Warum die Linken die Arbeiter verachten“.

Das erste Kapitel beschreibt, wie der achtjährige, asthmakranke Christian von seinem betrunkenen Vater geschlagen und gegen die Wand geschleudert wird. Die Szene hat sich Christian Baron eingeprägt, weil er erstmals Widerstand und sich mit einem Holzscheit vor seinen Vater aufbaute. Das scheint den Mann mit den Kräften eines Möbelpackers zumindest so beeindruckt zu haben, dass er von seinem Sohn für dieses Mal abließ. Dass es sich bei der Gewalttätigkeit um keine Ausnahme handelte, wird im Buch deutlich. Baron zieht einen Zusammenhang zwischen dem frühen Krebstod seiner Mutter und dem gewalttätigen Vater. Hier liefert Baron Gründe, warum Linke bestimmte Aspekte des realen proletarischen Lebens ablehnen. Damit wäre er auch ganz nah bei Eribon, der als Schwuler den Kontakt zu seinem homophoben Vater abgebrochen hatte und der aktuell vor einer linkspopulistischen Politik warnt. Die Flucht aus Reims bzw. aus Kaiserslautern war also zunächst ein Akt der individuellen Befreiung. Doch bei Baron wird die Szene des gewalttätigen Vaters im ersten Kapitel nicht weiter aufgegriffen. Es dominiert die steile These, dass die Linken die ArbeiterInnen hassen und damit implizit mit dafür verantwortlich sind, dass diese rechts wählen. „Warum gewinnt ausgerechnet die AfD die Stimmen der Arbeiter?“, lautet eine der Fragen auf der Rückseite des Buches. Dass diese WählerInnen, egal aus welcher Schickt sie kommen, womöglich ein rassistisches Weltbild haben könnten, wird gar nicht zur Diskussion gestellt. Stattdessen wird die Verantwortung bei einer Linken gesucht, die das Band zu den ArbeiterInnen gekappt habe. Mit seinen subjektiven Berichten aus dem Studierendenalltag kann Baron zumindest den Hass auf die ArbeiterInnen nicht belegen.

Ressentiment gegen Intellektuelle

Doch politisch fataler ist, dass Baron in dem Buch ein Ressentiment gegen Intellektuelle bedient, die Gedanken formulieren, die nicht gleich allgemein verständlich sind. Das wird im Kapitel „Arbeiter vergraulen und Adorno rezitieren“ besonders deutlich. Dort verteidigt er Deutschlandfahnen schwingende Fußballfans gegen Überlegungen von Adorno, die dieser in einen Radiobeitrag über den deutschen Fußballpatriotismus entwickelt hatte: „Für zwei Stunden schweißt der große Anlass die gesteuerte und kommerzialisierte Solidarität der Fußballinteressenten zur Volksgemeinschaft zusammen.

Der kaum verdeckte Nationalismus solcher scheinbar unpolitischen Anlässe von Integration verstärkt den Verdacht ihres destruktiven Wesens.“ Dafür schmäht Baron Adorno als „einen Lehnstuhlphilosophen mit greiser Glatze und klobiger Brille“, der sich „geschwollen ausdrückt und über etwas redet, von dem er offenbar keine Ahnung hat“.

Warum der aus dem Exil zurückgekehrte Adorno nicht in das „Wir sind wieder wer“-Geschrei einstimmen wollte, das nach dem als „Wunder von Bern“ gefeierten WM-Sieg der BRD-Mannschaft 1954 einsetzte, scheint Baron keiner Überlegung Wert. Er sieht hier eine Arbeiterkultur angegriffen und geht in die Verteidigungshaltung. Doch wer wirklich einen Beitrag zur Emanzipation der ArbeiterInnen leisten will, sollte Adornos Erkenntnisse den Menschen nahebringen, die sich für einige Wochen im Fußballrausch ergehen, nur noch Deutschland sein sollen und manchmal gleich mehrere schwarz-rot-goldene Fahnen mit ihren Autos spazieren fahren.

Es ist nicht arbeiterInnenfeindlich, Kritik an dieser Zurichtung für die Interessen von Staat und Nation zu formulieren.

Es zeugt eher von einer Verachtung der ArbeiterInnen, wenn man ihnen dabei noch auf den Rücken klopft und ihnen zuruft, bleibt wie ihr seid. Wenn dann in einen der letzten Buchkapitel Christian Baron mit zwei seiner ehemaligen JugendfreundInnen, die in Kaiserslautern geblieben sind, in einer Busstation spricht, dann erinnert das an Rapper, die sich ein Gangsterimage geben, obwohl sie längst in einem Bungalow leben.

„Kein Herz für Arbeiter“ lautet der Titel des Kapitels, in dem sich auch die Adorno-Schelte findet. Mit dem Spruch bewirbt der Eulenspiegel-Verlag auch das Buch. Die Analogie zur Bild-Kampagne „Ein Herz für Kinder“ ist sicher nicht zufällig. Andere bekundeten ein Herz  für Tiere. Weder Verlag noch Autor scheint aufgefallen zu sein, dass diese paternalistische Parole wenn nicht Hass so doch Verachtung für die Arbeiter ausdrückt.

Linke Intellektuelle könnten eine ÜbersetzerInnenfunktion einnehmen

Dabei könnten linke Intellektuelle, zumal, wenn sie aus dem Arbeitermilieu kommen, tatsächlich zur Emanzipation der ArbeiterInnen beitragen. Tatsächlich ist es ein großes Problem, dass soziologische, politische und philosophische Texte oft außerhalb des akademischen Milieus schwer verständlich sind. Dafür sind auch „Das Kapital“ und andere Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels wichtige Beispiele. Dass diese Schriften in großen Teilen der Arbeiterklasse rezipiert wurden, war das Verdienst einer sozialistischen Bewegung, für die Bildung ein zentrales Anliegen war, um die Welt zu erkennen und zu verändern. Der Soziologe Jürgen Kuczynski hat in seinem Monumentalwerk „Die Lage der Arbeiter unter den Kapitalismus“ sehr gut beschrieben, welche Rolle diese Bildungsbewegung für die Entstehung eines politischen Bewusstseins bei großen Teilen des organisierten Proletariats hatte.

In Arbeiterbildungsschulen wurden literarische, philosophische aber auch naturwissenschaftliche Schriften gelesen, interpretiert und diskutiert. Linke Intellektuelle spielten als InterpretInnen und ÜbersetzerInnen der oft schwierigen Texte eine wichtige Rolle. So könnten auch heute linke AkademikerInnen aus der ArbeiterInnenklasse, wie Baron, aktuelle Texte zu Klasse und Geschlecht, zu Antisemitismus und Nationalismus so übersetzen, dass sie auch jenseits des akademischen Milieus verstanden werden. Das wäre ein realer Beitrag zur Emanzipation der ArbeiterInnen.

In den 1970er Jahren, als linke JungakademikerInnnen vor den Fabriken agitierten, gab es mehrere Strömungen. Die meisten Mitglieder der kommunistischen Gruppen passten sich bis auf die Haarlänge der vermeintlichen ArbeiterInnenkultur an und hatten doch wenig Erfolg.

Vor allem jüngere Beschäftigte hatten andere Vorstellungen von ArbeiterInnenemanzipation. Viele ließen sich die Haare wachsen und erhofften sich durch den Kontakt mit den jungen Linken einen Zugang zur linken Subkultur. Nicht wenige tauschten die Fabrik mit der linken Wohngemeinschaft.

Peter Nowak

Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 415, Januar 2017, www.graswurzel.net