Katalonien: „Emphatische Demokratie“ und das Gewicht von Verfassungen

Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Detlef Georgia Schulze über Realismus im Streit zwischen der Zentralregierung in Madrid und dem katalanischen "Volk"

Die PolitologIn Detlef Georgia Schulze[1] hat zusammen mit Sabine Berghahn und Frieder Otto Wolf zwei Bände mit dem Titel Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne[2] herausgeben. Telepolis sprach mit der PolitikwissenschaftlerIn über die Situation in Katalonien.

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Trauer

Über die gesellschaftliche Ungleichheit in Deutschland ist schon viel geschrieben worden. Doch das Buch, das die Berliner Sozialwissenschaftlerin Francis Seeck herausgegeben hat, ist eine Pionierarbeit. Auf gut 100 Seiten beschäftigt sie sich damit, wie einkommensarme Menschen oft in einem namenlosen Grab bestattet werden. Dadurch werde ihren Freund_innen und Angehörigen das Recht auf Trauer genommen. Recht auf Trauer, das ist auch der Titel des Buches. Darin beschreibt Seeck ihren subjektiven Zugang zum Thema: Vom Tod ihres Vaters erfuhr sie, als ihr das Bezirksamt Berlin-Neukölln die Rechnung für seine Bestattung schickte, über die sie nicht informiert worden war. Ausgehend von der eigenen Erfahrung schrieb sie ein sehr persönliches Buch, in dem sie den anonym Bestatteten ihre Namen zurückgibt. Auch Kurzbiografien und Gedichte finden sich darin. Die Autorin berichtet über Widerstandsstrategien, mit denen Freund_innen und Bekannte gegen die namenlose Beerdigung ihr Recht auf Trauer oft gegen den Willen des Friedhofpersonals durchsetzen. Seeck zeigt, wie auch bei Beerdigungen sexistische und rassistische Unterdrückungsmechanismen greifen. Theoretisch rekurriert die Autorin auf eine Rede Judith Butlers. Als ihr der Adorno-Preis verliehen wurde, sagte die Philosophin: »Die Unbetrauerbaren versammeln sich gelegentlich zum öffentlichen Aufstand der Trauer, und deshalb lassen sich in vielen Ländern Beerdigungen und Demonstrationen nur schwer unterscheiden«.

https://www.akweb.de/ak_s/ak631/20.htm
aus: analyse und kritik

Peter Nowak

Francis Seeck: Recht auf Trauer. Bestattungen aus machtkritischer Perspektive. edition assemblage, Münster 2017. 112 Seiten, 9,80 EUR.

»Brauchen Unterstützung«

Die Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) hat weiterhin viel zu tun. Über den Zustand der Gewerkschaft hat die Jungle World mit Martina Franke gesprochen. Sie ist Mitglied der Berliner Solidaritätsgruppe der GG/BO.

Wie ist der Stand der Organisierung bei der GG/BO?
Als die Gewerkschaft im Mai 2014 in der JVA Tegel gegründet wurde, konnte niemand ahnen, dass…

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»Diskussionen sind weiterhin wichtig«

Helge Lehmann, IT-Spezialist, über seine Recherchen zum Tod der RAF-Gefangenen in Stammheim 1977

Helge Lehmann ist IT-Spezialist und war Betriebsrat in einem transnationalen Unternehmen. 2011 gab er nach mehrjährigen Recherchen das Buch »Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung: Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Darstellung und das Todesermittlungsverfahren« heraus.

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Stammheimer Todesnacht: Es bleiben zahlreiche Widersprüche

Kann der Tatort "Der rote Schatten" die Diskussion um die Todesumstände der RAF-Gefangenen neu beleben?

Der Tatort-Krimi Der rote Schatten[1], der am letzten Sonntag ausgestrahlt wurde, hat ein Verdienst. Er lenkt noch einmal die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass zahlreiche Widersprüche zur offiziellen Version der Todesumstände der RAF-Gefangenen am 18.Oktober 1977 in dem Isolationstrakt von Stammheim unaufgeklärt sind.

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Immer noch nicht alle Unklarheiten beseitigt

Helge Lehmann zu seiner Untersuchung, die die offizielle Todesversion der RAF-Gefangenen Baader, Ensslin und Raspe infrage stellt

Warum bezweifeln Sie noch immer, dass die RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe Selbstmord verübt haben?

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Von Provos und Spontis

Sebastian Kalicha würdigt den gewaltfreien Anarchismus

»Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution« lautete das Credo des holländischen Anarchisten Bart de Ligt. Das mag alle überraschen, die Anarchismus noch immer mit Chaos und Gewalt in Verbindung bringen. Doch damit wird schlichtweg die lange Tradition eines gewaltfreien Anarchismus und Syndikalismus ignoriert, die Einfluss in vielen linken Bewegungen in aller Welt hatte und hat.

Der Wiener Autor Sebastian Kalicha hat sich seit Jahren mit dieser gewaltfreien Strömung befasst und sie in verschiedenen Veröffentlichungen bekannt gemacht. Jetzt begab er sich erneut auf die Suche nach den historischen Wurzeln und Spuren des anarchistischen Pazifismus. Es ist nur konsequent, dass sein sachkundiges wie streitbares Buch im Verlag Graswurzelrevolution erschienen ist, einem Editionshaus, das zur Infrastruktur der gewaltfreien Bewegung gehört und auch regelmäßig eine Zeitschrift gleichen Namens herausgibt.

Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel geht es um die theoretischen Grundlagen der gewaltfreien Bewegung, im zweiten werden 55 bekannte und unbekannte Aktivisten und Aktivistinnen vorgestellt, und im dritten Teil folgt ein Überblick über Organisationen und Bündnisse, die sich in der Vergangenheit und in der Gegenwart teilweise oder vollständig mit gewaltfreier Theorie und Praxis beschäftigen.
Als zentral für das theoretische Fundament der gewaltfreien Bewegung nennt der Autor die Zweck-Mittel-Relation, nach der mit Gewalt eine Bewegung vielleicht siegen kann, aber selber wieder neue Gewalt reproduziert. Dabei wird allerdings ausgeblendet, dass es historische Situationen geben kann (und auch hinlänglich gab), in denen auch überzeugte Gewaltfreie von diesem Credo abweichen müssen. Erinnert sei an den jüdischen Anarchisten Pierre Ruff, der im Zweiten Weltkrieg den Mut der Kommunisten lobte und hoffte, dass die Rote Armee das NS-System zerschlägt. Ruff erlebte die Befreiung nicht mehr, er starb im KZ Neuengamme.

In oder aus der Not geborene Widersprüche erkannten auch viele andere Gewaltfreie, was sie auch sympathisch macht. Zeigt dies doch zugleich, dass sie keine Doktrinären sind, sondern ihre Überzeugungen an der konkreten Praxis überprüfen und auch mitunter revidieren. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Kalicha den Mut aufgebracht hätte, diesen Widersprüchen in den 55 Kurzporträts von Menschen aus aller Welt Raum zu geben.

Der Autor erinnert an prominente Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi, Leo Tolstoi und Albert Camus, Bertram Russell und Aldous Huxley. Erfreulicherweise sind in dem Buch auch viele Frauen porträtiert, die Teil der gewaltfreien Bewegung waren und – wie in anderen Teilen der Linken – oft im Schatten der vermeintlich bedeutsameren männlichen Mitstreiter standen. Simone Weil gehört noch zu den einigermaßen bekannten Frauen der anarchistischen Bewegung. Doch wer kennt Marie Kugel, Ethel Mannin, Dorothy Mannin, Judi Bari und Utah Philips? Sie waren zu unterschiedlichen Zeiten aktiv und blieben ihren Überzeugungen zeitlebens treu, obwohl sie oft noch stärker von Repression betroffen waren als die Männer.

Erfreulich ist, dass Kalicha der syndikalistischen Strömung große Aufmerksamkeit widmet. Dieser Strang der Arbeiterbewegung zählte den Generalstreik und die direkte Aktion zu seinen Kampfformen. Die Syndikalisten lehnten die Verletzung von Personen ab, nicht aber Sachbeschädigung oder die Besetzung von Fabriken. Nur wenige von ihnen bezeichneten sich explizit als Anarchisten oder Anarchistinnen. Henriette Roland Holst, ebenfalls hier porträtiert, gehörte zur holländischen marxistischen linkskommunistischen Schule, die die Oktoberrevolution begrüßte, aber die folgende Entwicklung der Sowjetunion ablehnte.

Im letzten Kapitel zeigt Kalicha auf, welchen Einfluss gewaltfreie Theorien und Praktiken auf die Antikriegs- und Ökologiebewegung hatten. Die holländische Provobewegung beeinflusste beispielsweise die westdeutschen Spontis. Weniger bekannt ist die holländische Kabouter-Bewegung, die Kalicha als »freundliches Gesicht des Kropotkinismus« einführt. Interessant ist, dass die Kabouter Mitte der 1970er Jahre Wahllisten aufstellten und die Theorie vom parlamentarischen und außerparlamentarischen Standbein in die Diskussion brachten, die einige Jahre später die Grünen in der Bundesrepublik übernahmen. In einem sehr kurzen Kapitel geht Kalicha auch auf die Inspiration der gewaltfreien Anarchisten für die Oppositionsbewegung in der DDR ein. Dabei wird vor allem auf die Dresdner Gruppe »Wolfspelz« hingewiesen. Auch der israelischen Gruppe »Anarchists against the Wall« ist ein kurzes Kapitel gewidmet. Ausführlicher wird die globalisierungskritische Bewegung, darunter Occupy, behandelt. Gewaltfreie Aktionsformen werden hier mit einer marxistischen Staatskritik verbunden, was sehr zu begrüßen ist. Denn der Marxismus braucht die libertäre Staats- und Machtkritik ebenso, wie die Anarchisten von der oft moralisch grundierten Staatsablehnung der Marxisten lernen können.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1066243.von-provos-und-spontis.html

Sebastian Kalicha: Gewaltfreier Anarchismus & anarchistischer Pazifismus.
Auf den Spuren einer revolutionären Theorie und Bewegung. Graswurzelrevolution, 278 S., br., 16,90 €

Peter Nowak

„Für viele waren Nazis eine Nebenerscheinung“

Vor 30 Jahren gründeten sich in der DDR die ersten unabhängigen Antifa-Gruppen – Auslöser war der Überfall von Neonazis auf ein Punkkonzert in der Zionskirche in Prenzlauer Berg. Dietmar Wolf war einer der Mitbegründer der Ost-Antifa

INTERVIEW PETER NOWAK

taz: Herr Wolf, wann sind Sie in der DDR das erste Mal mit Neonazis in Kontakt gekommen?
Dietmar Wolf: Ich bin ab 1978 regelmäßig zu Spielen des Fußballclubs BFC Dynamo gegangen. Dort habe ich 1982 oder 1983 die ersten Fans mit extrem kurzen Haaren und auffälligen Klamotten gesehen, die aus heutiger Sicht typisch für Skinheads waren. Außerdem fiel zu dieser Zeit mehr und mehr auf, dass die Fansprechchöre immer extremer und aggressiver wurden und zunehmend rassistische, antisemitische, sexistische Inhalte hatten. Das war dann auch ein wesentlicher Grund für mich, nicht mehr zum BFC ins Stadion zu gehen.

Wie kamen Sie in den Kreis der Mitbegründer der Ostberliner Antifa?
Ich gehörte seit 1987 verschiedenen Gruppen der politischen Opposition in der DDR an. Unter anderem war ich auch Mitarbeiter in der Kirche von Unten. Deshalb war ich unmittelbar an der Planung und Organisation der Veranstaltung am 19. April 1989 beteiligt. Ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits von der Gründung der Antifagruppe in Potsdam gehört. Allerdings hatte ich keine persönlichen Kontakte dorthin

Wie kam es zur Gründung unabhängiger Antifa-Gruppen in verschiedenen Städten der DDR?
Auslöser war der Überfall von Nazi-Skinheads auf ein Punkkonzert in der Ostberliner Zionskirche im Oktober 1987. Er hatte in zweierlei Hinsicht Si­gnal­wir­kung. Zum einen erhöhte sich danach die Zahl der offenen Übergriffe von Nazis und Skinheads. Zum anderen regte sich erstmals selbst organisierter Widerstand. Daraus folgte dann die Gründung von unabhängigen Antifa-Gruppen: in Potsdam und Dresden 1987, in Halle 1988 und in Berlin nach einem gescheiterten Versuch 1987 am 19. April 1989 in den Räumen der Kirche von Unten, der KvU.

Wer steckte hinter dem Überfall auf die Zionskirche?
Damals hatten sich relativ spontan ungefähr 30 Neonazis von einer Geburtstagsfeier in einer Kneipe in Prenzlauer Berg zur Kirche aufgemacht, um das Konzert anzugreifen. Angeführt wurde die Aktion von Ostber­liner Neonazis wie Ronny Busse. Einige ebenfalls beteiligte ­Westberliner Neonazis sind allerdings nie enttarnt worden: Es gab ein Amtshilfeverfahren der DDR-Behörden, dem aber leider von Westberliner Seite nicht stattgegeben worden ist.

Wie war das Verhältnis zwischen der Unabhängigen Antifa und den unterschiedlichen Gruppen der DDR-Opposition?
Gute Kontakte hatte wir zu linken Oppositionsgruppen, die sich anarchistisch definierten, wie zum Beispiel die Umweltbibliothek und eben die KvU in Berlin. Der große Teil der Oppositionsgruppen – auch jene, die sich als marxistisch oder trotzkistisch definierten – nahm die Antifa-Gruppen aber nicht wirklich ernst. Für ihn war damals das Thema Rassismus und Nazis eine eher unwesentliche Nebenerscheinung.

Wie reagierten die DDR-Verantwortlichen auf die unabhängige Antifa?
Der Staat beziehungsweise das Ministerium für Staatssicherheit antworteten mit Repression und Bespitzelung. Es gab seitens der Antifa-Gruppen Versuche, mit der FDJ ins Gespräch zu kommen und auch auf der unteren Ebene eine gewisse Zusammenarbeit anzuregen. Das wurde von der FDJ bis in die Zeit der Wende hinein kategorisch abgelehnt.

Die Maueröffnung 1989 ermöglichte Ihnen dann direkte Kontakte mit Westberliner und westdeutschen Antifagruppen. Wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen Antifa Ost und West?
Nach anfänglich großem Interesse und großer Bereitschaft zur Zusammenarbeit machten viele Antifaschisten und Antifaschistinnen aus der DDR die Erfahrung von Bevormundung, Herabwürdigung und ideologischen Eingliederungsversuchen durch die Westgruppen. Das führte schnell dazu, dass auch in den antifaschistischen Gruppen der Begriff des Ost-West-Konflikts Einzug hielt.

Wo lagen die Unterschiede?
In den 90er Jahren gründeten westdeutsche Antifa-Gruppen die Antifaschistische Aktion/Bundesweite Aktion, eine antifaschistisch ausgerichtete Kader- und Sammlungsorganisation nach dem historischen Vorbild des Rotfrontkämpferbunds. Antifas aus der DDR koordinierten sich zu dieser Zeit im Ostvernetzungstreffen, zu dem Gruppen aus dem Westen keinen Zugang hatten.

Sie sind in der antifaschistischen Bildungsarbeit aktiv. Worum geht es da?
Ich sehe meine Bildungsarbeit als einen kleinen Beitrag zum Erhalt von antifaschistischer Geschichte. Sie ist in gewisser Weise eine Brücke von 1987 ins Jahr 2017. Denn leider stelle ich immer wieder fest, dass die Antifaschisten und Antifaschistinnen von 2017 kaum etwas über die Antifagruppen von 2007 und 1997 wissen, geschweige denn von 1987.

Interview: Peter Nowak

Dietmar Wolf, geb. 1965, stellt am 12. 10. um 20 Uhr das Buch „30 Jahre unabhän­gige Antifa in Ostdeutschland“ vor. BAIZ, Schönhauser Allee 26A

aus Taz vom 9.10.2017:
http://www.taz.de/Archiv-Suche/!5451924/

Wenn die Rechte Israel lobt

Diskussionsstoff für einen Antifaschismus auf der Höhe der Zeit


Momentan werden viele Bücher über die AfD verfasst. Etliche sind im Handgemenge geschrieben und schon nach wenigen Monaten nicht mehr aktuell. Doch das von Stephan Grigat herausgegebene „AfD und FPÖ, Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechte bilder“ gehört zu den Büchern, über die man noch länger diskutieren wird.

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»Bettelverbote machen nicht satt«

Die Stadtverwaltung in Dresden will härter gegen Bettler vorgehen. Linke Organisationen haben deshalb die »Bettellobby Dresden« gegründet. Maja Schneider von der Gruppe »Polar«, die dem Bündnis angehört, hat mit der Jungle World gesprochen.Warum brauchen Bettelnde in Dresden eine Lobby?
Es gab vor allem in den lokalen Zeitungen Berichte über und vor allem gegen das Betteln. Oft spielten die Artikel mit Vorurteilen. Vor allem die Behauptung, dass Kinder zum Betteln instrumentalisiert würden, erregte die Gemüter. Die Kommentare zeigten, dass Ressentiments gegenüber Roma ein wichtiger Bestandteil dieser Debatte sind. Fakten, beispielsweise darüber, wie viele Familien überhaupt in der Stadt betteln, gab es kaum. So wurde das Betteln zum Problem aufgebauscht. Daraufhin begann die Verwaltung, über mögliche Verbote zu diskutieren.

Was ist Ihr Ziel?
Zuerst wollen wir Bettelverbote und die Gängelei von Bettelnden verhindern. Denn Bettelverbote machen nicht satt; sie vertreiben Arme aus der Stadt oder machen ihre Tätigkeit illegal. Wir wollen außerdem über den Rassismus gegen Sinti und Roma aufklären, der ganz oft in Debatten über Armut eine Rolle spielt. Einerseits sind viele Roma von Armut betroffen, weil sie in ganz Europa diskriminiert werden. Andererseits betteln nicht alle Roma, sondern arbeiten beispielsweise auch als Ärzte, Lehrer, Handwerker.

Sollte eine emanzipatorische Linke nicht die Verhältnisse kritisieren, anstatt die Aufrechterhaltung des Bettelns zu fordern?
Wir engagieren uns auch gegen die kapitalistischen Verhältnisse, die Menschen zum Betteln zwingen. Wie viele politische Gruppen haben wir unterschiedliche Themen und arbeiten in unterschiedlichen Bündnissen. Es gibt unserer Meinung nach viele gute Gründe für eine Bettellobby, auch für emanzipatorische Linksradikale. Erstens selbstverständlich die Solidarität: Solange es Armut gibt, müssen Arme das Recht haben, in der Stadt sichtbar zu sein und zu betteln. Niemand will über Armut sprechen, wir schon. Zweitens glauben wir nicht an all or nothing von heute auf morgen. Der Kapitalismus wird morgen nicht zugunsten eines solidarischen Entwurfs abgeschafft worden sein.

Was bedeutet Ihre Parole »Betteln ist ein Recht auf Stadt«?
Bettelverbote verstoßen gegen Grundrechte. Jede und jeder hat das Recht, seine Meinung zu äußern, was auch bedeutet, über eigene Nöte zu sprechen und um Hilfe zu bitten. Als emanzipatorische Linke sollten wir Grundrechte verteidigen. So ist der Kampf gegen Bettelverbote auch einer gegen autoritäre Verschärfungen in der Politik wie Kontrolle, Schikane, Verächtlichmachung und Verdrängung. Solche Debatten und Vorgehensweisen können wir nicht einfach stehen lassen. Wir machen das Recht auf Stadt, auf Bildung und volle Bewegungsfreiheit für alle geltend.

Welche Rolle spielt Rassismus in der Debatte?
Ginge es um deutsche Bettelnde, würde niemand über ein Bettelverbot reden. Die Artikel und Kommentare in der lokalen Presse entspringen antiziganistischen Vorstellungen. Deshalb arbeiten wir sehr eng mit Romano Sumnal zusammen, der ersten Selbstvertretung von Roma in Sachsen. Außerdem ist die Treberhilfe in Dresden unsere Partnerin. Sie unterstützt arme Menschen und protestiert immer wieder gegen diese rechte Argumentation.

https://jungle.world/artikel/2017/39/bettelverbote-machen-nicht-satt

Interview: Peter Nowak

«Sie können sich selber organisieren»

Ercan Ayboga lebt in Deutschland und ist seit Jahren aktiv in der Solidarität mit der kurdischen Bewegung. Im Gespräch erzählt er von den Strukturen der Selbstorganisierung in Rojava, über die Erfolge der Frauen und, wie äussere Mächte das demokratische Projekt vernichten wollen.

Sie haben Ende April auf der von ausserparlamentarischen Linken organisierten Konferenz zur Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie in Berlin auf mehreren Podien über die aktuelle Situation in Rojava diskutiert. Wo sehen Sie da Zusammenhänge?

Ercan Ayboga: In Rojava organisiert sich die Gesellschaft weitgehend selber. Nach der Befreiung vom IS hätte sich die Partei PYD als zentrale Kraft beim Kampf gegen die IslamistInnen entschliessen können, ihre Parteistrukturen auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten. Doch sie hat sich zurückgezogen, damit sich die Gesellschaft in Räten, Kommunen und Kooperativen selber organisieren kann.

Können Sie ein konkretes Beispiel für diese Selbstverwaltungsstrukturen nennen?

Es wurden Räte für Gesundheit aufgebaut, an denen fast alle, die in diesem Sektor beteiligt sind, zusammenarbeiten. Das sind Ärztinnen und Ärzte, ApothekerInnen und Pflegekräfte. Da wird niemand instrumentalisiert. Ähnlich verlief es mit JuristInnen. Die Idee ist klar, alle gesellschaftlichen Akteur-Innen sollen kooperieren und eine neue Gesellschaft aufbauen.

Welche Rolle spielen die Frauen dabei?

Die Selbstorganisierung der Frauen ist ein zentraler Bestandteil des Selbstverwaltungsprojekts. Es existiert in jeder Kommune, Rat und Kooperative ein Frauenkomitee, das nur von Frauen gewählt wird. Sie alleine wählen die weibliche Co-Vorsitzende und dürfen den männlichen mitwählen. So bilden die Frauen eigene Strukturen und organisieren sich selbstständig. Auf dieser Grundlage können sie Einfluss auf die Räte nehmen, um eine Politik im Interesse der Frauen durchzusetzen.

Die PYD hat sich aber als Partei nicht aufgelöst. Welche Rolle spielt sie?

Sie hat keine avantgardistische Rolle, weil sie sich entschieden hat, die Gesellschaft soll sich durch Räte selber regieren. Sie versteht sich als eine ideologisch arbeitende Struktur im gesamten System.

Aber kann es nicht wie schon häufiger in der Geschichte zu Konflikten zwischen den Räten und der Partei kommen, wenn es politische Differenzen gibt?

Die Selbstverwaltung durch die Räte steht völlig im Einklang mit der Programmatik der PYD. Sie hat diese Selbstverwaltung durch ihren Kampf möglich gemacht und so für die Räte das Terrain eröffnet. Sie hat wegen ihrer historischen Rolle bei der Befreiung vom IS eine wichtige Rolle als Ideengeberin. Die PYD ist ein kleiner Teil des Rätesystems, welches viele weitere Dynamiken hat. Lokale Auseinandersetzungen kommen selten vor und sind insgesamt unbedeutend.

Gibt es neben PYD noch andere Parteien?

Es gibt fünf weitere Parteien im Rätesystem, die mitmachen. Dabei ist sowohl die kommunistische als auch die liberale Partei von Rojava. Alle Parteien sind gleichermassen ab den mittleren Stufen im Rätesystem vertreten. Doch diese fünf Parteien sind eher passiv, die Initiativen kommen meistens von der PYD.

Die Selbstverwaltung setzt ein hohes Mass an Engagement aller Menschen voraus. Gib es da nicht auch Probleme, dass manche Menschen dieses Engagement gar nicht immer aufbringen wollen?

Das ist in der Tat ein grosses Problem. Es gibt Kommunen und Räte, an denen beteiligen sich sehr viele Menschen, in anderen Sektoren gibt es Probleme, Leute zu finden, die sich engagieren. Sie wollen lieber, dass jemand verantwortlich ist. Die Partei oder der Rat sollen es regeln. Es liegt dann an den Aktiven in den Räten, Vorschläge zu machen und die Menschen immer wieder zu motivieren, sich zu engagieren. Dabei spielt die Bildungsarbeit eine zentrale Rolle. Die Menschen lernen so, dass das eigene Engagement wichtig ist, für die Veränderungen in ihrem Alltag.

Wie steht es mit der Selbstorganisierung der Menschen am Arbeitsplatz in Rojava?

Fabrikräte gibt es nicht, weil es keine grosse industrielle Produktion gibt. Es gibt aber immer mehr Komitees der arbeitenden Menschen bei TaxifahrerInnen, in Autowerkstätten und in der Verwaltung, die in einer übergeordneten Struktur zusammenkommen. Daneben gibt es immer mehr Kooperativen, wo die Mitglieder kommunal entscheiden.

Ist es nicht ein Widerspruch zu den Rätestrukturen, dass die Rolle des PKK-Vorsitzenden Öcalan sehr gross ist?

Tatsächlich ist Öcalan in Rojava überall präsent, was keine Verordnung ist, sondern von den Menschen selbst kommt. Das liegt auch daran, dass er bereits in den frühen 1980er Jahren, bevor die kurdische Arbeiterpartei PKK in Nordkurdistan ihren bewaffneten Kampf begann, in Rojava Versammlungen abgehalten und Tausende für den Kampf in Nordkurdistan gewonnen hat. Heute ist es das von Öcalan entwickelte Projekt des demokratischen Konföderalismus, das in Rojava umgesetzt wird.

Nun wird ja die Perspektive der Region auch von vielen anderen Mächten wie der Türkei, den USA und Syrien abhängen. Ist damit die Selbstverwaltung nicht massiv eingeschränkt?

In Rojava macht sich niemand Illusionen, dass alle diese Mächte das Projekt der Selbstverwaltung vernichten wollen. Die einzige Chance ist daher, die momentanen Widersprüche zwischen diesen Ländern zu nutzen und so stark zu werden, dass es schwer wird, Rojava anzugreifen. Im Idealfall gelingt es uns, dass sich das Modell der Selbstverwaltung ausbreitet. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit.

aus: Vorwärts/Schweiz

«Sie können sich selber organisieren»


Interview: Peter Nowak

»Nach Deutschland verschleppt«

Small Talk mit Tahir Della von der »Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland« über die Umbenennung der Berliner Mohrenstraße

Am Mittwoch vergangener Woche wurde in der Berliner Mohrenstraße, kurz M-Straße, ein Fest gefeiert, mit dem eine Änderung des kolonialrassistischen Straßennamens gefordert wurde. Die Jungle World hat mit Tahir Della gesprochen. Er ist Vorstandsmitglied der »Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland« und hat das Fest mitorganisiert.

Small TalkvonPeter Nowak

Welche Bedeutung hat der 23. August, an dem das Fest stattfand?

Am 23. August 1791 begann in Haiti die Revolution. Es war ein Aufstand schwarzer Menschen gegen Versklavung und Unterdrückung, der weiterhin aktuell ist. Der 23. August ist der UN-Gedenktag gegen die Sklaverei. Wir stellen die M-Straße in den Kontext dieser Kolonialgeschichte und des transatlantischen Sklavenhandels, in den auch Deutschland verwickelt war, was häufig ausgeblendet wird. Ich erinnere nur an die brandenburgische Kolonie Groß Friedrichsburg in Westafrika, die von 1683 bis 1717 bestand und von wo aus Menschen nach Nord- und Südamerika, aber auch nach Europa, auch nach Deutschland verschleppt wurden.

Warum wollen Sie die M-Straße nach Anton Wilhelm Amo benennen?

Amo steht für die unsichtbar gemachte Geschichte und Präsenz schwarzer Menschen in Deutschland, die entgegen der verbreiteten Auffassung bis ins 17. Jahrhundert zurückgeht. Der in Ghana geborene Gelehrte setzte sich im 18. Jahrhundert in Deutschland gegen die Diskriminierung schwarzer Menschen und gegen die Kolonisierung ein. Mit der Benennung der M-Straße nach Anton Wilhelm Amo würden wir nicht nur diesen Kämpfer für die Gleichberechtigung aller Menschen würdigen, sondern auch deutlich machen, dass unser Widerstand eine lange Geschichte hat, die sichtbar werden muss.

Die Auseinandersetzung um die Umbenennung zieht sich schon einige Jahre hin. Sehen Sie Fortschritte?
Wir haben teilweise Fortschritte zu verzeichnen, was sich beispielsweise im Wedding zeigt, wo nach jahrelangen Kämpfen drei Straßen, die Kolonialverbrecher ehren, umbenannt werden sollen. Auch in der M-Straße gibt es einen wachsenden Zuspruch aus der Bevölkerung für eine Umbenennung. Am diesjährigen Fest haben sich viele beteiligt, die sich im Kampf gegen Diskriminierung engagieren und sich deshalb unserem Anliegen nach einer Umbenennung anschließen. Sie sehen genau wie wir, dass es hier nicht um eine historische, sondern um eine sehr aktuelle und politische Forderung geht. Der Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa und Deutschland ist eng mit der kolonialrassistischen Geschichte verbunden. Andererseits sehen wir, dass der Mainstream der Gesellschaft und besonders einige Historiker unsere Forderungen ablehnen.

Auf der Kundgebung sprachen auch Politiker. Ist bei ihnen die Zustimmung zur Umbenennung gewachsen?
Mehr und mehr erkennen auch Politiker die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und damit verbundener Straßenumbenennungen. Wenn sie sich gegen Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen engagieren, müssen sie sich auch mit der noch immer nicht aufgearbeiteten Geschichte des Kolonialismus befassen. Wir müssen aber auch feststellen, dass sich das zuständige Bezirksamt Mitte bei der Umbenennung der M-Straße nicht bewegt.

Wie wollen Sie weiter vorgehen?
Wir wenden uns an die Landesregierung. Schließlich hat die im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass die Berliner Kolonialgeschichte zum festen Bestandteil der Erinnerungskultur werden soll. Es sollte aus meiner Sicht nicht nur im Belieben der einzelnen Bezirke liegen, wie die Stadt damit umgeht.

Interview: Peter Nowak
#https://jungle.world/artikel/2017/35/nach-deutschland-verschleppt

Standortlogik als Scharnier zur AfD

Stefan Dietl hält den Gewerkschaften den Spiegel vor – ohne aufzutrumpfen

Die AfD schreibt in ihrem Wahlprogramm zur Zukunft des Sozialstaats: »Die Stabilisierung der Sozialsysteme erfordert bei einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung besondere Anstrengungen. Unsere begrenzten Mittel stehen deshalb nicht für eine unverantwortliche Zuwanderungspolitik, wie sie sich kein anderes europäisches Land zumutet, zur Verfügung.« Eine solche Argumentation findet auch bei Gewerkschaftern Zustimmung. Bei allen Landtagswahlen 2016 wurde die AfD überproportional von Gewerkschaftsmitgliedern gewählt. Dabei warnen die Spitzen von DGB, ver.di und IG-Metall unisono vor dieser Partei.

Der Münchner Journalist Stefan Dietl untersucht in seinem Buch »Die AfD und die soziale Frage«, was sie Arbeitnehmern anzubieten hat. Politisch sieht Dietl sie zwischen den Polen Marktradikalismus und völkischem Antikapitalismus changieren. Er erinnert daran, dass die Wahlalternative, aus der die AfD hervorgegangen ist, als Sammelbecken von der FDP enttäuschter Neoliberaler gegründet wurde. »Der AfD gelang es, sowohl marktradikale Eliten als auch nationalkonservative Hardliner, christlich-fundamentalistische Aktivisten und völkische Nationalisten zu vereinen«, beschreibt er ihr Erfolgsrezept. Im Detail geht Dietl auf das sozialpolitische Programm und die innerparteilichen Debatten um einen Mindestlohn und das Freihandelsabkommen TTIP ein. Er zeigt auf, dass die AfD flügelübergreifend sowohl die Agenda 2010 als auch Leiharbeit unterstützt. »Die Ausgrenzung und Selektion von sozial Benachteiligten nach vermeintlichen Leistungskriterien zum Wohle von Volk und Wirtschaft fügt sich in die sozialdarwinistische Ideologie der völkischen Antikapitalisten ebenso ein wie in das marktradikale Denken neoliberaler Hardliner«, analysiert Dietl.

Ausführlich widmet er sich der Frage, warum solche Ansätze bei Gewerkschaftsmitgliedern verfangen. Einen Grund sieht Dietl darin, dass Gewerkschaften genauso wie Unternehmen einen starken Standort Deutschland propagieren, der sich im internationalen Wettbewerb durchsetzen müsse. Dieser Standortnationalismus könne zum ungewollten Scharnier für die Ideologie rechter Gruppen werden, warnt er. Zudem organisierten sich heute vor allem Angestellte und gut ausgebildete Facharbeiter in DGB-Gewerkschaften, die aus Angst vor sozialem Abstieg häufig die AfD wählten. Das letzte Kapitel skizziert Gegenstrategien. »Ohne die Überwindung des Denkens in den Kategorien der internationalen Standortkonkurrenz ist ein glaubwürdiges Eintreten gegen den von der AfD propagierten Rassismus und Nationalismus zum Scheitern verurteilt«, stellt Dietl fest. Die Gewerkschaften müssten sich besonders den prekär Beschäftigten unabhängig von ihrer Herkunft öffnen. Hier sieht er im europäischen Vergleich großen Nachholebedarf. Dietls Buch sorgt in Gewerkschaftszusammenhängen für Diskussionen, vor allem mit Blick auf mögliche Gegenstrategien. Der ver.di-Bezirk Mittelfranken beispielsweise hat einen Info-Kartenblock herausgegeben, der zentrale Aussagen des AfD-Grundsatzprogramms mit gewerkschaftlichen Positionen kontrastiert.

Stefan Dietl: Die AfD und die soziale Frage. Zwischen Marktradikalismus und völkischen Antikapitalismus, Unrast 2017, 167 S., 14 €. Am 25. August stellt der Autor sein Buch in Berlin im FAU-Lokal Grüntaler Str. 24 vor.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1061595.standortlogik-als-scharnier-zur-afd.html

Peter Nowak

WAS DIE STANDORTPOLITIK DES DGB MIT DER AFD ZU TUN HAT

In Stefan Dietls neuem Buch steht neben Neoliberalismus und völkischem Antikapitalismus aus der AfD selbst, auch der Standortnationalismus der DGB-Gewerkschaften zur Debatte.

„Sozialstaat? Braucht Grenzen!“ Mit diesem Motto wirbt die AfD im Bundestagswahlkampf. Im Wahlprogramm der Rechtspopulist_innen wird der Zusammenhang zwischen Sozialstaat und Flüchtlingspolitik so formuliert: „Die Stabilisierung der Sozialsysteme erfordert bei einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung besondere Anstrengungen. Unsere begrenzten Mittel stehen deshalb nicht für eine unverantwortliche Zuwanderungspolitik, wie sie sich kein anderes europäisches Land zumutet, zur Verfügung.“ Eine solche Argumentation findet auch bei Gewerkschafter_innen Zustimmung.

Der Essener Bergmann Guido Reil, der von SPD zur AfD gewechselt ist, postet auf seiner Facebookseite ein Video, auf dem man 10 Minuten sieht, wie er sich flankiert von Kameras in die Essener DGB-Demonstration zum 1. Mai drängen will. Ihm schallen immer wieder „Nazis raus!“-Rufe entgegen. Der Münchner Journalist Stefan Dietl untersucht in seinem, im Unrast-Verlag erschienenen, Buch die Sozialpolitik der AfD und benennt dabei erfreulicherweise auch die Verantwortung des DGB. Der Untertitel seines Buches „Zwischen Marktradikalismus und völkischen Antikapitalismus“ benennt die beiden Pole der AfD-internen Debatte. Dietl erinnert noch einmal daran, dass die Wahlalternative 2013, aus der die AfD hervorgegangen ist, als Sammelbecken von der FDP enttäuschter Neoliberaler gegründet wurde. Von Anfang an waren Neokonservative mit im Boot. „Der AfD gelang es sowohl marktradikale Eliten als auch nationalkonservative Hardliner_innen, christlich-fundamentalistische Aktivist_innen und völkische Nationalisten zu vereinen“, beschreibt Dietl das Erfolgsrezept der Rechtspopulist_innen. Im Detail geht Dietl dann auf das sozialpolitische Programm der AfD und die innerparteilichen Debatten um einen Mindestlohn oder das Freihandelsabkommen TTIP ein.

ES REICHT NICHT, DIE AFD ALS NEOLIBERAL ZU ENTLARVEN
Er zeigt auf, dass die AfD flügelübergreifend sowohl die Agenda 2010 als auch die Leiharbeit unterstützt.
„Die Ausgrenzung und Selektion von sozial Benachteiligten nach vermeintlichen Leistungskriterien zum Wohle von Weltwirtschaft und Volk fügt sich in die sozialdarwinistische Ideologie der völkischen Antikapitalist_innen ebenso ein wie in das marktradikale Denken neoliberaler Hardliner_innen.“ Daher warnt Dietl auch vor der naiven Vorstellung, man müsse die AfD nur als neoliberale Partei entlarven, damit sie die Wähler_innen aus Teilen der Arbeiter_innenklasse verliert. Die wählen oft die AfD nicht trotz, sondern wegen ihrer Mischung aus Sozialchauvinismus, Rassismus und Marktradikalismus, weil auch sie für einen starken Wirtschaftsstandort Deutschland Opfer bringen wollen und sich gegen alle die wenden, die das ablehnen.

Ausführlich widmet sich Dietl der Frage, warum die AfD-Parolen auch Zustimmung bei Gewerkschaftsmitgliedern finden, obwohl Vorstandsmitglieder von DGB, Ver.di und IG-Metall vor dieser Partei warnen und sich lokal auch an Bündnissen gegen die AfD beteiligen. Das Propagieren eines starken Standortes Deutschland, der sich im internationalen Wettbewerb durchsetzen muss, könne zum ungewollten Scharnier für die Ideologie rechter Gruppen werden, warnt Dietl. Er nimmt dabei auch auf Studien Bezug, die schon erstellt wurden, als es die AfD noch nicht gab. Denn die Frage, warum Gewerkschaftsmitglieder rechte und rechtspopulistische Einstellungen haben und dann auch entsprechende Parteien wählen, wird schon seit mehr als 10 Jahren intensiv diskutiert.Zudem würden sich heute vor allem Angestellte und gut ausgebildete Facharbeiter in DGB-Gewerkschaften organisieren. Aus Angst vor einem sozialen Abstieg wählen diese Segmente der Arbeiterklasse aber häufig die AfD.

NOCH HOFFNUNG IN EINEN KLASSENKÄMPFERISCHEN DGB?
Im letzten Kapitel widmet sich Dietl gewerkschaftlichen Gegenstrategien. „Ohne die Überwindung des Denkens in den Kategorien der internationalen Standortkonkurrenz ist ein glaubwürdiges Eintreten gegen den von der AfD propagierten Rassismus und Nationalismus zum Scheitern verurteilt“, so seine sehr prägnante und zutreffende Kritik an der Orientierung des DGB. Die Gewerkschaften müssen sich besonders den prekären Segmenten der Lohnarbeiter_innen, unabhängig von ihrer Herkunft, öffnen, wo sie im europäischen Vergleich großen Nachholbedarf haben. Auch da hat Dietl Recht.

Nur zwei Fragen bleiben: Warum setzt er gegen alle historischen Erfahrungen in den DGB die Hoffnung, sie könne eine klassenkämpferische Organisation werden, wo er in dem Buch viele Beispiele bringt, dass der Standortnationalismus auch von großen Teilen der Basis besonders in DGB-Gewerkschaften wie der IG-Metall und IG BCE getragen wird? Und, warum hat er in seinem Buch nicht mit einem Wort Basisgewerkschaften wie die FAU erwähnt, die genau die klassenkämpferische, transnationale Orientierung umzusetzen versuchen? Diese Fragen wird Stefan Dietl sicher gestellt bekommen, wenn er am 25.8. sein Buch im Berliner FAU-Lokal vor und zur Diskussion stellt.

aus: DIREKTE AKTION
Anarcho­syndika­listische Zeitung

Was die Standortpolitik des DGB mit der AfD zu tun hat


Peter Nowak

„Die Opposition will keinen Bürgerkrieg“

Der Regisseur Imre Azem gehört zur außerparlamentarischen Linken in der Türkei. Mit seinen Film „Ekumenopolis – City without Limits“ über die Umstrukturierung in Istanbul wurde er auch in Deutschland bekannt. In seinen neuesten Film „Türkei: Ringen um Demokratie“ begleitet er vier türkische Oppositionelle ein Jahr lang bei ihrer politischen Arbeit.

Auf dem Höhepunkt der Gezi-Proteste 2013 in Istanbul schrieben viele, eine Rückkehr zur autoritären Türkei sei jetzt nicht mehr möglich. Warum haben sie sich so vertan?

Imre Azem.: Diese Einschätzung wurde zu einer Zeit getroffen, als viele Menschen die Angst vor dem Staat und seiner Polizei verloren hatte. Sie machten sich in Liedern über die Polizei, die Wasserwerfer und das Tränengas lustig. Wenn Erdogan die Demonstranten als Randalierer und Chaoten bezeichnete, empfanden sie das nicht als Beschimpfung sondern als Ehrenbezeichnung. Die alten Methoden der Herrschaft haben da nicht mehr gezogen. Doch dann hat das Regime den Terror auf allen Ebenen verschärft. Es wurde nicht mehr nur mit Tränengas geschossen. Es gab Tote und Verletzte. Seit 2015 sind in der gesamten Türkei mehr als 2000 Menschen ermordet worden.

Haben die Gezi-Proteste nicht zu einer Annäherung zwischen türkischen und kurdischen Linken beigetragen?

Nein, das lag aber auch an der Art und Weise, wie die kurdische Bewegung mit den Friedensgesprächen umgegangen ist, die es damals zwischen der PKK und dem Regime gab .Die wurden über den türkischen Geheimdienst geführt. Die kurdische Bewegung hatte die Illusion, sie könne mit Erdogan einen Friedensvertrag schließen. Die Zivilgesellschaft und auch das Parlament wurden umgangen. Dadurch befand sich auch die HDP in einen Dilemma. Anfangs beteiligte sie sich nur zögerlich an den Geziprotesten, weil sie Erdogan nicht schwächen wollte, solange die kurdische Bewegung noch mit ihm verhandelte. Erst als sich abzeichnete, dass Erdogan die Gespräche scheitern lassen wird, wurde die HDP zu einem wichtigen Bestandteil der Gezi-Proteste. Da waren sie aber schon in der Endphase.

Was ist von den Gezi-Protesten geblieben?

Viele der Aktivisten von damals haben die Nein-Kampagne gegen das Referendum getragen, mit dem Erdogan den autoritären Staatsumbau vorantreibt. 2013 gab es Stadtteilversammlungen, an denen sich politische Aktivisten, aber auch viele Menschen beteiligt hatten, die nie zuvor politisch aktiv gewesen waren. Viele von ihnen haben sich in den Komitees gegen das Referendum engagiert. Nur deshalb war es möglich, im ganzen Land aktiv zu werden und der staatlichen Propaganda- und Repressionsmaschinerie zu trotzen.

Die Nein-Kampagne hat eine Niederlage erlebt.
Viele Aktivisten sehen aber Erdogan als eigentlichen Verlierer. Er hat Unmengen an Geld für die landesweite Kampagne ausgegeben. In allen Städten waren nur Banner und Losungen zu sehen, die für ein Ja beim Referendum warben. Die Gegner wurden mit allen Mitteln behindert und schikaniert. Ein Großteil der HDP-Abgeordneten, die eine zentrale Rolle bei der Nein-Kampagne spielten, wurde inhaftiert. In den kurdischen Provinzen wurden die Wahlurnen nur in größeren Städten, nicht aber in den Dörfern aufgestellt. Eine Gruppe von Aktivisten, die eine gemeinsame Fahrt aus den Dörfern zu den Wahlurnen organisieren wollte, um den Leuten eine Abstimmung zu ermöglichen, wurde in der Nacht zuvor,verhaftet. Wenn es dem Regime unter diesen Umständen trotzdem nur mit einem offensichtlichen Betrug gelungen ist, eine knappe Mehrheit zu erlangen, ist das kein Erfolg sondern eine Niederlage für Erdogan.


Warum führte das nicht zu einem Wiederaufleben der Massenproteste in der Türkei?

Der Betrug fand nicht an den Wahlurnen sondern bei der höchsten Wahlbehörde statt, als sie ungestempelte Abstimmungsscheine für gültig erklärte. Als dann in der Nacht des Referendums Menschen auf die Straße gingen, als sich der Betrug abzeichnete, gab die größte Oppositionspartei CHP die Losung aus, man werde das Ergebnis des Referendums vor Gericht anfechten. Es war aber klar, dass die Justiz im Sinne Erdogans entscheiden wird, weil die längst auf die Regierungsline gebracht worden ist. So sorgte das Verhalten der CHP für Demobilisierung. Sie wollte keine Straßenproteste, weil sie Unruhe und einen Bürgerkrieg fürchtet. So kam es zu keinen weiteren Protesten. Auch viele Gegner des Referendums nehmen es hin, dass ihre Stimmen gestohlen wurden.

Mittlerweile hat die CHP doch noch zu Protesten aufgerufen.
Der Anlass für die landesweiten Märsche, zu denen die CHP aufruft, war die Verurteilung eines ihrer Parlamentsmitglieder zu einer langjährigen Haftstrafe, weil er die türkischen Waffenlieferungen an islamistische Gruppen im syrischen Bürgerkrieg öffentlich gemacht hat. Viele Aktivisten kritisieren, dass die CHP erst zum Protest aufruft, nachdem ihr Parlamentsmitglied von Repression betroffen ist. Dabei sind Abgeordnete der HDP schon seit Monaten im Gefängnis, ohne dass es von der CHP eine Aktion gab. Trotz dieser Kritik beteiligen sich mittlerweile fast alle Spektren der außerparlamentarischen Linken in der Türkei an dem Marsch. Sie sehen hier eine Möglichkeit, sich besser zu organisieren. Was die Haltung de CHP betrifft, bin ich pessimistisch. Das ist eine typisch sozialdemokratische Staatspartei, die große Angst hat, ihre Privilegien zu verlieren, wenn sie sich zu stark in der außerparlamentarischen Bewegung engagiert. Daher befürchte ich, dass sie auch den Marsch bald beendend und es nicht zum Äußersten kommen lassen wird.

Sie sprechen von Erdogan Niederlage, aber seine Macht ist doch nicht ernsthaft gefährdet?

Ich befürchte, dass er sich vorerst einfach deshalb durchsetzen wird, weil er ganz offen einen Bürgerkrieg in der Türkei in Kauf nimmt. Das käme ihm beim autoritären Staatsumbau vielleicht sogar sehr gelegen. Doch in der Opposition will niemand einen solchen Bürgerkrieg, der mit noch mehr Gewalt und noch mehr Toten verbunden ist, in Kauf nehmen. Die CHP nicht, aber auch die Gruppen der außerparlamentarischen Linken sind organisatorisch nicht in der Situation, dass sie eine solche Auseinandersetzung gewinnen können. Das ist das Dilemma der Opposition in der Türkei.

Fürchten Sie, mit ihren kritischen Filmen selber ins Visier der Repressionsorgane zu geraten?
Es ist durchaus möglich, dass mein Film in den Kontext der Spionage gestellt wird. Damit würde die Grundlage für eine Haftstrafe gelegt. Doch ich werde in der Türkei mit meiner Kamera so lange es mir möglich ist, an der Seite der Aktivisten sein.
aus:
Konkret 8/2017
http://www.konkret-magazin.de/hefte/heftarchiv/id-2017/heft-82017.html
Interview: Peter Nowak