«Sie können sich selber organisieren»

Ercan Ayboga lebt in Deutschland und ist seit Jahren aktiv in der Solidarität mit der kurdischen Bewegung. Im Gespräch erzählt er von den Strukturen der Selbstorganisierung in Rojava, über die Erfolge der Frauen und, wie äussere Mächte das demokratische Projekt vernichten wollen.

Sie haben Ende April auf der von ausserparlamentarischen Linken organisierten Konferenz zur Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie in Berlin auf mehreren Podien über die aktuelle Situation in Rojava diskutiert. Wo sehen Sie da Zusammenhänge?

Ercan Ayboga: In Rojava organisiert sich die Gesellschaft weitgehend selber. Nach der Befreiung vom IS hätte sich die Partei PYD als zentrale Kraft beim Kampf gegen die IslamistInnen entschliessen können, ihre Parteistrukturen auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten. Doch sie hat sich zurückgezogen, damit sich die Gesellschaft in Räten, Kommunen und Kooperativen selber organisieren kann.

Können Sie ein konkretes Beispiel für diese Selbstverwaltungsstrukturen nennen?

Es wurden Räte für Gesundheit aufgebaut, an denen fast alle, die in diesem Sektor beteiligt sind, zusammenarbeiten. Das sind Ärztinnen und Ärzte, ApothekerInnen und Pflegekräfte. Da wird niemand instrumentalisiert. Ähnlich verlief es mit JuristInnen. Die Idee ist klar, alle gesellschaftlichen Akteur-Innen sollen kooperieren und eine neue Gesellschaft aufbauen.

Welche Rolle spielen die Frauen dabei?

Die Selbstorganisierung der Frauen ist ein zentraler Bestandteil des Selbstverwaltungsprojekts. Es existiert in jeder Kommune, Rat und Kooperative ein Frauenkomitee, das nur von Frauen gewählt wird. Sie alleine wählen die weibliche Co-Vorsitzende und dürfen den männlichen mitwählen. So bilden die Frauen eigene Strukturen und organisieren sich selbstständig. Auf dieser Grundlage können sie Einfluss auf die Räte nehmen, um eine Politik im Interesse der Frauen durchzusetzen.

Die PYD hat sich aber als Partei nicht aufgelöst. Welche Rolle spielt sie?

Sie hat keine avantgardistische Rolle, weil sie sich entschieden hat, die Gesellschaft soll sich durch Räte selber regieren. Sie versteht sich als eine ideologisch arbeitende Struktur im gesamten System.

Aber kann es nicht wie schon häufiger in der Geschichte zu Konflikten zwischen den Räten und der Partei kommen, wenn es politische Differenzen gibt?

Die Selbstverwaltung durch die Räte steht völlig im Einklang mit der Programmatik der PYD. Sie hat diese Selbstverwaltung durch ihren Kampf möglich gemacht und so für die Räte das Terrain eröffnet. Sie hat wegen ihrer historischen Rolle bei der Befreiung vom IS eine wichtige Rolle als Ideengeberin. Die PYD ist ein kleiner Teil des Rätesystems, welches viele weitere Dynamiken hat. Lokale Auseinandersetzungen kommen selten vor und sind insgesamt unbedeutend.

Gibt es neben PYD noch andere Parteien?

Es gibt fünf weitere Parteien im Rätesystem, die mitmachen. Dabei ist sowohl die kommunistische als auch die liberale Partei von Rojava. Alle Parteien sind gleichermassen ab den mittleren Stufen im Rätesystem vertreten. Doch diese fünf Parteien sind eher passiv, die Initiativen kommen meistens von der PYD.

Die Selbstverwaltung setzt ein hohes Mass an Engagement aller Menschen voraus. Gib es da nicht auch Probleme, dass manche Menschen dieses Engagement gar nicht immer aufbringen wollen?

Das ist in der Tat ein grosses Problem. Es gibt Kommunen und Räte, an denen beteiligen sich sehr viele Menschen, in anderen Sektoren gibt es Probleme, Leute zu finden, die sich engagieren. Sie wollen lieber, dass jemand verantwortlich ist. Die Partei oder der Rat sollen es regeln. Es liegt dann an den Aktiven in den Räten, Vorschläge zu machen und die Menschen immer wieder zu motivieren, sich zu engagieren. Dabei spielt die Bildungsarbeit eine zentrale Rolle. Die Menschen lernen so, dass das eigene Engagement wichtig ist, für die Veränderungen in ihrem Alltag.

Wie steht es mit der Selbstorganisierung der Menschen am Arbeitsplatz in Rojava?

Fabrikräte gibt es nicht, weil es keine grosse industrielle Produktion gibt. Es gibt aber immer mehr Komitees der arbeitenden Menschen bei TaxifahrerInnen, in Autowerkstätten und in der Verwaltung, die in einer übergeordneten Struktur zusammenkommen. Daneben gibt es immer mehr Kooperativen, wo die Mitglieder kommunal entscheiden.

Ist es nicht ein Widerspruch zu den Rätestrukturen, dass die Rolle des PKK-Vorsitzenden Öcalan sehr gross ist?

Tatsächlich ist Öcalan in Rojava überall präsent, was keine Verordnung ist, sondern von den Menschen selbst kommt. Das liegt auch daran, dass er bereits in den frühen 1980er Jahren, bevor die kurdische Arbeiterpartei PKK in Nordkurdistan ihren bewaffneten Kampf begann, in Rojava Versammlungen abgehalten und Tausende für den Kampf in Nordkurdistan gewonnen hat. Heute ist es das von Öcalan entwickelte Projekt des demokratischen Konföderalismus, das in Rojava umgesetzt wird.

Nun wird ja die Perspektive der Region auch von vielen anderen Mächten wie der Türkei, den USA und Syrien abhängen. Ist damit die Selbstverwaltung nicht massiv eingeschränkt?

In Rojava macht sich niemand Illusionen, dass alle diese Mächte das Projekt der Selbstverwaltung vernichten wollen. Die einzige Chance ist daher, die momentanen Widersprüche zwischen diesen Ländern zu nutzen und so stark zu werden, dass es schwer wird, Rojava anzugreifen. Im Idealfall gelingt es uns, dass sich das Modell der Selbstverwaltung ausbreitet. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit.

aus: Vorwärts/Schweiz

«Sie können sich selber organisieren»


Interview: Peter Nowak