Ein Buch für die toten Flüchtlinge

Verlag veröffentlicht Liste mit Namen von verstorbenen Migranten

Zum Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2018 soll im Berliner Hirnkost-Verlag ein Buch erscheinen, in dem die bekannten Namen von 35.000 Menschen aufgelistet sind, die in den vergangenen 25 Jahren an den europäischen Außengrenzen bei der Flucht ums Leben kamen. Auf den mehr als 300 Buchseiten…

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Das Feedback wirkt

Peter Nowak über einen Erfolg der Amazon-Beschäftigten in Polen

Der Online-Händler Amazon hat in Polen zum ersten Mal mit den beiden Gewerkschaften Arbeiterinitiative (IP) und Solidarność eine Vereinbarung unterzeichnet. Danach soll das einschüchternde Mitarbeiterbewertungssystem »Feedback« bis Ende Januar ausgesetzt werden. In dieser Zeit soll zusammen mit den beiden Gewerkschaften eine Nachfolgeregelung erarbeitet werden. Die Geschäftsleitung habe sich verpflichtet, mit der Betriebsgruppe in Poznań acht Gesprächsrunden zu führen, berichtet die syndikalistische Gewerkschaft IP. Die Vereinbarung ist der Beweis, dass auch ein weltweit agierender Konzern wie Amazon sehr wohl auf gewerkschaftlichen Kampf reagieren muss.

Das Feedback-System ist unter den Beschäftigten verhasst. Denn es bedeutet, dass ihre Arbeit durchgängig überwacht wird. Und das wird ihnen auch deutlich gemacht, etwa indem Vorgesetzte am Arbeitsplatz vorbeischauen und sich aufmerksam erkundigen, ob etwas nicht in Ordnung sei, man sei ja schon zum dritten Mal auf der Toilette gewesen. Beim freundlich-disziplinierenden Gespräch bleibt es aber nicht. Beschäftigte berichten, sie hätten schon eine Abmahnung erhalten, weil sie in fünf Minuten zweimal inaktiv waren
Der Zeitpunkt für das Entgegenkommen des Konzerns ist sicher kein Zufall. Schon bald beginnt das wichtige Weihnachtsgeschäft. Da will man keine Störung. In Deutschland nutzen Amazon-Beschäftigte die Adventszeit immer wieder, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Bereits seit 2013 kämpfen sie für einen Tarifvertrag nach den Konditionen des Einzel- und Versandhandels. Amazon bezahlt nach dem schlechteren Logistikvertrag und verweigert bis heute Gespräche mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Auch in Deutschland ist der Unmut über ein Bewertungssystem, das zur Arbeitshetze antreibt und Angst vor Fehlzeiten erzeugt, groß. Wenn zuletzt die Stimmen lauter wurden, die den Beschäftigten eine Niederlage prognostizierten, dann wurden sie durch den Erfolg der Proteste in Polen eines Besseren belehrt.

Dass der Konzern hier die Vereinbarung mit der im Vergleich zu ver.di kleinen linken IP getroffen hat, ist auch deren Kampfbereitschaft geschuldet. Die IP hat durch ihr Engagement in Poznań viele Unterstützer gewonnen, während am zweiten polnischen Amazon-Standort in Wrocław die konservative Gewerkschaft Solidarność bei den Beschäftigten dominiert. Im Kampf gegen das Bewertungssystem ziehen die beiden sehr unterschiedlichen Gewerkschaften aber an einem Strang.

Amazon hat seine Filialen in Polen auch aufgebaut, um dorthin auszuweichen, wenn in Deutschland gestreikt wird. Die Vereinbarung zeigt, dass sich die Manager*innen getäuscht haben, wenn sie glaubten, dort würden die Beschäftigten nicht für ihre Interessen kämpfen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1103864.das-feedback-wirkt.html

Peter Nowak

Bayern-Wahl als Ziel von Online-Aktivisten?

Das Institute for Strategic Dialogue beobachtet nichtkonforme Meinungen. Gerne wird übersehen, dass es auch linke Brexitbefürworter gibt

Vor der Bayernwahl haben unterschiedliche Verschwörungstheorien Hochkonjunktur. Natürlich gibt es diverse rechte Verschwörungstheorien, die auch immer wieder Gegenstand von Diskussionen sind. Doch es gibt auch die Verschwörungstheorien der sich als liberale Mitte verstehenden Verteidiger des Status quo. Da wird schon von der Beeinflussung von international vernetzten Online-Aktivisten in die bayerischen Landtagswahlen gewarnt [1]. Als Gegenmittel gibt es dann die sogenannten Trollbeobachter, die eigentlich eine NGO zur Beobachtung abweichender Meinungen sind und sich mit dem Label Kampf gegen Rechts als Teil der Guten gegen die Bösen geriert.


Bei der Bundestagswahl 2017 haben wir beobachtet, wie rechte Trolle koordiniert Desinformations- und Einschüchterungskampagnen im Netz betrieben und so den öffentlichen Diskurs zu Gunsten rechter Themen und Erzählungen verzerrten.

Julia Ebner vom Londoner Institute for Strategic Dialogue [2] (ISD)

„700 Posts, 16.830 Kommentare und 1,2 Millionen Likes werteten die Forscher_innen damals aus“, so der Bericht Hass auf Knopfdruck [3]. Über soviel Engagement würde sich jeder Staatsschutz freuen. Man könne „zum Beispiel beobachten, wenn ein Artikel oder ein Post überdurchschnittlich performt“, erklärt Jakob Guhl, der nach der Taz „Russland-affine und Verschwörungstheorien zugeneigte Facebookgruppen und die rechte Vlogger-Szene auf YouTube beobachtet“. Dabei müssen die hauptamtlichen Trollbeobachter einräumen, dass es für die Beeinflussung eigentlich keine Beweise gibt.

Wie groß der Effekt solcher Echokammern letztlich auf Wahlentscheidungen und auf die Diskussion im Mainstream ist, lässt sich auch trotz der Analysetools nur schwer quantifizierbar messen. Alexander Sängerlaub, der für die Stiftung Neue Verantwortung in Berlin ebenfalls zu rechten Einflüssen in Sozialen Netzwerken forscht, hält ihn für eher gering – einfach weil laut Erhebungen seines Instituts [4] nach wie vor mehr als 60 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung Vertrauen in die Mainstream-Medien haben und sich daher Desinformationskampagnen oft unterhalb des allgemeinen Radars bewegen.

taz, 8.10.2018

Wer das Performen eines Artikels oder eines Tweets für den Aufstieg der rechten verantwortlich macht, braucht nicht darüber zu diskutieren, welche Verantwortung der Kapitalismus für die Rechtsentwicklung trägt und wie sehr sich bei allem Feindschaft die liberalen Eliten und ihre rechten Gegner gleichen. Serge Halimi und Pierre Rimbert sehen hier und nicht in einen performenden Tweet die eigentlichen Ursachen für die Krise der bürgerlichen Demokratie. In einem Essay [5] schreiben sie:


Zum anderen haben die Erschütterungen des Jahres 2008 samt ihren Nachbeben auch die politische Ordnung durcheinander gewirbelt, in der die demokratische Marktwirtschaft als Vollendung der Geschichte gilt. Die aalglatte Technokratie, die von New York oder Brüssel aus im Namen des Expertenwissens und der Modernität unpopuläre Maßnahmen durchsetzte, hat den Weg für populistische und konservative Regierungen geebnet. Trump, Orban und Jarosław Kaczyński berufen sich genauso auf den Kapitalismus, wie Barack Obama, Angela Merkel oder Emmanuel Macron es tun. Aber es handelt sich um einen anderen, von einer illiberalen, nationalen und autoritären Kultur geprägten Kapitalismus, der eher das flache Land als die Metropolen repräsentiert.

Serge Halimi und Pierre Rimbert, Le Monde diplomatique

Beide Fraktionen stellen die Kapitalverwertung nicht infrage, wie Rimbert und Halimi richtig feststellen:

Das Ziel der neuen Kapitalisten ist dasselbe wie bei den alten: die Reichen noch reicher zu machen. Nur ihre Methode ist eine andere. Sie nutzen die Gefühle aus, die Liberalismus und Sozialdemokratie bei großen Teilen der Arbeiterklasse auslösen: Abscheu, vermischt mit Wut.

Serge Halimi und Pierre Rimbert

Einseitige Berichterstattung zum Brexit

Diese Einschätzung trifft auch auf den Mainstream der britischen Brexitgegner und Brexitbefürworter zu. Viele EU-Befürworter sehen dort größere Möglichkeiten, eine Politik für das Kapital zu machen, und auch ein Teil der Brexitbefürworter will aus Großbritannien eine Art Sonderwirtschaftszone machen, in der die Macht des Kapitals noch wächst.

Wenn wir in Deutschland über den Brexit lesen, wird überwiegend behauptet, dass er das Werk von Nationalisten und Wirtschaftsliberalen ist. Es kommen auch überwiegend Interessengruppen zu Wort, die durch einen EU-Austritt Nachteile befürchten. Nur ganz selten wird erwähnt, dass es auch linke Brexit-Befürworter gibt. Der Taz-Auslandsredakteur Dominic Johnson hat in der letzte Zeit ab und an Texte aus dieser Richtung veröffentlicht. So hat er einen Text des Gründers der linken Organisation The Full Brexit [6] Philip Cunliffe übersetzt [7].

Wir von „The Full Brexit“ halten den Brexit für eine zumindest potentielle Verkörperung traditionell linker Ideale, nicht zuletzt die Souveränität des Volkes gegen eine ferne, sich der Rechenschaft entziehende bürokratische Macht. Viele von uns sehen das Brexit-Votum als Volksaufstand gegen einen parteiübergreifenden Elitekonsens und als Geltendmachung von Demokratie gegen die von der EU verkörperte Technokratie und transnationale Regierungsführung.

Philip Cunliffe

Allerdings triftet auch Cunliffe mit seiner linken Brexit-Verteidigung in idealistische Sphären ab:

Für uns ist der Brexit eine Chance, die linken Ideale zurückzugewinnen. Es geht ums Ganze. Das Wachstum des Rechtspopulismus in ganz Europa zeigt uns, was geschehen würde, wenn britische Politiker das Versprechen des Brexits nicht erfüllen und mit einer EU verbunden bleiben, die danach strebt, den Volkswillen und die Demokratie zu begrenzen. Je länger die Linke die vom Brexit verkörperten Ideale und Chancen verleugnet, desto höher wird langfristig der Preis.

Philip Cunliffe

Hier ist viel von linken Idealen die Rede, die aber nicht näher definiert werden. So wie die Brexitgegner argumentieren auch die Befürworter gerne mit Werten, Idealen und Chancen. Doch es gibt politische Kräfte, die im Brexit eine Chance für die Linke sehen. Diese unterschiedlichen Eurokonzepte wurden auch auf dem Attac-Europakongress [8] in Kassel vor einigen Tagen diskutiert (Ist ein „demokratisches, friedliches, ökologisches, feministisches, solidarisches“ Europa möglich? [9]). Der Streit spitzt sich letztlich auf die Frage zu: Ist ein soziales Europa mit oder gegen die aktuelle EU möglich? Das sind Fragen, die es wert sind, diskutiert zu werden. Die Frage allerdings, wie ein Artikel oder ein Tweet performt oder ob hinter dem Brexit auch russische Trolle stehen, sollte man getrost Verschwörungstheorien überlassen.

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.taz.de/!5538004/
[2] https://www.isdglobal.org/
[3] http://www.isdglobal.org/wp-content/uploads/2018/07/ISD_Ich_Bin_Hier_2.pdf
[4] https://www.stiftung-nv.de/de/publikation/verzerrte-realitaeten-fake-news-im-schatten-der-usa-und-der-bundestagswahl
[5] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5527381
[6] https://www.thefullbrexit.com/
[7] http://www.taz.de/!5533273/
[8] https://www.ein-anderes-europa.de/index.php?id=76417
[9] https://www.heise.de/tp/features/Ist-ein-demokratisches-friedliches-oekologisches-feministisches-solidarisches-Europa-moeglich-4186910.html

Soros und der israelbezogene Antisemitismus

Warum gibt es in Deutschland wenig Empörung, wenn die Soros-Stiftung aus einem EU-Land vertrieben wird?

Die Soros-Stiftung hat vor einigen Tagen in Berlin ihre Arbeit aufgenommen, nachdem sie in Ungarn wegen ständiger Anfeindungen nicht mehr arbeiten konnte. Eigentlich hätte die Meldung für Schlagzeilen sorgen müssen. Denn damit hatte eine maßgeblich von der rechten ungarischen Regierung inszenierte Kampagne Erfolg.

In Ungarn war der jüdische Holocaust-Überlebende zum Staatsfend Nr.1 erklärt worden. Die Regierung verabschiedete zahlreiche Gesetze, um die liberalen Vereine zu iliegalisieren. Im Juni etwa hatte das das Parlament in Budapest ein „Stop-Soros“-Gesetz verabschiedet. Demzufolge werden unter anderem Flüchtlingshelfer mit Gefängnisstrafen bedroht. Andere Gesetze richteten sich zuletzt gegen die von Soros finanzierte Central European University, die allerdings weiter in Budapest bleiben soll. Es stellte sich schon die Frage, warum die Vertreibung einer liberalen Institution durch eine antisemitische Kampagne in Deutschland nicht mehr Empörung hervorruft? Schließlich reagiert man doch sehr sensibel auf jede antisemitische Äußerung, wenn sie von palästinensischer oder arabischer Seite kommt.

Wie der Antisemitismusdiskurs verschoben wurde

Der Grund, warum die Vertreibung der Soros-Institutionen aus Ungarn wenig Resonanz erzeugte, liegt in einer Verschiebung des Antisemitismusbegriffs. Der Fokus liegt auf den israelbezogenen Antisemitismus. Tatsächlich war es richtig, diese Kategorie einzuführen. Israel war zum „Juden unter den Völkern“ geworden und wurde wie diese diffamiert und delegitimiert. Es gibt heute noch immer wieder Beispiele, wo eine vermeintliche Kritik an der Politik der israelischen Regierung zu einem Generalangriff auf den Staat Israel wurde.

Doch neben dem israelbezogenen Antisemitismus gab und gibt es in Deutschland den klassischen Antisemitismus, der sich im Ressentiment gegen reiche Bankiers und jeden Kosmopoliten richtet, die angeblich kein Vaterland haben und die Nationen zerstören wollen. So wurde den Soros-Einrichtungen von der ungarischen Regierung vorgeworfen, mit der Unterstützung von moslemischen Migranten zur Zerstörung des christlichen Europa beizutragen.

Das ist auch ein wichtiges Element der derzeit in Westeuropa dominanten rechten Strömungen. Sie gehen sich betont israelfreundlich, was sie nicht selten mit Israelfahnen beweisen wollen (Die Rechte und die Israelsolidarität [1]). Sie sehen Israel als Vorposten im Kampf gegen den Islam. Soros und seine Unterstützer hingegen sind für sie typische Vertreter von liberalen Kosmopoliten, die sich in aller Welt für Menschenrechte einsetzen und sich die Nationalisten aller Länder zum Feind machen.

Das antisemitische Topoi von den „wurzellosen Kosmopoliten“ ist ein wichtiger Bestandteil aller Nationalismen auch derer, die sich links trapieren. Das zeigte sich in der Stalinära, in der die antinationale Programmatik der Bolschewiki, die als Teil des linken Flügels der europäischen Arbeiterbewegung kein Vaterland kannte, buchstäblich liquidierte. Viele der Exponenten dieses internationalistischen Flügels wurden verfolgt, in Lager verbannt, nicht wenige hingerichtet. Gleichzeitig wurde in der Stalinära der großrussische Nationalismus wieder reaktiviert. Diese Entwicklung beschreibt Isaac Deutscher [2] in seiner Stalin-Biographie [3], die auch nach 50 Jahren noch lesenswert ist.

Der Topos vom wurzellosen Kosmopoliten ist in der Geschichte des Antisemitismus fest verankert und wird im Fall Soros noch von einer antisemitisch grundierten Kapitalismusvorstellung ergänzt. Da stellt sich schon die Frage, warum es nicht mehr Empörung gibt, wenn ein solches Programm im EU-Land Ungarn von der Regierung in Gesetze gegossen wird. Warum schweigt dazu auch die israelische Regierung? Bei einem Besuch Orbans in Israel wurde der ungarische Premier von seinem Kollegen Netanyahu als Freund empfangen. Und warum gelingt es Rechten überall in Europa, Orban zu kopieren? Sie gerieren sich als die besten Freunde Israels und bekämpfen umso vehementer gegen Soros und die angeblich von ihm beeinflussten Institutionen.

Für Antisemitismuskritiker sollte es nicht schwer sein zu erklären, dass sie damit klassischen Antisemitismus praktizieren, der eben auf Israel bezogen ist, sondern eben die alten Topoi vom wurzellosen Juden bedient. Das war ja der vorherrschende Antisemitismus vor der Gründung Israels. Vorher gab es schon den christlichen Antisemitismus, in dem Juden als Jesus-Mörder gebrandmarkt wurden. Auch den gibt es noch in Teilen des ultrakonservativen christlichen Milieus. Nur ist er nicht mehr der dominante Strang, sondern wurde von den Topoi des jüdischen Kosmopoliten und Bankiers überholt und in den letzen Jahren vom israelbezogenen Antisemitismus.

Warum ist fast nur noch von israelbezogenen Antisemitismus die Rede?

Wenn in Deutschland und den meisten EU-Ländern in der letzten Zeit von Antisemitismus geredet wird, ist fast nur noch vom letzteren die Rede. Denn damit kann man im Zweifel die Linke treffen. Das ist in Großbritannien besonders deutlich, wo Corbyn Premierminister werden könnte, der zurück zur Sozialdemokratie der 1970er Jahre will. Dass kann man mit Recht als illusionär kritisieren, wie auch seinen traditionellen Antizionismus, wo er wohl wenig Berührungsängste zu regressiven palästinensischen Organisationen wie der Hamas hatte. Ihn aber nun zu einer Bedrohung für das jüdische Leben in Großbritannien zu stilisieren, ist nur politisch zu verstehen. Man will eben Corbyn als Premierminister verhindern.

In Deutschland hat die fast ausschließliche Konzentration auf den israelbezogenen Antisemitismus die Funktion, sich als Weltmeister in Geschichtsbewusstsein feiern zu können. Schließlich gehört das Bekenntnis zu Israel zur Staatsraison, was die Politiker aller Parteien immer wiederholen. Antisemitisch sind dann nur diejenigen, die beispielsweise zu Boykottaktionen israelischer Waren aufrufen. Tatsächlich handelt es sich hier oft um einen regressiven Antizionismus, der wenig Trennschärfe zum Antisemitismus hat. Doch es wäre falsch, diese Differenzierung zu vergessen. Man kann da dem Sozialwissenschaftler und Publizisten Micha Brumlik nur zustimmen, der, obwohl erklärter BdS-Kritiker, in der Taz warnte [4]: „Die Antwort auf Judenhass darf nicht die Neuauflage des McCarthyismus sein.“ Brumlik führt einige Beispiele für den Beispiele für den neuen McCarthyismus auf.

Für eine Antisemitismuskritik, die nicht von Rechts instrumentalisiert werden kann

Die Schärfung bzw. die Aktualisierung einer emanzipativen Antisemitismuskritik ist umso dringlicher, weil die Rechten unterschiedlichen Couleur längst als besonders eifrige Vorkämpfer gegen den israelbezogenen Antisemitismus hervortreten. Sie sprechen von einem importierten Antisemitismus und meinen damit die arabische Migranten.

Da nun mal in Israel zwei Bevölkerungsgruppen, Juden und Palästinenser, um das das gleiche Territorium streiten, sind sie es dann, die als Träger des israelbezogenen Antisemitismus gebrandmarkt werden. Das kann dann auch Gruppen und Menschen passieren, die für sich für einen gemeinsamen Staat aller dort lebenden Menschen einsetzen. Dabei ist dies Forderung nicht antisemitisch, wenn dahinter eine linke Utopie steht, nach der eben nicht Ethnie und Nation das Leben der Menschen bestimmen sollen. Es muss nur klar sein, dass die Umsetzung einer solchen Forderung nur möglich ist, wenn auch der islamistische und panarabische Antisemitismus überwunden wird. Beide müssen auch schon hier und heute benannt und bekämpft werden.

Nun haben die verschiedenen rechten Gruppen an einer staatsüberwindenden Utopie kein Interesse. Sie stellen sich hinter Israel, weil sie es als Modell eines Nationalstaats sehen. „Die Rechtsextremen versuchen sich Israel anzubiedern – und werden von Netanjahu ja nicht gerade abgelehnt, siehe Orban. Man kann gleichzeitig antisemitisch sein und sich Israel anbiedern, um damit wieder möglichst antimuslimisch zu sein“, hat Ruth Beckermann, die Regisseurin des kürzlich auch in deutschen Kinos angelaufenen Films „Waldheims Walze“ [5] in einem Taz-Interview [6] erklärt. Viele derer, die sich jetzt als Freunde Israels gerieren, haben in den 1980er Jahren auf die internationale Kritik an Waldheims NS-Vergangenheit mit antisemitischen Ausfällen reagiert, wie der Film zeigt [7].

Sogar ein Rechtsterrorist wie Anders Breivig hat bei seinem Massaker bewusst das Camp einer sozialdemokratischen Jugendorganisation gewählt, die auch über den Israelboykott diskutierte. In dem kürzlich auch in Deutschland angelaufenen Film Utoya 22. Juli [8] erleben wir noch einmal 72 Minuten Faschismus in Aktion mit. Was oft vergessen wird: Breivig kommt aus der Strömung der Ultrarechten, die sich hinter Israel stellen. Sein Antisemitismus richtete sich gegen die Kulturmarxisten der Frankfurter Schule.

Die Normalisierung der legitimen Soros-Kritik

Es ist also in der Zeit, auch die heute weitgehend vergessenen Elemente des Antisemitismus wieder stärker in den Fokus zu nehmen. Jörn Schulz hat in Jungle World herausgearbeitet [9], wie diese Version des Antisemitismus gerade nach der Bankenkrise in allen Ländern angewachsen ist:

Wurzelloser Kosmopolitismus und jüdische Zersetzungsarbeit – diese Klassiker des Antisemitismus sind bereits bis weit ins konservative Milieu hinein anschlussfähig. In Deutschland ist die Hemmschwelle noch zu hoch, als dass die CSU, die mit großer Mehrheit zu Orban hält und immer stärker zu dessen „illiberaler Demokratie“ tendiert, sie selbst offen propagieren würde. Ähnliches gilt für die populistische und heimattreue Linke, deren Kritik am „Globalismus“ sich bislang meist in einer diffusen kulturkämpferischen Elitenkritik erschöpft. Nach aller historischen Erfahrung ist jedoch zu erwarten, dass die Normalisierung der „legitimen Soros-Kritik“ die Hemmschwelle weiter sinken lassen wird.

Jörn Schulz

Dieser Normalisierung einer antisemitisch grundierten Soros-Kritik entgegenzutreten, müsste ebenso die Aufgabe einer emanzipatorischen Bewegung sein, wie die Zurückweisung jeglicher Delegitimierung Israels.

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-4182720
https://www.heise.de/tp/features/Soros-und-der-israelbezogene-Antisemitismus-4182720.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Die-Rechte-und-die-Israelsolidaritaet-4122549.html
[2] http://www.rosa-luxemburg-club.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/97_8_Bergmann.pdf
[3] http://www.socialiststories.com/liberate/Stalin%20-%20Isaac%20Deutscher.pdf
[4] http://www.taz.de/!5521294/
[5] http://www.thewaldheimwaltz.com/de/home/
[6] http://www.taz.de/Regisseurin-ueber-Rechte-in-Oesterreich/!5537913/
[7] http://www.spiegel.de/kultur/kino/waldheims-walzer-ein-mann-ein-tisch-eine-fahne-doku-ueber-kurt-josef-waldheim-a-1231491.html
[8] https://www.imdb.com/title/tt7959216/
[9] https://jungle.world/artikel/2018/39/die-krise-der-vernunftl

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Von den Schwierigkeiten, Revolution zu machen

Rainer Thomann und Anita Friedetzky über Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland

»Dadurch, dass sich die Arbeiter an der Selbstverwaltung in den einzelnen Unternehmen beteiligen, bereiten sie sich auf jene Zeit vor, wenn das Privateigentum an Fabriken und Werken abgeschafft sein wird und die Produktionsmittel zusammen mit den Gebäuden, die auch von Arbeiterhand geschaffen wurden, in die Hände der Arbeiterklasse übergehen.«
Dies ist ein Zitat aus den Protokollen der Fabrikkomitees der Putilow-Werke in Petersburg, dem späteren Leningrad. Die Beschäftigten des Maschinenbaukonzerns spielten 1917 eine wichtige Rolle beim Sturz des Zaren und in der Zeit der Doppelherrschaft, als den Arbeiterräten ein gewichtiges Wort in der gesellschaftlichen Umwandlung Russlands zukam.

Zeugnisse dieser Selbstorganisation russischer Arbeiter liegen jetzt erstmals auf Deutsch vor. Zu danken ist dies der Hamburger Russischlehrerin und Publizistin Anita Friedetzky, die sich der schwierigen Aufgabe gewidmet hat, Protokolle von Sitzungen der Fabrikräte im revolutionären Russland so zu übersetzen, dass sie heutigen Lesern verständlich sind und ihnen authentische Einblicke in eine stürmische, längst vergangene Zeit geben, als Arbeiter Geschichte schrieben. Grundlage ihrer Übersetzung ist ein schon 1979 in einem Moskauer Wissenschaftsverlag erschienener Sammelband: »Die Fabrik- und Werkkomitees Petrograds 1917.
Der Berliner Verlag Die Buchmacherei hat die Protokolle verdienstvollerweise noch mit einem ausführlichen Glossar versehen. Dort werden heute kaum noch bekannte Personen vorgestellt und Organisationen erklärt, die vor über 100 Jahren die Geschicke in Russland mitbestimmten. Das Protokoll selbst, einschließlich der dazugehörenden Anlagen und Erläuterungen, nimmt nur knapp ein Drittel des Buches ein, zwei Drittel sind der historischen Einführung aus der Feder des Schweizer Rätekommunisten Rainer Thomann vorbehalten. Er bietet einen sachkundigen Überblick nicht nur über die entscheidenden Monate des turbulenten Jahres 1917, sondern auch über die Geschichte der Industrialisierung und der Arbeiterbewegung im zaristischen Russland.

Thomann stützt sich dabei vor allem auf Nikolai Suchanow, dessen Tagebuch der Russischen Revolution in deutscher Sprache nur noch antiquarisch erhältlich ist. Suchanow war gelernter Eisenbahner, der ein Philosophiestudium aufnahm. Schon früh engagierte er sich in der russischen Arbeiterbewegung, blieb aber auf Distanz zu allen Parteien. Auch das Agieren der Bolschewiki 1917 bewertete er äußerst kritisch, warnte gar vor deren Machtanspruch. Trotzdem stellte er sich nach der Oktoberrevolution der neuen Macht als Wirtschaftsfachmann zur Verfügung. Seine Hoffnung, möglichst viel von den Räten und den Ideen und Praktiken der Selbstverwaltung zu erhalten, erfüllte sich nicht. Thomann stellt sich 100 Jahre später die Frage, warum das nicht gelungen ist. Wer die Protokolle der Beschäftigten der Putilow-Werkle liest, wird sich hüten, dafür allein die autoritären Ansprüche der Bolschewiki verantwortlich zu machen. Denn in den Berichten werden auch die immensen Probleme deutlich, mit denen damals Land und Leute, vor allem die arbeitenden Massen, konfrontiert waren.

In den Protokollen ist oft von Vertagungen der Diskussion um strittige Punkte und von der Überweisung wichtiger Fragen in ein anderes Komitee die Rede. Da drohte beispielsweise der Betriebsapotheke wegen 80 000 Rubel Schulden die Schließung, was sich für die Versorgung der Arbeiter fatal auswirken musste. Man erfährt, dass die Betriebskomitees auch Sanktionen aussprechen konnten, etwa gegen Personen, die sich den Anordnungen der Werkskomitees oder der Werkabteilungskomitees nicht unterordneten bzw. als Störer der Arbeiterorganisationen des Betriebes empfunden wurden. Protokolliert sind Aktivitäten der »Eiferer für Bildung und Kunst«, die in den Putilow-Werken Theaterstücke aufführten. Viel Raum widmeten die Komitees den Beziehungen zur Bevölkerung auf dem Land. So sollten im direkten Kontakt Produkte aus der Fabrik gegen Nahrungsmittel bei den Bauern eingetauscht werden.

Der ewige Konflikt zwischen Stadt und Land hat die frühen Jahre der Sowjetunion überschattet, die Großstädte waren vom Land abhängig wie auch umgekehrt. Vielfach wurden die falschen Maßnahmen ergriffen, beispielsweise Zwangseintreibungen und Requirierungen.

Es ist zu begrüßen, dass mit diesem Band ein Zeitdokument auf dem deutschen Buchmarkt erschienen ist, das die Schwierigkeiten einer Revolution aufzeigt.

• Rainer Thomann/ Anita Friedetzky: Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland.
Die Buchmacherei, 682 S., kart. 24 €.

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Peter Nowak

Rote Fahnen auf Palästen

Peter Haumer erinnert an ein österreichisches Revolutionskapitel

Der bevorstehende 100. Jahrestag der Novemberrevolution in Deutschland sollte nicht verdrängen, dass 1918/19 auch andernorts eine emanzipative Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft auf der Tagesordnung stand. Auch in Österreich wehten rote Fahnen über Adelspalästen. Ende 1918 brach als Folge des Ersten Weltkriegs die K.u.K.-Monarchie »rasselnd zusammen«, wie Peter Haumer schreibt. Am Tag der Ausrufung der Republik Österreich demonstrierten Tausende Arbeiter für eine sozialistische Republik. »Sie hatten ganz konkrete Vorstellungen, wie dies zu bewerkstelligen sei: Selbstorganisation in Form der Rätebewegung.« Mit seiner »Geschichte der F.R.S.I.« entreißt Haumer die Föderation Revolutionärer Sozialisten der Vergessenheit, in die sie mit der Kriminalisierung und Verfolgung ihrer Akteure nach der Zerschlagung der Revolution geriet. Ihr Kampf um eine neue Gesellschaft wurde zunächst von den Austrofaschisten und nach dem »Anschluss« an das »Deutsche Reich« von den Nazis aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt. Insofern ist dieses Buch eine verdienstvolle, notwendige Pionierarbeit.

Der Autor bietet Einblicke in die Vorgeschichte der Revolution, stellt Akteure vor, skizziert die Ereignisse und benennt die Gründe für die Niederlage. Er beschreibt, wie schon 1915 linke Sozialdemokraten gegen die Burgfriedenspolitik ihrer Parteiführung opponierten. In ihrem machtvollen Januarstreik 1918 protestierten Arbeiterinnen und Arbeiter wichtiger österreichischer Rüstungsbetriebe gegen die sinnlose Fortsetzung des Krieges und gründeten Räte, die Grundlage für die F.R.S.I. Haumer verweist auf den Einfluss der russischen Oktoberrevolution von 1917 auf auch Anarchisten und Anarchosyndikalisten. Nach dem Januarausstand fielen die Linken wieder in gegenseitige Schuldvorwürfe zurück, bis im Laufe des Jahres 1918 die revolutionäre Welle erneut an Schwung gewann und Forderungen nach einem sofortigen Frieden ohne Annexionen artikuliert wurden. Am 3. November 1918 gründete sich die Kommunistische Partei Deutsch-Österreich, Wochen vor der deutschen KP. Doch nicht sie, sondern die F.R.S.I. war zunächst die treibende Kraft der Revolution in Österreich. Schon mit dem Begriff Föderation wird deutlich, dass es sich um einen dezentralen Zusammenschluss linker Gruppen handelte, die für eine sozialistische Zukunft kämpften.

Julius Dickmann, einer der wichtigen Vertreter des Rätegedankens in Österreich, beschrieb die Differenzen zur KPÖ: »Auch wir sind Anhänger der kommunistischen Gedanken. Auch wir orientieren uns an der Russischen Revolution, aber wir lehnen es ab, den russischen Kommunismus fix und fertig auf unsere Verhältnisse zu übertragen.«

Haumer zeigt, wie eng das Schicksal der Revolution in Österreich mit der bayerischen und ungarischen Räterepublik verknüpft war. Deren blutige Zerschlagung stärkte auch die reaktionären Kräfte in Österreich, woraufhin die Mehrheit der F.R.S.I. im Mai 1919 die Fusion mit der KPÖ beschloss. Manche ihrer Aktivisten wie Julius Dickmann blieben jedoch parteilos. Fast erblindet wurde der Rätekommunist 1942 von den Nazis ermordet.

Peter Haumer: Geschichte der F.R.S.I. Die Föderation Revolutionärer Sozialisten »Internationale« und die österreichische Revolution 1918/19., Mandelbaum, 260 S., br., 17 €.

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Peter Nowak

Buchtipp: Raul Zelik: Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart

Es ist schon einige Jahre her, als Spanien an der Spitze einer EU-weiten Protestbewegung gegen die wesentlich von Deutschland ausgehende Austeritätspolitik stand. Massendemonstrationen und Platzbesetzungen in vielen spanischen Städten wurden zum Vorbild für Proteste in anderen europäischen Ländern.
Besonders wichtig war, dass in Spanien auch die gewerkschaftlichen Aktivitäten spürbar zunahmen. Höhepunkt war der transnationale Generalstreik am 12.November 2012, an dem sich Gewerkschaften aus Italien, Portugal, Griechenland und Zypern beteiligten. Hier hatten sich Ansätze einer europäischen Widerstandsbewegung entwickelt, die die Austeritätspolitik infragestellte.
Warum ging der Impuls für diese Bewegung damals vor allem von Spanien aus? Und warum konnte sich die Bewegung nicht ausbreiten? Das sind einige der Fragen, die der Politikwissenschaftler Raul Zelik in seinem neuen Buch Spanien – eine politische Geschichte der Gegenwart stellt und teilweise beantwortet. Zelik, der sich seit langem mit der linken Bewegung im Spanischen Staat beschäftigt, beginnt mit seiner Geschichtsbetrachtung Mitte der 70er Jahre, beim als transición bezeichneten Übergang vom faschistischen Francostaat zur bürgerlichen Demokratie, an dem sich die Kommunistische Partei Spaniens (PCE) maßgeblich beteiligte. Dieser Prozess ermöglichte den Institutionen des Franco-Regimes einen reibungslosen Übergang und führte zu einer massiven Enttäuschung der damals starken außerparlamentarischen Linken.
In den Folgejahren wechselten sich die Postfrankisten und die Sozialdemokraten an der Regierung ab. Marktliberalismus und Repression gegen die Reste einer linken Opposition waren die Kennzeichen der Politik beider Parteien. Ausführlich geht Zelik auf die von einer sozialdemokratischen Regierung unterstützten Todesschwadronen der GAL ein, die zwischen 1983 und 1987 in Südfrankreich 29 Menschen töteten, die dem Spektrum der baskischen Unabhängigkeitsbewegung zugerechnet wurden. «Die Attentate richteten sich gegen baskische Kneipen, JournalistInnen und Linke», beschreibt Zelik die Opfer des heute weitgehend vergessenen Staatsterrors in der Europäischen Gemeinschaft (EG). Repression und ein wirtschaftlicher Aufschwung auf Pump schien die linke Opposition in Spanien stillgelegt zu haben.
Doch nicht erst mit dem Bankenkrach und der Immobilienkrise begann die Rückkehr der Bewegungen, die Zelik mit viel Hintergrundwissen beschreibt. Die Bewegung V wie Vivenda mobilisierte bereits 2006 Tausende Menschen gegen die Wohnungsnot einkommensschwacher Mieter. «Die Bewegung, die diesen Zusammenhang sichtbar machte, entstand ähnlich wie fünf Jahre später die 15M: scheinbar aus dem Nichts», schreibt Zelik.
Fünf Jahre lang gab die 15M-Bewegung Impulse in viele europäische Länder. Zelik beschreibt Aufstieg und Niedergang der außerparlamentarischen Linken in Spanien sehr detailliert. Nachdem die Polizeirepression gegen die Platzbesetzungen immer massiver wurde, verlegten sich die Aktivisten auf den Kampf im Stadtteil.
Dort entstanden auch die Konzepte von kommunalen und später auch landesweiten Kandidaturen, um der Protestbewegung auch eine Stimme in den Parlamenten zu geben. So entstand die Partei Podemos, die mit der Parole «Den Himmel stürmen» ihre erste Wahlkampagne begann. Auf soviel illusionären Überschwang musste die Enttäuschung folgen, wenn die neue Partei in den Mühen der Ebenen reformistischer Realpolitik angelangt sein würde. Auch hier beschreibt Zelik kenntnisreich, wie schnell die Partei, die alles anders machen wollte, zu einer neuen Sozialdemokratie mutierte.
Im letzten Kapitel setzt sich Zelik differenziert mit dem Kampf der katalonischen Unabhängigkeitsbewegung auseinander. Dort sieht er viele emanzipatorische Potenziale, verschweigt aber auch die Gefahr nicht, dass am Ende nur ein bürgerlicher Nationalismus gestärkt werden könnte.
Zelik legt kein optimistisches, sondern ein realistisches Buch vor. Es ist nützlich, weil es Erfahrungen von Kämpfen mit ihren Erfolgen und Niederlagen zusammenfasst. Daraus können die zukünftigen Protestbewegungen lernen.

aus: SoZ, Sozialistische Zeitung

Buchtipp: Raul Zelik: Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart

Buchtipp: Raul Zelik: Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart
Berlin: Bertz+Fischer, 2018. 240 S., € 14

von Peter Nowak

Warum redet niemand über die türkischen Staatsbürger in Deutschlands Gefängnissen?

Über Missverständnisse und Heuchelei im deutsch-türkischen Verhältnis

Vermeintliche Versprecher sagen oft mehr über die Realität aus als alle diplomatischen Floskeln. Das konnte man bei der Pressekonferenz von Merkel und Erdogan gut beobachten. Als Merkel von Missverständnissen zwischen der Türkei und Deutschland sprach, korrigierte sie sich schnell und sprach von fundamentalen Differenzen unter anderem in der Frage der Freiheits- und Menschenrechte. Genau das ist eines der Missverständnisse.

Wenn es um Beziehungen von Ländern geht, spielen politische Interessen die entscheidende Rolle, die dann gerne mit schönen Floskeln von Menschenrechten übertüncht werden. Parteien wie die Grünen sind Vertreter der Kapitalfraktionen, die ihre Interessen besonders gerne zu Menschenrechts- und Freiheitsfragen aufbauschen.

Weil sich dafür im Zweifel leichter Krieg führen lässt, gehören diese Kapitalfraktionen und ihr politisches Personal auch aktuell zu den gefährlichsten. Sie sind auch die Meister jener Symbolpolitik, die von Anfang an Kennzeichen der Grünen war. Das konnte man beim Erdogan-Besuch gut beobachten.

Da wollte Cem Özdemir am Bankett mit Erdogan teilnehmen, angeblich um Erdogan zu ärgern. Tatsächlich wollte er damit als potentieller Außenminister nur deutlich machen, dass er und seine Partei auch ihre Rolle in der deutschen Außenpolitik spielen.

Wo bleibt die Kampagne für Max Zirngast?

Die Heuchelei setzt sich bei der Diskussion um die deutschen Staatsbürger in türkischen Gefängnissen fort. Da sind eben nicht alle Gefangenen gleich. Während sich für den liberalen Deniz Yücel Politiker fast aller Parteien und der Bundespräsident persönlich eingesetzt haben, beschränkt sich die Unterstützung für den linken österreichischen Journalisten Max Zirngast bisher auf linke Medien [1].

Dabei ähneln sich die Vorwürfe gegen beide Journalisten. Doch Max Zirngast hätte als Publizist mit klaren Sympathien für die Sache der kurdischen Bewegung womöglich auch in Deutschland mit Verfolgung und Repression rechnen können. So schreibt [2] die Welt in klar distanzierenden Ton:

Zirngast lebt seit 2015 in der Türkei, spricht fließend Türkisch. Er studiert an der Middle East Technical University in Ankara, die als linksgerichtet gilt. Im Juli sollen Studenten festgenommen worden sein, nachdem sie ein Erdogan-kritisches Plakat gezeigt hatten. „Re:volt“ bezeichnet Zirngast nicht nur als Autor, sondern auch als Aktivisten. Es sei die Nähe zum Umfeld der türkischen kommunistischen Partei, die Zirngast vorgeworfen werde, heißt es aus gut informierten Kreisen. Die Welt [3]

Der Publizist und Medienaktivist Kerem Schamberger [4] bekommt seit Jahren auch in Deutschland zu spüren, dass solche Aktivitäten nicht erwünscht sind. Razzien [5], kurzzeitige Festnahmen und Internetsperren [6] zeugen davon. Schamberger schildert das deutsch-türkische Verhältnis präzise in einem Interview [7]:

Merkel und die EU unterstützen Erdoğan mit Milliarden, damit er Flüchtlinge davon abhält, nach Europa zu kommen. Um zu zeigen, wie absurd das ist: Die Politik Erdoğans sorgt dafür, dass in Afrin Anfang des Jahres Hunderttausende Menschen fliehen. Zur gleichen Zeit bekommt er zwei Milliarden Euro von der EU zur Abwehr von Flüchtlingen. Das ist ein zynisches Geschäftsmodell.

Kerem Schamberger

In der Türkei gefoltert – in Deutschland inhaftiert

Als zynisches Geschäftsmodell kann auch die Praxis der deutschen Justiz bezeichnet werden, linke Oppositionelle aus der Türkei und Kurdistan in Deutschland ebenfalls zu kriminalisieren.

Davon sind hunderte kurdische Aktivisten und vermeintliche oder tatsächliche Unterstützer linker türkischer Parteien, Gewerkschaften und Massenorganisationen betroffen. So sind Menschen, die in der Türkei im Gefängnis gefoltert wurden, in Deutschland erneut inhaftiert.

Die Kooperation zwischen der türkischen und deutschen Justiz läuft zum Leidwesen der Anwälte im Verfahren gegen türkische Linke in München [8] geräusch- und reibungslos [9]. Die Stadtplanerin und Gewerkschaftlern Gülaferit Ünsal kämpfte in den letzten Wochen mit einer Unterstützergruppe [10] dafür, dass ihr Asylantrag bearbeitet wird, nachdem sie in Deutschland kriminalisiert wurde.

Die linke türkische Band Grup Yorum wird in Deutschland sogar häufiger mit Auftrittsverboten bedroht [11], aktuell in Frankfurt/Main [12], als in der Türkei.

Die Repression gegen türkische und kurdische Linke findet den Beifall der türkischen Regierungen nicht erst seit Erdogan an der Macht ist. Bereits unter der Herrschaft der kemalistisch-nationalistischen Politiker und Militärs lief die deutsch-türkische Kooperation sehr gut.

Das Erdogan-Regime fordert nun, dass auch vermeintliche oder tatsächliche Anhänger der Gülen-Bewegung in Deutschland verfolgt oder ausgeliefert werden. Doch anders als bei dem türkischen und kurdistischen Linken ist die deutsche Justiz hier nicht so kooperativ. Schließlich könnte man die islamistischen Gegenspieler zu Erdogan gut gebrauchen, falls Erdogan und sein Regime stürzen.

Alte Waffenbrüderschaft

Die Zusammenarbeit beider Länder geht mehr als hundert Jahre zurück. „Als das Deutsche Reich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in seine imperialistische Phase eintrat, rückte das noch nicht unter den anderen Großmächten aufgeteilte Vielvölkerreich am Bosporus ins Blickfeld der Berliner Kolonialstrategen“, schreibt der Publizist Nick Brauns [13].

Diese Interessen des deutschen Kapitals überdauerten die unterschiedlichen Regime, wie Brauns nachweist [14]. Der aktuelle Besuch reiht sich diese Kooperation ein. Dabei gab es immer auch Störgeräusche, aber das gemeinsame Interesse überwog.

Das ist auch aktuell der Fall. Daher ist es politisch falsch, der Bundesregierung vorzuwerfen, sie unterwerfe sich Erdogan. Tatsächlich ist das deutsch-imperialistische Interesse, dass die Kooperation von Staaten bestimmt. Hier müsste eine linke Kritik ansetzen.

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4178485
https://www.heise.de/tp/features/Warum-redet-niemand-ueber-die-tuerkischen-Staatsbuerger-in-Deutschlands-Gefaengnissen-4178485.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://jacobinmag.com/2018/09/erdogan-turkey-jacobin-journalist-jailed-max-zirngast
[2] https://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_politik/article181527376/Free-them-all-Max-Zirngast.html
[3] https://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_politik/article181527376/Free-them-all-Max-Zirngast.html
[4] https://kerem-schamberger.de/
[5] https://turkishpress.de/tr/node/2189
[6] https://www.heise.de/tp/features/Facebook-zensiert-im-Interesse-der-tuerkischen-Regierung-3195746.html
[7] https://mosaik-blog.at/schamberger-kurden-tuerkei-eu-erdogan
[8] https://www.tkpml-prozess-129b.de/de/
[9] http://www.fr.de/politik/muenchener-kommunisten-prozess-vorwuerfe-gegen-tuerkische-ermittler-a-1465888
[10] http://soligruppeguelaferituensal.blogsport.de/
[11] https://www.heise.de/tp/features/Grup-Yorum-Verbote-Schikanen-finanzielle-Verluste-3744759.html
[12] https://de-de.facebook.com/GYyasaklanamaz/
[13] http://www.nikolaus-brauns.de/
[14] http://www.nikolaus-brauns.de/Waffenbruder.htm/

Protest gegen JEFTA

Verstöße gegen UN-Charta

Marianne Grimmenstein will das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan stoppen

Die pensionierte Musiklehrerin Marianne Grimmenstein lebt in Lüdenscheid. 2016 reichte sie eine Klage gegen das Freihandelsabkommen der EU mit Kanada vor dem Bundesverfassungsgericht ein. Nun hat sie eine Petition gestartet, um das Abkommen zwischen Japan und der EU (JEFTA) zu stoppen. Über ihre Motivation und ihre Ziele sprach Peter Nowak mit der 76-Jährigen.

Das Freihandelsabkommen JEFTA zwischen Japan und der EU wurde bereits am 17. Juli dieses Jahres unterzeichnet. Sie sammeln Unterschriften für eine Petition. Kommen Sie damit nicht zu spät?

Nein,

„Verstöße gegen UN-Charta“ weiterlesen

100 000 Unterschriften für Aufruf »abrüsten statt aufrüsten«

Friedenspolitisches Bündnis ruft für 1. bis 4. November bundesweit zu dezentralen Protesten gegen Militarisierung auf

»Die Bundeswehr ist Pazifismus made in Germany. Eine historische Ausnahme«, behauptete jüngst der »taz«-Journalist Jürn Kruse in einem Kommentar. Mit dieser Auffassung ist der Autor nicht allein. Weit verbreitet ist die Ansicht, dass die Bundeswehr bei Übungen einen Moorbrand auslösen kann, aber mit Krieg und Militarismus eigentlich nichts mehr am Hut hat. Dabei will die Bundesregierung die Militärausgaben auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in Deutschland verdoppeln. In der Öffentlichkeit wird kaum darüber gesprochen. Oft heißt es, die Bundesregierung folge nur den Vorgaben der NATO und der USA. Doch der Aufrüstungskurs hat auch antimilitaristische Gruppen aktiviert, die sich oft schon seit Jahren gegen die Aufrüstung wehren.

»Abrüsten statt aufrüsten«, lautet beispielsweise das einfache, aber klare Motto eines Aufrufs, den mittlerweile online und offline schon rund 100 000 Menschen unterschrieben haben. Argumentiert wird in dem Text vor allem mit Geld. Finanzen, die in Rüstung fließen, fehlen an anderer Stelle. »Zwei Prozent, das sind mindestens weitere 30 Milliarden Euro, die im zivilen Bereich fehlen, so bei Schulen und Kitas, sozialem Wohnungsbau, Krankenhäusern, öffentlichem Nahverkehr, kommunaler In-frastruktur, Alterssicherung, ökologischem Umbau, Klimagerechtigkeit und internationaler Hilfe zur Selbsthilfe«, heißt es in dem Aufruf.

Zu den Erstunterzeichner*innen gehören Politiker*innen der LINKEN sowie Abgeordnete vom linken Flügel der SPD wie Marco Bülow, Hilde Mattheis und Heidemarie Wieczorek- Zeul. Die Grünen sind nur mit der Bundestagsabgeordneten Katja Keul vertreten. Zahlreiche Mitglieder des DGB und seiner Einzelgewerkschaften unterstützen ebenfalls den Aufruf. Dazu gehören der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Frank Bsirske, und die Vorsitzende der Gewerkschaft NGG, Michaela Rosenberger. Ebenso haben DGB-Bundesvorstandsmitglied Annelie Buntenbach und der Erste Bevollmächtigte der IG-Metall in Frankfurt am Main, Michael Erhardt, unterzeichnet.

Kristian Golla vom Netzwerk Friedenskooperative, das ebenfalls den Aufruf unterstützt, zeigt sich im Gespräch mit »nd« erfreut über die starke Präsenz von Mitgliedern der DGB-Gewerkschaften unter den Unterzeichner*innen. »DGB, IG Metall und Friedensbewegung gehen wieder gemeinsame Wege«, sagt Golla. Bereits in der DGB-Erklärung zum Antikriegstag am 1. September 2017 wurde einer neuen Aufrüstung eine Absage erteilt. »Der richtige Ansatz dafür kann nicht sein, die Verteidigungsausgaben massiv zu erhöhen. Stattdessen brauchen wir eine gemeinsame Strategie der friedenssichernden Konfliktprävention«, heißt es dort.

Der Mitunterzeichner des Aufrufs und Bundesvorsitzende der Naturfreunde Deutschlands, Michael Müller, erklärte jüngst, dass neben der Erhöhung des Rüstungsetats die »schleichende Militarisierung der Außenpolitik« in Europa ein Grund für den Aufruf war. »Es gibt immer mehr Truppenübungen entlang der 1300 Kilometer langen Grenzen der EU zu Russland/Weißrussland, immer mehr sogenannte Alarmübungen, immer mehr Truppenverlagerungen, die Stationierung schwerer Waffen«, kritisierte Müller.

Der Aktivist beklagte auch, dass sich die Hoffnungen auf eine weltweite Abrüstung aus den frühen 1990er Jahren zerschlagen hätten. Seit den islamistischen Anschlägen von 2001 in den USA werde der Ruf nach neuen Waffen immer lauter.

Die Initiative »abrüsten statt aufrüsten« will sich diesem Trend entgegenstellen. Vom 1. bis 4. November sollen bundesweit dezentrale Proteste gegen weitere Aufrüstung stattfinden. Der Anlass ist die zu diesem Zeitpunkt stattfindende Lesung des Bundeshaushalts im Bundestag. Dort werden auch die Rüstungsausgaben beschlossen. Zurzeit bereitet man nach Angaben der friedenspolitischen Initiative in verschiedenen Städten unterschiedliche Protestaktionen vor.

Golla erhofft sich eine größere Teilnahme junger Menschen an den Protesten. Dass sie für das Thema Antimilitarismus prinzipiell erreichbar sind, zeigte sich erst jüngst wieder in Kassel. Dort hatten Aktivist*innen des Bündnisses »Block War« für zwei Stunden die Zugänge des Rüstungskonzerns »Rheinmetall Landsysteme und MAN Military Vehicles« im Industriepark Mittelfeld blockiert. »Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr weiter Waffen baut«, lautete das Motto. Ein Großteil der rund 50 Blockadeteilnehmer*innen: eher jung.

www.abruesten.jetzt

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1101624.unterschriften-fuer-aufruf-abruesten-statt-aufruesten.html

Peter Nowak

Türkei: Prozess gegen 20 linke Anwälte


Staatsanwaltschaft wirft Terrorunterstützung vor

Jüngst begann in Istanbul ein Prozess gegen 20 linke türkische Anwält*innen, 17 von ihnen saßen über ein Jahr in Untersuchungshaft. Sie arbeiteten im »Halkin Hukuk Bürosu« (Anwaltskanzlei des Volkes), das sich auf die Verteidigung linker Oppositioneller spezialisiert hat. Die Anwält*innen verteidigten zuletzt Bergarbeiter*innen, Beamt*innen, die gegen ihre Entlassung Widerstand geleistet hatten und Studierende, die sich für eine demokratische Universität ohne Studiengebühren einsetzten. Alle sind wegen »Unterstützung einer terroristischen Organisation«, der linksradikalen DHKP/C, angeklagt.

Eine internationale Delegation war zur Prozessbeobachtung angereist. Die Teilnehmer*innen kamen unter anderem aus Griechenland, Bulgarien, Italien, Österreich und Deutschland. Aus Hamburg reiste Wolfang Lettow, Redakteur der Publikation »Gefangenen Info«, nach Istanbul. Er begleitet seit vielen Jahren politische Prozesse in Deutschland.

Im Gespräch mit »nd« zeigte sich Lettow beeindruckt von der Solidarität zum Prozessauftakt. Rund 200 Personen hätten sich demnach im überfüllten Verhandlungssaal eingefunden. Neben den Teilnehmer*innen der internationalen Delegation seien auch viele Linke aus der Türkei gekommen, um ihre Unterstützung zu zeigen. »Vor Prozessbeginn wurden die Anwält*innen durch Klatschen und Parolen stürmisch begrüßt. Alle gaben eine kämpferische Erklärung ab«, schildert Lettow die Szene.
Der Prozessbeobachter berichtet auch von Repressalien gegenüber den Angeklagten: »Nach einer Pause wurde ein inhaftierter Anwalt von einem Polizisten an den Haaren gezogen, als seine ebenfalls angeklagte Frau mit ihm sprechen wollte«, so Lettow. Darauf sei es zu Protesten der anderen Angeklagten, ihrer Anwält*innen und von Zuschauer*innen gekommen. Die Mutter eines Angeklagten habe man aus dem Saal verwiesen.

Am 15. September wurden die Anwält*innen nach über einem Jahr aus der Untersuchungshaft entlassen. Lettow sieht in der internationalen Solidarität zum Prozessauftakt auch einen Grund dafür. Das Verfahren geht allerdings weiter. Es bestehe laut dem Prozessbeobachter die Gefahr, dass sie zu hohen Strafen verurteilt werden.

Lettow ruft daher dazu auf, gegenüber den politisch Verfolgten in der Türkei Solidarität zu zeigen. Dies sei gerade in Zeiten besonders wichtig, wo Erdogan Deutschland besucht und die Bundesregierung das Verhältnis zur türkischen Regierung normalisieren wolle. Lettow verwundert es zudem kaum, dass die Prozesse gegen die linken Anwält*innen in Deutschland wenig Beachtung finden. »Auch in der BRD wurden im Sommer 1977 die drei RAF-Anwälte Klaus Croissant, Arndt Müller und Armin Newerla verhaftet und zu mehren Jahren Knast verurteilt.«

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1100840.tuerkei-prozess-gegen-linke-anwaelte.html

Peter Nowak

Allein auf hoher See


Seeleute haben erfolgreich Arbeitsrechte erkämpft – doch wer sich beschwert, landet oft auf schwarzer Liste

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In diesem Jahr jährt sich der Beginn der Kampagne der Internationalen Transportarbeiter Föderation (ITF) gegen Sozialdumping auf hoher See zum 70. Mal. 1948 begann die Kampagne gegen die Praxis des Billigflaggens. Sie soll verhindern, dass Schiffe von den Reedereien in Ländern angemeldet werden, wo es um die Rechte der Beschäftigten schlecht bestellt ist. Ist die Kampagne ein Beispiel für einen erfolgreichen Kampf um globale Rechte? Ein wichtiger Schritt war der zwischen der ITF und dem internationalen Arbeitgeberverband der Schifffahrt (IMEC) geschlossene Tarifvertrag, der im Jahr 2000 in Kraft trat und dem sich rund 12 000 Schiffe angeschlossen haben. Aus Sicht des Publizisten Jörn Böwe, der sich seit Jahren mit Arbeitskämpfen befasst, ist der Vertrag ein Erfolg, denn er bedeute für die Beschäftigten reale Verbesserungen. Böwe gibt aber auch zu Bedenken, dass für den größten Teil der Seeleute kein Tarifvertrag gilt und die Praxis des Billigflaggens nicht gestoppt werden konnte.

Auch die emeritierte Politikwissenschaftlerin Heide Gerstenberger, die zur Seefahrt in Zeiten der Globalisierung geforscht hat, ist skeptisch. Jeder Tarifvertrag sei besser als keiner, betont sie. Doch die Schiffseigner*innen hätten die Krise in der Schifffahrt seit den 1960er Jahren zum völligen Umbau im Sinne der Kapitalstrategien genutzt. Die Kernbelegschaften wurden massiv verkleinert. Klassische Reedereien existieren heute nicht mehr. Die Schiffseigner*innen hätte nichts mit dem Schiffsbetrieb zu tun – für sie sei der maximale Profit die Leitlinie. Die Möglichkeiten der Beschäftigten sich zu wehren, hält Gerstenberger für gering. Wer sich beschwert, könne schnell auf einer schwarzen Liste landen und bekommt dann keine Arbeit mehr.

Hamani Amadou, der als Arbeitskontrolleur des ITF im Rostocker Hafen die Einhaltung der Tarifverträge überprüft, betont die Erfolge. Mittlerweile könnten sich Seeleute aus aller Welt an die ITF wenden, wenn sie Probleme mit dem Lohn oder den Arbeitsbedingungen haben. In der Regel seien die Kapitäne bei den Kontrollen kooperativ, weil sie keine zeitaufwendigen Konflikte riskieren wollen. In den wenigen Fällen, wo es bei der Kontrolle Probleme gab, haben sich die Hafenarbeiter*innen mit den Seeleuten solidarisch gezeigt, indem sie sich weigerten, das Schiff zu entladen, solange die Überprüfung verweigert wird. Diese Kooperation zwischen den Hafenarbeiter*innen, die eine stärkere Durchsetzungsmacht haben, und den Seeleuten existiert bereits seit Jahrzehnten – ein gutes Beispiel für internationale Solidarität.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1100371.allein-auf-hoher-see.html

Peter Nowak

Proletarier aller Länder …

Italiens Basisgewerkschaft Si Cobas verbindet Antirassismus und Klassenkampf

Seit wenigen Monaten ist die italienische Rechtsregierung an der Macht und unter dem Innenminister Matteo Salvini von der rechten Lega Nord streitet die »Orbanisierung« des Landes rapide voran. Sein harter Kurs gegen Geflüchtete scheint dem Rechtspolitiker Zustimmung bei den Wähler*innen zu bringen, die Proteste sind schwach.

Dennoch gibt es auch in Italien Kräfte, die sich gegen den Rechtsruck stellen. Dazu zählt die Basisgewerkschaft SI Cobas, die am 24. September zu einer internationalen antirassistischen Versammlung nach Bologna einlädt. Die Gewerkschaft hat dabei ein sehr ambitioniertes Ziel, das sie in der Einladung zu dem Treffen so formuliert. »Wir sind für den Aufbau einer antirassistischen Front in Europa, die den Rassismus auf dem sozialen und gewerkschaftlichen Feld bekämpft, indem sie die Einheit der einheimischen und eingewanderten Arbeiter*innen im Kampf stärkt«. Neben diesem großen Ziel werden auch die kleinen Schritte nicht vergessen. Die rechtliche Gleichstellung der Migrant*innen ist die zentrale Forderung, die nach Ansicht von Si Cobas im Interesse aller Arbeiter *innen ist, egal aus welchem Land sie kommen.

Für die Gewerkschaft ist das antirassistische Engagement eine Klassenfrage. »Die Eingewanderten sind in ihrer übergroßen Mehrzahl Proletarier*innen, Lohnarbeiter*innen oder Arbeitssuchende, sie sind in jedem Land ein wichtiger Teil der Arbeiter*innenschaft.«

Wenn es in dem Aufruf heißt, dass migrantische und einheimische Arbeiter*innen nur in gemeinsamen Kämpfen ihre Lage verbessern können, kann die Gewerkschaft SI Cobas auf langjährige eigene Erfahrungen verweisen. Sie organisiert die Arbeitskämpfe in der Logistikbrache Norditaliens. Dort konnten die größtenteils migrantischen Beschäftigen Lohnerhöhungen und eine Minderung der Arbeitshetze erreichen. In der letzten Zeit macht auch die Organisierung von migrantischen Erntearbeiter*innen Fortschritte, die oft unter menschenunwürdigen Bedingungen in Zeltlagern in der Nähe ihres Arbeitsplatzes untergebracht sind.

An den Organisierungsprozessen sind neben SI Cobas weitere Basisgewerkschaften beteiligt. Anders als in Deutschland gibt es in Italien keine Einheitsgewerkschaft, was die Positionierung zu gesellschaftlichen Fragen erleichtert. Aber auch in Deutschland hat sich der ver.di-Gewerkschaftsrat unter dem Motto »Menschen zu retten, darf kein Verbrechen sein« mit den zivilgesellschaftlichen Initiativen der Seenotrettung solidarisiert. Gemeinsame Arbeitskämpfe von Migrant*innen und Einheimischen gibt es allerdings zu selten. Die Aufnahme von mehreren hundert Migrant*innen bei ver.di-Hamburg war ein wichtiger Akt, fand aber leider keine Nachahmung.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1099704.proletarier-aller-laender.html

Peter Nowak

DER KAMPF DER JASIC-ARBEITER*INNEN IM CHINESISCHEN SHENZEN

Arbeiter*innen der Shenzener Schweißgerätefabrik Jasic wehren sich gegen Gängelung und wollen eine Gewerkschaft gründen. Als der Staat zurückschlägt, entwickelt sich eine übergreifende Solidaritätsbewegung in China und darüber hinaus.

„Eine Gewerkschaft zu gründen ist kein Verbrechen. Unterstützt die Jasic-Arbeiter*innen von Shenzen“, ruft Shen Mengyu mit lauter Stimme. Um sie stehen Polizist*innen. Einige Männer und Frauen, die der Frau zuhören, applaudieren und am Ende singen sie eine Strophe der Internationale. Das Videos dieser Szenen verbreitete sich schnell über die sozialen Medien und die junge Frau mit der Brille und den langen schwarzen Haaren wurde zum Beispiel einer jungen Generation in China, die sich auch von Polizei und anderen Repressionsorganen des staatskapitalistischen Regimes nicht mehr einschüchtern lässt. Doch die Repressionsorgane haben mal wieder gezeigt, wie sie mit selbstorganisierten Arbeiter*innenprotesten umgehen. Am 11. August 2018 wurde Shen Mengyu von zwei Männern in Zivil in ein Auto gezerrt und ist seitdem verschwunden. Zunächst behauptete die Polizei, sie sei von ihrer Familie entführt worden. Die Version ließ sich nicht mehr aufrecht erhalten, als bekannt wurde, dass die Frau von der Polizei festgehalten werde. Wenige Tage später wurde ein weiterer Unterstützer der Jasic-Arbeiter*innen entführt. Er konnte allerdings nach wenigen Tagen entkommen und ist nach Shenzen zurückgekehrt.

CHINESISCHE STAATSGEWERKSCHAFT GEGEN SELBSTORGANISIERTE ARBEITER*INNENPROTESTE

In der Shenzener Schweißgerätefabrik Jasic wehrten sich Arbeiter*innen gegen ein Strafsystem, das selbst nach chinesischem Recht illegal ist. Beschäftigte bekamen Lohnabzüge, wenn sie zu spät kamen, wenn sie Essen in die Fabrik mitbrachten, wenn sie mit ihren Kolleg*innen sprachen oder wenn ihre Betriebsuniform nicht vollständig war. Gegen diesen Kasernenhofmethoden in der Fabrik wehrten sich die Beschäftigten und wollten eine Gewerkschaft gründen. Dabei beachteten sie genau die gesetzlichen Grundlagen für eine Gewerkschaftsgründung in China. Dort sind Gewerkschaften nur legal, wenn sie Teil des Allchinesische Gewerkschaftsverbands (AFCTU) sind. Der Vizepräsident der Staatsgewerkschaft AFCTU von Shenzen war mit der Gewerkschaftsgründung zunächst einverstanden. Doch die Jasic-Manager*innen waren von Anfang an dagegen und machten deutlich, dass sie eine Gewerkschaft keinesfalls zulassen wollen. Mehrere von ihnen sind auch in der Provinzregierung aktiv und nutzten ihren Einfluss. Plötzlich distanzierte sich auch der staatsnahe AFTCTU von der Gewerkschaftgründung und organisierte später bei Jasic eine gelbe Gewerkschaft. So konnte das Regime behaupten, dass es ja eine Gewerkschaft gebe. Derweil entließ man im Juli 2018 mehrere der Gewerkschaftsgründer*innen. Doch diese ließen sich von dieser chinesischen Form des Union-Busting nicht einschüchtern. Sie kamen jeden Tag zur Fabrik, um ihre Arbeit anzubieten, wurden aber vom Sicherheitsdienst nicht eingelassen. Am 27. Juli 2018 wurden schließlich siebenunzwanzig Arbeiter*innen, ihre Familien und Unterstützer*innen, wegen Unruhestiftung verhaftet. Vierzehn von ihnen befinden sich noch immer im Gefängnis.

AUSSERBETRIEBLICHE SOLIDARITÄT STÄRKTE ARBEITER*INNEN DEN RÜCKEN

Doch die Repression mobilisierte Studierende in ganz China. Kommiliton*innen von sechzehn Universitäten setzten ihre Namen unter einen Solidaritätsappell mit den Jasic-Anbieter*innen. Hunderte Studierende kamen nach Shenzen, um die Beschäftigten vor Ort zu unterstützen. Auf öffentlichen Plätzen und in Parks informierten sie über deren Kampf, kritisierten die Repression und riefen zur Solidarität auf. Die Kurzkundgebungen wurden meistens mit dem Absingen der Internationale beendet. Die Unterstützung wuchs. Selbst einige ältere Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas beteiligten sich an den Protesten. Für sie steht der aktuelle Turbokapitalismus Chinas im Widerspruch zu den maoistischen Idealen. Doch Shen Mengyu wurde zum Gesicht der Proteste. Sie hat Mathematik und Ingenieurwissenschaften studiert und war bereits wegen Gründung eines Arbeiter*innenkomitees in einer anderen Stadt entlassen worden. Ihre Entführung konnte den Protest nicht beenden. Weiterhin harrten hunderte Studierende in Shenzen aus. Sie kündigten an, die Stadt nicht zu verlassen, bis alle Arbeiter*innen und Unterstützer*innen freigelassen sind. Doch Ende August wurden sie von der Polizei verhaftet. Sie werden festgehalten, bearbeitet, in ihre Heimatorte deportiert, zwangsweise in ihre Heimatorte deportiert. Man will Friedhofsruhe in Shenzen schaffen und verhindern, dass die Arbeiter*innen in anderen Fabriken auf die Idee kommen, autonome Gewerkschaften zu gründen.

INTERNATIONALE SOLIDARITÄT MIT DEN JASIC-ARBEITER*INNEN

Lange Zeit war außerhalb von Shenzen nichts von dem Kampf der Jasic-Arbeiter*innen bekannt. Es war unabhängigen Solidaritätsstrukturen zu verdanken, dass sich das änderte. Im deutschsprachigen Raum hat Bärbel Schönafinger von der Plattform labournet.tv viel dazu beigetragen. Die von ihr mit deutschen Untertiteln versehenen Videos sorgten für Solidarität in verschiedenen Städten.

Mittlerweile hat auch die internationale Solidarität begonnen. Auf dessen Webseite stellt Labournet.de einen Musterbrief an die chinesische Botschaft bereit, in dem Gewerkschafter*innen die Freilassung aller im Jasic-Konflikt Verhafteten fordern:

Wir, als Aktive in Gewerkschaften und linken Organisationen in der BRD, können darin nichts, aber auch gar nichts Unrechtes sehen – über ihre Organisation und ihre Vertretung müssen Kolleginnen und Kollegen weltweit, unabhängig vom gesellschaftlichen System, das Recht haben, selbst zu entscheiden

In Berlin haben sich an einer Protest- und Solidaritätskundgebung vor der chinesischen Botschaft am 29. August 2018 auch FAU-Kolleg*innen beteiligt. Am 30. August 2018 informierten sich einige Kolleg*innen auf einer Informationsveranstaltung im Berliner FAU-Lokal. Es ist wichtig, dass die Solidarität mit den Jasic-Arbeiter*innen und ihren Unterstützer*innen jetzt nicht nachlässt. Das Kalkül der Manager und ihres Staates darf nicht aufgehen. Alle Verhafteten müssen freigelassen, die Kriminalisierung beendet werden. Denn die Gründung einer Gewerkschaft ist kein Verbrechen.

MEHR INFOS

https://www.scmp.com/…/chinese-maoists-join-students-fight-…
https://www.reuters.com/…/chinas-student-activists-cast-

Dozens Arrested After Worker Protests In Shenzhen


https://de.labournet.tv/jasic-arbeiterinnen-kaempfen-fuer-eine-echte-gewerkschaft

aus Direkte Aktion, 2. September 2018

Peter Nowak

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Solidaritätserklärung der FAU-Berlin

Der Kampf der Jasic-Arbeiter*innen im chinesischen Shenzen

Solidarität mit den chinesischen Jasic-Arbeiter*innen und ihren
Unterstützer*innen!
Der Kampf der Jasic-Arbeiter*innen im chinesischen Shenzen
Im Zusammenhang mit dem Versuch von Arbeiter*innen, in der Schweißgerätefabrik Jasic im chinesischen Shenzen eine Gewerkschaft aufzubauen, hat sich eine sehr zugespitzte Situation von Repression und eine ungewöhnliche Solidaritätsbewegung für die kämpfenden Arbeiter*innen entwickelt.

Im Juli waren sieben Arbeiter entlassen worden, weil sie versucht hatten, eine Gewerkschaft aufzubauen. Die Proteste gegen die Entlassungen gingen den ganzen Monat über weiter und am 27. Juli wurden schließlich 29 Arbeiter*innen, Familienangehörige und Unterstützer*innen mit viel körperlicher Gewalt festgenommen und abgeführt.

Von den 29 Festgenommenen wurden 15 am 12. August entlassen. Sie
berichten, dass sie während ihrer Haft misshandelt und bedroht wurden.
Der Kampf um die Freilassung der verbleibenden Kolleg*innen geht weiter,
ebenso wie der Kampf der Arbeiter*innen für eine echte und repräsentative Gewerkschaft.

Seit diesen Verhaftungen haben Gruppen von mutigen Protestierenden vor der Polizeistation die Freilassung ihrer Kolleg*innen verlangt. Tausende Universitätsstudent*innen haben einen offenen Brief unterschrieben, in dem sie sich mit den Jasic Arbeiter*innen solidarisieren.

Die Repression hat schließlich staatsterroristische Züge angenommen, als am 11. August 2018 die Aktivistin Shen Mengyu entführt wurde. Mittlerweile wurden auch ca. 50 studentische Unterstützer*innen in Shenzen festgenommen, die meisten wurden in ihre Heimatorte deportiert. Auch in Peking wurden Unterstützer*innen der Jasic-Arbeiter*innen verhaftet.

Am 29. August berichteten Kolleg*innen von labournet.tv über den Kampf der Jasic-Arbeiter*innen, die Solidaritätsbewegung und die Staatsrepression.

Wir fordern die Freilassung aller im Zusammenhang mit dem Kampf der Jasic-Arbeiter*innen Verhafteten, die Einstellung aller repressiven Maßnahmen gegen sie und solidarisieren uns mit dem ihrem Kampf für eine Gewerkschaft, in der sie ihre Interessen vertreten kann.

Eine Gewerkschaftsgründung ist kein Verbrechen!

Hoch die transnationale Solidarität des Proletariats!

Mehr Infos:
https://www.reuters.com/article/us-china-labour-protests-insight/chinas-student-activists-cast-rare-light-on-brewing-labor-unrest-idUSKBN1L0060

Dozens Arrested After Worker Protests In Shenzhen


labournet.tv hat vor ein paar Tagen ein Videos mit deutschen Untertiteln
dazu veröffentlicht: https://de.labournet.tv/videos/jasic

https://berlin.fau.org/news/der-kampf-der-jasic-arbeiter-innen-im-chinesischen-shenzen

Ömer Bilin HDP-Mann droht die Abschiebung

Wie das BAMF im Fall von Ömer Bilin die Zustände in der Türkei verharmlost

Tausende Oppositionelle sitzen in der Türkei in Gefängnissen. Darunter sind gewählte Mandatsträger*innen, zahlreiche Mitglieder, aber auch einfache Unterstützer*innen der linken Oppositionspartei HDP. Viele fliehen in das europäische Ausland. Dazu gehört auch Ömer Bilin. Der HDP-Unterstützer ist zunächst aus der Türkei nach Irak geflohen, wo er einige Zeit lebte. Von dort war er am 10. August 2018 mit dem Flugzeug nach Deutschland eingereist. Am Frankfurter Flughafen stellte er einen Asylantrag. Dieser Antrag wurde vor einigen Tagen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit der Begründung abgelehnt, es gäbe keine Folter in der Türkei, daher könne dem Antragsteller auch keine Folter drohen.

In dem Bescheid des Bundesamtes wird der Regierung der Türkei bescheinigt, alle gesetzgeberischen Mittel eingesetzt zu haben, um Folter und Misshandlung in der Türkei zu unterbinden. »Diese Behauptung steht in einem so deutlichen Widerspruch zu den tatsächlichen Verhältnissen, dass sie entweder nur als zynisch oder als offene Bekundung der Zusammenarbeit mit dem Unterdrückerregime verstanden werden kann«, kritisierte Bilins Rechtsanwalt Berthold Fresenius.

Ömer Bilin habe sich im Rahmen der HDP aktiv für Demokratie und die Rechte der Kurd*innen in der Türkei eingesetzt, betonte der Jurist. Mehrere seiner Verwandten würden wegen ihrer Oppositionspolitik gegen das Erdogan-Regime verfolgt. Im Sommer 2018 sei ein Cousin, der jahrelang an verantwortlicher Stelle in der HDP aktiv war, nach Deutschland geflohen.

Fresenius listete gegenüber »nd« Gründe auf, warum sein Mandant in akuter Gefahr wäre, wenn man ihn ausliefern würde. Zwei in der Türkei festgenommene Verwandte seien bei Verhören nach Ömer Bilin befragt worden. Ihnen wurde vorgehalten, dass es sich um einen Terroristen handele. Im Jahr 2015 sei zudem in zahlreichen türkischen Zeitungen ein Lichtbild von Bilin gemeinsam mit dem Bild des Bruders des inhaftierten ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas verbreitet worden. Beiden wurde dort die Mitgliedschaft in der kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen. Bereits 2012 sei gegen seinen Mandanten wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ermittelt worden, bestätigte Fresenius gegenüber »nd«. Zwei türkische Rechtsanwälte hätten bestätigt, dass es in der Türkei noch immer einen Suchbefehl gegen seinen Mandanten gebe. Im Gespräch mit »nd« monierte Fresenius auch den Umgang der Ausländerbehörde mit Ömer Bilin, der nun am Flughafen in Frankfurt festsitzt. »Mein Mandant wurde, bevor mir der ablehnende Bescheid zugestellt wurde, zwangsweise dem türkischen Konsulat vorgeführt. Dort erklärte man ihm ganz offen, er werde bei einer Ablehnung seines Asylantrages auf dem Flughafen festgenommen und gefesselt nach Ankara gebracht. Seine juristischen Mittel gegen die Ausweisung sind sehr begrenzt«, betonte der Rechtsanwalt. »Gegen eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Flughafen-Eilverfahren ist keine Beschwerde möglich. Es bliebe nur der Weg nach Karlsruhe – sollte die Abschiebung durch die Bundespolizei nicht sofort erfolgen.«

Doch vielleicht kann politischer Druck die Auslieferung noch verhindern. »Ömer Bilin darf kein Geschenk für Erdoğan bei dessen anstehendem Besuch in Deutschland werden«, fordern auch linke Solidaritätsgruppen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1098864.oemer-bilin-hdp-mann-droht-die-abschiebung.html

Peter Nowak