Dokumente unter Verschluss

Erschwert eine der bedeutendsten Sammlungen zu NS-Verbrechen die Recherchen zu Zwangsarbeit und Holocaust? Diesen schweren Vorwurf richtet der Berliner Historiker Bernhard Bremberger an den Internationalen Suchdienst (ITS) in Bad Arolsen.

Der ITS entstand aus einem Suchbüro der Alliierten, das 1943 beim Britischen Roten Kreuz in London eingerichtet worden war. Lange Zeit war Außenstehenden der Einblick in die Akten grundsätzlich verwehverwehrt. Selbst Archivare der Gedenkstätte Buchenwald hatten keinen Zugang, obwohl mehr als 90 Prozent der Akten zum Konzentrationslager Buchenwald beim ITS lagern. Erst auf Drängen der USA und vieler Wissenschaftler wurde der ITS 2007 für die internationale Forschung geöffnet.
„!Elektronische Kopien des Gesamtbestandes an einzelne Staaten werden problemlos herausgegeben. Wenn es aber um einzelne, nicht in Institutionen eingebundene Forscher geht, betreibt der IST weiterhin seine alte  Politik“, klagt Bremberger. So seien ihm sämtliche im Januar 2011 bestellten Kopien van Unterlagen verweigert worden.
Gegenüber ND schildert der Historiker die Auswirkungen dieser Restriktionen auf seine  Forschungsarbeit. Im letzten Jahr ging es beispielsweise über den Mord an kranken  Zwangsarbeitern. „Ein entsprechendes Dokument, das dies erstmals belegt,   wurde mir von Arolsen vorenthalten. Ich konnte das Ganze bei einem Vortrag nicht belegen und daher auch nicht mit entsprechendem Nachdruck in  die Forschung einbringen“.
Aktuell forscht  er zu Zwangsarbeit in Neukölln. „Durch  die zurückgehaltenen Listen könnte die Zahl der hier bekannten Zwangsarbeiterlager um ein vielfaches steigen“, so Bremberger. Auch für die Holocaustforschung wichtige Informationen  über die Zwangsarbeit beim Gaswagenhersteller Gaubschat würden  einstweilen unter Verschluss bleiben. Ein Schreiben  Brembergers  an die Genfer Zentrale des Roten Kreuzes blieb  bisher ohne  Antwort.
Er ist nicht der einzige Kritiker der ITS-Nutzerordnung. So moniert der Historiker Klaus Graf im Fachblog  Archivalia: „Der ITS nimmt für sich in Anspruch, nach Willkür Entscheidungen über den dauerhaften Ausschluss von Benutzern zu treffen“  Graf zitiert einen Passus aus der Benutzerordnung, der es dem ITS-Direktor erlaubt, „den weiteren Zugang zu den Archiven und Unterlagen nach freiem Ermessen“ zu verweigern.
Die Pressesprecherin des ITS Kathrin Flor erklärte gegenüber ND, ihr sei nur  Brembergers Beschwerde über die Nutzerordnung bekannt. Sie kündigte an, „die archivarischen Grundbegriffe für alle Forscher transparenter definieren“ zu wollen, weil Missverständnisse aufgekommen zu sein scheinen, was ein ganzer Aktenbestand oder eine Sammlung konkret bedeute. „Es ist üblich, dass ein Archiv keine ganzen Aktenbestände oder Sammlungen abgibt. Vielmehr erhält ein Historiker Kopien entsprechend seinem Forschungsanliegen“, betont Flor.
Die Bundesregierung besitzt keine Kopien der beim ITS gespeicherten Datensätze, die sie für die Forschung zur Verfügung stellen  könnte,  erklärte ein Sprecher    als Antwort auf eine kleine Anfrage der  innenpolitischen Sprecherin der Linkspartei.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/206290.dokumente-unter-verschluss.html

Peter Nowak

Ewiges Datengrab

Der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes verweigert Historikern, die zur NS-Zwangsarbeit forschen, den Zugang zu seinen Beständen.

Der Historiker Bernhard Bremberger, der an der Berliner Koordinierungsstelle für die Auskunftsersuchen von Zwangsarbeitern tätig ist, beschäftigt sich seit langem mit der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Derzeit ist seine Arbeit ins Stocken geraten. »Meine Forschung zur Zwangsarbeit in Neukölln könnte wesentlich weiter sein. Wegen der Blockade des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes, der keine Kopien für eine statistische Auswertung zur Verfügung stellt, wird die weitere Forschung auf Jahre oder gar Jahrzehnte ruhen müssen«, sagt er. So seien ihm sämtliche im Januar 2011 bestellten Kopien van Unterlagen verweigert worden. Dabei geht es um Dokumente zur Zwangsarbeit im Nationalsozialismus in Berlin, über den Gaswagenhersteller Gaubschat, den Transport von schwerstkranken Ausländern in das Sterbelager Blankenfelde-Nord sowie um Listen über Zwangsarbeiter in Neuköllner Krankenhäusern. Die Unterlagen befinden sich alle beim Internationalen Suchdienst (ITS).
 
Die zeitaufwendige Auswertung dieser Dokumente, so Bremberger, sei vor Ort nicht möglich. Daher sei der Zugriff auf Kopien für seine Arbeit zwingend notwendig. In einem Schreiben des ITS an Bremberger wird das mit Verweis auf die Benutzerordnung abgelehnt. »Routinemäßig haben wir die von Ihnen abgespeicherten Bestände mit jenen abgeglichen, die Sie im Mai 2009 auf CD-Rom erhalten haben. Sie baten 2009 um die Komplett­abgabe des Ordners 0139, was nicht genehmigt wurde, weil wir keine ganzen Bestände abgeben«, heißt es in der brieflichen Begründung. Bremberger sieht durch dieses Vorgehen wissenschaftliche Grundregeln verletzt.
 
Die Leitung des ITS missachte archivalische Prinzipien oder lege sie willkürlich aus, beanstandet Bremberger. So wurde eine Liste mit Namen von niederländischen Zwangsarbeitern als Bestand definiert, der nach der Benutzerordnung des ITS nicht herausgegeben werden darf. Aber nicht nur Bremberger kritisiert das Vorgehen des Dienstes. »Der ITS nimmt für sich in Anspruch, nach Willkür Entscheidungen über den dauerhaften Ausschluss von Benutzern zu treffen«, schreibt der Historiker Klaus Graf im Fachblog Archivalia. Er zitiert einen Passus aus der Benutzerordnung, der es dem ITS-Direktor erlaubt, »den weiteren Zugang zu den Archiven und Unterlagen nach freiem Ermessen« zu verweigern. Der ITS-Archivar Karsten Kühnel verteidigt diese Regeln: »Die Nutzungsbedingungen des Archivguts des ITS sind durch gemeinsamen Beschluss von diplomatischen Vertretern von 11 Regierungen, darunter auch Deutschland, festgelegt. Die Nichtbeachtung kann ein Ausschlusskriterium für eine künftige Archivnutzung sein.« Der ITS müsse einen Ermessensspielraum haben, um Nutzungsversuche durch Holocaustleugner unterbinden zu können. Warum seriöse Historiker wie Bremberger in ­ihrer Arbeit behindert werden, bleibt unbeantwortet. »Es scheinen Missverständnisse aufgekommen zu sein, was ein ›ganzer Aktenbestand‹ oder eine ›Sammlung‹ konkret bedeutet«, konzedierte die Pressesprecherin des ITS, Kathrin Flor, gegenüber der Jungle World. Der ITS werde diese archivarischen Grundbegriffe »noch einmal transparent für alle Forscher definieren«, versprach sie.
 
Der ITS entstand aus einem Suchbüro der Allierten, das 1943 beim Britischen Roten Kreuz in London eingerichtet worden war. 1947 fand es in Arolsen, knapp 30 Kilometer westlich von Kassel, sein Domizil. Kritik am Umgang des ITS mit den dort gelagerten mehr als 47 Millionen Dokumenten gibt es schon lange. 2006 bezeichnete Lothar Eberhardt von der Interessengemeinschaft der ehemaligen Zwangsarbeiter in Berlin den Dienst als »ewiges Datengrab«. Damals war Außenstehenden der Einblick in die Akten grundsätzlich verwehrt. Selbst Archivare der Gedenkstätte Buchenwald hatten keinen Zugang, obwohl mehr als 90  Prozent der Akten zum Konzentrationslager Buchenwald beim ITS lagern. Auf Drängen der USA und vieler Wissenschaftler wurde der ITS 2007 für die internationale Forschung unter Bedingungen geöffnet, die in der Benutzerordnung geregelt werden sollten. Für Bremberger ist diese eher eine Ausschlussordnung. Er will sich nun an den Internationalen Ausschuss wenden, das Aufsichtsgremium des ITS, das Ende Mai tagt.
http://jungle-world.com/artikel/2011/21/43262.html

Peter Nowak