Bis Mitte Dezember hatten Gzim und Ramiz Berisha den Alltag von Teenagern in Hannover. Sie gingen zur Schule und hatten einen großen Freundeskreis. Doch der 16. Dezember veränderte ihr Leben grundlegend. In den frühen Morgenstunden wurden die 13- und 15-jährigen Schüler mit ihren Eltern in den Kosovo abgeschoben. Von dort waren diese Anfang der 90er Jahre geflohen.
Dass Jugendliche, die in Deutschland geboren wurden und hier integriert sind, in die Herkunftsländer ihrer Eltern abgeschoben werden, ist kein Einzelfall. Allein am 16. Dezember wurden mit der Familie Berisha insgesamt 125 Menschen aus Niedersachsen zwangsweise in die Balkanländer deportiert. Darunter waren mehrere Kinder und Jugendliche, die in Deutschland geboren wurden.
»Die Praxis ist durch die Gesetze in Deutschland leider gedeckt«, erklärt Anita Burchardt. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern bekommt ein Mensch mit der Geburt in Deutschland nicht die hiesige Staatsbürgerschaft. Burchardt ist Pressereferentin des Vereins Amaro Drom. Dort hatten sich auch Gzim und Ramiz Berisha engagiert. Der Verein hat jetzt gemeinsam mit der Romaorganisation Amaro Drom eine Onlinepetition für eine Rückkehr der beiden Jungen und ihr Bleiberecht gestartet. Mittlerweile wurde sie von über 2000 Menschen unterzeichnet.
»Wir wollen erreichen, dass die beiden Schüler in ihr altes Leben nach Deutschland zurückkehren, aber wir wollen an Hand ihres Schicksals auch darauf hinweisen, dass zurzeit im ganzen Bundesgebiet in Deutschland geborene Jugendliche Angst haben müssen, von heute auf morgen in ein Land abgeschoben zu werden, zu dem sie keinen Bezug haben und dessen Sprache sie nicht kennen«, betont Burchardt.
Bei den in Deutschland geborenen Kindern geduldeter Flüchtlinge fällt die Duldung weg, wenn die Herkunftsländer ihrer Eltern als sicher eingestuft wurden. Die neue Abschiebewelle ist die Folge einer Gesetzesänderung, mit der auch Kosovo zum sicheren Herkunftsland erklärt wurde. »Sichere Herkunftsstaaten sind eine politisch begründete Erfindung, die durch eine politisch-juristische Praxis anschließend vermeintlich legitimiert wird«, kritisiert der Vorsitzende von Ternengo Drom e Romengo, Nino Novaković.
Auch ohne neu geplante Blockupy-Aktionen will die Mainmetropole das Zentrum für sozialen Widerstand bleiben. Flüchtlings-, Mieter- und Studierendengruppen sowie Beschäftigte aus 17 Betrieben im Sozialbereich wollen gemeinsam die Politik in der Stadt prägen.
Im Anschluss an eine Flüchtlings- und Antirassismusdemonstration wurde in der Mainmetropole Frankfurt ein leerstehendes Haus der städtischen Wohnungsgesellschaft ABG-Holding besetzt. Schon wenige Stunden später wurde es von der Polizei unter Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray geräumt. Das Projekt Shelter initiierte die Besetzung und will den Kampf um ein selbstverwaltetes Zentrum für Geflüchtete auch nach der Räumung fortsetzten. Seit Monaten wirbt die Gruppe für das Zentrum. Zugleich ist sie Teil eines neuen Vernetzungsprozesses in der Stadt, an dem auch Mieter- und Studierendengruppen sowie Beschäftigte aus 17 Betrieben im Sozialbereich beteiligt sind. »Wesentliche Themen und Aktivitäten sind die gegenseitige Unterstützung bei der Organisierung in den Betrieben, der Austausch zwischen bestehenden Betriebsgruppen, der gegenseitige Besuch von Betriebsversammlungen und die Information übe die Arbeitssituation in den Betrieben«, erklärt eine Mitbegründerin des Netzwerks den Zweck.
Wenn Beschäftigte sanktioniert oder gekündigt werden, organisiert das Netzwerk Solidarität. Es will auch rumänische Wanderarbeiter, die besonders im Osten Frankfurts täglich auf Arbeitssuche sind, über ihre Rechte informieren. Kooperationspartner ist dabei die Frankfurter Beratungsstelle »Faire Mobilität« des DGB. »Viele rumänische Bauarbeiter haben Interesse, deutsch zu lernen. Tagsüber müssen sie arbeiten, aber ein Abendkurs wäre sicher ein interessantes Angebot«, meint Beraterin Letitia Matarea-Türk.
Die Zusammenarbeit so unterschiedlicher Gruppen hatte durch ein politisches Großevent Anschub bekommen. »Die Blockupy-Proteste, die in den letzten Jahren Frankfurt zum Zentrum eines sogar über Deutschland hinausgehenden Widerstands gegen die Krisenpolitik gemacht haben, brachten uns wichtige Impulse«, betont der Erwerbslosenaktivist Harald Rein gegenüber »nd«. Die Aktionen sollten Frankfurt und die Rhein-Main Region zu einem »Wendland des antikapitalistischen Protests« machen. Wie das Zwischenlager Gorleben das Wendland zum Zentrum des bundesweiten Anti-AKW-Protests machte,
sollte die Europäische Zentralbank (EZB) die Antikrisenproteste in Frankfurt bündeln. Das Konzept ging auf. An mehreren Aktionstagen beteiligten sich Tausende Gegner der europäischen Krisenpolitik, zuletzt am 18. März 2015.
Dieser Tag stellte für die Blockupy-Bewegung zugleich eine Zäsur dar. Nach der Neueröffnung der EZB war klar, dass es eine weitere Mobilisierung in der bisherigen Form nicht geben wird. Mit der regionalen Vernetzung will man jetzt neue Strukturen schaffen. An einem stadtpolitischen Ratschlag »Frankfurt für alle!« beteiligten sich Anfang Dezember zahlreiche Initiativen. Dort wurde auch die Demonstration am Tag der Menschenrechte organisiert, die in die kurze Besetzung des leerstehenden Hauses mündete. Als Selbstverständnis formuliert die regionale Koordinierung: »Wir sehen die hier ankommenden Geflüchteten nicht als Konkurrent*innen im Zugang zu öffentlichen Leistungen, sondern als Mitstreiter*innen im Kampf für soziale Gerechtigkeit, denen unsere uneingeschränkte Solidarität gilt.«
Der neue Streit über Höcke, hinter den sich AfD-Vize stellte, entscheidet auch darüber, ob die Partei ein potentieller Koalitionspartner der Union oder eine rechte Systemopposition wird
In den letzten Wochen war er der Lautsprecher der AfD[1]. Auf den von der Partei initiierten Demonstrationen in Erfurt und auch in anderen, vor allem ostdeutschen, Städten war er der Publikumsmagnet. Nun gibt sich der Noch-Vorsitzende der Thüringer AFD, Björn Höcke, medienscheu:
Es gab viele Nachfragen zur Reaktion von Björn Höcke auf die Pressemitteilung des Bundesvorstands heute. Björn Höcke hat es bisher immer so gehandhabt, dass er parteiinterne Angelegenheiten auch intern geklärt hat – und nicht über die Medien. Das möchte er auch weiterhin so handhaben. Er hat bereits ausdrücklich Fehler eingeräumt. Alles Weitere möchte er persönlich mit seinen Parteifreunden besprechen. An dieser Stelle würden wir aber gerne ausdrücklich darauf hinweisen, dass die mediale Berichterstattung über die heutige Bundesvorstandssitzung, die nahelegt, dass Herr Höcke die Partei verlassen soll, nicht richtig ist: Es gab keinerlei Parteiordnungsverfahren gegen Björn Höcke und auch keine Mehrheit dafür.Facebookseite[2] von Björn Höcke
In den wenigen Sätzen finden sich gleich mehrere Geschichtsklitterungen. Dass Höcke parteiinterne Angelegenheiten immer parteiintern geklärt hat, gilt zumindest für die Ägide des Parteivorsitzenden Lucke keineswegs. Schließlich hat er die Erfurter Resolution[3] formuliert, eine klare Kampfansage des rechten Flügels der Partei an den damaligen Vorstand. Allein die Namen der Erstunterzeichner machen deutlich, dass Höcke in der AfD keineswegs isoliert ist, noch weniger in der möglichen Wählerbasis der Partei.
Daher wird sich die AfD gut überlegen, ob sie Höcke wirklich aus der Partei wirft. Denn ein solcher Schritt wäre mit Flügelkämpfen bis zur Spaltung verbunden. Höcke hätte rechts von der AfD genügend Optionen für eine Fortsetzung der rechten Karriere. Selbst ein Eintritt in die NPD wäre denkbar und könnte der Partei zumindest in Ostdeutschland helfen, sich gegenüber der AfD als das rechte Original zu profilieren. Wahrscheinlicher wäre aber ein Mitmischen Höckes in den verschiedenen Versuchen von Pegida-Gründern, sich auch parteipolitisch neben der AfD zu profilieren.
Das alte Misstrauen zwischen einer Partei und einer Bewegung, das die Linke seit Jahrzehnten prägt, ist jetzt auch ein Phänomen, das die rechte Szene beschäftigt. Das Misstrauen bei der rechtspopulistischen Basisbewegung ist groß, dass die AfD Pegida und ähnliche Straßenproteste jetzt vereinnahmen will, um sich einen Platz im Parlament zu sichern und dann bei der ersten sich bietenden Gelegenheit mit der Union in Kooperation zu treten.
Selbst Höcke war für die Union als Koalitionspartner denkbar
Solche Überlegungen sind sehr real. In der thüringischen CDU gab es nach ihrer Wahlniederlage durchaus Überlegungen, mit der AfD zu kooperieren[4], um so eine Regierung unter Führung der Linkspartei zu verhindern.
Höcke war sogar kurzzeitig als Justizminister von Thüringen im Gespräch. Diese Pläne wurden nicht weiter verfolgt, weil die dafür nötigen Abweichler aus der SPD oder den Grünen im Landtag nicht zu finden waren, die unter allen Umständen eine Regierung unter den Linkssozialdemokraten Ramelow verhindern wollten. Abgehalferte Sozialdemokraten wie der rechte Sozialdemokrat Stefan Sandmann[5], die mit der Regierung Ramelow die DDR wieder auferstanden wähnten, wären dazu bereit gewesen, hatten aber kein Mandat.
Auch außerhalb der Union gab es schon bei den ersten Wahlerfolgen der Union Stimmen, die die AfD in ein Bündnis einbauen wollen. Sie stellen zunächst erfreut fest, dass mit der Einzug der AfD in mehrere Landtagen eine Koalition links der Union schwieriger werde, weil sie schlicht keine Mehrheit mehr habe. Solche Überlegungen spielen auch bei vielen AfD-Politikern eine große Rolle. Sie sehen sich nicht als Daueropposition, sie wollen mitregieren – und das wollen sie sich auch von Björn Höcke nicht vermiesen lassen.
Warum der Front National der AfD zu links ist
Hier besteht auch der Hauptdissens innerhalb der AfD. Es geht weniger um Inhalte, sondern um die Verpackung. Die AfD ist auch nach dem Abgang von Lucke und Henkel im Kern eine wirtschaftsliberale Partei. Dies passt aber nicht zu der Klientel, den Pegdia-Teilnehmern und denen, die Höcke applaudieren. Darunter sind auch viele Menschen, die zu den sozial Abgehängten gehören und die eine soziale Politik für deutsche fleißige Staatsbürger fordern.
Neoliberalismus halten sie eher für einen Exportschlager aus den USA. Sie fordern also eine Politik, mit der die Nationalkonservative PiS in Polen kürzlich die Wahlen gewonnen und mit welcher der Front National in Frankreich große Wahlerfolge eingefahren hatte. Dass Björn Höcke dem Front National dafür gratulierte, wird von der Mehrheit im AfD-Vorstand kritisiert.
Das muss eigentlich verwundern, denn die AfD, die es bundesweit in Umfragen gerade mal über die 5 Prozent schafft, könnte sich doch durch gute Beziehungen zu Frankreichs an Wählerstimmen reicher Partei aufgewertet fühlen. Zudem sind sich beide Parteien in den entscheidenden Fragen zur Einwanderung, den Umgang mit Moslems und der Ablehnung der EU weitgehend einig[6].
Doch der wirtschaftsliberalen Mehrheit im AfD-Vorstand ist die Partei nicht rechts genug. Die Parteivorsitzende Frauke Petry brachte die Differenz auf den Punkt, wenn sie den FN als linke Partei bezeichnet. Auf EU-Ebene scheint die Spaltung in wirtschaftsliberale und nationalsoziale Rechte zumindest durch Formelkompromisse überwindbar.
Schließlich kooperiert im EU-Parlament, der nach Pauly angeblich linke Front National mit der Freiheitspartei von Geert Wilders, deren erklärte wirtschaftsliberale Programmatik für die AfD ein Vorbild ist, in einer Fraktion[7]. Viele der heutigen AfD-Mitglieder waren in der Kleinstpartei „Die Freiheit“[8] aktiv, die ein besonders enges Verhältnis zu Wilders und seiner Partei hatte.
In Deutschland aber war die politische Landschaft rechts der Union wirtschaftspolitisch immer tief in Wirtschaftsliberale wie den Republikanern, dem Bund Freier Bürger und ähnlichen kurzlebigen Gruppierungen und den wirtschaftspolitisch nationalsozial gepoolten Gruppen wie der NPD gespalten. Es geht dabei nicht nur um Parteiprogramme, es ging auch um unterschiedliche kulturelle Milieus.
Der rechte Familienunternehmer und der Fußballproll haben im Lebensalltag wenig gemeinsam. Mit Pegida wird auf der Straße ein Brückenschlag zwischen diesen kulturell diversen Milieus versucht. Höcke und Co. versuchen ihn auf parteipolitischer Ebene. Hier liegen die eigentlichen Hintergründe des interparteilichen Dissenses, den Beobachter der AfD schon lange erwartet hatten.
Höckes Gerede über ein unterschiedliches Paarungsverhalten von Menschen in Europa und Afrika, das im wesentlich fragwürdige biologistische Thesen nachbetet, aber deswegen noch keine NS-Ideologie darstellt, war dann eher der willkommene Anlass dafür, den auftrumpfenden Flügel um Höcke einen Dämpfer zu verpassen.
Junge Freiheit versus Compact
Stichwortgeber ist dabei der Ex-Burschenschafter Dieter Stein, der als Chefredakteur der Jungen Freiheit publizistisch für eine AfD kämpft, die eine Art konservativere CDU und im Zweifel immer für diese koalitionsbereit sein soll. Stein hatte sich schon beim Streit um Lucke und Henkel auf der Seite der späteren Verlierer befunden. Nun versucht er, die AfD vor den eigenen Fundis zu retten. In einen JF-Kommentar schreibt[9] er nach dem Bekanntwerden von Höckes bioligistischen Äußerungen:
Für Höckes erneute, bewußt provokative Entgleisung muß die Parteiführung fast dankbar sein. Sie schafft den Anlaß, den Kurs der Partei deutlich zu klären. Will sich die AfD, die die einmalige Chance hat, sich als frische, moderne politische Alternative zu etablieren, von radikalen Sektierern Programmatik und Außenbild bestimmen lassen?
Auch bei den Grünen kam es in den achtziger Jahren zunächst zum Abbruch eines gemäßigten Flügels, später dann unter schweren Kämpfen zur Abtrennung eines linksextrem-fundamentalistischen Flügels. Es kam sogar zum Ausschluß von Landesverbänden. Ähnliches steht der AfD noch bevor. Die Reaktion des Bundesvorstandes von Sonntag war halbherzig. Die AfD könnte mit einem Befreiungsschlag nur gewinnen. Wichtig ist, daß endlich das andere, sympathische Gesicht zum Vorschein kommt.Dieter Stein
Dieter Stein
Das ist die Stimme der wirtschaftsliberalen Klientel, die mit der AfD Karriere und Posten verbindet. Demgegenüber steht der rechte Newcomer Jürgen Elsässer, der in seiner Publikation Compact für Höcke Partei ergreift[10] und gleich noch seinen alten Streit mit der JF pflegt. Wer sich sowohl in als auch außerhalb der Partei durchsetzt, ist offen.
Es ist gut möglich dass Höcke noch einmal mit einem Verweis davon kommt und er zum wiederholten Male Mäßigung in öffentlichen Auftritten verspricht. Eine Zwangsentfernung Höckes vom thüringischen Landesvorsitz wäre für die AfD besonders riskant. Schließlich ist die Fraktion nach dem Ausschluss von Höcke-Kritikern weitgehend auf Linie gebracht. Die Gefahr, dass hier eine ostdeutsche AfD-Konkurrenz entstünde, ist zu groß, auch wenn Stein diese Option durchaus in Erwägung zieht. Außerdem wollen Petry und Co. vor allem verhindern, dass Höcke die bundesdeutsche AfD-Politik bestimmt. Daher müssten sie ja ein Interesse haben, ihn mehr in der Landespolitik zu binden.
Mittlerweile hat der AfD-Vize Alexander Gauland Frauke Petry gegenüber der Bild-Zeitung kritisiert[11] und Höcke in Schutz genommen: „Der Bundesvorstand hat ausdrücklich keine Maßnahmen gegen Björn Höcke beschlossen und ihn nicht verurteilt. Ich finde es falsch und zutiefst unfair, dass sie das jetzt umdeutet und etwas anderes vertritt, als vom Vorstand beschlossen wurde.“
Der Streit zeigt auch, wie die AfD in guter rechter Tradition steht. In allen rechten Formationen der letzten Jahrzehnte standen sich in den Auseinandersetzungen egomanische Personen gegenüber, die noch jedes dieser Projekte zum Scheitern brachten. Auch das kann eine Perspektive der AfD sein.
Wie zwei in Deutschland geborene Teenager in ein fremdes Land debattiert und abgeschoben wurden
Der Fall von zwei Hannoveraner Jugendlichen, die in ein sicheres Herkunftsland abgeschoben wurden, aus dem sie nicht kamen, erregt die Gemüter: Bis Mitte Dezember führten Gzim und Ramiz Berisha das Leben von Teenagern in Hannover. Sie gingen zur Schule und engagierten sich in der Freizeit in der Roma-Selbstorganisation Amaro Drom [1].
Doch der 16. Dezember veränderte ihr Leben grundlegend. In den frühen Morgenstunden wurden die 13- und 15jährigen Schüler mit ihren Familien abgeschoben. Es waren zwei von insgesamt 125 Menschen, die an diesem Tag aus Niedersachsen zwangsweise in die Balkanländer deportiert wurden. Darunter waren viele Kinder und Jugendliche, die in Deutschland geboren waren, von Anfang die deutsche Sprache gelernt und sich in die deutsche Gesellschaft integriert hatten, also alle die Voraussetzungen erfüllten, die hierzulande von Politik und Öffentlichkeit an eine gelungene Integration gestellt werden.
Wobei diese Forderung bei Gzim und Ramiz Berisha schon deshalb fragwürdig ist, weil sie eben in Deutschland geboren wurden und daher auf die dumm-deutsche Frage, woher sie kommen, eben wahrheitsgemäß nur dieses Land angeben hätten können. Dass sie jetzt in ein ihnen völlig unbekanntes Land abgeschoben wurden, ist die Folge einer Regelung, die vor einigen Monaten für eine kurze Zeit für Debatten sorgte.
Damals wurden Länder wie Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Serbien, Kosovo, Albanien und Mazedonien zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärt. Bei den Grünen gab es deswegen innerparteiliche Auseinandersetzungen. Gefühlt war die Basis dagegen, weil schließlich bekannt ist, dass in diesen Ländern Roma noch immer auf verschiedenen Ebenen diskriminiert werden.
Doch im Bundesrat, wo die Grünen eine Machtstellung haben, stimmte auch der erste und einzige Grüne Ministerpräsident von Baden Württemberg für die Regelung. Nun rollte in allen Bundesländern die Abschiebemaschinerie an. Doch die kritische Öffentlichkeit reagiert kaum.
Platzmachen für andere Geflüchtete
Schließlich liegt der Fokus seit einigen Monaten auf anderen Geflüchteten. Diejenigen, die oder deren Eltern einst aus den Balkanländern kamen, werden jetzt weggeschoben wie ein lästiges Möbelstück. Ihnen wird sogar auch manchmal von zivilgesellschaftlichen Gruppen vorgehalten, dass sie es doch im Vergleich zu Menschen aus Syrien oder Afrika gut haben. Sie sollen sich bloß nicht zieren.
Hier wird eine klare Hierarchisierung unter Geflüchteten aufgebaut. Amaro Drom bringt den Zynismus so auf den Punkt: „Sie sind abgeschoben worden mit der Begründung, dass Deutschland Platz schaffen muss. Deutschland muss Platz schaffen, indem Menschen, die geduldet sind, abgeschoben werden in die Länder, welche von der Bundesregierung als „Sichere Herkunftsländer“ eingestuft wurden sind.“
Das Schicksal von Gzim und Ramiz Berisha wurde auch deshalb bekannt, weil die beiden sich in der Roma-Selbstorganisation engagierten. Die versucht, die Teenager und ihre Eltern jetzt zurückzuholen und hat eine Petition [2] gestartet. In der Begründung heißt es:
„Wir nehmen es nicht an, dass deutsche Jugendliche von deren Zuhause weggerissen werden und irgendwo hingeschickt werden, wo die Bundesregierung meint, dass es deren „Zuhause“ ist. Die zwei Jungs fühlen sich hier heimisch und Deutschland ist deren Zuhause! Die beiden haben hier, in Deutschland, vor, eine Ausbildung zu absolvieren und das Leben auf die Reihe zu bekommen, wie viele andere Jugendliche in deren Alter.“
Die Abschiebung von in Deutschland geborenen Menschen in sichere Herkunftsländer, aus denen sie nicht kommen, ist natürlich auch eine Drohung für die nun favorisierten Geflüchteten. Ihnen wird so schon mitgeteilt, der Staat sortiert euch ein und entscheidet, wann ihr Platz zu machen habt. Er entscheidet auch für Kinder, die in Deutschland geboren werden, mit.
Auch Thüringen schiebt ab
Von den bundesweiten Abschiebungen in die Balkanstaaten ist auch Thüringen nicht ausgenommen [3]. Das ist deshalb bemerkenswert, weil dort die Linkspartei den Ministerpräsidenten stellt und das Land im Gegensatz zu Baden-Württemberg im Bundesrat der Erweiterung der sicheren Herkunftsländer nicht zustimmte. Im letzten Jahr gab es in Thüringen während der Wintermonate einen Abschiebestopp.
Der wurde in diesem Jahr nicht verlängert, obwohl Antirassismusgruppe [4]n und Flüchtlingsorganisationen [5] ein solches Moratorium einforderten. Wohl, weil Antirassisten von einer von der Linkspartei geführten Landesregierung etwas anderes als ein Mitmachen bei den Abschiebungen erwarteten, gab es dort auch Proteste [6].
Schon bei der Abschiebung sollte mit einer Sitzblockade die Abfahrt eines Polizeifahrzeugs verhindert werden, in der bereits eine Familie gesessen hatte. „Entgegen ihrer eigenen Presseinformation ging die Polizei teilweise sehr rabiat gegen die Menschen in der Sitzblockade vor. Mehrere Protestierende wurden leicht verletzt“, heißt es in einer Pressemitteilung eines antirassistischen Bündnisses.
So gab es wie bereits in der letzten Woche am vergangenen Donnerstag ab 20:00 Uhr in der Innenstadt Erfurts erneut eine kleine Protestdemonstration gegen die Sammelabschiebungen.
Auch in Bayern gibt es Proteste von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich allerdings weniger gegen die Abschiebung, sondern gegen die dort übliche Praxis richten, Menschen aus nun zu herkunftssicheren Ländern erklärten Balkanländern schon vor ihrer Abschiebung in Abschiebezentren [7] zu konzentrieren. Kinder werden so aus ihren Schulen herausgerissen und bekommen oft über eine längere Zeit keinen Schulunterricht, lautet die Kritik.
Die Soziologin Charlie Kaufhold hat Medienberichte über Beate Zschäpe analysiert und kommt zu einem kritischen Befund. Die Ergebnisse hat sie am 16. Dezember auf einer Veranstaltung in Berlin vorgestellt.
„Der Teufel trägt Prada“ titelte der Südkurier und die Bild-Zeitung textete „Der Teufel hat sich schick gemacht“. Die taz zitiert Nachbarn von Beate Zschäpe, die sie als Diddl-Maus bezeichneten. Die Soziologin Charlie Kaufhold hat sich in dem kürzlich erschienenen Buch (http://www.edition-assemblage.de/in-guter-gesellschaft/) „In guter Gesellschaft? Geschlecht, Schuld & Abwehr in der Berichterstattung über Beate Zschäpe“ mit dem medialen Bild der Hauptangeklagten des NSU-Verfahrens befasst. Für ihre Untersuchung…
Diskussion Athanasios Karathanassis zeigt, wie das Profitstreben den Raubbau an der Natur vorantreibt
Viel wurde im Vorfeld des Pariser Klimagipfels über die Umwelt und den Klimawandel geredet. »Was aber zumeist ausblieb, ist eine explizite Auseinandersetzung mit dem Konnex Kapitallogiken, Kapitalstrategien, Wachstum und Naturzerstörung«, schreibt der Politologe Athanasios Karathanassis im Vorwort zu seinem kürzlich im VSA-Verlag erschienenen Buches »Kapitalistische Naturverhältnisse«.
Leider erwähnt er die wenigen Ausnahmen nicht. Dabei sorgte die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi Klein mit ihrem im letzten Jahr erschienenen Buch »Die Entscheidung Kapitalismus versus Klima« für heftige Diskussionen in der Umweltbewegung. Auch Klein kam wie Karathanassis zu dem Schluss, dass es mit und im Kapitalismus keine Lösung der Klimakrise geben kann.
Wir haben aber keine Zeit mehr für eine Debatte über die Veränderung der Gesellschaft, antworten viele Umweltgruppen. Damit begründen sie, warum sie die Umweltprobleme mit den kapitalistischen Instrumenten und den Großkonzernen bewältigen wollen. Dagegen richtet sich Karathanassis` Streitschrift. Der Autor verortet die Ursachen der Naturzerstörungen in der kapitalistischen Produktionsweise und zeigt auf, wie illusionär es ist, die Umwelt mit den kapitalistischen Strukturen retten zu wollen.
Im ersten Kapitel widmet sich Karathanassis den Naturverhältnissen, analysiert Ökosysteme und gibt einen Einblick in das Entropiegesetz; damit wird die Transformation von verfügbarer in nicht nutzbare Energie bezeichnet. So entsteht bei der Verbrennung von Kohle und Gas Rauch, der nicht mehr in den Ausgangsstoff zurück verwandelt, also nicht mehr in den Naturkreislauf eingespeist werden kann. Karathanassis zeigt dann auch auf, wie im Laufe der menschlichen Entwicklung diese Entropie immer mehr angewachsen ist. Schon durch die Sesshaftwerdung der Menschen stiegen der Energieverbrauch und auch die Entropie stark an. Doch erst die industrielle Revolution schuf Grundlagen für eine massive Ausbreitung der Entropie. Nicht nur das absolute Ausmaß der Energienutzung, auch der Energiedurchlauf je Arbeitszeiteinheit wuchs enorm an.
In einem eigenen Kapitel zeigt Karathanassis die extensive Ressourcen- und Stoffnutzung am Beispiel von Öl, Kohle und Gas, aber auch an der Überfischung der Meere. An vielen Einzelbeispielen weist er nach, dass es der Drang nach Profit ist, der den Raubbau an der Natur vorantreibt. »Der sich verwertende Wert und die Verknüpfung der Wertsteigerung mit der Steigerung der Stoffnutzung sind kapitalistische Wesenselemente, die der Natur bzw. ökologischen Prozessen widersprechen. Hierdurch werden sie zu Ursachen von Raubbau und Naturzerstörung«, schreibt er.
Dennoch endet sein Buch nicht fatalistisch. In den letzten Jahren sei das Bewusstsein über die Naturzerstörung weltweit gewachsen, schreibt Karathanassis und verweist auf die Vielzahl der Publikationen zum Thema. »Es gibt Alternativen zur kapitalistischen Form der Ökonomie«, schreibt er im letzten Kapitel. Wer ein komplexes Programm erwartet, wird allerdings enttäuscht. Die Alternativen müssten von Basisinitiativen ausprobiert werden, betont Karathanassis. Prägnant begründet er, warum man vom Kapitalismus nicht schweigen kann, wenn es um die Umwelt geht.
Athanasios Karathanassis: Kapitalistische Naturverhältnisse. Ursachen von Naturzerstörungen, Begründungen einer Postwachstumsökonomie. VSA-Verlag, Hamburg 2015. 240 Seiten, 22,80 EUR.
analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 611 / 15.12.2015
Vom 27. bis 29. November 2015 versammelten sich rund 20 solidarische Aktivist_innen und Beschäftigte von Amazon und anderen Betrieben im hessischen Bad Hersfeld, um Erfahrungen auszutauschen und Strategien der Streiksolidarität zu diskutieren. Organisiert wurde das Treffen von den Streiksolikreisen in Kassel und Leipzig. Mit dabei waren Streikunterstützer_innen, Amazon-Kolleg_innen und Betriebsräte aus dem ganzen Bundesgebiet. Schwerpunkte der Diskussion, waren neben den Arbeitskämpfen bei Amazon auch die Streiks der vergangenen Monate in den unterschiedlichen Branchen. Da auch mehrere Aktivist_innen des Netzwerkes Soziale Arbeit aus Frankfurt/Main anwesend waren, spielten die Arbeitskämpfe im Carebereich in der Diskussion eine große Rolle. Am Samstagabend wurde über antirassistische Strategien im Betrieb diskutiert. Anlass waren die Beschäftigung von Geflüchteten in den Amazon-Standorten Bad Hersfeld und Leipzig. Ein Fortsetzungstreffen soll es im Frühjahr 2016 geben.
aus:
ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 611 / 15.12.2015
Das mediale Bild von Beate Zschäpe zeigt, dass Rassismus und Neonazismus nicht als strukturelles Problem gesehen wird
„Der Teufel trägt Prada“, titelte [1] der Südkurier. Bild textete [2] „Der Teufel hat sich schick gemacht.“ Die Taz zitiert [3] Nachbarn von Beate Zschäpe, die sie als Diddl-Maus bezeichneten. Charlie Kaufhold [4] hat sich in einem kürzlich erschienenen Buch [5] ausführlich mit dem medialen Bild von Zschäpe befasst.
Für ihre Untersuchung hat sie Artikel aus der Süddeutschen Zeitung, der Taz, Spiegel-Online und der Bildzeitung analysiert. Damit hat Kaufhold nicht nur verschiedene Zeitungsformate, sondern auch Medien mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung von konservativ bis linksliberal einbezogen. Es gibt natürlich in Nuancen in der Berichterstattung. Doch die Autorin konnte feststellen, dass Zschäpe entweder dämonisiert oder bagatellisiert wird.
Hauptsache, den Katzen geht es gut
Die letztere Vorgehensweise ist ziemlich deutlich festzustellen, wenn sich beispielsweise in Facebook darüber ausgetauscht wird, wie es Zschäpes Katzen wohl jetzt geht. Als sie bei ihrer verlesenen Aussage auch erklärte, sie habe zeitweise die Katzen vernachlässigt, was für sie untypisch gewesen sei, waren manche enttäuscht.
Die Ermordung von 10 Menschen durch den NSU hat scheinbar bei manchen weniger Emotionen ausgelöst. Schwieriger ist schon, die mediale Dämonisierung zu bestimmen. Charlie Kaufhold betont dabei vor allem, es gehe darum, dass die Menschen, die mit Zschäpe vor ihrer Verhaftung in engerem Kontakt standen, sich von ihr abgrenzen konnten. Begriffe wie Teufel sollen Zschäpe aus der Menschheit entfernen.
Doch wo von Teufeln geredet wird, kann von Rassismus und rechten Strukturen umso mehr geschwiegen werden. Das beste Beispiel ist das enge Umfeld des heute bekannten NSU-Trios, das angibt, von Zschäpe getäuscht worden zu sein. Dass die vielleicht vom NSU nichts wussten, aber ein rechtes Weltbild hatten, bleibt dabei ausgeblendet.
Das ist auch generell der Effekt, den Kaufhold an der Art der Berichterstattung über Zschäpe sieht. Sie hat ihr Buch vor der verlesenen Erklärung von Zschäpe fertiggestellt. Sie betont allerdings, dass ihr Erklärungsansatz davon nicht tangiert worden sei. Im Gegenteil, man könnte sagen, dass das Buch dadurch als Diskussionsansatz noch wichtiger wurde.
Denn Zschäpes Erklärung machte deutlich, dass sie selber die mediale Zuschreibung übernimmt und sich als Frau darstellt, die von den Morden des NSU immer erst hinterher erfahren haben will, die die Taten so verabscheute, dass sie ihre Katzen sogar vernachlässigte und doch nicht von den beiden Uwes loskam, weil die dann mit Selbstmord drohten.
Nun könnte diese Erklärung eine juristische Strategie sein, um sich als schwache Frau zu stilisieren und somit ein vorherrschendes Frauenbild zu benutzen. Wahrscheinlicher ist aber, dass das Frauenbild in rechten Kreisen und in großen der bürgerlichen Medienöffentlichkeit so unterschiedlich gar nicht ist. Denn es ist nicht nur Zschäpe, die sich als unwissende Frau darstellt.
Keine Kastrationsangst durch Nazifrauen
Auch in anderen Gerichtsverfahren haben angeklagte Frauen aus der rechten Szene diese Rolle bedient. Sie argumentierten teilweise, dass sie aus Sorge um die Kinder politisch aktiv seien. Frauen aus der rechten Szene, die sich politisch äußerten und zu ihren Taten bekannten, sind hingegen nicht bekannt.
Wie gut die bürgerliche Öffentlichkeit dabei mitspielt, sieht man allein daran, dass wohl kaum jemand weiß, dass in der BRD eine Neonazifrau wegen eines Mordes an zwei Vietnamesen verurteilt [6] wurde. Sybille Vorderbrüggen [7] war Mitglied der Neonaziorganisation „Deutsche Aktionsgruppen“, die vor 35 Jahren eine Art NSU-Vorläufer war, aber schnell vergessen war.
Lediglich der Altnazi Manfred Röder ist manchen noch bekannt. Auch die Opfer der Neonazis der frühen 1980er Jahre sind vergessen. Erst im Zuge der Diskussion um den NSU hat man überhaupt wieder an diesen rechten Terror erinnert. Im Prozess wurde Vorderbrüggen ebenso verharmlost wie heute Zschäpe. So schrieb die Zeit unter der Überschrift „Das Mädchen, das zur Bombe kam“ [8]:
„Als könnte sie niemandem auch nur ein Haar krümmen: So freundlich lächelt sie manchmal, zu Beginn einer Prozeßpause, ihre beiden Anwälte an. So bescheiden wirkt sie, wenn sie den Gerichtssaal betritt, in ihrer weißen Strickjacke mit Zopfmuster, grünem Trachtenrock mit passenden grünen Wollstrümpfen. So lieb schaut sie aus mit ihren schulterlangen, breit gekämmten Haaren und dem blassen, immer noch mädchenhaften Gesicht.“
Hier wie bei heute Zschäpe werden Geschlechterstereotype verwendet, die in weiten Teilen der bürgerlichen Gesellschaft geteilt wurden. Auf der Veranstaltung machte eine Besucherin darauf aufmerksam, wie sich die mediale Berichterstattung über militante Rechte von der Berichterstattung über Frauen in militanten linken Zusammenhängen gravierend unterscheidet.
Die Frauen aus der RAF wurden nicht als untergeordnet, sondern als Kämpferinnen dargestellt, die sogar den Männern in der Gruppe überlegen gewesen seien. Hier wurde das Bild von kämpfenden Frauen gezeichnet, vor der Männer Kastrationsangst haben. Ein solches Bild gibt es weder bei Zschäpe, noch gab es das bei Vorderbrügge.
Es wird sich in den nächsten Wochen zeigen, ob zumindest Teile der Medien und das Gericht künftig mit Zschäpes Erklärung argumentieren, um ihre These von dem Trio zu untermauern. Denn es ist auffallend, dass die Angeklagte mehrere der in der öffentlichen Diskussion strittigen Punkte über den NSU aufgegriffen und die offizielle Version bekräftigt hat.
Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil es mit dem Bild von der unwissenden Frau kollidiert, die mit den Aktionen des NSU angeblich nichts zu tun haben wollte. Warum sie dann genau weiß, warum die Polizistin Kieswetter sterben musste und dass es den NSU eigentlich gar nicht richtig gegeben hat, ist dann schon erstaunlich.
Denn eigentlich gilt doch in konspirativen Gruppen, dass Personen, die nichts mit den Aktionen zu tun haben, auch nicht viel darüber wissen. Sollte das Gericht zumindest in Teilen Zschäpes Aussagen übernehmen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie auch dazu dienen, das NSU-Kapitel als aufgeklärt abzuhaken und jede weitere kritische Nachfrage als lästiges Störfeuer zu betrachten.
Ein Büchlein geht der Flüchtlingskrise und den Argumenten, mit denen sie verwechselt wird, auf den Grund
Fakten statt emotional begründeter Vorbehalte: Ein kleines Buch ist verdienstvolle Handreichung zur aktuellen Debatte in der Flüchtlingspolitik.
»Und wenn Türken und Heiden kämen und wollen das Land peuplieren, so würden wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen«. Das Zitat wird dem Preußenkönig Friedrich II zugeschrieben, der den Zusatz »der Große« wegen vieler Kriege erwarb, für die er verantwortlich war. Des einen Ruhm, war der anderen Leid: verheerte Landschaften und dezimierte Bevölkerung waren die Folge. Durch eine großzügige Einwanderungspolitik wirkte Friedrich dem entgegen. Daran erinnert der Publizist Rainer Balcerowiak in seinen Buch »Faktencheck Flüchtlingskrise «, das in edition Berolina erschienen ist. Der kurze Exkurs in die Geschichte leitet über zum Kern des 120-seitigen Buches: die aktuelle Flüchtlingskrise. Balcerowiak benennt einige Fluchtursachen und hier auch die Verantwortung deutscher Politik. So erinnert er an Deutschlands Rolle bei der Zerschlagung Jugoslawiens in den frühen 90er Jahren. Folge waren Tausende Flüchtlinge aus Bosnien und Kosovo. »Auch für wirtschaftliche Verwerfungen in Teilen Afrikas bis hin zu Hungersnöten trägt Deutschland ein gutes Stück Verantwortung «, schreibt Balcerowiak. Der Autor ist Journalist, unter anderem schreibt er für »neues deutschland « – entsprechend nähert er sich dem Thema. Fakten statt Emotionen findet der Leser rund um das komplizierte unterschiedliche Rechte auch von der
Zugehörigkeit zu verschiedenen Flüchtlingsgruppen abhängen. Häufig gestellte Fragen zur Migration werden prägnant und faktenreich beantwortet. Auffällig viele junge Männer fänden sich unter den Geflüchteten? Ja, denn sie haben die besten Voraussetzungen in ihren Familien für den gefährlichen Transit nach Europa. Zudem sind Frauen auf der Flucht besonderen Gefahren ausgesetzt, nicht zuletzt sexuell. Deutschland ist durch Völkerrecht und Grundgesetz zum Schutz von Flüchtlingen verpflichtet. Balcerowiak verweist auf den besonderen Schutzstatus minderjähriger Flüchtlinge. Ausführlich widmet er sich dem Prozedere des Asylverfahrens und legt dar, wie restriktiv das Asylrecht in Deutschland in der Regel ausgelegt wird. Erzählungen über ein angebliches Luxusleben von Flüchtlingen in Deutschland verweist er ins Reich der Mythen. Die Betroffenen erhalten (meist) ein kleines Taschengeld, sie haben nur eingeschränkten
Zugang zu medizinischer Versorgung. Der Autor stellt Ressentiments Fakten gegenüber, er ergreift zugleich Partei, wenn er für die Rechte Geflüchteter eintritt oder sich für ein Einwanderungsgesetz ausspricht. Aber er widerspricht auch der Forderung nach »offenen Grenzen für alle, immer und überall«, weil es objektive Grenzen der Zuwanderung gebe. Asylrecht und Genfer Flüchtlingskonvention seien allerdings keine Verhandlungsmasse, diese gelte es durchzusetzen. Balcerowiak warnt zugleich, alle wegen der Flüchtlingskrise besorgten Bürger zu Rassisten zu erklären. Wenn das Buch einige dieser besorgten Bürger davon abhielte, nach rechts abzudriften, wäre das sehr zu begrüßen.
Faktencheck Flüchtlingskrise: Was kommt auf Deutschland noch zu?«, 120 Seiten 9,99 Euro
CDU-Parteitag: Die „spürbare Reduzierung“ der Flüchtlingszahlen und Kitsch. Draußen gibt es zackige Abschiebepraxis
Für die grünennahe Taz ist nach dem ersten Tag des CDU-Parteitags in Karlsruhe Angela Merkel endgültig zur Königin der Herzen geworden. „Merkel zähmt die CDU“, lautet die Überschrift auf der Titelseite. Im Leitartikel wird es unter der Überschrift „Die gütige Matriarchin“ dann ganz kitschig. „Es war ein bisschen wie Weihnachten beim Parteitag der CDU in Karlsruhe“,lautet der erste Satz.
Die euphorische Stimmung beim grünen Hausblatt hat einen einfachen Grund. Eine mögliche schwarzgrüne Koalition nach den nächsten Bundestagswahlen, die führende Taz-Kommentatoren seit Jahren herbei schreiben wollen, ist ein Stück wahrscheinlicher geworden. Nach der AKW-Frage scheint jetzt auch die Flüchtlingsfrage, die immer zwischen beiden Parteien gestanden hat, aus dem Weg geräumt.
Bei beiden Themenkomplexen fragte man nicht nach den Inhalten. Auf die Symbolpolitik kam es an. So wurde die Entscheidung, in absehbarer Zeit aus der AKW-Wirtschaft auszusteigen, schon deshalb im grünen Milieu so enthusiastisch gefeiert, weil die schwarzgelbe Koalition unter Merkel erst zuvor die schon im Einklang mit der Wirtschaft vereinbarten rotgrünen Ausstiegspläne revidiert hatte. Dann wurde auch gar nicht so genau nachgeguckt, wie gut denn der neue Ausstiegsbeschluss mit der Wirtschaft harmonisiert. Nun erleben wir in der Flüchtlingsdebatte wieder eine Symbolpolitik, wo es um Worte und weniger um Inhalte geht.
Der Köder „Obergrenzen“
Dieses Mal ging es um den Begriff der Obergrenzen für Geflüchtete. Alle, die für eine restriktivere Einwanderungspolitik eintraten, bestanden zunächst darauf, dass die Bundesregierung solche Obergrenzen erlassen sollte. Alle, die aus welchen Gründen auch immer, für eine offenere Einwanderungspolitik eintraten, sprachen sich gegen solche Begrenzungen aus.
Dass es dabei um eine Symbolpolitik handelte, zeigt sich schon daran, dass in der Regel nicht über konkrete Zahlen geredet wird. Wo soll die Obergrenze eigentlich liegen? Auch eine andere Frage spielte kaum eine Rolle. Welche realen Konsequenzen hätte eine Obergrenze?
Ein CDU-Parteitag kann schließlich nicht die Genfer Konvention und andere völkerrechtlich gültige Verträge außer Kraft setzen. Doch die Diskussion um die Obergrenzen erfüllte seinen Zweck gut. Da sie nun nicht in den mit großer Mehrheit verabschiedeten Leitantrag [1] der Union stehen, wurde gar nicht mehr so genau hingeguckt, dass dort eine spürbare Verringerung des Zuzugs von Geflüchteten gefordert wird. Was ist nun eigentlich der Unterschied zwischen dieser Forderung nach Obergrenzen, die nicht einmal beziffert wurde, und der nun beschlossenen „spürbaren Verringerung“ des Zuzugs?
Genau diese Frage stellen sich alle diejenigen nicht, die jetzt den neuen Kurs in der Union feiern, den Merkel der Partei verordnet hat. Die jetzige Formulierung kann bedeuten, dass weniger Geflüchtete kommen sollen, als es eine Obergrenze festgelegt hätte. Aber diese Feinheiten interessieren die Freunde der Symbolpolitik gar nicht. Da wird auch großzügig darüber hinweg gesehen, dass Merkel in ihrer Rede diese Verringerung der Flüchtlingszahlen bekräftigte und auch sehr konkret wurde.
Innerafghanische Fluchtalternativen und die Realität
So erwähnte Merkel ausdrücklich den Bundeswehreinsatz in Afghanistan, den sie als Schutz für die afghanische Bevölkerung darstellte. Natürlich sind die Bundeswehrsoldaten auch am Hindukusch, um innerstaatliche Fluchtalternativen freizuhalten. Konkret heißt dass, dass afghanischen Flüchtlingen eine Anerkennung mit der Begründung verweigert wird, sie können ja auch in die Gebiete in Afghanistan ziehen, wo deutsche Soldaten stationiert sind.
Dass Paradox besteht nun darin, dass Menschen aus der afghanischen Zivilbevölkerung, die als Dolmetscher für die Bundeswehr arbeiten oder andere Hilfsjobs ausüben, oft von den Taliban oder anderen Islamisten mit dem Tode bedroht werden. Einige schaffen es in eigener Regie, nach Deutschland zu flüchten, wie Najib, der danach Kontakt mit den deutschen Journalisten gesucht hat, für den er in Afghanistan dolmetsche. Der Bericht darüber [2] endet mit einer für Najib wenig erfreulichen Perspektive:
„Bald muss die Familie in eine andere Unterkunft umziehen. Najib hat von der Ankündigung von Innenminister Thomas de Maizière gehört, dass alle Afghanen zurückkehren sollen. Deutschland habe viel für Afghanistan getan, man müsse aus dem Land nicht fliehen.“
So viel also zu den Fluchtalternativen, die die Bundeswehr angeblich in Afghanistan schafft.
Schlussstrich unter deutsche Geschichte
Wenn Merkel dann auch noch auf den Partei betonte, dass es zur Identität Deutschlands gehört, Größtes zu leisten und es für einen solchen Satz keine wahrnehmbare Kritik mit Verweis auf die deutsche Vergangenheit mehr gibt, dann ist klar, dass der Schlussstrich unter die die deutsche Geschichte, gegen den in den 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts kritische Gruppen noch angekämpft haben, nun endgültig gezogen worden ist.
Das wird daran deutlich, dass es überhaupt niemand mehr kritisch anmerkt, dass zur Identität Deutschlands die Shoah gehört und damit tatsächlich deutlich wurde, dass das Land im Stande war, das größte Menschheitsverbrechen zu begehen. Doch, jetzt wo fast alle Zeitzeugen gestorben sind, wird der Deckel über diese Geschichte gelegt. Merkel zeigt, man kann wieder ganz unbefangen über die deutsche Identität reden und sie mit den größten Leistungen in Verbindung bringen und niemand redet über Auschwitz. Wer da noch was anzumerken hat, wird nicht mal mehr beschimpft. Er wird einfach ignoriert. Dass kann sich Deutschland heute leisten.
„Knallhart wie die neue deutsche Abschiebepraxis“
Auch die Kräfte in der Union, die sich in den letzten Tagen für Obergrenzen bei den Flüchtlingen einsetzen, sehen sich keineswegs als Verlierer. Dazu gehörte die Junge Union, die noch kurz vor dem Parteitag pokerte und ihre Forderung nach einer Obergrenze für Flüchtlinge bekräftigte, dann ihren Antrag aber doch zurück zog und so zur großen innerparteilichen Einigkeit beigetragen [3] hat: „Die Junge Union setzt sich mit ihrer Forderung auf dem Parteitag durch.“
„Mit der Karlsruher Erklärung haben wir ein wichtiges Signal von diesem Parteitag gesendet: Ein weiterer Flüchtlingsstrom, wie in diesem Jahr, wird auf Dauer Staat und Gesellschaft überfordern. Wir sind entschlossen, den Zuzug von Asylbewerbern und Flüchtlingen durch wirksame Maßnahmen spürbar zu verringern.“
Andere unionsinterne Hardliner in der Flüchtlingsfrage belassen es nicht nur bei Erklärungen. In Bayern läuft kurz vor Weihnachten die Abschiebemaschinerie noch einmal an. Selbst Menschen mit einer schweren Krankheit sind davon nicht ausgenommen. Die Süddeutsche Zeitung beschreibt [4] die Situation so.
„Wer nicht freiwillig mitkommt, dem droht die Behörde mit ‚Vollstreckung durch unmittelbaren Zwang‘, mit Polizeigewalt. Und weiter heißt es: ‚Eine vorherige Anhörung und eine weitere Begründung‘ seien ‚entbehrlich‘.“
Es sind Sätze, knallhart wie die neue deutsche Abschiebepraxis: Weil so viele reinkommen, müssen andere raus – und zwar zackig. Der Staat hat keine Zeit mehr für Einzelschicksale. Wo man auch fragt, ob in Weiden, Bamberg, Nürnberg, Regensburg, man findet empörte Flüchtlingshelfer. Viele Flüchtlinge seien Roma, die in ihren Heimatländern ausgegrenzt werden. Eine ethnische Minderheit von einem Tag auf den anderen mit Bussen in ein „Abschiebe-Camp“ zu karren, das wecke „ungute Assoziationen“, sagt Stephan Dünnwald vom bayerischen Flüchtlingsrat.“
Kein Wort der Kritik an den Maßnahmen der Schwesterpartei waren von Merkel und der angeblich von ihr gezähmten CDU in Karlsruhe zu hören. Schließlich tragen sie ja auch zur Verringerung der Flüchtlingszahlen bei und darüber war man sich ja in Karlsruhe einig.
Nazisprüche, Prügel, Hunger, Kälte – seit Monaten herrschen an der zentralen Anlaufstelle für Flüchtlinge in Berlin untragbare Zustände. Nun wurden die Verantwortlichen angezeigt. Auch Betroffene wehren sich.
Die Zustände, die die Grünen-Politikerin Claudia Roth bei einem Besuch des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) vor anderthalb Wochen vorfand, waren schockierend. Es seien »Hunderte, vielleicht auch Tausende Menschen, die sich ohne jede Information durch Behördenmitarbeiter verzweifelt und nun auch unter widrigsten Witterungsbedingungen auf dem Gelände bewegen und umherirren, auf der Suche nach einer Möglichkeit, Gehör für ihr Anliegen zu finden«, schilderte die Bundestagsvizepräsidentin die Lage vor der im Ortsteil Moabit gelegenen zentralen Registrierungsstelle für Geflüchtete. »Frauen, Männer und (Klein-)Kinder, Schwangere, Verletzte, Alte, Kranke und Behinderte, die völlig entkräftet und verzweifelt ihre Papiere den Mitarbeitern der Security zeigen, in der Hoffnung, Einlass in das Behördengebäude zu erlangen«, so beschrieb Roth die Situation. Menschen harrten stunden- oder gar tagelang in Warteschlangen aus, zum Teil in Schlamm, Regen und Sturm, oder dicht gedrängt in abgesperrten Bereichen in Zelten oder in den Behördengebäuden, berichtete die frühere Parteivorsitzende. Oftmals gebe es für die Wartenden am Ende nur barsche Worte oder ein rüdes Anschreien durch die Sicherheitskräfte, verbunden mit dem Hinweis, dass sie es am nächsten Tag wieder versuchen müssen.
Dabei machen schon seit Monaten Freiwilligengruppen wie der Berliner Flüchtlingsrat immer wieder auf die unhaltbaren Zustände aufmerksam. Christiane Beckmann, eine Sprecherin der Initiative »Moabit hilft«, sagte: »Wenn wir nicht wären, hätte es hier schon Tote gegeben.« Geändert hat sich freilich wenig. Lediglich der Sicherheitsdienst wird nun ausgetauscht, nachdem ein Wachmann im Nazijargon gegen Geflüchtete gehetzt hatte. Schon in den Vorwochen hatte es immer wieder Meldungen über Beschimpfungen und auch Schläge durch Wachleute gegeben.
Für die tagtägliche Demütigung und Erniedrigung der Geflüchteten, die Roth anprangerte, sind aber vor allem Berliner Politiker verantwortlich. Ob die vom Senat angekündigte Einrichtung eines eigenständigen Flüchtlingsamtes die Situation verbessern wird, ist unklar. Nach Auskunft des Berliner Sozialsenators Mario Czaja (CDU) sollen Aufgaben wie Registrierung, Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen aus dem Lageso herausgelöst und der neuen Behörde übertragen werden. »Mit diesem neuen Amt stellen wir uns den enormen Herausforderungen und den damit gewachsenen Aufgaben, die der anhaltend hohe Zugang von Flüchtlingen mit sich bringt«, sagte Czaja. Doch zunächst wird eine Arbeitsgruppe eingerichtet, denn konkrete Pläne für die neue Behörde gibt es noch nicht. Ihr Aufbau dürfte Monate dauern.
Czaja steht unter Druck, denn der Regierende Bürgermeister Berlins, Michael Müller (SPD), hat seinem Sozialsenator wiederholt Passivität vorgeworfen und ihm indirekt den Rücktritt nahegelegt. Am Montag reichten mehr als 40 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte Strafanzeige wegen Körperverletzung und Nötigung im Amt gegen Czaja und Franz Allert, den Präsidenten des Lageso, sowie weitere Verantwortliche ein, wie der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) mitteilte. »Sozialsenator Czaja nimmt schwere Verletzungen und Erkrankungen von Geflüchteten bewusst in Kauf«, sagte RAV-Vorstandsmitglied Ulrich von Klinggräff. Es sei unvorstellbar, so der Rechtsanwalt, »was geschehen würde, wenn es das einzigartige Engagement der Initiative ›Moabit hilft‹ nicht gäbe«.
Und auch Geflüchtete selbst beginnen, sich gegen die Zustände am Lageso zu wehren. So haben kürzlich 56 Flüchtlinge, die dort seit Wochen auf ihre Aufnahme warten, vor Gericht Eilanträge eingereicht, um ihre sofortige Erfassung und Versorgung zu erwirken. Andere Betroffene wehren sich gegen die Verweigerung von Leistungen und wollen durchsetzen, dass sie als Härtefälle anerkannt werden. Anfang November organisierten afghanische Flüchtlinge Protestkundgebungen.
Nachwuchsarchitekten präsentieren Vorschläge für bezahlbare Unterkünfte
Geflüchtete können selten auf menschenwürdige Unterkünfte hoffen, dabei gibt es preiswerte Möglichkeiten.
Es sind ja nicht nur die ewigen Wartezeiten bei verschiedenen Ämtern, sondern auch die Unterbringung der Menschen, die sie nach zum Teil monatelanger Flucht nicht zur Ruhe kommen lässt. Erstaufnahmelager, Not- und Gemeinschaftsunterkünfte prägen heute das Leben der meisten Geflüchteten.
»Die Menschen werden dort zwangsweise eingewiesen. Sie können nicht entscheiden, wo, wie und mit wem sie auf engstem Raum leben wollen. Bei all diesen Unterkünften fehlt jede Privatsphäre«, berichtet Kay Wendel vom Flüchtlingsrat Brandenburg in einem kurzen Überblicksvortrag im voll besetzten Ladenlokal der Plattform der Nachwuchsarchitekten. Es sei daher nicht verwunderlich, wenn es zu Streit zwischen den Bewohnern komme, wenn die Menschen über Monate unter solchen Bedingungen leben müssen.
»Wohnen als Grundrechte für Alle – Flüchtlingsunterbringung in Berlin und Brandenburg«, unter diesem Motto wurde die aktuelle Situation am Mittwochabend kritisch beleuchtet, aber auch Alternativen aufgezeigt, wie am Beispiel des Hauses der Statistik. »Hier sehen wir, wie Flüchtlinge untergebracht werden könnten, wenn sie als wohnungssuchende Menschen Ernst genommen werden«, sagte eine Diskussionsteilnehmerin.
Wendel bekräftigte die Forderung, dass Geflüchtete die Möglichkeit haben müssen, eigene Wohnungen zu beziehen. Die Menschen, die gesetzlich diese Möglichkeiten heute schon haben, machen die Erfahrung, die auch viele Mieter mit geringen Einkommen in den letzten Jahren machen mussten – sie finden keine Wohnungen. »Die Lösung muss daher die Ankurbelung des sozialen Wohnungsbaus heißen«, betonte Wendel. Damit unterstützte er Forderungen von Mieterverbänden. Es gebe eine Wohnraum- und keine Flüchtlingskrise in Berlin, betont die Berliner Mietergemeinschaft in der jüngsten Ausgabe ihrer Publikation Mieterecho.
Die am Mittwochabend versammelten Architekten unterbreiteten einige Vorschläge für eine Unterbringung von Geflüchteten, die nicht an Notunterkünfte und Container erinnern. So wurde auf Gebäude verwiesen, die nach der Holzständerbauweise errichtet werden. Diese kosten- und platzsparende Bauweise ist eine moderne Form des jahrhundertealten Fachwerkhauses. Eine Architektin präsentierte Vorschläge, wie in Baulücken kostengünstige Behausungen entstehen können. Zudem könnten solidarische Anwohner Patenschaften für die dort einziehenden Neumieter übernehmen.
Der Berliner Architekt Philipp Kuebart engagierte sich bereits als Student gegen Residenzpflicht und Gutscheine für Flüchtlinge. Was damals bei seinen Kommilitonen nur ein Minderheitenthema gewesen sei. Er begrüßte grundsätzlich, dass sich in den letzten Wochen auch viele Architekten mit der Situation von Geflüchteten auseinandersetzen. »Wichtig aber ist die Frage, wie wollen diese Menschen eigentlich wohnen«, betont Kuebart. Vielleicht sollten die Nachwuchsarchitekten bei ihren nächsten Diskussionen auch Geflüchtete einladen.
Es geht um eine marktkonforme Politik, daran wird sich bei der SPD nichts ändern
Ein Bonmot, das sich Sigmar Gabriel in sein Redemanuskript hat schreiben lassen, könnte schneller Realität werden, als er denkt. In seiner Rede lässt Gabriel seine kleine Tochter fragen, wie lange er noch zu Angela Merkel gehen muss. Die Antwort lautet: noch bis 2017.
Zu diesem Zeitpunkt hat er sich längst von der SPD-Spitze zurückgezogen. Entweder, weil die Partei mit ihm als Kanzlerkandidat noch mal Stimmen verloren hat. Viel wahrscheinlicher aber ist nach dem Parteitag, dass es gar keinen Kanzlerkandidaten Gabriel geben wird. Er selber hat sich in dieser Frage bedeckt gehalten und auf die Zukunft verwiesen. Dazu dürfte auch das in der Öffentlichkeit allgemein als historisch schlechtestes betitelte Ergebnis von 74,7 % beigetragen haben.
Steinmeier versus Gabriel
Sollten in den nächsten Monaten für die SPD einige Wahlen verloren gehen und die Partei beispielsweise in Rheinland-Pfalz gar die Regierungsmacht verlieren, könnte es Gabriel wie einst Kurt Beck gehen: Er würde parteiintern entmachtet. Dass er diesem Schicksal bisher entgangen ist, liegt vor allem daran, dass die Bundestags-Wahlen 2017 parteiintern schon verloren gegeben werden. Schließlich gab es schon vor einigen Wochen Stimmen dafür, gar nicht erst einen Kanzlerkandidaten aufzustellen.
Dass nun ausgerechnet der Steinmeier noch einmal als Kanzlerkandidat recycelt werden soll, zeigt mehr als alles andere die hoffnungslose Situation der SPD an. Da werden zwei Männer, deren ganzes Programm darin besteht, deutsche Mitte sein und mitregieren zu wollen und das auch immer wieder postulieren, gegeneinander in Stellung gebracht.
Aber dieses Personal repräsentiert die SPD gut. Es geht eben nur um das Treten in der Mitte, dort, wo fast alle schon sind. Es geht darum, auch keinen Zweifel an der Regierungsfähigkeit aufkommen zu lassen. Die Frage ist nur, wann in der Geschichte der letzten 50 Jahre die SPD woanders als in der deutschen Mitte gewesen wäre und wann sie mal nicht regierungsfähig sein wollte?
Dass diese Banalitäten zu einer „Politik der klaren Kante“ aufgeblasen werden und die Parteibasis mehrheitlich dazu applaudiert, zeigt, wie es um diese SPD steht. Wenn Gabriel dann noch ausdrücklich eine Erhöhung der Unternehmenssteuer ablehnt und stattdessen auf Wirtschaftswachstum setzt, dann könnte man meinen, die SPD wolle im Wahlkampf die bessere FDP geben.
Da haben in den letzten Jahren sozialdemokratische Ökonomen und Gewerkschafter immer wieder argumentiert, dass eine Steuererhöhung bei den Unternehmen Geld für den sozialen Wohnungsbau und andere gesellschaftliche Aufgaben in die Kasse spülen würde. Doch die SPD bleibt ihrer Linie treu. Schließlich hat ja die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder die Unternehmenssteuer gesenkt.
Allein eine Rückkehr zu einem Unternehmersteuersatz der Kohl-Ära würde eine Menge Geld bringen. Doch das ist mit Gabriel genau sowenig zu machen wie mit Steinmeier oder anderen Kandidatinnen und Kandidaten, die in der SPD Karriere machen wollen. Was Gabriel von Politikern hält, die wirklich eine sozialdemokratische Politik umsetzen wollten, machte er deutlich, als er die Syriza-Regierung, bevor sie sich dem Austeritätsdiktat der EU unterwarf, als in Teilen kommunistisch bezeichnete, die es nicht wert sei, dass deutsche Steuergelder dafür ausgeben werden.
Natürlich spielte diese rechtspopulistische Volte Gabriels auf dem Parteitag genauso wenig eine Rolle wie sein zeitweiliges Verständnis für die Sorgen der Pegida-Teilnehmer. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass das Viertel der Delegierten, die Gabriel die Stimme verweigerten, daran gedacht hatte. Auch die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Syrien, die auch in der SPD als Beitrag im Kampf gegen den Islamismus bezeichnet wurde, spielte auf dem Parteitag keine Rolle.
Symbolpolitik TTIP
Nur über das Freihandelsabkommen TTIP wurde tatsächlich auf dem Parteitag ernsthaft gestritten. Erwartungsgemäß setzte sich Gabriel durch. Es war schließlich auch von der Parteitagsregie so eingefädelt worden, dass da nichts schief geht. Schließlich brachte der erklärte SPD-Linke Stegner den Antrag ein. In der typischen Diktion jedes SPD-Linken verteidigte er die Parteilinie als das kleinere Übel, weil ja sonst alles nur noch schlimmer werde.
„Wenn wir die Verhandlungen jetzt abbrechen, wird nichts besser“, warnte Stegner. Dann würden Staaten wie China und Bangladesch die Standards für Arbeit und Umwelt vorgeben. Auch Gabriel warnte, die SPD setze ihre Regierungsfähigkeit aufs Spiel, wenn sie jetzt aus den Verhandlungen aussteige.
Wenn Gabriel dazu erklärt, dass die SPD vor der endgültigen Verabschiedung des Vertrags noch mal gefragt wird, weiß jeder, dass es sich hier um Kosmetik handelt. An der SPD wird ein ausverhandelter TTIP-Vertrag bestimmt nicht scheitern.
Dass das Thema überhaupt eine solche Rolle auf dem Parteitag spielte, macht die Symbolpolitik deutlich, die sowohl auf dem Parteitag als auch in den sozialen Bewegungen dominierend ist. Am TTIP-Vertrag wird ein Widerstand simuliert, der von einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik nichts wissen will. Eine Partei, die nicht mal die Steuersätze deutscher Unternehmer auf die Höhe der Kohl-Ära setzen will, kann sich prächtig über den ungebremsten Kapitalismus in den USA echauffieren. Bereits Müntefering, der alle sozialen Grausamkeiten der Schröder-Ära unterstützte, konnte sich über die Heuschrecken aus den USA aufregen.
Alles nichts Neues bei der SPD. Die Partei bleibt sich treu, steht fest in der Mitte, die immer weiter nach rechts geht, und will regierungsfähig bleiben. Von der Linie werden auch alle möglichen Gabriel-Nachfolger nicht abgehen, wie immer sie heißen.
Trotzdem gibt es immer wieder Publizisten und Intellektuelle, die die angeblich wahre SPD vor der realexistierenden Partei verteidigen wollen. Aktuell ist es Albrecht von Lucke, Redakteur der Blätter für deutsche und Internationale Politik [1], der mit seinen Buch Die Schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken [2] für publizistisches Aufsehen sorgte. Für Lucke ist die deutsche Linke mit der SPD identisch.
Die historische Spaltung der Arbeiterbewegung seit 1914 kommt bei ihm gar nicht vor. Die Ursünde sieht er in der Transformation der PDS in die Linkspartei, die angeblich die Linke gespaltet habe. Von Lucke erklärte auf einer Veranstaltung, er habe das Buch geschrieben, weil er die linke Sozialdemokratie stärken will. Wenn man liest, wie vehement er Willy Brandt verteidigt, weil der 1989 als Patriot gehandelt habe, als er für eine schnelle Wiedervereinigung eintrat und Lafontaine, der für einen allmählichen Übergang eintrat, dafür aburteilt, fragt man sich, was daran links ist.
Doch solche und ähnliche Debatten, die sich vor allem vor Wahlen häufen, sind reine Kopfgeburten. Es geht nicht um die Schwarze Republik versus die „deutsche Linke“. Es geht um eine marktkonforme Politik und da wird sich bei der SPD nichts ändern, auch wenn Gabriel schon längst Geschichte sein wird.
Gefangene in Hessen erreichen mit ihrem Protest für Mindestlohn und Rentenversicherung einen Teilerfolg
Ihr Ziel haben die Häftlinge nicht durchsetzen können. Doch mit der Streikaktion hievten sie ihr Anliegen in die Öffentlichkeit.
Nach zehn Tagen haben mehrere Dutzend Insassen der hessischen Justizvollzugsanstalt Butzbach ihren Hunger- und Bummelstreik beendet. Auf einer Sitzung der Interessenvertretung der Gefangenen und der Butzbacher Sektion der Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) mit Vertretern der hessischen Linksfraktion kündigten die Gefangenen am Donnerstag das vorläufige Ende ihrer Aktion an.
Der Widerstand hatte große Aufmerksamkeit erregt, weil erstmals Gefangene die Nahrung verweigert haben, um einen Mindestlohn für ihre Arbeit im Gefängnis sowie Zugang zur Rentenversicherung durchzusetzen. Zudem forderten sie, ihre Rechte als Gewerkschaftsmitglieder auch im Gefängnis wahrnehmen zu können. Bisher bekommen sie im Gefängnis einen Stundenlohn von 1,87 Euro.
Die Gefangenen hatten wochenlang vergeblich versucht, mit der zuständigen hessischen Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) in Verhandlungen zu treten. Auch auf ein Schreiben des Komitees für Grundrechte und Demokratie, in dem die Einbeziehung von Gefängnisinsassen in die Rentenversicherung gefordert wird, verweigerte Kühne-Hörmann konkrete Auskünfte. Im November erklärten die Butzbacher Gefangenen in einem Offenen Brief, sollte Eva Kühne-Hörmann bis zum 1. Dezember »keine Bemühungen zeigen, die festgefahrenen Verhandlungen mit der JVA über die Anliegen der Inhaftierten wieder in Bewegung zu bringen, wollen mehrere Dutzend Inhaftierte in einen unbefristeten Hungerstreik treten«. Zu Monatsbeginn starteten sie dann die jetzt beendete Aktion.
Der Sprecher der bundesweiten Gefangengewerkschaft, Oliver Rast, spricht nach dem Ende der Aktion von einem Teilerfolg. »Mindestlohn, Sozialversicherung und Gewerkschaftsfreiheit für inhaftierte Menschen sind dadurch für eine viel breitere Öffentlichkeit zu einem Thema geworden«, betont Rast gegenüber »nd«. Die Auseinandersetzung sei ausgesetzt, aber nicht beendet. Ein vor einigen Wochen gegründetes »Netzwerk für die Rechte inhaftierter ArbeiterInnen« will sich auch nach dem Ende des Hungerstreiks weiter engagieren. »Wir unterstützen die Forderungen, die in diesen Kämpfen vertreten werden und meinen, dass sie im besten Interesse aller Lohnarbeitenden sind, die gegenseitige Konkurrenz zu minimieren«, erklärt Netzwerk-Mitbegründer Gregor Zattler gegenüber »nd«. Eine vom Netzwerk verfasste Solidaritätserklärung für die Gefangenen wurde von über 150 Wissenschaftlern, Gewerkschaftern und Aktivisten aus sozialen Bewegungen unterzeichnet.
Auch in der hessischen Politik wird die Auseinandersetzung mittlerweile nicht nur von der Linkspartei wahrgenommen. So haben sich die justizpolitische Sprecherin der hessischen SPD-Landtagsfraktion, Heike Hofmann, und eine Delegation grüner Landtagsparlamentarier zu Besuch bei den Gefangenen in Butzbach angekündigt. Besonders die Grünen waren als Teil der hessischen Regierungskoalition in die Kritik geraten, weil sie zur ignoranten Haltung der Justizministerin geschwiegen hatten. Ein Mitbegründer der Grünen kann sich noch an die Zeiten erinnern, als die Partei Gruppen in hessischen Gefängnissen hatte. »Wir hatten durchgesetzt, dass wir uns auch hinter Gittern monatlich treffen und uns so an der politischen Debatte beteiligen konnten. Das wäre doch auch ein Modell für die Arbeit der Gefangenengewerkschaft«, erklärte ein ehemaliges Mitglied einer grünen Knastgruppe, das anonym bleiben möchte.
Flüchtlingsunterbringung in Berlin und die Wohnungskrise
Am ehemaligen Haus der Statistik [1] in der Otto Braun Straße in Berlin sollen Künstler und Geflüchtete zusammen wohnen, lernen und arbeiten [2]. Noch handelt es sich um Zukunftsmusik. Doch die Besucher der Diskussionsveranstaltung Wohnen als Grundrecht für Alle [3] im vollbesetzten Ladenlokal der Plattform der Nachwuchsarchitekten [4] im Wedding waren von der Projektvorstellung sichtlich beeindruckt. Der Berliner Künstler Harry Sachs gehört zu den Mitinitiatoren eines Bündnisses, das sich für die Umnutzung des ehemaligen Haus der Statistik einsetzt.
Bis zu 500 Geflüchtete könnten in dem Gebäude ein neues Wohn- und Arbeitsumfeld finden, wenn der Bezirk und Senat grünes Licht für das Projekt geben. „Hier sehen wir, wie Flüchtlinge untergebracht werden könnten, wenn sie als wohnungssuchende Menschen ernst genommen werden“, erklärte eine Diskussionsteilnehmerin.
Notunterkünfte werden zur Normalität
Die Realität sieht aber heute noch ganz anders aus. Das machte Kay Wendel vom Flüchtlingsrat Brandenburg [5] in einen kurzen Überblicksvortrag deutlich. Erstaufnahmelager, Not- und Gemeinschaftsunterkünfte prägen das Leben der meisten Geflüchteten. “Die Menschen werden dort zwangsweise eingewiesen. Sie können nicht mit entscheiden, wo, wie und mit wem sie auf engsten Raum leben wollen. Bei all diesen Unterkünften fehlt jede Privatsphäre“, fasst Wendel die Kritik an diesen Unterkünften zusammen. Es sei daher nicht verwunderlich, wenn es zu Streit zwischen den Bewohnern komme.
Wendel bekräftigte die Forderung, dass Geflüchtete die Möglichkeit haben müssen, eigene Wohnungen zu beziehen. Die Menschen, die gesetzlich diese Möglichkeiten heute schon haben, machen die Erfahrung, die auch viele Mieter mit geringen Einkommen in den letzten Jahren machen müssen. Sie finden keine Wohnungen.
Wohnungskrise statt Flüchtlingskrise
Diese gemeinsame Erfahrung sollte im Mittelpunkt aller Diskussionen über Lösungen stehen. Daher ist es so fatal, wenn jetzt häufig nur über neue Wohnungen für Geflüchtete geredet wird. Damit wird die Kluft zwischen Menschen, die schon länger einer Stadt wohnen und anderen, die gerade zugezogen sind, vertieft. Davon profitieren aber nur Gruppen wie Pegida oder die AfD, die hier Spaltungslinien aufbauen wollen und die Geflüchteten dafür verantwortlich machen wollen, dass einkommensschwache Menschen immer schwerer eine Wohnung finden können.
„Die Lösung muss daher die Ankurbelung des sozialen Wohnungsbau heißen“, betonte Wendel. Damit unterstützte er ähnliche Initiativen von Mieterverbänden. So fordert die Initiative für einen Neuen Kommunalen Wohnungsbau [6] „Gute Wohnungen für Alle statt Notunterkünfte für immer mehr Menschen“. Die Initiative benennt auch exakt, wer für die Wohnungsnot verantwortlich ist.
Wer den Weg hierher trotz aller Hindernisse geschafft hat, findet heraus, dass da kein Platz zum Wohnen ist, sondern nur eine „Unterbringung“. Diese Erfahrungen machen aber nicht nur Geflüchtete. Für viele Berlinerinnen und Berliner ist das nicht neu. Der Neubau bezahlbarer Mietwohnungen für Normalverdiener ist für privates Kapital nicht lukrativ genug – und die öffentliche Hand hat sich zurückgezogen. Seit 15 Jahren werden zu wenige Wohnungen gebaut, obwohl die Einwohnerzahl schon lange zunimmt und die Mieten schon viel länger steigen. Aktuell besteht die Gefahr, dass die Not der Flüchtlinge ausgenutzt wird, um eine dauerhafte Absenkung der Wohnqualität („Leichtbauweise“) für „einkommensschwache Haushalte“ zu erreichen. Doch Wohnen ist ein Menschenrecht. Damit die Menschenwürde nicht nur in Sonntagsreden verteidigt wird braucht es solidarische Lösungen.
Es ist unverständlich, dass in vielen Beiträgen auch aus dem liberalen Milieu der Flüchtlingsunterstützer selten thematisiert wird, dass die Wohnraumkrise seit Jahren für Menschen mit geringen Einkommen ein Problem ist. Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit sind heute keine Seltenheit mehr. Viele von Zwangsräumungen betroffenen Menschen werden obdachlos oder landen in den Notunterkünften, die es in vielen Städten gibt. Insofern ist die Unterbringung der Geflüchteten nur ein Signal, das zeigt, wie weit sich das System der Lager, Container und Notunterkünfte mittlerweile gesellschaftlich ausgebreitet hat.
Auch der Vorsitzende von Pro Asyl Bernd Mesovic betont [7], dass die Wohnungsknappheit mit den Geflüchteten nichts zu tun hat:
Seit den 1980er Jahren beobachten wir in der Bundesrepublik eine Entwicklung, die die Wohnungspolitik in eine Wohnungsmarktpolitik umwandelt. Über Jahrzehnte galt die neoliberale Ideologie, wonach der soziale Wohnungsbau ein Auslaufmodell ist. An die Stelle der Bereitstellung von Wohnraum traten Instrumente wie das Wohngeld oder die Wohnkostenerstattung. Hinzu kam die Privatisierung öffentlicher Bestände. Damit ging jede staatliche Interventionsmasse verloren, mit der man Notlagen wirklich substanziell beheben kann. Das ist die Vorgeschichte und die begann noch lange, bevor überhaupt Flüchtlinge in großer Zahl nach Deutschland kamen. Insofern hat die eigentliche Ursache der jetzigen Krise mit Flüchtlingen gar nichts zu tun. Die heutige Problemlage resultiert aus der Privatisierung und der Verabschiedung von einer aktiven Wohnungspolitik. Es sind auch diese strukturellen Probleme des deutschen Wohnungsmarkts, die es privaten Unternehmern heute erlauben, aus der Flüchtlingsunterbringung Profit zu schlagen.
Es gebe eine Wohnraum- und keine Flüchtlingskrise in Berlin, betont die Berliner Mietergemeinschaft [8]. In der aktuellen Ausgabe der Verbandszeitschrift Mieterecho [9] ist die Wohnraumkrise das Schwerpunktthema.
Der Kampf um gegen die Wohnraumkrise muss in den Stadtteilen geführt werden. In Gegenden, in denen es aktive soziale Initiativen gibt, tut sich in der Hinsicht etwas. So wurde in Berlin-Lichtenberg eine Fachtagung unter dem Motto Wohnraum für Geflüchtete [10] organisiert. Daran waren Stadtteilpolitiker ebenso beteiligt wie der Flüchtlingsrat, das „Recht auf Stadt“-Netzwerk und Mieterinitiativen. Wichtig ist, dass bei solchen Diskussionen von Anfang auch Geflüchtete einbezogen werden Denn sie können selber artikulieren, wie und wo sie wohnen möchten.
Dabei gibt es sicherlich unterschiedliche Zielgruppen. Die ambitionierten Pläne der Gruppen, die das Haus der Statistik neu nutzen wollen, dürften vor allem jüngeren Geflüchteten sehr zusagen. Andere Flüchtlinge würden herkömmliche Wohnungen favorisieren. Die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum für Alle schließt auch mit ein, dass die Wohnungen verfügbar sind.