-Fährt die Deutsche Bahn auf Reserve oder auf Erfolgskurs?

Die Deutsche Bahn und das Bündnis „Bahn für alle“ ziehen eine völlig unterschiedliche Bilanz

DB-Vorsitzender Rüdiger Grube sieht sein Unternehmen auf Erfolgskurs. Bei der Bilanzpressekonferenz am vergangenen Donnerstag sprach er von „einem kräftigen Gewinn bei Umsatz Gewinn und Investition“. „Wir bringen künftig Ökonomie, Soziales und Ökologie in Einklang“, so Grubes vollmundiges Bekenntnis. Nach seinen Angaben sind die Umsätze im letzten Jahr kräftig gestiegen. Mit fast 2 Milliarden Fahrgästen im letzten Jahr hatte Grube hier auch einen Rekord zu vermelden.

Zeitgleich mit dem Bahnvorstand meldeten sich auch die Kritiker zu Wort und machten eine andere Rechnung auf. Nach der Lesart der im Bündnis Bahn für alle zusammengeschlossenen Gruppen und Einzelpersonen hätte die Deutsche Bahn ohne staatliche Zuschüsse im letzten Jahr 6 Milliarden Euro Verlust gemacht. Daraus zieht Sascha Vogt von den Jungsozialisten, die Teil des Bündnisses „Bahn für alle“ sind, folgenden Schluss:

„Die Allgemeinheit haftet für mögliche Verluste der Bahn, sie hat deshalb auch einen Anspruch darauf, dass sich die Strategie der Bahn am Allgemeinwohl orientiert. Nötig sind deshalb massive Investitionen in den Schienenverkehr und ein Ausbau des Netzes, damit gerade in ländlichen Gegenden nicht immer mehr Orte vom Personenverkehr abgehängt werden.“

Fahren auf Verschleiß und ohne Reserven?

In dem von den Verkehrsexperten Winfried Wolf und Bernhard Knierim unter der Mitarbeit von Peter Kasten und Jürgen Rochlitz vorgelegten mehr als 100 Seiten umfassenden Alternativen Geschäftsbericht werden viele Dinge benannt und auch mit Tabellen und Statistiken nachgewiesen, die der Bahnkunde im Alltag immer wieder erlebt und die man in Grubes Erfolgsbilanz vergeblich sucht: Dazu gehören massive Probleme im Winter und im Sommer und eine weiterhin nicht funktionierende Berliner S-Bahn. Auch die regelmäßigen Fahrpreiserhöhungen, die nach Angaben der Autoren des Alternativen Berichts doppelt so hoch wie die Inflation sind, werden nur dort benannt.

„Wir fahren auf Verschleiß und haben keine Reserven mehr“, erklärte Bahnchef Grube im Januar 2011. Damit hat das Winterchaos die Bahn in Verruf gebracht – während die Deutsche Bahn davon nicht mehr reden will, wollen die alternativen Autoren Grubes Aussage verallgemeinern. Im Bericht heißt es:

„Dieses Fahren auf Verschleiß wird zum zentralen Strukturmerkmal des Schienenverkehrs im Allgemeinen und der Deutschen Bahn AG im Besonderen.“

Das führe zu roten Zahlen in den Jahresbilanzen, aber auch zur Zunahme von Qualitätsmängeln, Ausfällen und vermehrten Belastungen der Bahnkunden. Als Beispiel wird in dem Bericht der Achsenbruch bei einem ICE im Juli 2008 kurz hinter dem Kölner Hauptbahnhof angeführt. Nach Angaben des Alternativen Berichts wurden aus Kostenersparnis Materialien gewählt, die weniger belastbar sind und zu dem Unglück führten.

In dem Bericht werden mehrere Unfälle und Beinahe-Unfälle aufgeführt, die nach Ansicht der Autoren eine Folge von unzureichender Wartung und mangelnden Investitionen sind. Ein eigenes Kapitel ist der Berliner S-Bahn und ihren Notfahrplänen als Dauerzustand gewidmet. Auch auf die Rolle der DB bei dem Projekt Stuttgart 21 gehen die Verfasser noch einmal ein. Sie monieren, dass die Chance das Projekt abzusagen, nicht genutzt wurde. Zitiert werden auch die Ergebnisse einer wissenschaftliche Untersuchung, nach der ein Softwarefehler bei dem Stresstest dazu geführt haben soll, dass die Leistungsfähigkeit des Bahnhofsprojekts zu positiv ausgefallen ist.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151713
Peter Nowak

Bürgerbeteiligung als Absicherung von Elitenherrschaft?

Der Soziologe Thomas Wagner setzt sich kritisch mit Diskussionen über Bürgerbeteiligung auseinander
Der Verein „Mehr Demokratie e.V.“, der sich für Volksentscheide einsetzt, erfreut sich nicht nur bei außerparlamentarischen Initiativen großer Beliebtheit. Zum zwanzigjährigen Jubiläum des Vereins gratulierten Politiker aller politischen Lager. Bürgerbeteiligung ist mittlerweile zum Modebegriff geworden, und scheinbar finden alle Bürgerbeteiligung gut. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Begriff?

Der Publizist Thomas Wagner hat sich diese Frage gestellt und kommt in dem vor Kurzem im Papyrossa-Verlag erschienenem Buch „Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus“ zu Antworten, die auch manche Freund/innen der Bürgerbeteiligung in außerparlamentarischen Initiativen nachdenklich stimmen dürften. Er weist dort nach, dass mit dem Gerede von Bürgerbeteiligung manchmal die Herrschaft der Eliten sogar stabilisiert werden soll. Was auf den ersten Blick paradox klingen mag, erklärt sich, wenn Wagner untersucht, was mit dem „Bürger“ gemeint ist, der sich da beteiligen soll.

Ausführlich setzt sich der Autor mit einer konservativen Parlaments- und Parteienkritik auseinander, die den „Bürger“ ins Feld führt, um gegen angebliche Sonderinteressen zu polemisieren. Dabei gehe es vor allem darum, den Einfluss organisierter Interessenvertretungen der Lohnabhängigen und der Erwerbslosen zu minimieren, betont Wagner. Er zeigt an verschiedenen Beispielen auf, wie in rechtskonservativen Kreisen mit dem Verweis auf die schweigende Mehrheit soziale Regelungen, Forderungen von Gewerkschaften, aber auch von sozialen Initiativen und Umweltverbänden ausgehebelt werden sollen. Dass es sich dabei nicht nur um theoretische Überlegungen handelt, zeigte das Volksbegehren zur Hamburger Schulreform im Juli 2010. Damit hatte sich ein Bündnis aus Elite und Mittelstand gegen die Kinder von einkommensschwachen Familien durchgesetzt. In einer Zeit, wo Vorstellungen einer solidarischen Gesellschaft nicht besonders weit verbreitet sind, dürften sich solche Initiativen durchaus wiederholen. Zudem stehen sie in einer Tradition, denn der Parteienstaat, der unterschiedliche Interessen austarieren muss, hindere am kraftvollen Durchregieren, lamentierten schon rechtskonservative Parlamentskritiker in der Weimarer Republik, wie Wagner nachweist.Wie sollen soziale Initiativen reagieren, wenn Bürgerbeteiligung und Parlamentskritik zum Vehikel für „plebiszitär abgesicherte Elitenherrschaft“ zu werden droht? Diese Frage kommt in Wagners Buch leider etwas kurz. Die Selbstorganisation am Arbeitsplatz, im Stadtteil und im Jobcenter wäre eine solche Alternative. Dass sie bei Wagner nur am Rande erwähnt ist, ist nicht unbedingt ein Manko des Buchs, schließlich muss sie in der konkreten Praxis hergestellt werden. Wagner zeigt aber mit seinen Buch auf, dass längst nicht alles, was unter dem Label Bürgerbeteiligung gehandelt wird, mit Selbstermächtigung und Selbstorganisation verbunden ist.

„Zwar war der Ruf nach mehr direkter Demokratie selten lauter als heute, doch nie zuvor war er auch so ambivalent. Denn während die Forderung zu Zeiten des gesellschaftlichen Aufbruchs der 60er und 70er Jahre in der BRD meist mehr oder weniger eng mit dem Ziel verknüpft war, die Macht der Konzerne zu brechen und auch die Wirtschaft zu demokratisieren, hat heute längst nicht jeder, der den Wähler als Souverän beschwört, die Machenschaften politischer Eliten an den Pranger stellt, für Volksabstimmungen und mehr direkte Demokratie wirbt, wirklich den Abbau von Herrschaft und Ungleichheit im Sinn. Selten wird die Forderung noch mit einer umfassenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verknüpft. Von einer Erweiterung des öffentlichen statt des privaten Sektors – Rätedemokratie, Arbeiterselbstverwaltung, Genossenschaften – oder selbst von betrieblicher Mitbestimmung und sozialen Sicherungssystemen, geschweige denn von demokratischer Planung des Wirtschaftslebens oder gar einer grundlegenden Veränderung der Eigentumsverhältnisse ist in den heutigen Diskussionen über mehr Bürgerbeteiligung, Volksinitiativen und Volksabstimmungen so gut wie gar nichts zu hören.“ „Wer sich die Forderung nach mehr Demokratie auf die Fahnen schreibt, kann in der Regel mit einer positiven Resonanz rechnen. Das politische Zauberwort verspricht eine größere Beteiligung der Menschen an die sie betreffenden Entscheidungen, Befreiung von Fremdbestimmung und repressiver Herrschaft. Das Engagement für direkte Demokratie steht zweifellos in einer guten Tradition. Seit den Tagen der Aufklärung zielt fortschrittliche Politik darauf, dass die Bürger selbst über ihre Angelegenheiten entscheiden. Echte Demokratie diesem Sinne verlangen heute die Revolutionäre in der arabischen Welt, die Demonstranten in Griechenland, aber auch die gegen Arbeitslosigkeit, das Finanzdiktat der EU und ihre wortbrüchige Regierung revoltierenden spanischen Bürger.“

Thomas Wagner: Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Köln 2011, Papyrossa-Verlag, 142 Seiten, 11,90 Euro, ISBN: 978-3-89438-470-8

Peter Nowak
aus Mieterecho 353, März 2012

http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2012/me-single/article/
buergerbeteiligung-als-absicherung-von-elitenherrschaft.html
Peter Nowak

Das Lied der Commune

Manfred Sohn hofft auf einen neuen Anlauf

Gewiss, doch sie kommt, die Kirschenzeit. Wenn die Nachtigall singt, die Spottdrossel singt, in das Lied der Commune«, sang der linke Barde Franz Joseph Degenhardt in den 70er Jahren. Dem damaligen mamarxistischen Gewerkschaftler Manfred Sohn scheinen die Zeilen nicht aus dem Kopf gegangen zu sein Diesen Erinnerungen ist es zu verdanken, dass auf dem Cover des kürzlich im Papyrossa-Verlag erschienenen Buches von Sohn mit dem optimistischen Titel „Der dritte Anlauf – Alle Macht den Räten“ zwei Kirschen prangen. Der niedersächsische Landesvorsitzende der Linken singt in dem Buch tatsächlich ein neues Lied der Pariser Commune, die für einen neue sozialistische Bewegung mehr als die ehemalige Sowjetunion ein Vorbild sein soll. Dabei gelingt es ihm gleich im ersten seiner neun Kapitel des einfach zu lesenden Buches eine erstaunliche Präzisierung des Kommunegedankens. Dort zieht er eine Linie von der Pariser Commune zur aktuellen Kommunalpolitik, auf die er sich als Politiker der Linken besonders konzentriert. Er beschreibt, wie im Zeichen von Schuldenbremsen und Spardiktaten die politischen Spielräume für die Kommunen immer enger werden. Güter der Daseinsvorsorge werden privatisiert, Kultureinrichtungen geschlossen. Dagegen setzt Sohn auf eine Kommune, deren Bewohner die Interessen selbstbewusst vertreten und landet wieder bei der Pariser Kommune. Im folgenden Kapitel setzt sich Sohn mit der politischen Verarbeitung der kurzen Geschichte der Pariser Kommune in der marxistischen Literatur auseinander und kommt zu dem Schluss, dass Marx und Engels der Dezentralität eine wichtige Vorbildrolle für andere sozialistische Entwicklungen zugesprochen haben, die in der Sowjetunion aber schnell in Vergessen gerieten. Über die von Karl Marx verfasste Schrift: „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ schreibt Sohn: „Alles, was im weiteren Text dieses kleinen Büchleins als dezentralisierter Sozialismus, als Stärkung der Kommune gedacht war, steht unter dem Generalvorbehalt der Verknüpfung mit Eigentumsfrage“. Die ist für ihn bis heute zentral. „Gibt die Verfassung unserer Kommunen alle Macht in die Hand und lass der Deutschen Bank und den vier großen Energiekonzernen… ihr Eigentum und die scheinbare kommunale Macht wird regelmäßig zur Lachnummer“, schreibt der Autor und dürfte bei vielen Initiativen, die mit Referenden für die Rekommunalisierung von Gütern der Daseinsvorsorge kämpfen, auf Zustimmung stoßen.

Neben dem Rätegedanken widmet sich Sohn der überwiegend von Frauen geleisteten Reproduktionsarbeit, der er eine zentrale Rolle bei einen neuen sozialistischen Anlauf zuspricht. In mehreren Kapiteln beschäftigt er sich mit Schriften Rosa Luxemburgs dazu, und geht auch auf die aktuelle Debatte in der Linkspartei ein So beschäftigt er sich kritisch-solidarisch mit der von der feministischen Sozialistin Frigga Haug in die Debatte gebrachten Modelle der Neuregelung Lebens- und Arbeitszeit. Mit seiner Verknüpfung von Dezentralisierung und Reproduktionsarbeit hat Sohn wichtige Gedanken formuliert, die auch bei sozialen Initiativen außerhalb der Linkpartei sowie bei Feministinnen auf Interesse stoßen dürften. Dem belesenen Autor gelingt es, seine aktuellen Thesen mit historischen Schriften der Arbeiterbewegung zu belegen. Allerdings überzeugen seine auch in der feministischen Debatte umstrittenen Ausflüge in die Matriarchatsforschung ebenso wenig, wie sein kurzer Bezug auf den Zinstheoretiker Silvio Gesell. Warum Sohn den erklärten Antimarxisten Gesell überhaupt erwähnt und dabei die lange Debatte über die antisemitischen Implikationen von dessen Geld- und Zinstheorie ausblendet, bleibt offen. . Trotz dieser Kritikpunkte liefert der Autor mit dem Buch ein Diskussionsangebot auch für Linke ohne Parteibuch.


Manfred Sohn: Der dritte Anlauf – Alle Macht den Räten. Papyrossa Verlag, Köln 2012, 180 Seiten, 12,90 Eur
o
https://www.neues-deutschland.de/artikel/221152.das-lied-der-commune.html
Peter Nowak

Sind E-Mails privat oder politisch?

Die taz gewinnt Rechtsstreit gegen Verfasser in erster Instanz
Die »tageszeitung« (taz) darf weiterhin gegen den Willen eines
Burschenschafters relevante Auszüge aus dessen E-Mail-Verkehr veröffentlichen. Das entschied das Landgericht Braunschweig vor einigen Wochen in erster Instanz. Rudolf Sch.,der als Alter Herr weiterhin mit der Arbeit der ultrarechten »Karlsruher Burschenschaft Tuiskonia« verbunden ist, wollte der Zeitung per Einstweiliger Verfügung verbieten lassen, aus seinen E-Mails zu zitieren. Er sehe sich durch die Veröffentlichung in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt, argumentierte er. Zumal aus den Mails deutlich hervorgehe, dass sie nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen seien. Bei dem Schriftwechsel ging es tatsächlich jedoch nicht um persönliche Dinge, sondern um eminent politische Fragen. Mehrere Burschenschafter vom rechten Flügel, darunter der Kläger, beratschlagten per Mail über Möglichkeiten,im Dachverband »Deutsche Burschenschaften« die Macht an sich reißen zu und den in ihren Augen zu liberalen Vorstand zu entmachten. Dabei wurde auch nicht mit politischen Aussagen gespart, wie sie in diesen Kreisen üblich sind.

Öffentliches Interesse hat vorrang
»Durch die von den Siegermächten eingesetzten Medien-Macher (…) und durch den von den 68ern erfolgten Umdeutungsversuch aller traditionellen Werte soll gerade beim deutschen Volk erreicht werden, dass es statt natürlichem Stolz und Nationalbewusstsein (…) Schuld- und Scham-Gefühle entwickelt«, heißt es beispielsweise in typisch rechter Geschichtssicht. Für die taz liegt hier der Grund, die Mails auch gegen den Willen der Verfasser zu veröffentlichen: »Gerade der exklusive Verschwörungsgehalt, mit dem bewusst eine Übernahme des Verbands durch rechte Gruppen geplant wurde, unterstreicht die Relevanz,« erklärte taz-Redakteur Martin Kaul. Das Landgericht Braunschweig folgte nach einer mündlichen Verhandlung dieser Auffassung. Es bestehe ein öffentliches Interesse daran, über den Vorgang zu berichten. Weil der Kläger hinreichend anonymisiert wurde, sei er nicht in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt worden.
Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Hat der Spruch Bestand,
kann er nach Meinung von Juristen auch Auswirkungen auf ähnliche
Fälle bei anderen Medien haben. Damit würden die Rechte von
Journalisten gestärkt. Bisher war die Rechtslage in solchen Fällen uneindeutig.
Journalistische Rechte würden gestärktSo erlaubte das Landgericht Hamburg 2008 dem »Spiegel«, aus EMails des NPD-Vorsitzenden Udo Voigt zu zitieren. In Berlin wurde dagegen
kürzlich der »Bild«-Zeitung untersagt, aus E-Mails auf einem geklauten
Laptop des früheren brandenburgischen Innenministers Rainer Speer zu zitieren, die allerdings eindeutig dessen Privatsphäre betrafen.
http://medien-kunst-industrie.bb.verdi.de/sprachrohr/#ausgaben-2011
Peter Nowak
aus Sprachrohr 5/11

Aus Solidarität

Mit Kundgebungen in mehreren Städten wollen sich linke Gruppen in Deutschland mit dem heutigen Generalstreik in Spanien solidarisieren. »Wir wollen deutlich machen, dass auch Deutschland kein ruhiges Hinterland mehr ist«, sagt Jutta Sommer vom linksradikalen M31-Bündnis. Das Kürzel steht für einen antikapitalistischen Aktionstag, der in mehreren europäischen Ländern für den 31. März vorbereitet wird. In Deutschland wird die zentrale Demonstration an diesem Tag in Frankfurt am Main stattfinden.
Die Initiatoren der Solidaritätsaktionen sehen genug Gründe für Proteste in beiden Ländern. »Ziel des Streiks in Spanien ist es, der Kürzungspolitik und der fortgesetzten Auflösung sozialer Rechte durch die Regierung ein Ende zu setzen. Diese Politik wird auch von der EU und insbesondere der deutschen Regierung forciert«, betont Florian Wegner, Sekretär der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiterunion (FAU).

In Berlin soll es heute um 13 Uhr eine Kundgebung vor dem Haus der Wirtschaft geben. Denn die deutsche Wirtschaft, so FAU-Aktivist Wegner, verdanke ihren jüngsten Aufschwung wachsender Prekarisierung hierzulande sowie der Verarmung der Bevölkerung in Ländern wie Griechenland oder Spanien.

Auch in Stuttgart und Frankfurt am Main sind Solidaritätskundgebungen mit den Streikenden in Spanien geplant. Sie sollen nachmittags vor den spanischen Konsulaten stattfinden. Dazu rufen auch soziale Initiativen auf. Clara Sommer vom Frankfurter Bündnis spricht von einem »Praxistest für die sozialen Bewegungen«. Jetzt werde sich zeigen, ob sie ihre nationalstaatliche Begrenzung aufgeben und sich auf soziale Kämpfe in Europa beziehen könnten.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/222726.aus-solidaritaet.html
Peter Nowak

Widerstand gegen Atomwaffen

Die Friedensbewegung will die Modernisierung der in Deutschland stationierten US-Atomwaffen verhindern.
Unter dem Motto »Abrüsten statt Modernisieren« wollen Nichtregierungsorganisationen Druck auf die USA ausüben. Hintergrund sind die Pläne der US-Regierung, die auf dem Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz stationierten ca. 20 Atomwaffen zu modernisieren. Diesen Vorhaben widerspricht einen fraktionsübergreifenden Beschluss des Bundestages, in dem ein vollständiger Abzug aller Atomwaffen gefordert wird. Genau zwei Jahre später soll die Kampagne deutlich machen, dass außerparlamentarischer Druck nötig ist, um diese Forderungen umzusetzen. Darauf soll sich die Kampagne in ihrem ersten Teil konzentrierenDie zielt auf den Natogipfel, der am 20. und 21. Mai in Chicago stattfinden soll. Seit Monaten bereiten Antimilitarismusgruppen nicht nur in den USA Proteste und kreative Aktionen vor. Mit dabei sein wird eine internationale Radlergruppen, die von Stuttgart nach Büchel, durch die Niederlande und Belgien bis zur Nato-Zentrale nach Brüssel ziehen will. Auf ihrer Route soll über den Natogipfel informiert und an den Atomwaffenstandorten der drei Länder für eine atomwaffenfreie Welt demonstriert werden. Das auch das Ziel des zweiten und dritten Teil der Kampagne „Abrüsten statt Modernisieren“.
Doch um ihre Pläne einer atomwaffenfreien Welt durchzusetzen, müssen nach Meinung der Aktivisten die jüngsten Pläne des Pentagon verhindert werden. . „Wenn die USA ihre B61-Bombe modernisieren, um sie zielgenauer zu machen, wird sowohl die Einsatzschwelle sinken als auch die deutsche Bundestagsentscheidung konterkariert“, begründet Kampagnensprecherin Xanthe Hall den Grund für die Konzentration auf die Atomwaffen in Büchel.

26mal Hiroshima
Der dort gelagerte Bombentyp hat eine maximale Sprengkraft von 340 Kilotonnen TNT, was dem 26-fachen der Hiroshima-Bombe entspricht. Die deponierten Atomwaffen müssen im Kriegsfall vom Präsidenten der Vereinigten Staaten freigegeben werden.
2008 meldete die Federation of American Scientists (FAS), dass nach einer internen Studie der amerikanischen Luftwaffe in vielen Atomwaffenlagern die minimalen Sicherheitsstandards des amerikanischen Verteidigungsministeriums nicht eingehalten werden. Dadurch wurde der Widerstand in der Region neu angefacht. Seit Jahren ist der Standort Büchel Ziel von Protestaktionen der bundesweiten Antimilitarismusbewegung. Die Klage einer Friedensaktivistin gegen die Stationierung der Atomwaffen wurde im Sommer 2011 vom Kölner Verwaltungsgericht als unzulässig zurück gewiesen. . Im Rahmen des diesjährigen Ostermarsches ist am 9,April auch in Büschel eine Kundgebung mit der Kampagnenforderung geplant.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/222644.widerstand-gegen-atomwaffen.html
Peter Nowak

Wider den Zwang

Ein elfjähriges Kind soll in die Psychiatrie eingewiesen werden, weil es nicht als Junge, sondern als Mädchen leben will. Dagegen formiert sich Protest

In Berlin soll ein elfjähriges Kind in eine Psychiatrie eingewiesen werden. Es war als Junge geboren worden, lebt aber seit Jahren als Mädchen und wurde dabei von der Mutter und deren Freundeskreis unterstützt. Der Vater des Kindes war damit nicht einverstanden. Er ist der Meinung, dass die Mutter dem Kind die Transsexualität nur einredet.
Damit traf er bei einer vom Jugendamt bestellten Pflegerin auf offene Ohren. Das Amt ist für die Gesundheitsfürsorge des Kindes verantwortlich, wenn sich beide Elternteile nicht einig sind. Nach dem Willen dieser Pflegerin und des Vaters soll der Mutter das Sorgerecht entzogen werden. Das Kind, das in der Öffentlichkeit als Alex bekannt ist, soll zu Pflegeeltern. Zuvor soll ihm aber in der Psychiatrie sein „biologisches“ Geschlecht nahegebracht und „geschlechtsatypisches Verhalten“ unterbunden werden – so zitiert die Tageszeitung, die den Fall bekannt machte, den Chefarzt Klaus Beier von der Berliner Charité.

Auf dem Taz-Blog fragten viele Leser, ob Beier die in den vergangenen beiden Jahrzehnten geführte Debatte über die Konstruktion von Geschlechtern nicht zur Kenntnis nehmen will. „Die Annahme, es könne gelingen, mit Zwangsmaßnahmen psychische Gender-Repräsentanzen gegen den Willen einer Person quasi ‚anzutrainieren‘, widerspricht dem Stand internationaler Wissenschaft und den vielfältigen gegenteiligen Erfahrungen von Menschen, die dies als falsch zugewiesenes Geschlecht erlebten und sich von sozialen Zwängen in der Richtung nur traumatisiert fühlten“, heißt es auch in einer Stellungnahme der Interessengemeinschaft freiberuflicher Einzelfallhelfer und –helferinnen.

Gegen Zwangspathologisierung

Für das „Aktionsbündnis Alex“, in dem sich in Berlin Gruppen und Einzelpersonen zusammengeschlossen haben, die eine Psychiatrisierung des Mädchens verhindern wollen, sind die Positionen des Arztes nicht nur veraltet sondern auch gefährlich. „Professor Beier vertritt äußerst kontroverse Ansichten, die wissenschaftlich widerlegt wurden“, heißt es dort. „Die erzwungene Anpassung an das Geschlecht des Geburtseintrags funktioniert nicht und quält die Betroffenen.“

Die Konsequenzen seien schlimm, meint Klara Sonntag vom Aktionsbündnis. „In seiner Arbeit als Professor ist Klaus Beier auch an der Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern beteiligt und verbreitet somit falsche wissenschaftliche Theorien, die zweigeschlechtlich/sexistisch pathologisierende Gewalt zur Folge haben.“ Unter dem Motto „Stoppt Zwangspathologisierung!“ mobilisiert seit Jahren ein internationales Bündnis. Mit dem Begriff Zwangspathologisierung beschreiben Aktivisten Versuche, Menschen mit Hilfe von Justiz und Psychiatrie auf ein bestimmtes Geschlecht festlegen zu wollen.

Die zentrale Forderung des Netzwerkes ist die ersatzlose Streichung des Krankheitsbegriffs „Geschlechtsidentitätsstörung“ aus den Krankheitskatalogen, an denen sich weltweit Ärzte orientieren. Im kommenden Jahr sollen diese Kataloge turnusmäßig aktualisiert werden. Viele Aktivisten befürchten dabei sogar eine Verschlechterung für Transmenschen. Denn bisher ist es schwierig gewesen, diese Forderungen über den Kreis der Betroffenen hinaus populär zu machen.

Demonstration in Berlin

Durch das Urteil gegen Alex könnte sich das ändern. Denn plötzlich sind die Folgen sehr konkret geworden. Das zeigte die Teilnahme von über 300 Menschen an einer vom „Aktionskreis Alex“ am vergangenen Montag vor dem Berliner Senat für Bildung, Jugend und Wissenschaft in Berlin-Mitte organisierten Kundgebung. Unterstützt wurde sie unter anderem von der Initiative für einen geschlechtergerechten Haushalt, der AK Psychiatriekritik sowie zahlreichen Frauen- und Lesbengruppen.

Solidaritätserklärungen kamen aus verschiedenen europäischen Ländern, die über das Internet von dem Urteil gegen Alex erfahren hatten. Eine lesbische Mutter aus Frankreich erhoffte sich in ihrer Erklärung, dass es in Berlin gelingen möge, die Verfolgung und Diskriminierung von Transmenschen zu stoppen und damit Signale auch in andere Länder zu senden, in denen die Diskussionen noch am Anfang stehen.

Bei der Kundgebung war die Stimmung kämpferisch. Nachdem der Anwalt von Alex Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Kammergerichts eingelegt hat, ist etwas Zeit gewonnen. Die öffentliche Diskussion nach bekanntwerden des Urteils zumindest scheint Anlass für Optimismus zu liefern. Kaum jemand will die Zwangsmaßnahmen gegen Menschen verteidigen, die nicht nach dem in der Geburtsurkunde festgehaltenen Geschlecht leben wollen. Vielleicht bringt der Fall Alex etwas in Bewegung.
http://www.freitag.de/politik/1212-wider-den-zwang
Peter Nowak

Wegen des falschen Geschlechts in die Psychiatrie?

In Berlin soll ein elfjähriges Transmädchen in eine Psychiatrie eingewiesen werden. Dagegen gibt es Proteste

Das Urteil des Berliner Kammergerichts war möglich geworden, weil sich die getrennt lebenden Eltern des Kindes nicht über die Erziehung einig sind und deshalb die Gesundheitsvorsorge auf das Jugendamt übertragen wurde. Weil eine von der Behörde bestellte Pflegerin der Ansicht ist, die Mutter habe dem Kind die Transsexualität eingeredet, soll es in einer Pflegefamilie untergebracht werden. Zuvor soll ihm aber in der Psychiatrie sein „biologisches“ Geschlecht nahegebracht und „geschlechtsatypisches Verhalten“ unterbunden werden. So zitiert die Tageszeitung den Chefarzt Klaus Beier von der Berliner Charité.

Dagegen regt sich heftiger Widerstand. „Die Annahme, es könne gelingen, mit Zwangsmaßnahmen psychische Gender-Repräsentanzen gegen den Willen einer Person quasi ‚anzutrainieren‘, widerspricht dem Stand internationaler Wissenschaft und den vielfältigen gegenteiligen Erfahrungen von Menschen, die dies als falsch zugewiesenes Geschlecht erlebten und sich von sozialen Zwängen in der Richtung nur traumatisiert fühlten“, heißt es in einer Stellungnahme der Interessengemeinschaft freiberuflicher Einzelfallhelfer und -helferinnen.

Auf einem Jurablog wurden einige Aspekte der Berichterstattung in der Tageszeitung kritisch beleuchtet. Die Entscheidung des Berliner Kammergerichts wurde demnach im taz-Bericht rechtlich nicht richtig eingeordnet: „Der Beschluss des KG, der Anlass der Pressemeldung der taz war, verhält sich nicht ausdrücklich zu der richtigen Vorgehensweise, sondern nur zur Frage, wem die Gesundheitsfürsorge zustehen soll. Allerdings lässt sich im Beschluss eine Bestätigung der Richtungswahl des Jugendamts herauslesen. Eine Zwangstherapie wird aber vom KG nicht bestätigt oder genehmigt.“ Damit bleibt der Skandal aber bestehen, die Freiheitsentziehung des Kindes:

„Unabhängig von der Frage, ob hier eine schon im Kindesalter manifest werdende Transsexualität vorliegt oder nicht: Eine Freiheitsentziehung ist ein derart gravierender Eingriff für ein Kind, dass er nur als ultima ratio vorgesehen werden kann. Laut dem Bericht fehlt bislang ein unabhängiges psychiatrisches Gutachten. Zu einer ambulanten Untersuchung seien Mutter und Kind bereit.“

Protest gegen Zwangspathologisierung

Zahlreiche Gruppen und Einzelpersonen haben sich zum „Aktionsbündnis Alex“ zusammengeschlossen, um schnell Proteste gegen die Einweisung des Kindes in eine psychiatrische Anstalt und den Entzug des Sorgerechts der Mutter zu initiieren. Da gegen die Entscheidung des Kammergerichts Rechtsmittel eingelegt wurden, wird die Angelegenheit die Gerichte weiter beschäftigten. Auf der Kundgebung verurteilte die AG Psychiatriekritik alle Versuche, mit Hilfe von Justiz und Psychiatrie, Menschen auf ein bestimmtes Geschlecht festlegen zu wollen.

Durch die Aufmerksamkeit, die der Fall von Alex bekommen hat, wurde der Fokus auf eine internationale Koordination gerichtet, die sich für das Recht einsetzt, das eigene Geschlecht zu leben. Die zentrale Forderung ist dabei die Streichung des Krankheitsbegriffs „Geschlechtsidentitätsstörung“ aus den Krankheitskatalogen, an denen sich die Ärzte orientieren. Im kommenden Jahr sollen diese Kataloge aktualisiert werden. Für die Aktivisten ist daher die zentrale Forderung, die Zwangspathologisierung zu beenden, deren Folgen durch das Urteil gegen Alex für viele Menschen sehr konkret geworden sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151693
Peter Nowak

Dürfen sich Soldaten im Ausland wohlfühlen?

Friedenspartei und Linkspartei stritten sich über die Frage, ob man nur den Abzug oder zuvor auch eine Flatrate für Soldaten im Auslandseinsatz fordern soll

Am vergangenen Donnerstag stand die Situation der deutschen Soldaten im Auslandseinsatz auf der Tagesordnung des Bundestages. Eine Allparteienkoalition beklagte deren hohe Belastung und setze sich für eine bessere Kommunikation mit der Heimat ein. Union, FDP, SPD und Grüne hatten einen gemeinsamen Antrag dazu eingebracht.

Die Linkspartei formulierte ihre Forderungen in einen eigenen Antrag und handelte sich heftigen Streit mit ihren Bündnispartnern in der Friedensbewegung ein. Denn die Partei, die immer einen sofortigen Abzug der Soldaten fordert, will ihnen den Aufenthalt bis dahin auch so angenehm wie möglich zu machen und hat die übrigen Parteien dabei sogar noch überboten.

Während das große Parteienbündnis den Soldaten kostenloses Telefonieren in die Heimat ermöglicht und das Verteidigungsministerium zur Vorlage eines Finanzierungsvorschlags für die kostenfreie Nutzung des Internets durch die Soldaten auffordert, ist die Linkspartei ein klein wenig radikaler Sie fordert kostenloses Internet rund um die Uhr für die Soldaten und außerdem ausreichend Steckplätze für Laptops in den Unterkünften.

„Schneller surfen im Kriegseinsatz“, lautete der Kommentar von Frank Brendle von der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner. Er steht mit seiner Kritik nicht allein. Der politische Sprecher der DFG/VK Monty Schädel schrieb in einem offenen Brief an die Linke: „Wer den Afghanistaneinsatz beenden will, sollte nicht bemüht sein, den Soldaten den Einsatz auch noch angenehm zu machen.“ Für Schädel verliert die Linkspartei mit dem Antrag ihren selbstgesetzten Anspruch, die einzige Antikriegspartei im deutschen Parlament zu sein. Für ihn verträgt sich eine „Wohlfühlpolitik für die Soldaten“ nicht mit der Sorge um die Opfer des Krieges. Er sieht es auch nicht als Aufgabe einer Antikriegspartei an, möglichen Traumata der Soldaten durch freies Telefonieren entgegenzuwirken. Für Schädel ist die afghanische Bevölkerung mit und ohne Flatrate der Ansprechpartner für eine Antikriegspolitik.

Durch freies Internet zum Kriegsgegner?

Der Bundestagsabgeordnete der Linken Wolfgang Gehrcke begründet seine Zustimmung zu dem Antrag mit der Hoffnung, dass damit die Soldaten kritikfähiger würden. „Soldaten kann man am besten auf Krieg ausrichten, wenn sie kaserniert sind und möglichst wenig Kontakt zum zivilen Leben haben. Je mehr Luft an die Mumie Bundeswehr herankommt, desto eher zerfällt sie; und das ist zumindest meine Absicht.

Gehrckes Parteifreundin Christine Buchholz formuliert in ihrer Begründung für den Antrag sogar ein „Recht, ungestört über den Krieg reden zu dürfen“. Warum aber Soldaten, die sich freiwillig für einen Job bei der Bundeswehr entscheiden, ausgerechnet durch ausgiebiges Surfen im Internet zu Kriegsgegnern werden sollen, wird nicht erläutert. Können dadurch nicht auch die Einsatzbereitschaft und Motivation der Soldaten erhöht werden, wie es die Antragssteller von Union bis zu den Gründen formulieren und Kriegsgegner wie Schädel, Brendle und andere Akteure der Antikriegsbewegung befürchten?

Auch in der Linkspartei war die Initiative nicht unumstritten. In der Ablehnung sind sich Bundestagsabgeordnete wie die zur Parteilinken zählende Ulla Jelpke mit den als Realopolitiker formierenden Bundestagsabgeordneten Raju Sharma und Halina Wawzyniak einig. In einer gemeinsamen Erklärung schreiben sie: „Vom Grundsatz her würden wir die Gewährleistung kostenloser Telekommunikations-Dienstleistungen als Grundrecht durchaus begrüßen – aber wenn, dann muss man damit bei jenen anfangen, die bereits jetzt eine Existenz unterhalb der Armutsgrenze fristen müssen. Soldaten, die 110 Euro Auslandsverwendungszulage pro Tag erhalten, gehören nicht dazu“, so die Meinung von 12 linken Bundestagsabgeordneten.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151685
Peter Nowak

Mein Fingerabdruck gehört mir

Ein in Bayern lebender Mann klagt gegen die Weitergabe personenbezogener Daten an US-Behörden.
Ein Bayer will mit einer Beschwerde vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gegen das 2008 in Kraft getretene deutsch-amerikanische Abkommen vorgehen, das US-amerikanischen Behörden einen direkten Online-Abgleich von Fingerabdrücken und DNA-Körperproben mit deutschen Datenbanken ermöglicht. Dem Mann waren bei einer Protestdemonstration gegen die NPD sowohl Fingerabdrücke als auch Speichelproben abgenommen worden. Obwohl ein Strafverfahren eingestellt wurde, er davon aus, dass die gesammelten Daten weiter in den Datenbanken gespeichert sind. „Ich bin durch das Abkommen persönlich und unmittelbar in meinen Menschenrechten betroffen“, begründet er seine Initiative. Ein Datenabgleich in den USA könne für ihn eine Einreiseverweigerung zur Folge haben. Daher verletze das Abkommen für den Kläger sein Recht informelle Selbstbestimmung und den Schutz personenbezogener Daten. In der juristischen Begründung der Beschwerde wird Menschenrechtsverletzungen der USA im „Krieg gegen den Terror“ eingegangen. Es sei nicht auszuschließen, dass dabei auch im Rahmen des Abkommens übermittelte Daten Verwendung finden.
„Ein Recht, unabhängige Gerichte anzurufen, um sich gegen irrtümliche oder illegale Maßnahmen der US-Behörden zu wehren, sieht das Abkommen nicht vor“, wird in der Beschwerde ein Punkt angesprochen, der von Menschenrechts- und Datenschutzorganisationen seit Langem bemängelt wird. Selbst der Bundesrat stellte 2009 fest: „In der derzeitigen Fassung genügt das Abkommen nicht den Anforderungen, die an einen grundrechtskonformen Umgang mit personenbezogenen Daten zu stellen sind.“ Aus formalen Gründen nahm das Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde gegen das Abkommen nicht an. Damit stand dem Kläger der europäische Rechtsweg offen.
„Bis zur Entscheidung des Menschenrechtsgerichtshofs warne ich Europa
davor, einer Informationsauslieferung an die USA zuzustimmen“, erklärt der Jurist und Bürgerrechtler Patrick Breyer. Schließlich könnte die Grundlage des Datentransfers für rechtswidrig erklärt werden.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/222345.mein-fingerabdruck-gehoert-mir.html

Tacheles kontra BMW-Guggenheim-Lab?

Während ein bei Touristen beliebter Ort der Berliner Subkultur in Mitte geräumt wurde, reißt die Aufregung über die Ortsverlagerung eines von BMW gesponsertem Lab nicht ab

Das Berliner Kunsthaus Tacheles ist in Berlin-Mitte ist längst zum angesagten Touristenmagneten geworden. Dort konnte man bisher die Relikte der Nach-Wende-Subkultur bestaunen. In den letzten Jahren wurde der Spielraum für die Künstler immer enger. Die Grundstücke in der Nähe des Regierungsviertels sind profitabel und daher muss die Subkultur weichen. Viele Künstler und Betreiber wurden mit hohen Geldsummen herausgekauft, den Verbliebenen droht jetzt die Zwangsräumung. Bei einer Versiegelung des Eingangs gab es Rangeleien zwischen Nutzern und Freunden des Tacheles und der Polizei.

Heftige Kritik äußerte der Berufsverband Bildender Künstler in Berlin (http://www.bbk-berlin.de) in einer Pressemitteilung: „Uniformierte Sicherheitsleute, die Künstler in den Schwitzkasten nehmen, Absperrgitter und Passierscheine: das sind Bilder vom Umgang mit Kunst und Künstlern, wie wir sie aus autoritären Regimes, aus Moskau oder aus Peking kennen. Sie kommen aber mitten aus der Kunstmetropole Berlin, sie kommen aus dem weltbekannten Kulturzentrum Tacheles in Berlin Mitte“, moniert der bbk-Vorsitzende Herbert Mondry.

Intolerantes Kreuzberg?

„Diese Bilder schaden dem Ruf Berlins mehr als die bizarren Vorgänge um das sogenannte ‚Guggenheim-Lab‘, stellt Mondry den Zusammenhang zu einer Debatte her, die seit einigen Tagen das politische Berlin beschäftigt. Es geht um das temporäre Projekt BMW-Guggenheim, das auf seiner Tour über die Kontinente für einige Wochen auf einer von Anwohnern genutzten Brachfläche in Berlin-Kreuzberg Station machen wollte. Kaum hatten Anwohnerinitiativen Proteste angemeldet, wurde der Standort aufgegeben.

Während die Kritiker einen schnellen Erfolg feierten, wurde in vielen Berliner Medien und in allen großen Parteien über Kreuzberger Kiezfundamentalisten lamentiert, die bestimmen wollen, was in dem Stadtteil erlaubt ist und was nicht. Warum die Stadtteilbewohner nicht mitentscheiden sollen, wird dabei so wenig erklärt, wie die Frage, ob die Lab-Organisatoren nicht mit ihrer Flucht aus Kreuzberg auch unerwünschte Kritik abwehren wollen. Schließlich sollte nach den Vorstellungen des Bürgermeisters von Friedrichshain/Kreuzberg Franz Schulz das Thema Zwangsarbeiter bei BMW im Nationalsozialismus im Lab zur Sprache kommen. Solche unangenehmen Themen dürften den Organisatoren in einem neuen Standort in Berlin-Mitte, um den sich der Berliner Bürgermeister Wowereit und andere Berliner Politiker bemühen, wohl erspart bleiben. Schließlich hat BMW-Marketingchef Ellinghaus das Ziel des Lab-Sponsering eindeutig formuliert:

„Es geht mitnichten darum, möglichst viel für kulturelles Engagement auszugeben, sondern um eine langfristige, positive Wahrnehmung des Unternehmens als auch der Reputation der Marke BMW – auch in der Presse.“

Der Berufsverband Bildender Künstler hat einen eigentlich nahe liegenden Zusammenhang zwischen der Aufregung über die Absage des BMW-gesponserten temporären Labs und der Gleichgültigkeit über die Vertreibung einer seit zwei Jahrzehnten existierenden kulturellen Einrichtung hergestellt. Wenn sich Anwohner gegen ein Projekt wehren und damit noch Erfolg haben, wird von Intoleranz geredet, wenn die von Grundstücksfirmen engagierten Sicherheitsfirmen gegen Künstler vorgehen, sind es die Gesetze des Marktes.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/151671
Peter Nowak

Angelo Lucifero im Fadenkreuz von VS-Nazis

Am 14. Mai 2001 fand anlässlich zahlreicher Skandale, in die der Verfassungsschutz (VS) Thüringen verwickelt war, eine kleine Kundgebung mit Straßentheater vor dem VS-Gebäude in der Haarbergstraße statt. Initiator war Angelo Lucifero, hauptamtlicher Gewerkschafter, Antifaschist und damals Zielscheibe einer mit VS-Geldern finanzierten Nazi-Kampagne. Sein Fall verdient verstärkte Beachtung, nachdem die zweifelhafte Rolle des thüringischen Verfassungsschutzes unter Helmut Roewer im Zusammenhang mit dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) in der Öffentlichkeit Thema geworden ist.
Der Spiegel schrieb am 11.9.2000: „Angelo Lucifero, Landesvorsitzender der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) in Thüringen, soll Opfer einer gemeinsamen Intrige von Neonazi Thomas Dienel und dem Landesverfassungsschutz geworden sein. Im Herbst 1997, behauptet Dienel, habe das Landesamt eine Flugblattkampagne der rechten Szene gegen Lucifero finanziell unterstützt. Auf den Blättern war ein fingierter Aufruf aus der Antifa-Szene zu lesen, der den Anti-Nazi-Aktivisten Lucifero der Zusammenarbeit mit dem Rechtsradikalen bezichtigte.“ Auf einem zweiten gefälschten Flugblatt beschwerten sich anonyme HBV-Mitglieder über den Missbrauch ihrer Beiträge durch Lucifero. Daraufhin erstattete dieser Anzeige gegen „Dienel und unbekannt“.
Für seine Dienste für die Behörde hat der Neonazi Dienel bis 1998 vom thüringischen Verfassungsschutz rund 2205000 Mark kassiert. Seine Spitzeltätigkeit wurde im Juni 2000 bekannt. Daraufhin wurde Helmut Roewer in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Stellt sich doch die Frage: Nutzte der VS die von ihm finanzierten Neonazistrukturen, um den engagierten Gewerkschafter und Antifaschisten Lucifero zu diskreditieren, der Rechten aller Couleur, aber auch der Kapitalseite ein Dorn im Auge war?
Die Kampagne gegen Lucifero wurde jahrelang fortgesetzt. 2007 hatten seine Feinde ihr Ziel erreicht. Als Lucifero sich auf einer Erwerbslosendemonstration gegen eine Gruppe von angreifenden Neonazis mit einer Pistole verteidigte, ließ ihn auch Ver.di fallen. Seitdem hat er sich zurückgezogen. „Heute soll man ihn möglichst in Ruhe lassen“, hieß es kürzlich im ND. Das Agieren der thüringischen VS-Nazis gegen einen linken Gewerkschafter dürfte kein Einzelfall sein. Das durch die NSU-Affäre entstandene Interesse sollte genutzt werden, um den Fall öffentlich bekannter zu machen.
http://www.sozonline.de/
Peter Nowak
aus Sozialistische Zeitung (SoZ) März 2012

Ausgeschleckert!

Die Drogeriekette Schlecker ist pleite. Zur Diskussion steht auch die Umwandlung in eine Genossenschaft.

Die Schlecker-Pleite ist ein Medienthema. In der Regel geht es dabei um das Vermögen, das die Familie Schlecker verloren habe. Die Beschäftigten kommen in der Berichterstattung kaum vor. Sie aber haben das Vermögen der Familie Schlecker jahrzehntelang durch ihre Arbeitskraft vermehrt. Und diese mussten sie bei dem Discounter besonders billig verkaufen. Denn zum System Schlecker gehörten Niedriglohn, Bespitzelung und Mobbing der Beschäftigten, meistens Frauen, und der Versuch, die Läden gewerkschaftsfrei zu halten. Mit der Schlecker-Kampagne wurde das System Schlecker bundesweit zu einem Inbegriff für Niedriglohn und Ausbeutung.
Dennoch versuchte das Management bis in die Gegenwart, ihre Mitarbeiterinnen möglichst billig auszubeuten. So wurden noch 2010 viele Schlecker-Läden geschlossen und die Mitarbeiterinnen entlassen. Sie sollten bei den neu zu errichtenden „XXL-Läden“ zu wesentlich schlechteren Arbeitsbedingungen wieder angestellt werden. Aber zu Schlecker gehört auch der jahrzehntelange Widerstand der Verkäuferinnen, die die Schlecker-Kampagne ebenso getragen habe, wie die erfolgreiche Abwehr der XXL-Niedriglohnssphäre.
Von dem Selbstbewusstsein der Mitarbeiterinnen zeugt auch die Erklärung vieler Kolleginnen: „Wir sind nicht Schlecker – wir arbeiten nur dort“. Damit setzen sie sich von einer Identifikation mit der Firma ab, die bei MitarbeiterInnen in Krisenzeiten oft zu vernehmen ist. Dieses Selbstbewusstein zeigt sich auch in der gegenwärtigen Diskussion, Schlecker als Genossenschaft der Belegschaft weiterzuführen. „Wir können es besser, denn wir wissen, was die KundInnen in den Läden wirklich nachfragen“, ist etwa als Argument zu hören. Soviel Selbstbewusstsein ist der Hauptverwaltung von ver.di aber nicht genehm. „Die Diskussion über eine Genossenschaft spielt bei uns keine Rolle“, erklärte eine Pressesprecherin. Damit ignoriert sie die Debatten, die es durchaus auch in Unterbereichen der Gewerkschaft, etwa bei ver.di-Stuttgart, gibt, wo die Diskussionsanregung der Verkäuferinnen nicht komplett ignoriert wird.
Allerdings kann eine Umwandlung in eine Genossenschaft nicht unproblematisch sein. Der Berliner Arbeitsrechtler Benedikt Hopmann macht zu Recht darauf aufmerksam, dass den Verkäuferinnen nicht zuzumuten ist, aus ihren Löhnen Angespartes in die Genossenschaft zu legen, um ihre Arbeitsplätze zu retten. Die Verkäuferinnen haben deshalb einen anderen Vorschlag. Sie fordern einen „Wulff-Kredit“. Ihre Begründung: Wenn der Spitzenpolitiker für seinen Hausbau zinsgünstige Kredite erhalten hat, warum dann nicht auch die Genossenschaft? Dass man ohne Druck nichts erreich wird, wissen die Kolleginnen aber auch.
Eine Genossenschaft der Beschäftigten kann auch nicht in das deutsche Vereinsrecht gepresst werden. Sie muss aus der Belegschaft und solidarischen UnterstützerInnen aus dem Bereich den KundInnen und den BewohnerInnen der Nachbarschaften entstehen. Das Projekt Strike-Bike – zumindest am Beginn – könnte hierfür ein kleines Vorbild sein. Auch dabei standen von Anfang an UnterstützerInnen mit Rat und Tat zur Seite. Auch die KollegInnen von Schlecker sollten nicht der Kapitallogik unterworfen werden, nach der sie bei einer Insolvenz möglichst widerspruchsfrei weiterarbeiten sollen, damit ein Kapitalist an der Vernutzung ihrer Arbeitskraft Interesse findet.
http://www.direkteaktion.org/210/ausgeschleckert
Peter Nowak
aus Direkte Aktion 210, März/April 2012

Geldstrafe für Schottern-Aufrufer

Erstes Urteil gegen Aufrufer
Das Amtsgericht Lüneburg hat einen ersten Unterstützer der Schottern-Aktion zu einer Geldstrafe von 375 Euro verurteilt. Gotthilf Lorch hatte im Jahr 2010 im Internet einen Aufruf zum Unterhöhlen der Castorgleise im niedersächsischen Wendland unterzeichnet und damit aus Sicht des Gerichts öffentlich zu Straftaten aufgefordert. Das Entfernen von Steinen aus dem Gleisbett sei eine »Störung öffentlicher Betriebe«. Der 50-jährige Sozialarbeiter aus Tübingen bekräftige in einer Erklärung vor Gericht, die Absichtserklärung der Kampagne »Castor? Schottern!« aus Solidarität unterzeichnet zu haben. Wegen einer Gehbehinderung habe er selbst an der Aktion nicht teilnehmen können. Durch die Unterschriftensammlung sei es auch für ihn möglich gewesen, sich gegen die Nutzung von Atomenergie zu engagieren.

Die Pressesprecherin der Kampagne »Castor? Schottern!« Hannah Spiegel betont: »Die Absichtserklärung war eine klare Stellungnahme gegen die Atompolitik der Bundesregierung. Viele Menschen waren bereit, als Protest gegen diese Politik auch eine Regelverletzung in Kauf zu nehmen.« Fast 2000 Menschen hatten 2010 den Aufruf unterstützt, in Gorleben Schotter aus der Castorstrecke zu entfernen, um den Atommülltransport zu stoppen, darunter prominente Künstler und Politiker. Rund 1600 Ermittlungsverfahren gegen Unterzeichner wurden von der Staatsanwaltschaft seinerzeit eingeleitet. Das Urteil gegen Lorch ist das erste gegen einen Unterstützer.

Mittlerweile haben weitere Unterstützer Strafbefehle bekommen. Dazu gehört auch Hermann Theisen. Er hat bereits Widerspruch eingelegt. »Ich stelle die Strafbarkeit des Aufrufs in Abrede. Daher wäre es absurd, eine Geldbuße zu akzeptieren«, betont Theisen. Nicht der Aufruf zum »Schottern«, sondern die Nutzung der Atomenergie sei strafbar. Unwahrscheinlich ist, dass alle Unterzeichner mit Strafbefehlen rechnen müssen. Die Justiz muss die Echtheit der Unterschrift nachweisen. Das ist nicht einfach, wenn die Beschuldigten keine Aussagen machen. Die Mehrheit der von der Polizei angeschriebenen mutmaßlichen Unterzeichner hat nicht geantwortet. Einige hundert Verfahren wurden bislang eingestellt, weil nicht sicher herausgefunden werden konnte, wer sich hinter der Unterschrift verbirgt.

Lorch und Theisen bekennen sich dagegen dazu, den inkriminierten Aufruf unterschrieben zu haben. »Ich komme aus der Friedensbewegung der 80er Jahre«, sagt Theisen. »Uns war immer wichtig, offen mit solchen Vorwürfen umzugehen. Deshalb habe ich erklärt, dass ich tatsächlich unterschrieben habe und den Schritt begründet.«

Lorch hat Berufung gegen das Urteil angekündigt. Besonders absurd findet es Luca Köppen von der Kampagne »Castor? Schottern!«, dass er beschuldigt wird, einen »öffentlichen Betrieb« gestört zu haben, als handele es sich um den öffentlichen Nahverkehr. Dabei könnten die Bewohner des Wendlands bei jedem Castortransport erleben, wie geschlossen diese Aktion sei, erklärte sie gegenüber »nd«.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/221896.geldstrafe-fuer-schottern-aufrufer.html
Peter Nowak

Ost-West-Populismus im NRW-Wahlkampf

Immer zu Wahlkampfzeiten kommt ein alter Dauerbrenner in die politische Debatte: die Zukunft des Solidarpakts Ost

Jetzt haben vier Oberbürgermeister aus dem Ruhrgebiet das Ende des Solidarpakts Ost gefordert. Gelsenkirchens Stadtoberhaupt Frank Baranowski will sich für eine Bundesratsinitiative gegen den Solidaritätsbeitrag einsetzen. Mittlerweile hat die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Kraft die Forderungen mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Solidarpakt vertraglich festgeschrieben sei und nicht einfach aufgekündigt werden könne. Damit vermied es die Politikerin allerdings, sich inhaltlich zu positionieren.

Dafür trumpfen ihre Parteifreunde aus den Oberbürgermeisterämtern um so mehr mit starken Sprüchen auf. So sprach der Dortmunder Bürgermeister Ullrich Sierau in der Süddeutschen Zeitung von einem „perversen System, das keinerlei inhaltliche Rechtfertigung hat“. Es sei nicht mehr zu vermitteln, dass die armen Städte des Ruhrgebietes sich hoch verschulden müssten, um ihren Anteil am Solidarpakt aufzubringen. Der Osten sei mittlerweile so gut aufgestellt, dass die dort doch gar nicht mehr wissen, wohin mit dem Geld.

„Während in seiner Stadt Einrichtungen schließen müssten, sanierten die Kommunen im Osten ihre Etats“, schließt sich Essens SPD-Oberbürgermeister Reinhard Paß dem Lamento an.

Droht jetzt die Solidaritätskeule?

Sein Gelsenkirchener Parteifreund Frank Baranowski hat gar schon die Solidaritätskeule entdeckt, mit der Kritiker des Solidarpakts angeblich bedroht und als Feinde der deutschen Einheit dargestellt würden.

Bisher waren die Reaktionen auf den Ruhrgebietsvorstoß allerdings moderat. Während der SPD-Politiker Wolfgang Thierse zusätzlich zum Solidarpakt Ost noch einen Ruhr-Solidaritätsbeitrag auflegen will, stellte sich der einflussreiche Bund der Steuerzahler hinter die Forderungen der Lega-West. So könnte man die westdeutschen Politiker nach dem Vorbild der italienischen Lega Nord nennen, die in regelmäßigen Abständen und über Parteigrenzen hinweg immer mal wieder, meistens vor wichtigen Wahlen, den Solidarpakt Ost aufkündigen wollen. 2008 ist der CSU-Vorsitzende Seehofer mit ähnlichen Forderungen hervorgetreten. Vor vier Jahren mischten sich noch Vorwürfe in die Debatte, die Ostdeutschen wären undankbar, wenn sie trotz des Solidarpakts noch die Linke stark machen.

Die Ähnlichkeiten dieser Debatte mit den Ressentiments der Lega Nord gegen die italienische Bevölkerung südlich von Rom sind ebenso wenig zufällig, wie die Parallelen zur Diskussion über die „Pleitegriechen, die in den letzten Monaten immer wieder geführt wurde. Bei diesen Debatten sollen Schuldige außerhalb des eigenen Verantwortungsbereich für die offenkundige soziale Misere herhalten. Dass es einen Kultur-und Sozialkahlschlag in vielen Städten nicht nur in NRW gibt, ist auch eine Folge der Schuldenbremse – und die wiederum resultiert aus einer Finanzklemme, welche die Politik mit ihrer Niedrigsteuerpolitik zu verantworten hat.

Was bei Befürwortern wie Kritikern des Solidarpakts Ost übersehen wird, ist die offensichtliche Tatsache, dass sich ausbreitende Alltagsarmut und gut restaurierte Innenstädte gut kombinieren lassen. Dafür ist ein Niedriglohnsektor verantwortlich, der nach 1989 im Osten Deutschland eingeführt wurde und sich längst auch im Westen etabliert hat. Deshalb müssen die dort lebenden Menschen genauso wenig vom Solidarpakt Ost profitieren wie die griechische Bevölkerung von den Rettungspaketen der EU-Troika.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151652
Peter Nowak