1.Mai in Berlin

Klassenkampf reloaded
  Auch viele radikale Linke haben in den letzten Jahren die Aktivitäten am 1.Mai in Berlin eher kritisch beurteilt. Die DGB-Demonstration am Vormittag galt als zeremonial und wenig attraktiv. Mit der revolutionären 1.Mai-Demonstration bot sich um 18 Uhr in Kreuzberg eine radikale Alternative an, bei der nicht an den Staat und die Parteien appelliert wird.
 
Die alljährliche mediale Konzentration auf die berühmt-berüchtigte Mai-Randale – in den letzten Jahren eher eine Folge des vom Bezirk ausgerichteten Myfestes und seiner dort feilgebotenen harten Getränke als der Revolutionären Demonstration – wurde eher gelangweilt wahrgenommen.
 
Seit Jahren versuchen sich deshalb unterschiedliche Akteure an einer Repolitisierung des 1.Mai. Die Euro-Mayday-Paraden gegen prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse waren ein leider nur kurzlebiger Versuch in dieser Richtung.
 
Doch in diesem Jahr zeigte sich, dass sich sowohl die DGB-Demonstration als auch die Revolutionäre 1.Mai-Demonstrationen politisieren lassen. Dafür sorgte ein an beiden Demonstrationen beteiligter Klassenkampfblock, der den Kampf gegen Lohnabbau, gegen die Hartzgesetze und gegen die Angriffe auf das Streikrecht in den Mittelpunkt stellte. Mit einer in großer Auflage gedruckten Maizeitung wurde gezielt für die Teilnahme an dem Block auch vor Jobcentern und Betrieben geworben.Vor zwei Jahren noch war der Klassenkampfblock auf der DGB-Demonstration nur widerwillig geduldet. Mittlerweile hat er sich zum Forum der Widerspenstigen innerhalb und außerhalb des DGB auf der Demo entwickelt.
 
Gewerkschaftler aus verschiedenen europäischen Ländern nahmen mit einem Transparent für das europäische Streikrecht daran teil. Diese Themen brachte der Klassenkampfblock auch in die Revolutionäre Demonstration in Kreuzberg ein, was sehr notwendig ist. Denn dort versammeln sich viele, die in erster Linie im Staat und in der Polizei den Gegner sehen und mit dem Aufbau sozialer Gegenmacht am Arbeitsplatz, im Stadtteil und im Jobcenter wenig Erfahrung haben. Der Kampf gegen teuere Mieten prägte die Mai-Demonstrationen in diesem Jahr deutlich.
 
Der Bewegungsforscher Dieter Rucht versuchte nach dem 1.Mai in der Taz einen Gegensatz zwischen Mieter- und Klassenkampf aufzubauen. Das Gegenteil ist richtig. Beide Kämpfe gehören zusammen. Dieser Aufgabe will sich der Klassenkampfblock künftig verstärkt widmen, nicht nur am 1.Mai. Deshalb wird dort auch über eine Beteiligung an einer berlinweiten Mieterdemonstration Anfang September nachgedacht.
http://www.sozonline.de/2011/05/1-mai-in-berlin/#more-2445

Peter Nowak

Wem gehört Kreuzberg?

Im Chamissokiez wehren sich Mieter/innen gegen Verdrängung

„Leerstand verhindern“ und „Spekulanten raus“, solche Parolen prangten mehrere Wochen an der Fassade eines Wohnhauses in der Kopischstraße im Chamissokiez in Kreuzberg. Das hätte man in einer Gegend nicht erwartet, die mit charakteristischem Kopfsteinpflaster und altmodischen Laternen den Eindruck erweckt, als befinde man sich in einem Freilichtmuseum für das gründerzeitliche Berlin. Doch genau durch diese historische Kulisse sind die Probleme im Kiez gewachsen, denn immer mehr Immobilienfirmen zeigen Interesse an den Stuckaltbauten.
 
 
Die von Mieterhöhungen und Verdrängung betroffenen Mieter/innen beginnen sich zu organisieren. Anwohnertreffen sind überfüllt, und alle haben ähnliche Geschichten zu erzählen. „In der Arndtstraße 38 stehen von 9 Wohnungen 4 leer“, berichtet eine Mieterin aus diesem Gebäude. Die ALW-Immobilien GmbH aus Baden-Baden, die das Haus gekauft hatte, kündigte ihr wegen der verspäteten Zahlung der Kaution. Die gerichtliche Entscheidung steht noch aus. Auch die 27 Mieterparteien in der Katzbachstraße 17 sind nach einem Eigentümerwechsel zur Goldenzeil Immobilien GmbH verunsichert. Weil sich Alt- und Neueigentümer um die Ölrechnungen stritten und deswegen offenbar Rechnungen nicht beglichen wurden, fiel im letzten Winter mehrmals die Heizung aus, berichtet ein Mieter. Trotz der Größe des Hauses und der Unterschiedlichkeit der Mieter/innen habe es mittlerweile erste gemeinsame Treffen gegeben, berichtet er.
 

Wohnungen dem Spekulationsmarkt entziehen
 
Die Mieter/innen der Willibald-Alexis-Straße 34 (Wax34) sind da schon weiter. Nachdem ihr Haus im Herbst 2010 an die Willibald Alexis GmbH & Co. KG verkauft worden war, setzten sie sich zusammen und formulierten ihre Ziele. In einem offenen Brief an Politiker aller Parteien und den Senat heißt es: „Wir wollen das Haus mithilfe passender Projekt- und Finanzierungsstrukturen dem Spekulationsmarkt entziehen und gemeinschaftliches, kieznahes Wohnen organisieren. Wir sind im Gespräch mit Stiftungen, Genossenschaften und Mietshäuser Syndikat, die das Haus erwerben würden.“
 
Den Mieter/innen geht es dabei nicht nur um den Erhalt von bezahlbarem Wohnraum in ihrem Haus, sondern sie haben auch ein erstes Mietertreffen im Chamissokiez mitorganisiert, bei dem die Initiative „Wem gehört Kreuzberg?“ gegründet wurde. „Dort treffen sich Menschen, die sich gegen den Verkauf von Wohnungen und die Verdrängung aus ihren Wohnquartieren in Berlin wehren“, beschreibt Wax34-Bewohner Stephan Thiele das Ziel der von ihm mitbegründeten Initiative.
 

Problem Ferienwohnung
 
In fünf Arbeitsgruppen recherchieren die Mieter/innen die Eigentumsverhältnisse von Häusern im Kiez und bereiten Veranstaltungen, juristische Beratungen und Stadtspaziergänge vor. Eine Arbeitsgruppe befasst sich mit Ferienwohnungen. Nicht nur Mieter/innen sehen in der wachsenden Zahl von Ferienwohnungen eine Ursache für die Probleme im Stadtteil. „Da Touristen bereit sind, im beliebten Kiez in der Nähe der Bergmannstraße 50 Euro pro Nacht und mehr zu zahlen, werden schnell Gelddruckmaschinen aus Räumen, in denen sich aufgrund der hohen Miete keine Kneipe mehr wirtschaftlich betreiben lässt“, klagt ein Autor im Lokalblatt „Kiez und Kneipe“, in dem auch gleich zum „Kampf gegen die Touri-Monster“ aufgerufen wird. Doch Mitglieder der Kiezinitiative warnen davor, in den Ruf „Hilfe, die Touristen kommen“ einzustimmen. „Nicht die Touristen sind das Problem, sondern die Verwertung von Wohnraum, egal ob für teure Eigentums- oder Ferienwohnungen“, betont eine Stadtteilaktivistin. Im Frühsommer soll mit einem Kiezspaziergang die Forderung nach dem Erhalt bezahlbarer Wohnungen in Kreuzberg bekräftigt werden. An eine im Stadtteil altbewährte Protestform wurde im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung erinnert. Der Vorschlag „Wir können ja auch wieder Häuser besetzten“ erhielt spontan Beifall, und die Adressen von leer stehenden Gebäuden im Kiez wurden umgehend genannt.
 http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2011/detailansicht/article/wem-gehoert-kreuzberg.html

Peter Nowak

Initiative „Wem gehört Kreuzberg?“
www.wemgehoertkreuzberg.de
 
Mietergemeinschaft Willibald-Alexis-Str. 34
www.willibald-alexis-strasse34.blogspot.com
 
Mietshäuser-Syndikat
www.syndikat.org

Gebremster Bürgeraufstand

 

Geht es beim Widerstand gegen den Ausbau der Kastanienallee um Demokratie oder um ökonomische Interessen?

Wütend sind sie, die Anwohner/innen der Kastanienallee in Prenzlauer Berg, die sich in den letzten Wochen zur geplanten Umgestaltung der Straße geäußert haben. Sie beschworen den Stuttgarter Protest gegen den Bahnhofsneubau und nannten ihre Initiative „Stoppt K21“. In wenigen Wochen haben sie ca. 10.000 Unterschriften gesammelt und ein Bürgerbegehren gegen die Pläne durchgesetzt.

Der Bezirk will einen breiten Radstreifen am Fahrbahnrand und Parkbuchten im Bereich des Bürgersteigs einrichten. Die Einleitung einer Befragung der Anwohnerschaft zu den Bauplänen wurde von der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) abgelehnt. Die Aktivisten der Bürgerinitiative bewerten die Entscheidung als Arroganz der Macht und kündigten Aktionen unter dem Motto „Reclaim Democracy“ bis zu den Abgeordnetenhauswahlen an. Mit ihrem Internetauftritt machen sie ihrem Ärger Luft, vor allem über die Grünen, die in der BVV gegen das Bürgerbegehren gestimmt hatten.
 

Kein Fahrradstreifen vorgesehen
 
Gegen eine Sanierung der holprigen Gehwege hat der Cafébesitzer und Stoppt-K21-Aktivist Till Harter grundsätzlich nichts einzuwenden. Dass die Straße aber zwei Jahre eine Baustelle bleiben soll, ärgert nicht nur ihn. Fast alle Ladenbesitzer befürchten Umsatzverluste durch die Bautätigkeiten. Allerdings wird bei der Begründung für den Protest darauf nicht so gerne verwiesen. Die Kastanienallee stehe für das Schräge und Schiefe, begründet Harter den Widerstand gegen die Baupläne. Die Argumentation erinnert nicht zufällig an den Widerstand von Anliegern, auch überwiegend Ladenbesitzer, gegen den Umbau der angrenzenden Oderberger Straße vor einigen Jahren. In beiden Straßen sind es neben den neu Zugezogenen vor allem die Gewerbetreibenden, die vehement eine Umgestaltung nach ihren Vorstellungen einfordern. Darin sind die Belange von Radfahrer/innen aber nicht berücksichtigt, denn nach den Vorstellungen von Stoppt-K21 soll es keinen Fahrradstreifen auf der Kastanienallee geben. Dafür sollen die breiten Gehwege erhalten bleiben, die Platz für die verschiedenen gastronomischen Angebote bieten.
 

Direkte Demokratie kein Selbstbedienungsladen
 
Kritisch kommentierte Uwe Rada in der taz die Vorstellungen der Stoppt-K21-Initiative: „Die Kastanienallee dagegen, das zeigte auch die Diskussion in der BVV, scheint bislang nur ihren Anwohnern und Fans zu gehören. Und die sollen nun über die Zukunft ihrer Straße abstimmen? Was für ein Quatsch. Dann kann man direkte Demokratie ja gleich zum Selbstbedienungsladen machen.“ Als Alternative zur Anwohnerbefragung schlug Rada eine Beteiligungsform vor, in der unterschiedliche Interessenvertreter derjenigen zu Wort kommen, die die Straße nutzen. Dieser Vorschlag wäre es tatsächlich Wert, ernsthafter diskutiert zu werden. Denn damit würde verhindert, dass die BVV die Interessen der Bewohner/innen übergeht, aber auch, dass eine Straße wie die Kastanienallee von einem Teil der Anlieger privatisiert wird.
 

Weitere Infos:
www.stoppt-k21.de

http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2011/detailansicht/article/gebremster-buergeraufstand.html

Peter Nowak

„Vorsicht Wohnungsnot!“

Bericht zur Konferenz der Berliner MieterGemeinschaft

Bei der gut besuchten Tageskonferenz der Berliner MieterGemeinschaft unter dem Titel „Vorsicht Wohnungsnot!“ am 16. April 2011 im DGB-Haus kamen Personen zusammen, die das Thema bezahlbares Wohnen wieder auf die Tagesordnung setzen wollen

Nicht besonders vorteilhaft waren die Spitzenkandidaten von SPD, Die Linke und B’90/Die Grünen für die Berliner Abgeordnetenhauswahl auf Postern abgebildet, die am Tag der Konferenz im Foyer des Berliner DGB-Hauses hingen. Damit machte ein Bündnis von Berliner Stadtteil- und Mieterinitiativen auf den ersten Blick deutlich, dass sie kein Vertrauen in die wohnungspolitischen Erklärungen dieser Parteien setzen. Wie begründet diese Distanz zu den Parteien ist, wurde auf der Tageskonferenz von verschiedenen Referent/innen ausgeführt.

Das Publikum im überfüllten Saal verfolgte die Ausführungen der Referent/innen aus Ökonomie, Gewerkschaften, Stadtteil- und Mieterinitiativen aus Berlin, Hamburg und Witten mit großem Interesse. Im ersten Themenblock der Konferenz ging es um die steuer- und finanzpolitischen Hintergründe der Berliner Wohnungspolitik. Der Hamburger Wirtschaftswissenschaftler Joachim Bischoff sieht in einer Haushaltspolitik, die Steuererleichterungen für Spitzenverdiener zum politischen Credo erhebt, die Ursache für die gigantischen Einnahmeverluste der Haushaltskassen.

Sozialer Wohnungsbau – den haben wir gerade abgeschafft

Im zweiten Themenblock wurde Kritik an der aktuellen Berliner Haushalts- und Wohnungspolitik geübt. Joachim Oellerich von der Berliner MieterGemeinschaft skizzierte, dass die Mieten seit 2007 in der gesamten Stadt spürbar gestiegen seien und der Wohnungsneubau seit der Jahrtausendwende nahezu zum Erliegen kam. „Immer mehr Haushalte tummeln sich auf einem tendenziell schrumpfenden Wohnungsmarkt. Die Wohnungsversorgung verschlechtert sich“, so Oellerich. Insbesondere wurde kritisiert, dass die Berliner Landesregierung noch immer eine Wohnungsnot in der Stadt leugne und stolz auf den Ausstieg aus dem Sozialen Wohnungsbaus sei. Als sich die niederländische Königin Beatrix Mitte April bei ihrem Berlin-Besuch erkundigte, ob Berlin Sozialen Wohnungsbau betreibe, antwortete der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) laut eines Berichts im Tagesspiegel: „Den haben wir gerade abgeschafft.“

Im letzten Themenblock ging es bei der Konferenz um Perspektiven für den Widerstand. Oellerich zufolge können diese nur auf außerparlamentarischer Ebene gesucht werden. Da alle Parteien unabhängig von ihren Versprechungen in der Wohnungspolitik die Vorgaben des Wirtschaftsliberalismus exekutierten, sei die Formulierung von Wahlprüfsteinen überflüssig. Mit dieser Einschätzung war er sich mit der großen Mehrheit der Konferenzteilnehmer/innen einig.

Obwohl sie für die SPD zur Abgeordnetenhauswahl kandidiert, erklärte Gerlinde Schermer, die sich in den letzten Jahren wiederholt gegen die unsoziale Senatspolitik engagierte, sich auf der Konferenz am richtigen Ort zu fühlen. Wie bereits andere Referent/innen verwies sie darauf, dass trotz der zahlreichen Verkäufe öffentlicher Unternehmen die Schulden gestiegen seien und die Probleme nicht gelöst wurden. Daraus schloss Schermer: „Die Privatisierungs- und Kürzungspolitik aller Senate seit 1990 ist gescheitert.“

Impulse für eine Mieterbewegung

Als es während der Abschlussdiskussion um praktische Widerstandsmöglichkeiten ging, riet Andreas Blechschmidt vom Hamburger Netzwerk „Recht auf Stadt“, das für viele Berliner Aktivist/innen Vorbildcharakter hat, zu dezentralen Aktionen. Solche wurden anschließend von Aktivisten aus unterschiedlichen Stadteilen vorgestellt. Stephan Thiele stellte das neugegründete Bündnis „Wem gehört Kreuzberg?“ vor, das schwerpunktmäßig den Verkauf von Wohnungen im Kiez verhindern will (siehe Seite 26).

Mieter/innen des abgewickelten Sozialen Wohnungsbaus schilderten ihre Erfahrungen. Und Bewohner/innen der vom Abriss bedrohten Barbarossastraße 59/60 berichteten, wie sie sich trotz großem Druck gegen die Neubaupläne wehren.

Dass die Konferenz zum richtigen Zeitpunkt stattfand, zeigte sich in den darauf folgenden Wochen. So spielte das Thema Wohnen bei vielen Aktivitäten rund um den 1. Mai eine zentrale Rolle. „Bei fast allen Protesten geht es um den Einsatz für Frei- und Wohnräume. Damit erlebt der Tag endlich eine Repolitisierung“, so die taz in einer Nachbetrachtung.

Großdemonstration gegen Mieterhöhungen und Verdrängung

Samira van Zeer von der Treptower Stadtteilinitiative „Karla Pappel“ berichtete auf der Konferenz von einer für den 3. September 2011 geplanten Großdemonstration gegen Mieterhöhungen und soziale Verdrängung, die von Stadtteil- und Mieterinitiativen vorbereitet wird. Konsens bei der Vorbereitung der Demonstration ist – wie auch auf dem Kongress – die Unabhängigkeit von allen Parteien.

Weitere Infos und Dokumentation:
www.bmgev.de/politik/konferenz

http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2011/detailansicht/article/vorsicht-wohnungsnot-1.html

Peter Nowak

Bündnis gegen Rechtspopulismus in Berlin gegründet

Im Vorfeld der Berliner Abgeordnetenhauswahlen wollen linke Gruppen mit einem Bündnis gegen Rassismus, Sozialchauvinismus und Rechtspopulismus außerparlamentarisch Druck machen. Es richtet sich gegen den Versuch von rechtspopulistischen Parteien und der NPD, ins Abgeordnetenhaus einzuziehen. Der Zusammenschluss, zu dem die Gruppe Fels, die Jugendverbände der Linkspartei und der Grünen sowie mehrere Antifagruppen gehören, versteht sich allerdings nicht als klassisches Antifabündnis. Der Fall Sarrazin mache deutlich, dass rechte Diskurse aus der Mitte der Gesellschaft kommen, weshalb klassische Antifaarbeit ins Leere laufe, so die Initiatoren.

Das Bündnis bereitet unter anderem Proteste gegen einen von der rechtpopulistischen Pro-Bewegung Ende August in Berlin geplanten Anti-Islamkongress vor. An 2. Juni findet im Festsaal Kreuzberg um 19.30 Uhr die Auftaktveranstaltung des Bündnisses statt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/198915.bewegungsmelder.html

Peter Nowak

Klassismus

Konzept zur Gesellschaftsveränderung oder zur Mittelstandsförderung?

 
Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff Klassismus relativ unbekannt. Im US-amerikanischen Kontext wird er analog zu Rassismus und Sexismus als eine Diskriminierungs- und Unterdrückungsform bezeichnet und spielt sowohl in der Wissenschaft als auch in der Bildungsarbeit eine Rolle. Mit ihrem im Unrast-Verlag erschienenen Band liefern Heike Weinbach und Andreas Kemper eine gute Einführung in das Konzept und schaffen so die Voraussetzung, sich mit dessen Stärken und Schwächen auseinandersetzen zu können. Sie gehen kurz auf die eng mit der antirassistischen und feministischen Bewegung verbundene Geschichte des Klassismus-Konzepts ein und stellen bei uns weitgehend unbekannte politische Zusammenhänge vor, die dieses Konzept vertreten haben. Dazu gehört die sozialistische Lesbengruppe »The Furies«, die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre ihre gesellschaftliche Position als Töchter aus der ArbeiterInnenklasse thematisierten. Dabei kritisierten sie auch die Umgangsweise der sozialen Bewegungen mit dem Thema Klasse. »Sie sei entweder durch und durch romantisierend und führe zu der sogenannten Abwärtsmobilität der Mittelschicht-Jugend oder finde in akademischen marxistischen Debatten statt.« (S. 34) Mit der Metapher
der Abwärtsmobilität kritisieren die Furies, dass sich Studierende aus dem Mittelstand selber marginalisieren, was sie als Töchter der ArbeiterInnenklasse mit Unverständnis kommentierten. Aber auch die Debatten in der ArbeiterInnenbewegung wurden von den Furies kritisiert: »Klasse bedeutet weit mehr als die marxistische Definition von Beziehungen im Spiegel der  Produktionsverhältnisse. Klasse schließt dein Verhalten und deine fundamentalen Überzeugungen mit ein; was du von dir und anderen erwarten darfst, deine Idee von der Zukunft, wie du Probleme verstehst und löst; wie du denkst, fühlst und handelst« (S. 36). Sie reflektierten auch ihre Rolle als Akademikerinnen mit proletarischer Herkunft. »Ja, wir haben College-Abschlüsse;
nein, wir arbeiten nicht in Fabriken, wie unsere Eltern es taten, und wir lernten von der Vergewaltigung unserer Eltern, gerade deshalb wollen wir die Revolution machen« (S. 37).

Von der Gesellschaftsveränderung zur Karriereförderung
Die Furies werden in dem Buch als eine Gruppe von Frauen aus der ArbeiterInnenklasse vorgestellt, die eine ganz eindeutig antikapitalistische Zielsetzung verfolgten. Eine andere in dem Buch vorgestellte Gruppe, die Working-Class-Akademikerinnen (WCA), haben mit den Furies die Herkunft gemeinsam. Doch zwischen ihren politischen Intentionen klaffen Welten. Den in den 90er-Jahren gegründeten WCA ging es nicht um die gesellschaftliche Umwälzung, sondern um die gegenseitige Unterstützung bei der Jobsuche im Wissenschaftsapparat. »Die WCA-Aktivistinnen tauschen sich inhaltlich über ihre Erfahrungen aus, führen Selbstverständnisdiskussionen, unterstützen sich in Forschungsprojekten« (S. 46). Dieser Wandel von der Gesellschaftsveränderung zur Karriereförderung ist einerseits dem Abflauen gesellschaftskritischer Theorie und Praxis geschuldet. Er ist andererseits bereits in den beiden durchaus nicht identischen Bedeutungen des Klassismusbegriffs angelegt, den die AutorInnen in der Einleitung vorstellen. Zum einen bedeute er den »Ausschluss von materiellen Ressourcen und Partizipation, zum anderen die Verweigerung von Respekt und Anerkennung gegenüber Menschen mit ihren Rechten, Lebensweisen und Vorstellungen (S.7). Allerdings stellen die AutorInnen zu wenig die Differenzen und unterschiedlichen politischen Implikationen dar, die sich aus den beiden Erklärungsversuchen ergeben. Wer unter Klassismus den Ausschluss von materiellen Ressourcen und Partizipation versteht, strebt, wie die Furies, eine Änderung dieser Verhältnisse an. Wer unter Klassismus hingegen die Verweigerung von Respekt und Anerkennung gegenüber Menschen mit ihren Rechten, Lebensweisen und Vorstellungen versteht, muss nichts dagegen haben, dass Menschen arm und beispielsweise gezwungen sind, Flaschen zu sammeln. Nur sollten das bitte auch alle respektieren. Aus einem Problem der ungleichen Verteilung von Ressourcen und Macht in einer Gesellschaft wird die Sorge, dass auch diejenigen, die wenig oder keine Ressourcen haben, respektiert werden sollen. Klemper/Weinbach versuchen an verschiedenen Stellen im Buch, zwischen den beiden unterschiedlichen Klassismus-Definitionen zu vermitteln. »Klassismus verbindet im Grundverständnis die alten Kritikformen der ArbeiterInnenbewegung am materiellen und politischen Ausschluss mit der Kritik an der Nichtanerkennung und der Herabsetzung von Kulturen und Leben der ArbeiterInnen, Arbeitslosen und Armen« (S.17 ). Als Beispiel dafür wird ein längeres Zitat aus einem Handbuch für gewaltfreie Aktion aufgeführt: »Klassismus  wird ebenso aufrechterhalten durch ein Glaubenssystem, in dem Menschen aufgrund ihrer Kinderzahl, ihres Jobs, ihres Bildungsniveaus hierarchisiert werden. Klassismus sagt, dass Menschen aus einer höheren Schicht klüger sind und sich besser artikulieren können als Menschen aus der Arbeiterklasse und arme
Menschen. Es ist eine Art und Weise, Menschen klein zu halten – damit ist gemeint, dass Menschen aus der höheren Klasse und reiche Menschen definieren, was ›normal‹ oder ›akzeptiert‹ ist. Viele von uns haben diese Standards als die Norm akzeptiert, und viele von uns haben den Mythos geschluckt, dass die meisten im Land zur Mittelklasse gehören« (S. 16f.).

Interessant wäre, diese Definition auch auf sich links und emanzipatorisch verstehende Zusammenhänge anzuwenden. Schließlich geht es sowohl bei Konflikten in selbstverwalteten Zentren und Häusern als auch in linkspolitischen Zusammenhängen oft um die Frage, ob eher universitär und mittelstandsorientierte Menschen die politischen Spielregeln bestimmen und damit Menschen aus der Arbeiterklasse oder Erwerbslose dominieren und unter Umständen auch auszugrenzen. Wie komplex diese Auseinandersetzung sein kann, zeigt sich daran, wenn bei einem Konflikt um antisexistische Praxen in einem selbstverwalteten Zentrum junge Erwerbslose Frauen- und Lesbenzusammenhängen vorwerfen, sie versuchten Normen und Verhaltensweisen des akademischen Mittelstands einzuführen. Ähnliche Konflikte gibt es in der Auseinandersetzung mit Schwulen und jungen MigrantInnen. Diese Beispiele machen deutlich, dass ein Konzept zu kurz greift, das sich den Respekt und die Anerkennung der unterschiedlichen Kulturen auf die Fahnen schreibt, ohne zu berücksichtigen, dass sich diese gegenseitig ausschließen können. Wenn im  Klassismuskonzept beispielsweise Respekt vor den Kulturen der Armen, Erwerbslosen und ArbeiterInnen verlangt wird, ist zu
fragen, wie damit umzugehen ist, wenn diese Kulturen ihrerseits ausschließend gegen Menschen anderer Länder oder sexueller Orientierung sind. Diese Fragestellung verweist schon darauf, dass Kulturen nichts Statisches und Unveränderliches, sondern selbst Gegenstand von politischer und gesellschaftlicher Positionierung sind. So hat sich immer wieder gezeigt, dass in Arbeitskämpfen und Streiks, zumindest zeitweilig, nationalistische und rassistische Einstellungen gegenüber KollegInnen zugunsten eines gemeinsamen Handelns zurückgedrängt werden können. Mit der bloßen Forderung nach Respekt vor Kulturen besteht auch
die Gefahr, dass deren konservative, rückwärtsgewandte Elemente konserviert werden. Die AutorInnen verweisen darauf, dass in der Literatur auch Vorurteile von ArbeiterInnen gegenüber Reichen als Klassismus bezeichnet werden. Könnte es vielleicht einmal so weit kommen, dass streikende ArbeiterInnen, die sich über Ausbeutung und Lohndrückerei beschweren, des Klassismus geziehen werden, weil sie der ›Kultur‹ der Reichen und Besitzenden nicht den gebührenden Respekt zollen? Diese Frage mag sich polemisch
anhören, doch wenn es nur noch um Identitäten und Respekt vor den unterschiedlichen Kulturen geht, ist eine solche Entwicklung nicht ausgeschlossen. Wenn aber das Klassismuskonzept mit einer gesellschaftlich klaren Positionierung verbunden ist, kann es auch für heutige Organisierungsprozesse am Arbeitsplatz, im Jobcenter oder wo auch immer hilfreich sein, insofern es den Blick auf in der marxistischen Tradition verbreitete Verkürzungen eines ökonomistischen Klassenbegriffs lenkt, die nicht einfach durch die Addition einer Portion Respekt oder gar die Substitution von ökonomischen durch moralische Kategorien zu beheben sind. Die Einführung in die Theorie und Praxis des Klassismus könnte in diesem Sinne eine gute Diskussionsgrundlage dafür sein, wie der Klassenbegriff nicht-ökonomistisch zu rekonstruieren und zu reformulieren wäre.

Peter Nowak
Andreas Kemper / Heike Weinbach: »Klassismus. Eine Einführung«, Unrast Verlag, Münster 2009,
ISBN 978-3-89771-4670, 185 Seiten, 13 Euro

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/11
express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express

Berlusconi am Ende?

Ob die Schlappe für Italiens Rechte bei den Kommunalwahlen zum schnellen Sturz Berlusconis führt, ist aber weiterhin offen

Zum Test für die italienische Rechtsregierung hatte der italienische Ministerpräsident Berlusconi die Kommunalwahl erklärt, deren zweite Runde am 30. Mai zu Ende gegangen ist. Die Rechtsregierung hat den Test ganz eindeutig nicht bestanden, wie schon kurz nach der Schließung der Wahllokale deutlich wurde. Der schon bei der ersten Runde der Kommunalwahlen am 15. und 16. Mai deutlich gewordene Trend hat sich fortgesetzt.

Die Parteien der Rechtsregierung wurden abgestraft. Das wurde besonders an den Wahlergebnissen in Mailand und Neapel deutlich. Diese beiden Städte waren schon vor den Wahlen zu Symbolen für die Stimmung in der politischen Bevölkerung erklärt worden. In beiden Städten haben die Kandidaten der Rechtskoalition deutlich verloren. In Neapel bleibt der Kandidat der Mitte an der Macht.

Besonders schmerzlich dürfte für Berlusconi die Niederlage in seiner Heimatstadt und langjährigen Hochburg Mailand sein. Dort war der Ministerpräsident selber als Listenführer seiner Partei aufgetreten. Nachdem sich bei der ersten Runde der Kommunalwahlen die Niederlage für die Rechte abgezeichnet hat, versuchten Berlusconi und sein Umfeld die Niederlage mit einer Zuflucht zu extrem rechter Rhetorik noch abzuwenden. Bei einem Sieg der Linken würde Mailand rote Fahnen schwenkenden Zigeunern und Muslimen überlassen, verfiel Berlusconi in einen Duktus, die man eigentlich nur noch bei der äußersten Rechten erwartet hatte. Das Ergebnis, ein Erfolg des Linkskandidaten zeigte, dass ein solcher rassistischer Brachialwahlkampf nicht zum Erfolg führt.

Keine Aufbruchsstimmung bei den Berlusconi-Gegnern

 Die geringe Wahlbeteiligung machte aber auch deutlich, dass bei aller Ablehnung von Berlusconi von einer Aufbruchsstimmung seiner Gegner nicht die Rede sein kann. Das liegt auch daran, dass mehrere Mitte-Linksregierungen, die im vergangenen Jahrzehnt die Berlusconi-Ära unterbrochen hatten, keinen grundlegenden Politikwechsel einleiten konnten. Zudem konnte sich die Opposition bisher weder auf gemeinsame Ziele noch Kandidaturen einigen.

Daher bleibt abzuwarten, ob bei aller Berlusconi-Dämmerung die Zeit des Rechtsaußenpolitikers schon endgültig abgelaufen ist. Sicher ist allerdings, dass Berlusconi nicht mehr auf die schweigende Mehrheit in Italien zählen kann. Wie schnell seine Ära zu Ende geht, wird auch von der Positionierung der rassistischen Lega Nord abhängen, die in den letzten Monaten nach seinem Zerwürfnis mit Fini zu dessen engsten Bündnispartner gehörte. Sie konnte von dieser Liaison aber nicht mehr profitieren und schon gibt es dort Stimmen, von Berlusconi abzurücken.

Bereits die erste Berlusconi-Regierung wurde durch die Lega-Nord gestürzt. Gerade die momentane Schwäche der Lega Nord könnte dem Ministerpräsidenten jetzt aber einen Zeitgewinn bescheren. Wer bei Neuwahlen um den Wiedereinzug ins Parlament fürchten muss, ist nicht so schnell bereit, das alte Parlament aufzulösen. Da auch die Mitte-Links-Opposition auf schnelle Neuwahlen noch gar nicht vorbereitet ist, obwohl sie diese immer wieder fordert, könnte die Berlusconi-Dämmerung noch einige Zeit andauern.
 http://www.heise.de/tp/blogs/8/149921

Peter Nowak

Neues Bündnis gegen Rassismus gegründet

ENGAGEMENT Linke Gruppen wollen gegen Sarrazinismus und Rechtspopulismus kämpfen

Verschiedene linke Gruppen in Berlin wollen mit einem Bündnis gegen Rassismus, Sozialchauvinismus und Rechtspopulismus intervenieren. Bei einem Workshop am Samstag im Mehringhof hat sich der Zusammenschluss, an dem unter anderem die linken Gruppen Theorie und Praxis (Top), Avanti – Projekt undogmatische Linke, die Linksjugend solid sowie antifaschistische Gruppen beteiligt sind, inhaltlich vorbereitet.

Fabian Kunow, Mitarbeiter der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, beschäftigte sich beim Workshop mit den beiden rechtspopulistischen Parteien „Die Freiheit“ und die Pro-Bewegung. Nach seiner Einschätzung werden beide Gruppierungen nach der Wahl im September nicht ins Abgeordnetenhaus einziehen, könnten allerdings in einigen Bezirksparlamenten Sitze erlangen. Daher sei antifaschistische Bündnisarbeit gegen die Aktivitäten der rechten Parteien weiterhin nötig. Ein zentrales Aktionsfeld soll der Widerstand gegen den Antiislamkongress sein, den die Pro-Bewegung Ende August in Berlin plant.

Das Bündnis will sich auch mit dem „Rechtspopulismus der Mitte“ auseinandersetzen. Als Beispiel führt ein Sprecher die vom ehemaligen Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin entfachte Debatte an. Auf wiederholte Kampagnen gegen Hartz-IV-EmpfängerInnen ging die Neuköllner Erwerbslosenaktivistin Anne Seek ein. Sie verwies auf die kontinuierliche Arbeit, die es in dem Stadtteil unter anderem vor den Jobcentern gibt, um die Betroffenen zu unterstützen.

Garip Bali vom Verein Allmende stellte die Kampagne „Integration Nein Danke“ vor, mit der sich migrantische Gruppen gegen Forderungen nach Anpassung an die deutsche Leitkultur wenden. Dabei werden migrationspolitische Forderungen der Berliner Grünen ebenso kritisiert wie martialische Sprüche von Konservativen. „Bis zur letzten Patrone“ wolle er gegen die Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme kämpfen, hatte etwa der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer auf dem diesjährigen Aschermittwochsempfang seiner Partei gesagt.

So lautet auch das Motto der Auftaktveranstaltung des neuen Bündnisses am 2. Juni im Festsaal Neukölln in der Skalitzer Straße 130, wo auch die nächsten Aktivitäten vorgestellt werden.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2011%2F05%2F30%2Fa0133&cHash=2349dc0235

PETER NOWAK
Infos: http://gegenrassismusundsozialchauvinismus.wordpress.com

Ewiges Datengrab

Der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes verweigert Historikern, die zur NS-Zwangsarbeit forschen, den Zugang zu seinen Beständen.

Der Historiker Bernhard Bremberger, der an der Berliner Koordinierungsstelle für die Auskunftsersuchen von Zwangsarbeitern tätig ist, beschäftigt sich seit langem mit der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Derzeit ist seine Arbeit ins Stocken geraten. »Meine Forschung zur Zwangsarbeit in Neukölln könnte wesentlich weiter sein. Wegen der Blockade des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes, der keine Kopien für eine statistische Auswertung zur Verfügung stellt, wird die weitere Forschung auf Jahre oder gar Jahrzehnte ruhen müssen«, sagt er. So seien ihm sämtliche im Januar 2011 bestellten Kopien van Unterlagen verweigert worden. Dabei geht es um Dokumente zur Zwangsarbeit im Nationalsozialismus in Berlin, über den Gaswagenhersteller Gaubschat, den Transport von schwerstkranken Ausländern in das Sterbelager Blankenfelde-Nord sowie um Listen über Zwangsarbeiter in Neuköllner Krankenhäusern. Die Unterlagen befinden sich alle beim Internationalen Suchdienst (ITS).
 
Die zeitaufwendige Auswertung dieser Dokumente, so Bremberger, sei vor Ort nicht möglich. Daher sei der Zugriff auf Kopien für seine Arbeit zwingend notwendig. In einem Schreiben des ITS an Bremberger wird das mit Verweis auf die Benutzerordnung abgelehnt. »Routinemäßig haben wir die von Ihnen abgespeicherten Bestände mit jenen abgeglichen, die Sie im Mai 2009 auf CD-Rom erhalten haben. Sie baten 2009 um die Komplett­abgabe des Ordners 0139, was nicht genehmigt wurde, weil wir keine ganzen Bestände abgeben«, heißt es in der brieflichen Begründung. Bremberger sieht durch dieses Vorgehen wissenschaftliche Grundregeln verletzt.
 
Die Leitung des ITS missachte archivalische Prinzipien oder lege sie willkürlich aus, beanstandet Bremberger. So wurde eine Liste mit Namen von niederländischen Zwangsarbeitern als Bestand definiert, der nach der Benutzerordnung des ITS nicht herausgegeben werden darf. Aber nicht nur Bremberger kritisiert das Vorgehen des Dienstes. »Der ITS nimmt für sich in Anspruch, nach Willkür Entscheidungen über den dauerhaften Ausschluss von Benutzern zu treffen«, schreibt der Historiker Klaus Graf im Fachblog Archivalia. Er zitiert einen Passus aus der Benutzerordnung, der es dem ITS-Direktor erlaubt, »den weiteren Zugang zu den Archiven und Unterlagen nach freiem Ermessen« zu verweigern. Der ITS-Archivar Karsten Kühnel verteidigt diese Regeln: »Die Nutzungsbedingungen des Archivguts des ITS sind durch gemeinsamen Beschluss von diplomatischen Vertretern von 11 Regierungen, darunter auch Deutschland, festgelegt. Die Nichtbeachtung kann ein Ausschlusskriterium für eine künftige Archivnutzung sein.« Der ITS müsse einen Ermessensspielraum haben, um Nutzungsversuche durch Holocaustleugner unterbinden zu können. Warum seriöse Historiker wie Bremberger in ­ihrer Arbeit behindert werden, bleibt unbeantwortet. »Es scheinen Missverständnisse aufgekommen zu sein, was ein ›ganzer Aktenbestand‹ oder eine ›Sammlung‹ konkret bedeutet«, konzedierte die Pressesprecherin des ITS, Kathrin Flor, gegenüber der Jungle World. Der ITS werde diese archivarischen Grundbegriffe »noch einmal transparent für alle Forscher definieren«, versprach sie.
 
Der ITS entstand aus einem Suchbüro der Allierten, das 1943 beim Britischen Roten Kreuz in London eingerichtet worden war. 1947 fand es in Arolsen, knapp 30 Kilometer westlich von Kassel, sein Domizil. Kritik am Umgang des ITS mit den dort gelagerten mehr als 47 Millionen Dokumenten gibt es schon lange. 2006 bezeichnete Lothar Eberhardt von der Interessengemeinschaft der ehemaligen Zwangsarbeiter in Berlin den Dienst als »ewiges Datengrab«. Damals war Außenstehenden der Einblick in die Akten grundsätzlich verwehrt. Selbst Archivare der Gedenkstätte Buchenwald hatten keinen Zugang, obwohl mehr als 90  Prozent der Akten zum Konzentrationslager Buchenwald beim ITS lagern. Auf Drängen der USA und vieler Wissenschaftler wurde der ITS 2007 für die internationale Forschung unter Bedingungen geöffnet, die in der Benutzerordnung geregelt werden sollten. Für Bremberger ist diese eher eine Ausschlussordnung. Er will sich nun an den Internationalen Ausschuss wenden, das Aufsichtsgremium des ITS, das Ende Mai tagt.
http://jungle-world.com/artikel/2011/21/43262.html

Peter Nowak

Tariflohn statt Ein-Euro-Job

Ein-Euro-Jobbern stehen Tariflöhne zu, wenn sie nachweisen können, dass ihre Tätigkeit eine reguläre Arbeitsstelle verdrängt hat. Dieses Urteil des Bundessozialgerichts (Az: B 14 AS 98/10 R) ist eine gute Nachricht für viele Billiglöhner, die Arbeiten verrichten müssen, die früher tariflich bezahlt wurden.

 Geklagt hatte ein Mann aus Mannheim, der mehrere Wochen auf Ein-Euro-Basis als Umzugshelfer beschäftigt war. In zwei Instanzen war er mit seiner Klage gescheitert, nun hat er Recht bekommen. Das Bundessozialgericht verurteilte das beklagte Jobcenter, den Betrag von 149,28 Euro nachzuzahlen. Bei der Arbeitsgelegenheit fehlte das Merkmal der Zusätzlichkeit, lautete die Begründung der Richter.

Das Urteil könnte eine Klagewelle auslösen. Schließlich geht selbst der Bundesrechnungshof davon aus, dass bei etwa der Hälfte aller Ein-Euro-Jobs die Voraussetzungen für eine staatliche Förderung fehlen. In vielen Fällen lässt sich unschwer nachweisen, dass damit tariflich bezahlte Arbeitsplätze ersetzt wurden. Oft wird diese Absicht nicht einmal notdürftig kaschiert, obwohl offiziell Ein-Euro-Jobs nur bei Stellen Anwendung finden sollten, die es sonst gar nicht geben würde. Darauf hat der Bezirksvorsitzende der IG BAU Berlin, Erhard Strobel, hingewiesen. Seine Gewerkschaft bietet Ein-Euro-Jobbern Rechtsschutz beim Einklagen von Tariflöhnen an.

Das Kriterium der Zusätzlichkeit wurde nicht ernst genommen, weil die Jobcenter und die Beschäftigungsindustrie nicht erwarteten, dass Ein-Euro-Jobber Tariflöhne einklagen würden und auch noch Recht bekommen. Das Urteil ist eine Ermutigung für die Erwerbslosengruppen, die seit Jahren gegen Ein-Euro-Jobs kämpfen. Aber Erhard Strobel hat mit Recht darauf hingewiesen, dass Ein-Euro-Jobs auch ein Angriff auf die Beschäftigten sind. Denn damit wird eine Abwärtsspirale bei den Löhnen aller Beschäftigten in Gang gesetzt. Daher sollte das Urteil für weitere Klagen und öffentlichen Druck genutzt werden. Vielleicht kann es auch dazu beitragen, dass Ein-Euro-Jobber sich organisieren. Denn es zeigt, sie sind längst nicht so machtlos, wie sie in den Medien oft dargestellt werden.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/198534.tariflohn-statt-ein-euro-job.html

Peter Nowak

Kein Windrad ohne Stahlindustrie

Eine Konferenz widmete sich dem Verhältnis von alter und neuer Ökonomie

 Die Beschäftigten in Dienstleistungssektor leiden unter Arbeitszeitverdichtung und niedrigen Löhnen. Im Gegensatz zur »alten ökonomie« konnten hier Gewerkschaften bislang weit weniger Forderungen durchsetzen.

Im Foyer des Berliner Museums für Kommunikation vermischt sich neoklassische Architektur mit der Leuchtschrift der modernen Technik. Kein schlechter Ort, um über das Verhältnis von alter und neuer Ökonomie zu sprechen. Das war Thema einer Tagung, zu der die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung am Montagabend eingeladen hatten. Ausgangspunkt war der Befund, dass die gesellschaftliche Wertschätzung von Dienstleistungsarbeit gering sei, obwohl heute mehr als zwei Drittel aller Beschäftigten in Dienstleistungsberufen arbeiteten und zu mehr als 70 Prozent der wirtschaftlichen Wertschöpfung beitragen.

 Erfahrungen am Arbeitsplatz belegen das. Die Kollegen würden oft gar nicht wahrgenommen oder gar als Fußabtreter benutzt, wenn die Kunden schlechte Laune haben, klagte Karstadt-Betriebsrätin Angelika Ebeling. Aus ihrer Sicht sind die Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten und die Ausweitung von Teilzeitarbeit zwei Hauptprobleme.

Die Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Pflegebereich sind kaum besser. Arbeitszeitverdichtung und niedrige Löhne sind die zentralen Stichworte für die Leiterin des Fachbereichs Gesundheit und Soziale Dienste bei ver.di, Ellen Paschke. Einen Grund für die Missstände sieht sie in der weitverbreitenden Vorstellung, dass »Tätigkeiten am Menschen« wenig produktiv seien. Zudem sind in diesem Sektor viele Frauen beschäftigt, wodurch die Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern aufrechterhalten werde.

SPD-Chef Sigmar Gabriel wandte sich bei der Tagung gegen die Unterteilung in alte und neue Ökonomie: Kein Windrad könne ohne Stahlindustrie auskommen. Auch für die deutsche Batterieindustrie, die in den 80er Jahren weitgehend nach Asien und Lateinamerika abgewandert sei, sieht Gabriel durch die Debatte über eine ökologische Haushaltsführung Rückkehroptionen.

Ansonsten sparte Gabriel nicht mit Polemik gegen den Wirtschaftskonkurrenten China, dem er vorwarf, sich »mit daher gelaufenen Kriegsherrn in Afrika« zu verbinden. Dafür vermissten Teilnehmer konkrete Vorhaben, wie Misständen im Dienstleistungssektor abgeholfen werden könne. Sie haben nicht vergessen, dass die von Gabriel nun kritisierten Privatisierungen und Flexibilisierung der Arbeitszeit unter einer rot-grünen Bundesregierung begonnen haben.

Statt Abwertung der Konkurrenz in Asien vertrat Betriebsrätin Ebeling eine solidarische Vision: Die Produzenten in den Ländern des globalen Südens müssten mit den Beschäftigten in hiesigen Kaufhallen in einer gesellschaftlichen Bewegung zusammenfinden. Unter dem Stichwort »fairer Handel und fairer Verkauf« sollten die Interessenbeider Seiten zum Tragen kommen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/198537.kein-windrad-ohne-stahlindustrie.html

Peter Nowak

Obrigkeitsstaat in Hessen

»Kannst du Dir vorstellen, dass an Deiner Schule nicht Teamgeist und Kollegialität sondern Günstlingswirtschaft, Hofschranzen- und Denunziantentum zu Organisationsmaximen erhoben werden?« Diese erstaunliche Frage findet sich in einem Flugblatt, das die hessische GEW zurzeit verteilt. Er ist Teil ihrer Kampagne »Wir wollen keine Kaiser-Wilhelm-Schule«, mit der die Gewerkschaft gegen ein von CDU/FDP-Landesregierung geplantes Schulgesetz mobilisiert. Der GEW-Landesvorsitzende Jochen Nagel kritisiert den mit der Ausrichtung der Schulen an betriebswirtschaftlichen Kriterien verbundenen Demokratieabbau. »Pädagogische Kriterien sollen weiter entwertet und demokratische, kooperative Strukturen verdrängt werden«, moniert der Gewerkschafter. Nach dem Entwurf soll die Macht der Schulleiter gestärkt werden. Begriffe wie kooperative Arbeitsweise, psychologisches Einfühlungsvermögen oder pädagogische Freiheit fehlen hingegen in dem Entwurf.

Es wäre aber zu einfach, in dem Vorhaben der hessischen Landesregierung nur die Handschrift einer CDU zu sehen, die sich von Alfred Dregger bis zu Roland Koch stets als Bollwerk gegen eine Demokratisierung der Schule begriffen hat. Viel interessanter ist die Verbindung von betriebswirtschaftlicher Ausrichtung und obrigkeitsstaatlichen Strukturen. Da kann noch so oft betont werden, dass flache Hierarchien für den modernen Kapitalismus von Vorteil seien. Wo es um die Durchsetzung von Kapitalverwertung geht, kommen demokratische Prozesse ins Hintertreffen. Das zeigt sich bei der Privatisierung von öffentlichem Eigentum ebenso wie in der Zurichtung von Schulen und Hochschulen für Wirtschaftsinteressen. Es ist erfreulich, dass dieser Zusammenhang in der GEW-Kampagne hergestellt wird. Es muss sich zeigen, ob sie genügend Kraft dafür besitzt, die Regierungspläne zu behindern.

 http://www.neues-deutschland.de/artikel/198540.obrigkeitsstaat-in-hessen.html

Peter Nowak

Aktionstage und Festival von Flüchtlingen

Vom 9. bis 11. Juni wollen Flüchtlingsgruppen ihren Protest nach Berlin tragen. Mit Aktionstagen und einer bundesweiten Konferenz wollen sie vor allem für die Abschaffung der Residenzpflicht und des Asylbewerberleistungsgesetz demonstrieren. In diesen beiden Gesetzen sehen die Aktivisten zwei zentrale Regelwerke, die Flüchtlinge in Deutschland an ihrer Bewegungsfreiheit hindern und diskriminieren.

Mit der Aktion knüpft das Bündnis »Abolish«, das die Aktionstage organisiert, an zahlreiche lokale Proteste an, die in den vergangenen Monaten von Flüchtlingsgruppen organisiert worden sind. »Es ist an uns, von der Basis aus politischen Druck auf die Verantwortlichen auszuüben«, heißt es in dem Aufruf zu den Aktionstagen.

Schon am 27. Mai organisieren Flüchtlingsgruppen auf dem Schlossplatz von Münster das Grenzfrei-Festival. Auch dort wird es neben Musik und Kultur Arbeitsgruppen zu antirassistischen Themen geben.

www.kampagne-abolish.info

www.grenzfrei-festival.org

www.neues-deutschland.de/artikel/198393.bewegungsmelder.html

Peter Nowak

Meine DNA bleibt hier

Anders als gegen die Vorratsdatenspeicherung regt sich gegen DNA-Datenbanken bislang kaum Protest. Ein Aktionsbündnis will das nun ändern

Die Lobby für den Datenschutz wächst in Deutschland. Gegen die Vorratsdatenspeicherung sind in den letzten Jahren Zehntausende auf die Straße gegangen. Die Expansion der DNA-Datenbanken scheint dagegen nur wenige zu stören. Ein Bündnis bürgerrechtlicher Gruppen will das jetzt ändern. Pünktlich zum Tag der Menschenrechte, am 23. Mai, starteten sie eine Kampagne „wider die DNA-Sammelwut“. Dem Bundesjustizministerium wurde ein offener Brief übergeben, in dem einige zentrale Forderungen aufgeschrieben sind. Dazu gehört eine bessere Kontrolle und Beschränkung der DNA-Datenbanken beim Bundeskriminalamt (BKA), eine Revision des umstrittenen Gesetzes von 2005, das zu deren drastischen Expansion führte, sowie ein Verbot, mittels DNA-Tests Verwandtschaftsbeziehungen und persönliche Eigenschaften zu ermitteln.

Kriminalistische Wunderwaffe des 21. Jahrhunderts?

Susanne Schultz vom Gen-ethischen Netzwerk, das federführend an der Kampagne beteiligt ist, nennt zwei Zahlen, die die Expansion der DNA-Banken verdeutlichen. „In Deutschland sind mittlerweile über 700.000 Personendatensätze und 180.000 Spurenprofile gespeichert.“ Damit liegt das Land an fünfter Stelle der DNA-Sammelstaaten; an der Spitze steht Großbritannien, wo 1995 die weltweit erste nationale Datenbank eingerichtet wurde. Mittlerweile seien dort etwa zehn Prozent der Bevölkerung in Datenbanken erfasst,erklärt Eric Töpfer von der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP. Immer wieder machen in Großbritannien, aber auch in den Niederlande, Politiker Schlagzeilen, in dem sie eine flächendeckende Erfassung aller Neugeborenen fordern. Die Vorstöße sorgen regelmäßig für Empörung und werden schnell wieder zurückgezogen.

Doch es gibt durchaus auch Akzeptanz für solche Forderungen. Schließlich gibt die DNA-Analyse als kriminalistische Wunderwaffe des 21. Jahrhunderts. Auch Organisationen  wie die verdi-Jugend, die die Expansion der Datenbanken durchaus kritisch sehen, wollen auf die Untersuchungsmethode nicht ganz verzichten, wenn sie doch der Verbrechensaufklärung dient. Susanne Schultz kennt diese Argumente und weiß, wie schwer dagegen zu argumentieren ist. Dabei sind unter den Delikten, die über DNA-Datenbanktreffer beim BKA ermittelt wurden, nur vier Prozent Kapitalverbrechen. Gesammelt wird dagegen immer weiter: „DNA-Proben werden bei jeder sich bietenden Gelegenheit entnommen, etwa bei Wohnungseinbrüchen, Diebstählen oder sogar Fällen von Beleidigung, und oft auch im Rahmen von Massengentests“, heißt es im Offenen Brief.

„Unseres Erachtens wiegen selbst einige spektakuläre Erfolge die Gefahren der Totalüberwachung durch DNA-Datenbanken nicht auf“, fasst Schultz die Position des Bündnisses zusammen. Sie erinnert daran, dass noch in den neunziger Jahren feministische Antigewalt-Gruppen die Einrichtung der DNA-Datenbank beim BKA als Mittel zur Aufklärung von Sexualdelikten abgelehnt und als trojanisches Pferd für den Überwachungsstaat bezeichnet haben. Die Entwicklung der letzten Jahre gibt ihnen Recht. „Immer häufiger wird bei der Aufklärung von Einbruchs- oder Sachbeschädigungsdelikten auf DNA-Analysen zurück gegriffen“, sagt Eric Töpfer.

Wie schwer es ist, einmal gespeicherte Daten wieder löschen zu lassen, zeigte die Klage von zwei Briten, die vor Gericht gezogen sind, weil ihre DNA gespeichert wurde, obwohl sie nie wegen einer Straftat verurteilt wurden. Der Europäische Gerichtshof entschied zwar, dass die Speicherung Unschuldiger gegen die Menschenrechte verstößt. Doch hat die britische Regierung die Daten nicht vernichtet, sondern bastelt an einem Gesetz, das die Datenerfassung Unschuldiger zumindest zeitlich befristet ermöglicht. Deshalb wird in dem Offenen Brief der Datenschützer auch ein Ausstieg aus dem globalen Datenverbund gefordert. Damit wenden sich die Bürgerrechtler gegen Pläne, bis Ende August dieses Jahres sämtliche europäischen Datenbanken zu vernetzten.

Kein Kampf gegen Windmühlen

Auf Veranstaltungen werden die Aktivisten schon mal gefragt, ob sie angesichts der fortschreitenden technischen Möglichkeiten nicht auf verlorenen Posten stehen. Diesen Pessimismus teilt Schultz nicht. Die Bewegung gegen die Vorratsdatenspeicherung zeige, dass auch in einer gläsernen Gesellschaft Datenschutzforderungen nicht auf taube Ohren stießen. Schwieriger ist heute schon eine generelle Kritik an Biomaterialbanken. Die Fortschritte in der Medizin haben eine Kritik an Gendateien und Genomanalysen, die noch vor 20 Jahren  verbreitet war, weitgehend marginalisiert. Die Sorge vor dem Ausverkauf der Ressource Mensch ist durchaus noch vorhanden, spielt aber kaum eine politische Rolle. Die Kampagne gegen die DNA-Sammelwut könnte hier zur Sensibilisierung beitragen. Schließlich gibt es kaum individuelle Möglichkeiten, biologische Daten zu schützen. Man kann sie weder verschlüsseln wie eine Email, noch einfach ausschalten wie ein Handy.

www.freitag.de/politik/1120-meine-dna-bleibt-hier

Peter Nowak

Daten, in Watte gepackt

ERBGUT Das Gen-ethische Netzwerk will mit einer Kampagne über die „DNA-Sammelwut“ des Bundeskriminalamts informieren. Mit von der Partie: ein Wattestäbchen auf zwei Beinen
Ein wandelndes Wattestäbchen sorgte am Montagvormittag in der Mohrenstraße in Mitte für Staunen unter den PassantInnen. Die Verkleidung war Teil einer Performance, mit der das Gen-ethische Netzwerk und andere zivilgesellschaftliche Organisationen vor dem Bundesjustizministerium ihre Kampagne „DNA-Sammelwut stoppen“ starteten. In einem offenen Brief, den ein Beamter des Ministeriums entgegennahm, forderten die AktivistInnen eine bessere Kontrolle und Beschränkung der DNA-Datenbanken beim Bundeskriminalamt (BKA), eine Revision des Gesetzes von 2005, das zu deren drastischer Expansion führte, sowie ein Verbot, Verwandtschaftsbeziehungen und persönliche Eigenschaften durch DNA-Tests zu ermitteln.

Susanne Schultz vom Gen-ethischen Netzwerk verdeutlicht das Ausmaß der Sammelei mit einigen Zahlen: „Seit der Einrichtung der zentralen DNA-Datenbank beim BKA im Jahr 1998 wurden mehr als 700.000 Personendatensätze und 180.000 Spurenprofile gespeichert.“ Aus der Sicht der Datenschützerin soll hier ein „präventiver Überwachungsstaat“ etabliert werden, „in dem jeder, gegen den ermittelt wurde, mittels biologischer Spuren überwacht werden soll“. Nur 4 Prozent der Delikte, die über DNA-Datenbanktreffer ermittelt wurden, seien Kapitalverbrechen gewesen, so Schultz. Sie würden aber medial herausgehoben, um die Akzeptanz der Speicherpraxis in der Bevölkerung zu erhöhen.

Die Kampagne des Netzwerks erinnert dagegen an rechtsstaatliche Grundsätze: Bei Vernehmungen werde zu wenig beachtet, dass DNA nur auf richterliche Anordnung entnommen werden darf, betont Schultz. Sie plädiert für vorausschauenden Datenschutz, auch wenn man seine DNA nicht verschlüsseln oder zu Hause lassen kann. „Die beste DNA ist die, die nicht abgegeben wurde.“

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2011%2F05%2F24%2Fa0151&cHash=cdfc22d575

PETER NOWAK