Skepsis und Solidarität

Die Freude über den Sieg von Syriza bei der Wahl in Griechenland war bei der außerparlamentarischen Linken in Deutschland groß. Für Unbehagen sorgt die Wahl der rechtspopulistischen Partei Anel als Koalitionspartner.

Wochenlang dümpelte die Kampagne für den europaweiten »Blockupy«-Aktionstag, der am 18. März in Frankfurt/Main stattfinden soll, vor sich hin. Wie soll man auch an einem Mittwoch die Massen zu einem symbolischen Protest anlässlich der Eröffnungsfeier für das neue Gebäude der Europäischen Zentralbank (EZB) bewegen, wenn die Mitarbeiter der EZB ihre Arbeit dort schon vor einigen Monaten aufgenommen haben? Zudem gab es auch lange Zeit zahlreiche politische Diskussionen darüber, warum ausgerechnet die EZB zum Ziel der Proteste gemacht wurde. Hatte diese nicht trotz des Widerstands der deutschen Bundesregierung Geld in den Euro-Raum gepumpt und damit schon vor zwei Jahren Spekulationen über ein Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone die Grundlage entzogen?

Doch der Wahlsieg von Syriza in Griechenland hat der Kampagne für den »Blockupy«-Aktionstag Auftrieb gegeben. Für die Mitglieder der Vorbereitungsgruppe ist der Glücksfall eingetreten, dass eine gemäßigt linke Regierung im Euro-Raum den Beweis dafür antreten möchte, dass auch in der Euro-Zone eine andere Politik möglich ist, ohne gleich den Kapitalismus infrage zu stellen. Dem Experiment einer linkskeynesianischen Politik stellt sich nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die EZB entgegen. Diese hat eine Sondergenehmigung für den Einsatz griechischer Staatsanleihen aufgehoben. Die Bonds werden seit dem 11. Februar nicht mehr als Sicherheiten für EZB-Kredite akzeptiert. Mit dieser Entscheidung erschwert die EZB den griechischen Banken den Zugang zu frischem Geld. Der konservativen griechischen Vorgängerregierung wurde dieser Zugang noch ermöglicht, obwohl sie den versprochenen Kampf gegen die Korruption nie begonnen hat. Der Regierung unter dem neuen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras will die EZB hingegen schon von Anfang an die Möglichkeiten begrenzen.

Eine bessere Werbung konnte sich das »Block­upy«-Bündnis nicht wünschen. Auf der Homepage des Bündnisses wird das ganz offen erklärt. Dort wird zunächst eingeräumt, dass es große Zweifel gab, ob die Entscheidung für den Aktionstag am 18. März nicht ein Fehler gewesen sei. Mit dem Blick auf die Wahl in Griechenland heißt es dann: »Nun können wir sagen: Dieser Fehler war ein Glücksfall.« Man verneige sich »vor dieser Entschlossenheit und Rebellion, vor dem langem Atem und der Hoffnung«, wird das griechische Wahlergebnis kommentiert. Allerdings wird die Begeisterung dann doch etwas abgeschwächt: »Eine andere, bessere Welt wird nicht per Kabinettsbeschluss eingeführt.« Man stehe nicht an der Seite eines Regierungsprojektes, sondern an der »der kämpfenden Menschen in Griechenland und der solidarischen Linken«.

Der Widerspruch, ein Wahlergebnis zu feiern, aber auf Distanz zur sich darauf stützenden Regierung zu gehen, erklärt sich aus der Zusammensetzung des »Blockupy«-Bündnisses, das von Attac bis zum Bündnis »Ums Ganze« reicht. Gerade den linken Vertretern des Bündnisses dürfte die Koalition von Syriza mit der rechtskonservativen Partei Anel besonders missfallen. »Die Chance der griechischen Wahl misst sich daher nicht nur am Umgang der Regierung mit den Auflagen der Troika, sondern gleichermaßen an ihrem Verhältnis zu den Fragen der linken Bewegungen. Sozial geht nicht national, nicht patriarchal, nicht homophob, nicht antisemitisch, nicht rassistisch.«

Auch die »Neue antikapitalistische Organisation« (NaO), ein Bündnis trotzkistischer und antifaschistischer Gruppen, findet deutliche Worte zum Koalitionspartner Syrizas. Anel »ist eine antisemitische, rechtspopulistisch-nationalistische Kraft, die den Teil des griechischen Kapitals repräsentiert, der sich mehr Widerstand gegen EU und Deutschland wünscht«, heißt es dort. »Die Koalition mit der Anel-Partei erschwert sehr die Solidarität«, sagt NaO-Sprecher Michael Prütz der Jungle World. Zugleich ist Prütz aber davon überzeugt, dass die Regierung Syrizas ohne eine starke Solidaritätsbewegung scheitern würde. Bereits vor den letzten Wahlen gründete die NaO ein Griechenland-Solidaritätskomitee. Daraus ist ein Netzwerk entstanden, auf das sich die Solidaritätsgruppen stützen können. Ende Februar wollen sie sich in Köln zu einer ersten Vernetzungskonferenz treffen. Im Rahmen des »Blockupy«-Aktionstags soll es dann zu einer europäischen Kooperation kommen.

Der langjährige IG-Metall-Gewerkschafter Hans Köbrich hat in den vergangenen zwei Jahren mehrmals linke außerparlamentarische Projekte in Griechenland besucht und deren Mitglieder zu Besuchen in Deutschland eingeladen. 2013 beteiligte sich eine griechische Delegation an der »Revolutionären 1. Mai-Demonstration« in Berlin. Sie wollten explizit in Deutschland, dem Land, in dem die Austeritätspolitik für den Euro-Raum konzipiert wurde, ihren Protest zum Ausdruck bringen. In den kommenden Wochen soll wieder eine Solidaritätsdelegation nach Deutschland kommen. Nur ist ihr Großteil dann Teil der neuen Regierungsmehrheit in Griechenland. Doch Köbrich betont, dass es keine Syriza-Jubelveranstaltung geben wird: »Solidarität muss immer kritisch sein.« Allerdings betont der Gewerkschafter auch, dass er der neuen griechischen Regierung nicht vorschnell das Etikett einer weiteren reformistischen Illusion verpassen will. »Ich sehe in der neuen Regierung keine neue Sozial­demokratie, die nur Wohltaten verteilen will. Ich sehe in der Abwahl der alten Eliten eine Chance für reale emanzipatorische Veränderung, die wir nutzen müssen«, sagt er im Gespräch mit der Jungle World.

Während Köbrich Chancen für eine außerparlamentarische Linke ausloten will, haben auch der Vorsitzende des DGB, Reiner Hoffmann, und die Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften IG Metall, GEW, IG BCE, NGG, Verdi, EVG und IG Bau einen Aufruf unterzeichnet, der unter dem Motto steht: »Griechenland nach der Wahl – keine Gefahr, sondern eine Chance für Europa«. Sie werten den Wahlsieg von Syriza als eine Chance für mehr Sozialdemokratie im Euro-Raum. Bezeichnenderweise mochte als einzige DGB-Gewerkschaft die Gewerkschaft der Polizei diesen Aufruf nicht unterzeichnen.

Auffällig ist, dass in der Solidaritätsbewegung für Griechenland bisher ein Thema kaum aufgegriffen wurde, das von Tsipras bereits lange vor der Wahl und bei seiner Regierungserklärung im Parlament erneut angesprochen wurde. Es geht um Schulden Deutschlands an Griechenland. Dabei bezieht sich Tsipras auf eine Zwangsanleihe, die die griechische Nationalbank während der NS-Besetzung an das Dritte Reich in Höhe von 476 Millionen Reichsmark zahlen musste. Sie wurden nie zurückgezahlt. Nach griechischen Berechnungen entspräche dies heute elf Milliarden Euro. Griechische Widerstandsorganisationen fordern seit vielen Jahren Reparationszahlungen, sie nennen einen Gesamtbetrag von 162 Milliarden Euro ohne Zinsen für alle Reparationsforderungen. Keine bisherige Regierung hat gewagt, eine solche Forderung an Deutschland zu richten. Das könnte sich unter der neuen Links-rechts-Koalition ändern.

Die Bundesregierung hat auf Tsipras’ Parlamentsrede mit der lapidaren Antwort reagiert, weitere Reparationszahlungen seien ausgeschlossen. Nur handelt es sich bei den nicht zurückgezahlten Zwangsanleihen nicht um Reparationen, sondern schlicht um Schulden. Hier könnte sich auch das Feld für eine linke Bewegung auftun, die bei aller Kritik an Syriza und der neuen griechischen Regierung diese Forderung nach Bezahlung der Schulden an Griechenland in den Mittelpunkt stellen könnte. Zudem könnte sich eine kritische Linke gegen den Sozialchauvinismus wenden, der sich in der deutschen Politik und führenden Medien gegenüber einem Großteil der griechischen Bevölkerung artikuliert. Das begann schon vor einigen Jahren, als die Bild-Zeitung und andere Boulevardblätter über »Pleite­griechen« höhnten, die doch gefälligst ihre Inseln zum Verkauf anbieten sollten. In der kommenden Zeit dürfte wieder die Kampagne »Kein deutsches Geld an Griechenland« reanimiert werden, und zwar in einem Land, das sich standhaft weigert, die Schulden aus der Nazizeit zu begleichen.

In Griechenland geborene Linke wie Mark Terkessidis und Margarita Tsomou haben sich in der Taz irritiert darüber gezeigt, wie ausgiebig in manchen deutschen Medien die Koalition von Syriza und Anel kommentiert wurde, während die Kritik an der Wahl des Koalitionspartners Anel auch in der außerparlamentarischen Linken in Griechenland einen geringeren Stellenwert hat. Die Kritik an den griechischen Rechtspopulisten in Deutschland wäre glaubwürdiger, wenn der antigriechische Sozialchauvinismus deutscher Medien und der Umgang der deutschen Regierung mit den Schulden aus der Nazizeit genauso skandalisiert würden.

http://jungle-world.com/artikel/2015/07/51416.html

Peter Nowak

»Am Rande der Legalität«

Mayte Marin ist Mitglied der ›Grupo de Acción Sindical‹, die bessere Arbeitsbedingungen für ausländisches Pflegepersonal in Deutschland erreichen möchte. Anfang Februar hat die Gruppe ihre neue Kampagne »Die Vertragsstrafe bringt mich um« begonnen.

Um was geht es bei Ihrer neuen Kampagne?

Grundsätzlich möchten wir mit dieser Kampagne die ungerechten Arbeitsbedingungen des ausländischen Krankenpflegepersonals in Deutschland an die Öffentlichkeit bringen. Wir haben herausgefunden, dass den spanischen und deutschen Institutionen, die diese Vereinbarungen abschließen, die Ungerechtigkeiten gar nicht bewusst sind.

Wie sehen die Arbeitsbedingungen aus?

Die Krankenpflegerinnen und -pfleger müssen zwölf bis 14 Tage lang ohne Pause arbeiten und bekommen bis zu 40 Prozent weniger Lohn als die deutschen Kollegen. Manche arbeiten ohne Vertrag, bis sie das Deutsch-Niveau B2 erreichen. Manchmal müssen sie Tätigkeiten verrichten, die nicht in den Bereich der Krankenpflege fallen. Und wenn sie den Job kündigen wollen, bekommen sie eine Konventionalstrafe, die in einigen Fällen bis zu 12 000 Euro beträgt.

Warum betrifft das vor allem ausländisches Pflegepersonal?

Ich nehme an, weil diese Menschen einfach nicht dagegen kämpfen können. Einerseits beherrschen sie manchmal die Sprache nicht gut genug, andererseits kommen sie aus einem Land mit einer hohen Arbeitslosigkeit und sehen sich deswegen nicht in der Position, Beschwerden vorzubringen.

Wie ließe sich die Situation verbessern?

Wir fordern, dass das ausländische Krankenpflegepersonal hier in Deutschland Unterstützung von den verschiedenen Institutionen erhält, die in diesem Bereich eine Rolle spielen. Wir möchten, dass alle Krankenpflegerinnen und -pfleger in Deutschland die gleichen Arbeitsbedingungen haben, da sie die gleiche Arbeit machen. Darüber hinaus möchten wir natürlich auch Schluss mit dieser Strafe machen, da sie am Rande der Legalität ist. Des Weiteren fordern wir Personen in der Krankenpflege in ganz Deutschland zur aktiven Teilnahme an der Kampagne auf, indem sie Berichte, Fotos und Dokumente über diese Missstände veröffentlichen.

Arbeiten Sie mit deutschen Gewerkschaften zusammen?

Ja, wir setzen uns ab und zu in Verbindung mit Verdi oder mit der FAU, je nachdem, wie sie uns im einzelnen Fall unterstützen und helfen können.

http://jungle-world.com/artikel/2015/07/51431.html

Small Talk von Peter Nowak

Wer streikt, hat Recht

Bald finden die ersten Lesungen des Tarifeinheitsgesetzes im Bundestag statt. Unter dem Motto »Hände weg vom Streikrecht« planen Gewerkschafter den Protest gegen das Gesetz

Im November konnte man den Eindruck gewinnen, Deutschland stehe kurz vor einer Revolution. Zumindest, wenn man die Reaktionen vieler Medien und konservativer Politiker zum Maßstab nahm, als das in der Gewerkschaft der Deutschen Lokomotivführer (GDL) organisierte Bahnpersonal für einige Tage die Arbeit niedergelegt hatte. Kaum zeigt ein Streik Wirkung, wird hierzulande vor einem Missbrauch des Streikrechts gewarnt und nach dem Gesetzgeber gerufen. Nach dem Ende des GDL-Streiks geht das gesetzliche Prozedere zur Einschränkung des Streikrechts, das unter dem Namen Tarifeinheit schon lange vor dem Streik des Bahnpersonals auf den Weg gebracht wurde, weiter. Anfang März ist die erste Lesung des geplanten Gesetzes zur Tarifeinheit im Bundestag vorgesehen. Für den 23. März ist die öffentliche Anhörung im Bundestagsausschuss »Arbeit und Soziales« geplant. Kurz darauf sollen bereits die zweite und dritte Lesung stattfinden.

Ende Januar trafen sich in Kassel etwa 50 linke Gewerkschafter und Unterstützer zu einer Konferenz, die unter dem Motto »Hände weg vom Streikrecht – für volle gewerkschaftliche Aktionsfreiheit!« stattfand. In den Redebeiträgen der Teilnehmer wurde vor allem betont, dass das Streikrecht ein Grundrecht sei und es sich bei jeder Einschränkung um eine Grundrechtsverletzung handele. Diese Argumentation findet sich auch in dem Aufruf »Juristen gegen das Tarifeinheitsgesetz«, der von dem Hamburger Rechtsanwalt Rolf Geffken initiiert wurde. Im Aufruf wird festgestellt, dass mit dem Tarifeinheitsgesetz gleich mehrere Grundrechte verletzt werden. Eine solche Argumentation mag bei einer Prüfung des Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht wichtig sein, zur Mobilisierung von Widerstand, um dieses Gesetz zu verhindern, trägt der Verweis auf das Grundgesetz aber wohlkaum bei. Da wäre eine transnationale Solidarität der Gewerkschaften in Europa, die sich von Standortnationalismus und Sozialpartnerschaft abgrenzt, wohl der bessere Weg. Auf der Konferenz in Kassel wurde die transnationale Dimension des Angriffs auf das Streikrecht angesprochen. »Was aktuell in der Bundesrepublik noch in der Planungsphase ist, ist in anderen westeuropäischen Ländern teilweise schon Realität«, sagte ein Konferenzteilnehmer.

Das Streikrecht und die Zulässigkeit anderer Protestformen werden insbesondere für Basisgewerkschaften immer mehr eingeschränkt. Damit würden Grundlagen für die Kriminalisierung und die politische Verfolgung geschaffen, hieß es auf der Konferenz. Als Beispiel wurde das in Spanien im Dezember vorigen Jahres in Kraft getretene Gesetz »zur Sicherheit der Bürger« genannt, das von der Opposition als »ley mordaza« (Knebelgesetz) bezeichnet wird, weil es das Recht auf freie Meinungsäußerung auf der Straße stark einschränkt. Mitte Januar wurden fünf Bergarbeiter aus Asturien nach diesem Gesetz zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Sie wurden beschuldigt, im vorigen Jahr mit militanten Streikaktionen gegen die Schließung der Bergwerke protestiert zu haben. Ebenfalls Mitte Januar erhielt in Spanien der 21jährige Gewerkschafter Alfonso Fernández Ortega eine Haftstrafe von vier Jahren. Er wurde beschuldigt, auf dem Weg zum Generalstreik in einem Rucksack Explosivstoffe mitgeführt zu haben. Alfon, wie der Angeklagte von der Solidaritätsbewegung genannt wird, bestreitet die Vorwürfe, seine Fingerabdrücke wurden nicht auf dem Rucksack gefunden. Bereits vor einem Jahr wurden in Spanien Gewerkschafter zu Haftstrafen verurteilt, weil sie beim Generalstreik im März 2012 als Streikposten tätig waren.

Auf der Konferenz wurde auch deutlich, wie gespalten der DGB in der Frage der Tarifeinheit mittlerweile ist. Das kann man schon als Erfolg der Gegner des Gesetzes werten, schließlich ging die erste Initiative für eine Tarifeinheit im Jahr 2011 aus der Kooperation des DGB mit dem Bund Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) hervor. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi distanzierte sich wegen des Protests der Basis als erste DGB-Gewerkschaft von der Tarifeinheitsinitiative. Sie begründete diesen Schritt auch damit, dass Verdi in manchen Betrieben mittlerweile die Minderheitsgewerkschaft darstellt und sich damit selbst schwächen würde. Das Tarifeinheitsgesetz sieht vor, dass nur noch die Gewerkschaft, die in einem Betrieb die meisten Mitglieder hat, Tarifverträge aushandeln darf.

Der Vorstand der IG Metall propagiert hingegen weiterhin das Tarifeinheitsgesetz. »Gewerkschaftskonkurrenz schwächt nicht nur die betriebliche Interessenvertretung – sie schwächt die Gewerkschaftsbewegung insgesamt. Deshalb unterstützt die IG Metall den vorgelegten Gesetzentwurf zur Tarifeinheit«, heißt es auf der Homepage der IG Metall. Als Negativbeispiel wird das Agieren von Verdi angeführt, die Dienstleistungsgewerkschaft konkurriert in einigen Branchen mit der IG Metall um Mitglieder. Auch zwischen anderen DGB-Gewerkschaften wie der IG Bau und der IG Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE) ist ein Kampf um die Mitglieder entbrannt. Dass DGB-Gewerkschaften nun den Gesetzgeber einschalten, um die Konkurrenz durch andere, unter dem Dach des DGB organisierte Gewerkschaften klein zu halten, ist ein Novum. Zur innergewerkschaftlichen Solidarität dürfte es kaum beitragen.

Allerdings wurde auf der Konferenz in Kassel deutlich, dass der Kurs der IG Metall auch von einigen ihrer Mitglieder abgelehnt wird. Vertreter dieser Opposition innerhalb der IG Metall waren auch in Kassel vetreten. Sie beklagten, dass die Kritiker des Tarifeinheitsgesetzes es schwer hätten, sich in der Organisation Gehör zu verschaffen. So übe die Leitung der IG Metall Druck auf Bildungssekretäre und Funktionäre aus, in keiner Betriebsversammlung und in keinem Bildungsseminar das Tarifeinheitsgesetz zur Debatte zu stellen. Bei der Delegiertenversammlung der IG Metall in Köln sei es gelungen, über das Gesetz zu diskutieren. Eine mehrheitliche Ablehnung durch die Delegierten sei die Konsequenz gewesen, berichteten sie in Kassel.

Im März plant das Solidaritätskomitee mehrere Aktionen für die Erhaltung des Streikrechts, etwa eine zentrale Veranstaltung in Berlin oder rund um die »Blockupy«-Aktionstage in Frankfurt. In den kommenden Wochen soll es entsprechende Plakate, Flugblätter und Aufrufe unter dem Motto »Hände weg vom Streikrecht – für die gewerkschaftliche Aktionsfreiheit« geben. Mehrere Konferenzteilnehmer kündigten an, ihre Arbeit auch fortzusetzen, wenn es nicht gelinge, das Tarifeinheitsgesetz zu verhindern. Man wolle sich in diesem Fall darauf konzentrieren, die Umsetzung des Gesetzes zu verhindern. Angesichts der geringen Solidarität für Gewerkschafter, die in Ländern wie Spanien von Repression und Kriminalisierung betroffen sind, kann man bei solchen Ankündigungen skeptisch bleiben. Auch die Einschränkungen gewerkschaftlicher Grundrechte, die es hierzulande bereits ohne das Tarifeinheitsgesetz gibt, haben bisher keine großen Proteste zur Folge gehabt. Das muss derzeit die Basisgewerkschaft Freie Arbeiterunion (FAU) erfahren. Sie vertritt seit mehreren Wochen acht rumänische Bauarbeiter, die beim Bau der Mall of Berlin mitgearbeitet hatten und weiterhin auf ihren Lohn warten. Der ehemalige Generalunternehmer der Mall of Berlin, Andreas Fettchenhauer, setzte eine einstweilige Verfügung gegen die FAU-Berlin durch. Die darf nun nicht mehr behaupten, mit seiner Firma in einem Arbeitskampf zu stehen. Bei Zuwiderhandlung droht der FAU ein Ordnungsgeld in Höhe von 250 000 Euro oder bis zu sechs Monate Haft für den Gewerkschaftssekretär.

http://jungle-world.com/artikel/2015/06/51372.html

Peter Nowak

Um Löhne geprellte Bauarbeiter

Mall of Berlin – ausbeuterisch errichtet

Seit mehreren Wochen unterstützt die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter-Union (FAU) rumänische Bauarbeiter, die bei der Mall of Berlin beschäftigt waren und um einen Großteil ihres Lohns geprellt wurden. Auf Kundgebungen hatten die ehemaligen Beschäftigten auch auf die Verantwortung des ehemaligen Generalunternehmens der Mall of Berlin, der Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, hingewiesen.

Der Inhaber der Firma, Andreas Fettchenhauer, geht jetzt mit juristischen Mitteln gegen die Vorwüfe der Bauarbeiter vor. In einer einstweiligen Verfügung, die der FAU Mitte Januar zuging, wurde der Gewerkschaft die Aussage verboten, sie befinde sich mit Andreas Fettchenhauer in einem Arbeitskampf. Ebenfalls untersagt wurde ihr die Behauptung, Fettchenhauer habe im Zusammenhang mit dem Arbeitskonflikt «eine große negative Öffentlichkeit» erhalten. Auch dass gegen die Firma Fettchenhauer der Vorwurf der «massiven Schwarzarbeit» und der «Nichtabführung von Beiträgen an die Versicherungsträger» erhoben worden sei, darf die FAU nicht mehr behaupten. Bei Zuwiderhandlung droht ihr ein Ordnungsgeld von 250000 Euro und den verantwortlichen Sekretären eine Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten.

Angriff auf die Gewerkschaftsfreiheit

Der Pressesekretär der Berliner FAU, Stefan Kuhnt, sieht in der einstweiligen Verfügung einen Angriff auf die Gewerkschaftsfreiheit. Die FAU Berlin musste inzwischen mehrere Texte auf ihrer Homepage ändern. «Einstweilige Verfügungen sind ein gängiges Mittel gegen Gewerkschaften», erklärt die FAU-Sekretärin Nina Matzek. Sie kritisiert, dass ein Richter die einstweilige Verfügung erlassen hat, ohne der Gewerkschaft Gelegenheit zu geben sich zu äußern. Dann hätte sie auf das kritische Pressecho zur Mall of Berlin in den letzten Wochen ebenso hinweisen können wie auf die aktuelle Rechtslage. «Die rechtliche Situation sieht vor, dass wenn ein Subunternehmen nicht bezahlt, die Auftraggeber für die ausstehenden Löhne haften», erklärt Kuhnt.

Unterstützung bekommt die Gewerkschaft von der Sprecherin für Soziale Menschenrechte der Bundestagsfraktion Die LINKE, Azize Tank: «Es ist doch kein Geheimnis, dass seit Wochen ein Arbeitskampf der um ihre Löhne geprellten rumänischen Bauarbeiter der Mall of Berlin geführt wird. Nach meinem Kenntnisstand wurden auch auf der Baustelle offenbar sozialversicherungsrechtliche Melde-, Beitrags- oder Aufzeichnungspflichten nicht erfüllt. Ich werde mich weiterhin parlamentarisch für eine Aufklärung bemühen», erklärte die Bundestagsabgeordnete in einer Pressemitteilung.

Um den Lohn betrogen

Mit der Einstweiligen Verfügung reagiert Fettchenhauer nun darauf, dass seine Firma im Dezember in der Medienöffentlichkeit stand. Zahlreiche Zeitungen berichteten über den Arbeitskampf, im Deutschlandfunk gab es zwei Beiträge dazu.

Die Mall of Berlin ist ein Einkaufszentrum für gehobene Ansprüche in der Nähe des Potsdamer Platzes. Anfang Dezember begann eine Gruppe von acht rumänischen Bauarbeitern vor dem Eingang der Mall zu protestieren und wurde dabei von der FAU unterstützt. Die Arbeiter hatten auf der Baustelle der Mall of Berlin gearbeitet und wurden um ihren Lohn betrogen. Insgesamt hat man ihnen 3000 Euro vorenthalten.

Die für den Bau der Mall of Berlin zuständigen Unternehmen schoben sich die Verantwortung für die nicht bezahlten Löhne gegenseitig zu. Die Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, Generalunternehmer auf der Mall of Berlin, die mittlerweile Insolvenz angemeldet hat, verwies auf die Subunternehmen Metatec-Fundus GmbH & Co. KG aus Berlin sowie die openmallmaster GmbH aus Frankfurt am Main. Beide Unternehmen beantworten keine Presseanfragen.

Politik nicht zuständig

In einer schriftlichen Anfrage wollte die Abgeordnete Azize Tank von der Bundesregierung wissen, wie sie die Forderungen der rumänischen Bauarbeiter unterstützt. In der Antwort erklärte die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Anette Kramme, der Bundesregierung lägen keine Erkenntnisse über Missstände bei den Arbeitsverhältnissen auf der Mall vor. Sie verwies auf den Rechtsweg, der den geprellten Arbeitern offenstehe. Für Tank zeugt diese Antwort von Ignoranz für die realen Probleme: «Die Bundesregierung will wieder mal von Missständen mit Leiharbeitsfirmen nichts wissen, dabei ist sie hierfür selbst verantwortlich.»

Sie sieht in dem bereits unter Rot-Grün geschaffenen Billiglohnbereich und der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse die Grundlagen für eine Praxis der Lohndrückerei, die nicht nur bei der Mall of Berlin Schlagzeilen macht. Die Bauarbeiter seien gezielt unter Verletzung der Bestimmungen über den Mindestlohn zu ausbeuterischer Arbeit gedrängt worden. «Hier ist die Bundesregierung durch den von ihr unterzeichneten UN-Sozialpakt in der Pflicht, die rechtliche Grundlage zu schaffen, dass die Beschäftigten zu ihrem Recht kommen.» Die FAU setzt auch nach der einstweiligen Verfügung gemeinsam mit den Bauarbeitern den Kampf um ihren Lohn fort.

aus: Soz Nr. 02/2015 |


von Peter Nowak

Hoffnung für »Mall of Berlin«-Arbeiter

Bundesarbeitsministerium: Generalunternehmer sind bei Lohnprellerei in der Pflicht

Seit Wochen kämpfen Rumänen für Löhne, die ihnen beim Bau der »Mall of Berlin« vorenthalten wurden. Eine Einschätzung des Bundesarbeitsministeriums stärkt den Bauarbeitern den Rücken.

Die rechtliche Einschätzung könnte den rumänischen Bauarbeitern von der »Mall of Berlin« helfen. »Ein Generalunternehmen haftet gegenüber Arbeiterinnen und Arbeitern nachgeordneter Unternehmer und Subunternehmer, wenn diese ihren Arbeitgeberverpflichtungen nicht nachkommen«, stellt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von Ministerin Andrea Nahles (SPD) fest. So geht es aus einer Antwort auf eine schriftliche Anfrage der Bundestagsabgeordneten Azize Tank (parteilos, für LINKE) hervor. Die Sprecherin für Soziale Menschenrechte der Sozialisten hatte nach der aktuellen Rechtslage gefragt. »Nach Paragraf 14 Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) haftet ein Unternehmer, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von Werk- oder Dienstleistungen beauftragt, wie ein Bürge«, heißt es in der »nd« vorliegenden Antwort weiter.

Damit wird auch die Position der Freien Arbeiter Union (FAU) bestätigt, die sich für die rumänischen Bauarbeiter stark macht. Die Basisgewerkschaft hatte in der Vergangenheit in Pressemitteilungen immer wieder auf eine Verantwortung des Generalunternehmers Andreas Fettchenhauer hingewiesen. Der hatte die Verantwortung für die Zahlung der Löhne stets zurückgewiesen. Mit einer einstweiligen Verfügung, die Anfang Januar erlassen wurde, hatte er der FAU die Behauptung verbieten lassen, dass sie sich mit ihm in einem Arbeitskampf befindet. Der Generalunternehmer hat immer darauf verwiesen, dass die Rumänen bei Subunternehmern beschäftigt waren.

»Fettchenhauer steht als Generalunternehmer bzw. Bauherr für die Zahlung des ausstehenden Lohns mit in der Verantwortung«, betonte dagegen Azize Tank. Das gehe aus der Antwort des Bundesarbeitsministeriums hervor. Es erscheine in diesem Falle unerheblich, ob es schriftliche Arbeitsverträge oder nur mündliche Absprachen zur Verrichtung der Arbeit gab. »Die Arbeit wurde verrichtet und nun müssen endlich die Löhne gezahlt werden«, fordert Tank. Jetzt gehe es darum, dass die Ansprüche rechtlich eingeklagt werden.

Bereits seit  Wochen wurden diese Klagen vorbereitet, erklärt ein Sprecher der FAU. Tank will nun weitere Anfragen stellen. Sie will wissen, ob es Informationen über die Zahl der um Löhne betrogenen Arbeitnehmer gibt und wie viele Betroffene sich wehren.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/960578.hoffnung-fuer-mall-of-berlin-arbeiter.html

Peter Nowak

Dem Weltwirtschaftsforum gehen Kritiker aus

Streiksolidarität

Peter Nowak zu den Amazonprotesten
„Und, hast du schon alle deine Weihnachtsgeschenke gekauft? Kein Problem, die kannst du ja immer noch bei Amazon bestellen? Internet-Shopping ist Teil unserer aller Alltag geworden – doch nur wenige haben sich je Gedanken darüber gemacht, dass auch hinter diesem Teil der Wirtschaft ArbeiterInnen stehen, die tagtäglich die Pakete packen, Waren zusammensuchen, usw. Sie tun dies unter äußerst prekären Bedingungen: sie verdienen  nur wenig, werden ständig überwacht und haben selten unbefristete Verträge. Für viele von ihnen ist Weihnachten die Zeit, vor der sie sich fürchten müssen, weil ihnen dann gekündigt wird, um einer neuen Riege unbefristeter ArbeiterInnen Platz zu machen. Und dies alles, während Amazon kaum Steuern zahlt, kleine Verlage aus dem Markt drängt und ein de facto Buchmonopol errichtet.“
Von der Gewerkschaft ver.di produzierte Informationsflyer mit dieser   Botschaft wurden im Dezember in den Fußgängerzonen  mehrerer  deutscher Städte häufiger verteilt. Potentiellen KundInnen sollten damit     auf die Forderungen der Beschäftigten bei Amazon aufmerksam gemacht werden.   Damit sollte auch Verständnis geweckt werden, wenn es in den Nachrichten mal wieder heißt, bei Amazon wird gestreikt. Dabei wird oft sofort gefragt, ob jetzt womöglich die Plakate verspätet ankommen. Mit den Infoblättern wird der Fokus wieder auf die Menschen und ihre Arbeits- und Lebensbedingungen gelenkt, die es erst möglich machen, dass die Pakete  pünktlich geliefert werden.
An der Verteilaktion sind nicht nur GewerkschafterInnen beteiligt. Ein Bündnis aus linken Gruppen hat es beispielsweise in Berlin übernommen, auf verschiedenen Weihnachtsmärkten die Flyer zu verteilen und mit den PassantInnen darüber zu reden, wieso Amazon-KundInnen mit den Forderungen der in dem Unternehmen  Beschäftigten solidarisch sein sollen.   Dazu hatte sich ein Streiksoli-Bündnis gegründet.  Während das Solibündnis Flyer verteilt, beteiligen sich die Solidaritätsbündnisse  aus Frankfurt/Main an einer Blockade vor dem Amazon-Standort Bad Hersfeld. Damit soll verhindern werden, dass der Streik unterlaufen wird.
Ein Leuchtturm im Osten
Vorbild ist das Bündnis Streiksoli in Leipzig, das bereits im letzten Jahr   anlässlich der Streiks in den dortigen Amazon-Standort mit den Beschäftigten Kontakt  aufgenommen hatte. Das Bündnis  unterstützt Kundgebungen, verteilte  Flyer an potentielle Amazon-KundInnen und half so mit, in der Gesellschaft für den Streik zu werben. Schnell gab es auch in anderen Städten Interesse an einer Streiksoliarbeit nach dem Leipziger Vorbild. Am letzten Juni-Wochenende 2014     wurden  in Leipzig auf den  ersten bundesweiten Streiksoli-Treffen  die Grundlagen für eine Kooperation gelegt.  Mitte November gab es ein Folgetreffen in Frankfurt/Main, an dem VertreterInnen aus Leipzig und , Hamburg   teilnahmen.
Dort wurden im Detail durchaus Unterschiede erkennbar.Soll lediglich ein bundesweites   Netzwerk der Streiksolidarität aufgebaut werden, wie es vor allem dem  Bündnis Streik-Soli-Leipzig vorschwebte?     Oder soll sich das Bündnis auch ein kurzes Selbstverständnis geben, wie es vor allem die Gruppe Antifa Kritik und Klassenkampf  (AKK) aus Frankfurt/Main vorschlug?  Neben diesen Differenzen in organisatorischen Fragen stehen auch politische Unterschiede, die allerdings nicht so klar ausgesprochen werden.   Soll die Streiksolidarität in engem Bündnis mit DGB-Gewerkschaften kooperieren?  Doch wie soll sie reagieren, wenn die Gewerkschaftsvorstand wie so oft in der Vergangenheit,  einen Arbeitskampf gegen den Willen eines relevanten Teils der Beschäftigten beenden wollen und dabei Zugeständnisse an die  Kapitalseite macht, die von großen Teilen der Basis abgelehnt werden?  Die AKK erklärte in der Diskussion, die Streiksoliarbeit sollte die Selbstorganisierung der Lohnabhängigen    zum Ziel haben, was mit  dem gewerkschaftlichen Agieren übereinstimmen kann aber nicht muss.. Die Debatte wird sicherlich  beim nächten Treffen bundesweiten Treffen, das im Frühjahr 2015 in Bad Hersfeld, einem der Zentren des Amazon-Streiks  stattfinden soll, fortgesetzt werden.
aus express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

http://www.express-afp.info/newsletter.html
Peter Nowak

»Die Empörung ist recht groß«

Konferenz »Hände weg vom Streik« wendet sich gegen das neue Tarifeinheitsgesetz

Hände weg vom Streikrecht fordert eine Tagung am Wochenende in Kassel. Die Zeit drängt: Bereits im März will der Bundestag ein entsprechendes Gesetz verabschieden. Gewerkschafter warnen, dass der Arbeitskampf dadurch behindert werde.

Jakob Schäfer ist Mitglieder der IG Metall und aktiv im Arbeitsausschuss der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken. Er gehört zu den Organisatoren der Aktionskonferenz »Hände weg vom Streikrecht«, die am Samstag in Kassel stattfindet.

Die Bundesregierung will mit einem neuen Gesetz zur Tarifeinheit das Streikrecht für kleinere Gewerkschaften erheblich einschränken. Wie weit ist Schwarz-Rot damit?
Für Anfang März ist die erste Lesung des Tarifeinheitsgesetzes vorgesehen, für den 23. 3. die öffentliche Anhörung im Ausschuss »Arbeit und Soziales« und für den 26.3. die zweite und dritte Lesung.

Innerhalb der DGB-Gewerkschaften gibt es Befürworter und Gegner der Gesetzesinitiative. Haben Sie Kontakt zu den Gegnern und werden sie an dem Kongress teilnehmen?
Ver.di, NGG und GEW haben sich entschieden gegen dieses Gesetzesvorhaben positioniert. Eine ganze Reihe von ver.di-KollegInnen hat sich für die Konferenz angemeldet. Aber es werden auch Mitglieder der IG Metall da sein. Die Empörung über die Zustimmung des IG Metall-Vorstands zu diesem Gesetzesvorhaben ist in den Reihen meiner Gewerkschaft, der IG Metall, recht groß.

Gibt es Kontakte außerhalb des DGB wie zur Basisgewerkschaft FAU oder zu den Lokführern der GDL?
Unser Aktionsbündnis gibt es seit dem ersten Versuch im Jahr 2011, ein solches Gesetz einzuführen. Seitdem gibt es den Kontakt zur GDL. Die ist aber zurzeit durch ihre Tarifrunde stark in Beschlag genommen, so dass wir nicht wissen, ob sie Vertreter schicken kann. Die FAU ist von Anfang an in dem Bündnis aktiv dabei. Schließlich ist sie ja in ihren basisgewerkschaftlichen Aktivitäten direkt und indirekt betroffen.

Während der GDL-Streiks Ende 2014 spielte das Thema Tarifeinheit eine große Rolle. Hat dieses Interesse sich auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Durch die GDL-Streiks wurde die praktische Bedeutung dieses Gesetzesvorhabens unmittelbar deutlich. Eine Gewerkschaft, die zumindest etwas kämpferischer für die Interessen ihrer Mitglieder eintritt, soll faktisch ausgeschaltet werden. Damit ist so manchen unserer KollegInnen klarer geworden, worum es eigentlich geht.

In den letzten Wochen wurden mehrere Streikzeitungen herausgegeben, die sich gegen die Tarifeinheit wandten. Soll dieses Projekt fortgesetzt werden?
Die Streikzeitung hat mit ihren drei Nummern und einer Auflage von mehreren Zehntausend einen tollen Beitrag zur Aufklärung in Sachen Tarifeinheit und zur Organisierung der Solidarität mit den GDL-KollegInnen geleistet. Ob es zu weiteren Ausgaben kommt, hängt vom Verlauf der Tarifverhandlungen ab. Ich verweise auf die ausgezeichnete Website der Streikzeitung: pro-gdl-streik14.de.

Die Bundesregierung plant mit der Einführung von Zwangsschlichtungen und der Sicherung der Daseinsfürsorge weitere Einschränkungen gewerkschaftlicher Rechte. Können Sie diese Pläne präzisieren?
Am weitesten ausgeführt sind diese Vorstellungen in einem Gesetzentwurf, den die Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Stiftung vorgelegt hat. Darüber wurde der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Arnold Vaatz in den Stuttgarter Nachrichten vom 2. April 2014 mit dem Satz zitiert: »Die Schäden, die ein Arbeitskampf auslöst, müssen im Verhältnis zum Anlass stehen.«

Gewerkschaftsrechte werden in vielen Ländern eingeschränkt. Werden auch Gewerkschafter von anderen Ländern auf der Konferenz anwesend sein?
Durch die Mitarbeit der Streikrechtsinitiative »tie germany« im Europäischen Netzwerk der BasisgewerkschafterInnen gibt es einen ständigen Austausch über die Situation in den verschiedenen europäischen Ländern. Auf dem letzten Treffen in Toulouse im Oktober 2014 wurde ausführlich über die Streiks und das geplante Tarifeinheitsgesetz informiert.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/959487.die-empoerung-ist-recht-gross.html

Interview: Peter Nowak

Angriff auf die Gewerkschaftsfreiheit

ARBEIT Die Freie Arbeiter Union (FAU) setzt sich für rumänische Bauarbeiter ein. Nun bekommt sie Ärger

Seit mehreren Wochen unterstützt die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) 20 rumänische Bauarbeiter, die über eine Leiharbeitsfirma bei der Mall of Berlin beschäftigt waren und um einen Großteil ihres Lohns geprellt wurden. Bei Kundgebungen wurde von den ehemaligen Beschäftigten auch auf die Verantwortung des ehemaligen Generalunternehmens der Mall of Berlin, der Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, hingewiesen.

Jetzt hat deren Inhaber Andreas Fettchenhauer in einer der taz vorliegenden Einstweiligen Verfügung der FAU verboten zu behaupten, dass sie sich mit seiner Firma in einem Arbeitskampf befindet. Ebenfalls untersagt wurde ihr, den Eindruck zu erwecken, Fettchenhauer habe im Zusammenhang mit dem Arbeitskonflikt „eine große negative Öffentlichkeit erhalten“. Bei einer Zuwiderhandlung droht der Gewerkschaft ein Ordnungsgeld von 250.000 Euro und den Verantwortlichen eine Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten. Die FAU Berlin musste Texte auf ihrer Homepage ändern.

„Einstweilige Verfügungen sind ein gängiges Mittel gegen Gewerkschaften“, erklärt die FAU-Sekretärin Nina Matzek und spricht von einem Angriff auf die Gewerkschaftsfreiheit. Sie kritisiert, dass ein Richter die Einstweilige Verfügung erlassen hat, ohne der Gewerkschaft Gelegenheit zu geben, sich zu äußern. Dann hätte sie auf das kritische Pressecho zur Mall of Berlin ebenso wie auf die aktuelle Rechtslage hinweisen können. „Die rechtliche Situation sieht vor, dass, wenn ein Subunternehmen nicht bezahlt, die Auftraggeber für die ausstehenden Löhne haften“, erklärt auch der Pressesekretär der FAU-Berlin, Stefan Kuhnt. Unterstützung bekommt die FAU von der Sprecherin für Soziale Menschenrechte der Bundestagsfraktion, Azize Tank (Linke): „Es ist kein Geheimnis, dass seit Wochen ein Arbeitskampf der rumänischen Bauarbeiter geführt wird. Nach meinem Kenntnisstand wurden sozialversicherungsrechtlichen Melde-, Beitrags- oder Aufzeichnungspflichten nicht erfüllt. Ich werde mich weiterhin um Aufklärung bemühen.“

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2015%2F01%2F19%2Fa0094&cHash=8127f4f6fbd56442433cb6e5dcf4cf25

Peter Nowak

»Mall of Berlin« gegen die FAU

Unternehmer erwirkt Einstweilige Verfügung gegen Gewerkschaft

Die FAU, die sich nach eigenen Angaben für um den Lohn geprellte Arbeiter einsetzt, darf öffentlich keine Kritik mehr am Bauherren der »Mall of Berlin« üben.

Seit mehreren Wochen unterstützt die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) acht rumänische Bauarbeiter, die über eine Leiharbeitsfirma bei der »Mall of Berlin« beschäftigt waren und um einen Großteil ihres Lohns geprellt wurden. Bei Kundgebungen wurde von den ehemaligen Beschäftigten auch auf die Verantwortung des ehemaligen Generalunternehmens der Mall of Berlin, die Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, hingewiesen. Jetzt hat deren Inhaber Andreas Fettchenhauer in einer »nd« vorliegenden Einstweilige Verfügung der FAU verboten, zu behaupten, dass sie sich mit seiner Firma in einen Arbeitskampf befindet. Ebenfalls untersagt wurde ihr, den Eindruck zu erwecken, Fettchenhauer habe im Zusammenhang mit dem Arbeitskonflikt »eine große negative Öffentlichkeit erhalten« Die FAU darf künftig auch nicht mehr behaupten, dass es gegen die Firma Fettchenhauer Vorwürfe der »massiven Schwarzarbeit« und der »Nichtabführung von Beiträgen an die Versicherungsträger« gegeben hat. Bei einer Zuwiderhandlung droht der Gewerkschaft ein Ordnungsgeld von 250 000 Euro und den verantwortlichen Sekretären eine Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten. Die FAU Berlin musste inzwischen mehrere Texte auf ihrer Homepage ändern.

»Einstweilige Verfügungen sind ein gängiges Mittel gegen Gewerkschaften«, sagt FAU-Sekretärin Nina Matzek und spricht von einem Angriff auf die Gewerkschaftsfreiheit. Sie kritisiert, dass ein Richter die Einstweilige Verfügung erlassen hat, ohne der Gewerkschaft Gelegenheit zu geben, sich zu äußern. Dann hätte sie auf das kritische Pressecho zur Mall of Berlin in den letzten Wochen ebenso wie auf die aktuelle Rechtslage hinweisen können. »Die rechtliche Situation sieht vor, dass wenn ein Subunternehmen nicht bezahlt, die Auftraggeber für die ausstehenden Löhne haften«, erklärt auch der Pressesekretär der FAU-Berlin, Stefan Kuhnt. Für ihn ist die Auseinandersetzung mit der Einstweiligen Verfügung nicht beendet. »Jetzt wird der Fall politisch.«

Unterstützung bekommt die FAU von der Sprecherin für Soziale Menschenrechte der Bundestagsfraktion der Linkspartei, Azize Tank. »Es ist doch kein Geheimnis, dass seit Wochen ein Arbeitskampf der um ihre Löhne geprellten rumänischen Bauarbeiter der Mall of Berlin geführt wird. Nach meinem Kenntnisstand, wurden auch auf der Baustelle sozialversicherungsrechtlichen Melde-, Beitrags- oder Aufzeichnungspflichten nicht erfüllt. Ich werde mich auch weiterhin parlamentarisch für eine Aufklärung bemühen. Ein perfides System der Ausbeutung von Wanderarbeitern darf es weder in Berlin noch anderswo geben«, erklärt die Bundestagsabgeordnete dem »nd«.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/958790.mall-of-berlin-gegen-die-fau.html

Peter Nowak

Jeden Tag Solidarität

Peter Nowak über die Kündigung eines Gewerkschaftssekretärs

Ein Solidaritätsaufruf für gekündigte GewerkschafterInnen ist in diesen Tagen wahrlich nicht selten. Der vielfach unterzeichnete Offene Brief gegen die Entlassung von Veit Wilhelmy ist dennoch etwas Besonderes. Denn der Adressat ist der Vorstand der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU).

Wilhelmy war seit Jahren im Rhein-Main-Gebiet als Sekretär im Bereich Gebäudereinigung aktiv. Dass der IG-BAU-Vorstand Wilhelmy gleich viermal fristlos gekündigt hat, liegt nicht an dessen Erfolglosigkeit in der Mitgliederwerbung oder an mangelnder Interessenvertretung der KollegInnen. Ganz im Gegenteil. Die Eintritte waren in seiner Branche hoch. Vorgeworfen wird ihm, dass er in einem Betrieb, der zur DGB-Schwester IG BCE gehört hat, Mitglieder geworben hat. Es ist kein Geheimnis, dass es zwischen den DGB-Gewerkschaften heftige Konkurrenz um die Mitglieder gibt. Dass deswegen Gewerkschaftsmitglieder gekündigt wurden, ist hingegen nicht bekannt.

Als weiterer Kündigungsgrund führte sein Arbeitgeber gegen Wilhelmy an, er habe einen Unternehmer wegen Behinderung einer Betriebsratswahl angezeigt, ohne sich zuvor um die Vollmacht des Bundesvorstands gekümmert zu haben. Aber: Aktive Gewerkschafter an der Basis würden sich sicher mehr Sekretäre wünschen, die auch mal unbürokratisch handeln. Beim Vorwurf, Wilhelmy habe eine Kollegin zu vergünstigten Bedingungen in die Gewerkschaft aufgenommen, fragt man sich, wie viel Entscheidungsfreiheit den Sekretären überhaupt gelassen wird. Doch Wilhelmy ist auch seit Jahren über gewerkschaftliche Kreise hinaus als Initiator des Wiesbadener Appells bekannt geworden, der das Recht auf politische Streiks in Deutschland forderte. Im Jahr 2009 hatte Wilhelmy auf dem Gewerkschaftstag der IG BAU gegen den Willen des Vorstandes einen Antrag für ein umfangreiches Streikrecht erfolgreich durchgesetzt. Er berief sich dabei auf den UN-Sozialpakt, den Deutschland bereits 1970 ratifiziert hat. Dass der aktive Sekretär beim Vorstand schon länger in Ungnade gefallen ist, scheint also wahrscheinlich – trotz gegenteiliger Beteuerungen.

Schließlich wurden auch in der Vergangenheit SekretärInnen von DGB-Gewerkschaften gekündigt, die sich besonders für die Rechte der Kollegen einsetzten und dafür auch bereit waren, Konflikte mit Unternehmen und der Politik in Kauf zu nehmen. Ein Beispiel ist im Jahr 2007 die Kündigung des thüringischen ver.di-Sekretärs Angelo Lucifero, der auch über Gewerkschaftskreise hinaus für sein antifaschistisches Engagement bekannt war. In dem Aufruf für Wilhelmy, der im Internet zum Unterzeichnen zu finden ist, geht es um ein hohes gewerkschaftliches Gut, die Solidarität. Daran müssen auch die Gewerkschaftsvorstände gelegentlich erinnert werden, die den Begriff oft nur für die Rede zum 1. Mai gebrauchen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/958646.jeden-tag-solidaritaet.html

Peter Nowak

Maloche für 9 Euro am Tag

BEZAHLUNG Die Gefangenengewerkschaft fordert heute bei einer Kundgebung den allgemeinen Mindestlohn auch im Gefängnis. Der Erwerbslosenausschuss von Verdi Berlin hat sich solidarisch erklärt

„Mindestlohn für alle“ lautet das Motto von zwei Kundgebungen vor der SPD-Zentrale und dem Bundesarbeitsministerium, zu denen die Gefangenengewerkschaft (GG) für den heutigen 15. Januar aufruft. „Wir wollen damit deutlich machen, dass der allgemeine gesetzliche Mindestlohn, der seit 1. Januar in Kraft ist, nicht für alle Beschäftigten gilt“, meint Oliver Rast gegenüber der taz.

Der Sprecher der im Mai 2014 gegründeten GG (taz berichtete) verweist damit auf die Gefängnisinsassen. „Zehntausende Inhaftierte malochen für die „öffentliche Hand“ und externe Unternehmen und erhalten hierfür einen Tageslohn von 9 bis 15 Euro, betont Rast, der bis zum September 2014 in der JVA Tegel inhaftiert war.

Dass innerhalb weniger Wochen mehrere hundert Häftlinge in ca. 30 Gefängnissen Mitglied der Gefangenengewerkschaft wurden, liegt für ihn auch an der Mindestlohndebatte. „Die Gefangenen wussten, dass sie nicht gemeint waren, wenn Mindestlohn für alle propagiert wird.“ Berlins Justizsenator Heilmann (CDU) bekundete auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei im Abgeordnetenhaus hin, dass für Berliner Gefangene auch in Zukunft kein Mindestlohn geplant sei. Häftlinge seien keine Arbeitnehmer auf dem freien Markt, sondern zur Arbeit verpflichtet, so die Argumentation des Senators.

Damit werde im Knast ein Niedriglohnsektor etabliert, moniert die Gefangenengewerkschaft. Sie bemüht sich um eine Kooperation mit den DGB-Gewerkschaften. Es gab bereits Gespräche mit Roland Tremper vom Berliner Vorstand der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Dort hat man sich bisher eher um die Organisierung des JVA-Personals als um die der Häftlinge bemüht. Der Erwerbslosenausschuss von Verdi Berlin aber hat sich bereits mit der Gefangenengewerkschaft solidarisch erklärt und stellt sich ausdrücklich hinter deren Forderungen nach einem Mindestlohn im Knast und der Einbeziehung der Häftlinge in die Rentenversicherung.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2015%2F01%2F15%2Fa0190&cHash=2f72bdaa2edd7a0cf60072f4025a0b40

Peter Nowak

»Die soziale Frage hinter Gittern aufwerfen«

Im Mai 2014 wurde in der JVA Tegel in Berlin die Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) gegründet. Oliver Rast ist einer der Gründer und seit dem Ende seiner Haftzeit Sprecher der Gewerkschaft. Er ist seit Jahren in der radikalen Linken aktiv. 2011 wurde Rast wegen angeblicher Mitgliedschaft in der »militanten gruppe« zu eine dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Mit ihm sprach die Jungle World über die Arbeit der Gefangenengewerkschaft und Möglichkeiten der Organisation von Häftlingen.

In jüngst veröffentlichten Beiträgen aus Ihrer Anfangszeit in der JVA Tegel schreiben Sie, dass der Klassenkampf hinter Gittern vorbei sei. Die Individualisierung sei so groß, dass Inhaftierte eher mit der Anstaltsleitung paktierten, als sich untereinander zu solidarisieren. Sind Gefangenenproteste passé?

Als ich im Mai 2013 vom sogenannten offenen in den geschlossenen Vollzug verfrachtet wurde, wurde ich erstmal mit der Situation konfrontiert, dass vom pulsierenden Klassenkampf hinter Gittern nichts wahrzunehmen war. Als jemand, der in den achtziger Jahren politisch sozialisiert wurde, musste ich nun kapieren, dass die Zeiten der Knastkollektive politischer Gefangener und breit getragener Kampagnen für deren Forderungen vorbei sind. Ich musste die Bilder, die sich in meiner Vorstellungswelt festgesetzt hatten, wegräumen, um einen klareren Blick auf die Verhältnisse vor Ort zu entwickeln. Der Klassenkampf lässt sich in der Parallelwelt des Knastes weder inszenieren noch von außen hineintragen.

Für mich stellte sich also die Frage, wie ich als politisches Subjekt im Knast auftreten will. Gefangenenhilfs- und Solidaritätsorganisationen versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten, Haftbedingungen zu thematisieren und das Knastsystem in Frage zu stellen. Aber eine wirkliche Zugkraft für die Mehrheit der Gefangenen stellen sie nach meinen Erfahrungen nicht dar. Es brauchte einen inhaltlichen Aufhänger und einen praktischen Anlass, damit Gefangene unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Hintergrund zusammenfinden konnten.

Wie kam es dann dazu, dass Sie schließlich aus dem Knast heraus eine Gefangenengewerkschaft ins Leben riefen?

Das sieht in der Rückschau sicherlich durchdachter und planvoller aus, als es in dem Moment tatsächlich ablief. Sowohl bei mir als auch bei meinen Mitdiskutanten vor und hinter der Knastmauer war viel Skepsis vorhanden, wie weit die vage Idee einer Gefangenenunion tatsächlich umgesetzt werden könnte. Letztlich war es das Zusammenspiel von drei Hauptfaktoren, das dazu führte, dass mein inhaftierter Kollege Mehmet Aykol und ich die »Gefangenengewerkschaft der JVA Tegel« gründeten, die wenig später in »Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO)« umbenannt wurde.

Welche Faktoren waren das?

Erstens bin ich seit einigen Jahren Mitglied der Industrial Workers of the World (IWW), auch Wobblies genannt, sowie der gleichfalls traditionsreichen Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU). Ich wollte mein basisgewerkschaftliches und revolutionär-unionistisches Engagement auch unter den widrigen Knastbedingungen fortsetzen.

Zweitens stützen wir uns auf geltendes Recht. Zum einen berufen wir uns auf ein Grundrecht, das auch für Inhaftierte nicht außer Kraft gesetzt ist: die Koalitionsfreiheit nach Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes. Zum anderen haben wir uns, wie es eine gängige Rechtspraxis von Gewerkschaften ist, als »nicht rechtsfähiger Verein« nach dem BGB konstituiert.

Und drittens sahen wir die dringende Notwendigkeit, die soziale Frage hinter Gittern aufzuwerfen, womit wir den neuralgischen Punkt vieler, wenn nicht gar aller Gefangenen getroffen haben.

Sie sind mit zwei Hauptforderungen angetreten: Mindestlohn und Rentenversicherung für Inhaftierte. Wie wollen Sie diese durchsetzen?

Wir haben uns bewusst auf ein Minimalprogramm beschränkt. Die Klarheit der Forderungen nach Mindestlohn und Rentenversicherung für Gefangene ist ein Teil des »Erfolgsrezepts« der GG/BO. Das entspricht absolut lebensnahen Bedürfnissen von Inhaftierten. Dadurch entsteht eine Interessengemeinschaft, die die sonst so übliche Fraktionierung unter Gefangenen punktuell überwindet. Außerdem bringen wir uns in allgemeine öffentliche Debatten nach einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit ein. Das verschafft uns eine doppelte Anschlussfähigkeit, die uns eine relativ breite Resonanz beschert hat.

Jetzt wird es darauf ankommen, dass wir uns im Bündnis mit anderen Kräften in sozialen Bewegungen verankern. Hierüber hoffen wir, Kräfteverhältnisse verschieben zu können. Wir wissen aber auch, dass wir gegen gewichtige Akteure in Bund und Ländern anlaufen, die jede sozialreformerische Veränderung, auch wenn sie lediglich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz pocht, für einen Akt der Meuterei halten.

Gleich nach der Gründung der GG/BO wurden gewerkschaftseigene Unterlagen beschlagnahmt. Hat die Repression der Anstaltsleitung der JVA Tegel die Gefangenenbewegung beschleunigt?

Zweifellos haben die Zellenrazzien in Tegel den Grad des öffentlichen Interesses erhöht und somit unsere anfängliche Entwicklung etwas beschleunigt. Allerdings bezwecken solche Maßnahmen immer, uns die Legitimität als gewerkschaftliche Initiative abzusprechen. Das soll unter den Gefangenen Verunsicherung erzeugen. Uns ist klar, dass potentiell interessierte Insassen davon abgehalten werden sollen, sich der GG/BO anzuschließen.

Nun haben die Damen und Herren im Justizapparat das Problem, dass wir existieren – und zwar, wie erwähnt, auf einer formaljuristisch fundierten Basis. Wir nehmen lediglich ein Grundrecht in Anspruch, das der bürgerliche Staat selbst einer »sozialen Randgruppe« wie Inhaftierten nicht vorenthalten will.

Einige unserer aktivsten Mitglieder erfahren momentan die »Klassenjustiz« ganz reell. Insbesondere für agile Gewerkschafter hinter Schloss und Riegel zeigt sich, wie weit es mit dem vielbeschworenen liberalen Rechtsstaat in Wirklichkeit her ist. Als GG/BO gehen wir gegen die schikanösen Behandlungen unserer Mitglieder politisch und juristisch vor.

Wie können die Kolleginnen und Kollegen in den unterschiedlichen Gefängnissen in den Entscheidungsprozess der GG/BO einbezogen werden?

Eine basisdemokratische Organisation stößt im Knast sprichwörtlich auf Grenzen. Es können derzeit keine JVA-Versammlungen unserer Mitglieder einberufen werden, um zum Beispiel mit auswärtigen GG/BO-Mitgliedern in direkten Austausch zu treten. Vieles läuft zäh über Schriftverkehr, der natürlich durch das Eingreifen der Vollzugsbehörden gestört werden kann.

Ist die GG/BO dann überhaupt arbeitsfähig?

Doch, wir haben viel vor: Mit unserem bundesweiten Aktionstag »Schluss mit der Billiglöhnerei hinter Gittern!«, der im April 2015 in mehreren Städten stattfinden wird, soll durch eine »aktivierende Untersuchung« die Betriebslandschaft in den Knästen unter die Lupe genommen werden. Mit einem Fragebogen an unsere Mitglieder wollen wir in Erfahrung bringen, wer dort unter welchen Bedingungen zu Billiglöhnen und im Akkord produzieren lässt. Wir hoffen, dass das innerhalb und außerhalb der Knäste einen weiteren Mobilisierungsschub geben wird.

Die Solidarität zwischen inhaftierten und nicht inhaftierten Kollegen ist ganz wichtig für das Funktionieren unserer Organisation. Indem wir sowohl drinnen als auch draußen über Standbeine verfügen, haben wir viel größere Handlungsspielräume und sind als Gesamtorganisation nicht gleich durch jede JVA-Schikane zu erschüttern.

Wie gestaltet sich der Kontakt zu anderen Gewerkschaften, zum DGB oder auch zur FAU und den Wobblies? Gibt es einen solidarischen Austausch?

Von den Basisgewerkschaften FAU und IWW haben wir rasch positive Signale erhalten. Sie stehen Selbstorganisationsprozessen und der Gefangenenfrage ja grundsätzlich offen gegenüber. Berührungsängste sind vereinzelt bei Vertretern von DGB-Gewerkschaften spürbar. Allerdings haben wir aus DGB-Basisstrukturen frühzeitig Zuspruch erfahren, insbesondere seitens der Erwerbslosenausschüsse von Verdi und der Verdi-Jugend. Dort ist schnell begriffen worden, dass prekäre Arbeitsverhältnisse aus gewerkschaftlicher Sicht generell inakzeptabel sind – ob nun außer- oder innerhalb der Knastmauern. Und ein Mindestlohn greift erst, wenn er tatsächlich flächendeckend und ausnahmslos gilt. Als GG/BO wollen wir die bestehenden Kontakte im breiten Gewerkschaftsspektrum vertiefen und die begonnene punktuelle Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen weiter ausbauen.

Wo wird die GG/BO in einem Jahr stehen?

Wir befinden uns im Übergang von der Aufbau- in die Stabilsierungsphase. Vieles an Struktur der GG/BO ist weiterhin fragil, da wir mit der gewerkschaftspolitischen Selbstorganisation hinter Gittern bei null angefangen haben. Hinzu kommt, dass wir am Rande unserer Kapazitäten arbeiten. Sowohl personell, infrastrukturell als auch finanziell muss spätestens im Frühjahr einiges neu strukturiert werden. Wir sind längst über das Stadium eines kleinen Projektversuchs hinaus. Wir sind ein Verbund von mehreren Hundert Menschen in über 30 Knästen, der in Bewegung bleiben will. Und das setzt einen bestimmten Grad an Professionalisierung voraus.

Ohne mich der Idealisierung verdächtig machen zu wollen, behaupte ich, dass die GG/BO bereits zu einem kleinen Faktor vor und hinter den dicken Gitterstäben geworden ist. Eine Entwicklung, die ermutigen sollte, die volle Gewerkschaftsfreiheit hinter Gittern Etappe für Etappe durchzusetzen.

http://jungle-world.com/artikel/2015/02/51219.html

Interview: Peter Nowak

Rechter Angriff auf kritischen Journalisten

Während der schon von den Nazis gebrauchte Begriff der „Lügenpresse“ über das rechte Milieu hinaus populär wird, stellt sich die Frage nach einer linken Medienkritik

Am vergangenen Wochenende ging das Auto eines Fotografen in Berlin in Flammen auf. Was die Berliner Polizei zunächst in die Kategorie Autobrandstiftungen einreihte, war wohl ein Anschlag aus dem rechten Milieu, wie die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ in einer Pressemitteilung[1] vermeldete. In der gleichen Nacht wurde auch das Auto eines lokalen SPD-Politikers in Brand gesetzt, der sich gegen Neonazis im Bezirk engagiert.

Auf den Fotografen, der nicht namentlich genannt werden will, war bereits im April dieses Jahres ein Anschlag verübt worden. Zuvor war er auf einer Liste der rechte Anti-Antifa mit Foto, Name und Adresse unter der Rubrik Antifafotografen aufgeführt. Die Liste kursiere auf verschiedenen Neonaziforen. Auch ein AfD-Politiker habe sie auf Facebook geteilt, berichtete[2] einer der betroffenen Fotografen gegenüber der Taz. Mittlerweile reagieren die Betroffenen mit Abmahnungen auf die weitere Verbreitung dieser Liste.

Von Lügenpresserufen zum Anschlag

Dass kritische Journalisten ins Visier der rechten Szene geraten ist nicht neu. Doch das Ausmaß der Kampagne hat sich erhöht. Ob bei Kundgebungen der Partei Die Rechte[3] oder auf Pegida- oder Hogesa-Demonstrationen, überall ist die Parole „Lügenpresse auf die Fresse“ zu hören. Auf diesen Aufmärschen wurden Journalisten bedrängt und bedroht. Nach einer Demonstration von Gegnern des Flüchtlingsheims in Marzahn, bei der Journalisten massiv bedroht wurden, schrieb der Vorsitzende der DJU bei verdi-Berlin Andreas Köhn[4] in einen Brief[5] an den Polizeipräsidenten der Stadt:

Leider müssen wir aufgrund der Vorfälle am 17. November 2014 feststellen, dass das hohe Gut der Pressefreiheit und die damit verbundene Unversehrtheit von Pressevertretern kein Anliegen der Berliner Polizei zu sein scheint. Aussagen von Beamten der Berliner Polizei gegenüber Pressevertretern am 17. November 2014 wie: „Wir raten Ihnen auf Distanz zu gehen, da wir Ihre Sicherheit nicht gewährleisten können.“ sind im höchsten Maße inakzeptabel. Falls die Berliner Polizei dies nicht gewährleisten kann, hätten Sie die Möglichkeit gehabt, diesen Aufmarsch zu verbieten.

Der Topos von der Lügenpresse ist, wie die Taz kürzlich in ihrer Rubrik Wortkunde[6] nachwies, direkt aus dem Wortschatz des NS übernommen.

Der Nationalsozialismus war die Hochzeit des Begriffs LÜGENPRESSE. Zwar taucht er schon 1914 auf, etwa in Reinhold Antons „Der Lügenfeldzug unserer Feinde: Die Lügenpresse“. Die Nazis übernahmen den Begriff und luden ihn antisemitisch und antikommunistisch auf, um missliebige Meinungen außenstehenden Feinden der „Volksgemeinschaft“ zuzuschreiben – und andersherum die Kritiker auszuschließen. Joseph Goebbels verwendete ihn, um Kritiker zu denunzieren („Ungehemmter denn je führt die rote Lügenpresse ihren Verleumdungsfeldzug durch“), Alfred Rosenberg konstruierte die „Lügenpresse“ als Gegensatz zum reinen Willen des Volkes und dessen Darstellung. Seither gehört der Begriff zum Standardvokabular der extremen Rechten in Deutschland…taz

Ist Medienkritik von links noch möglich?

Allerdings wurde die Behauptung, dass die Medien nur lügen, auch auf den sogenannten Montagsmahnwachen verbreitet und fand viel Zustimmung. Dort tummelten sich aber neben organisierten Rechten und Verschwörungstheoretikern auch manchen Linke. So kann man zumindest in dem Punkt der Polemik des Jungle-World-Redakteur Ivo Bozic zustimmen, der den Friedenswinter, also den Zusammenschluss von Teilen der Mahnwachen mit der traditionellen Friedensbewegung, als Pegida für Linke[7] bezeichnete.

Allerdings muss man dann auch hinzufügen, dass die Vorstellung, dass die Medien lügen, in linken Kreisen lange Zeit festverankert war. Dass „Bild lügt“ gehörte seit 1968 zum Commonsense in linken und linksliberalen Kreisen. Ende der 80er Jahre kam die Parole „Taz lügt“ auf. Damit wollen Hausbesetzer und Autonome sich vom grünliberalen Mainstream abgrenzen, bei dem damals noch die Bildzeitung ein Hassobjekt war, die Taz aber das alternative Medium per se war.

Es ist bezeichnend, dass die AfD die Taz lügt-Kampagne in neuerer Zeit wieder aufgegriffen[8] hat. Die Taz aber hatte eine ihrer Wurzeln in einem Informationsdienst für die Verbreitung unterdrückter Nachrichten[9]. Er ist im Deutschen Herbst entstanden, als ein Großteil der Medien in der BRD sich bei der Berichterstattung über die radikale Linke nach Vorgaben des Staates richtete.

Die Erfahrung, dass die Medien im Zweifel auf Seiten des Staates sind, war also für viele damals politisch Aktive prägend. Dass Misstrauen zumindest in die etablierten Medien war Teil einer staatskritischen Theorie und Praxis nicht nur in Deutschland. Don’t believe the Hype[10] von der US-Band Public Enemy drückte diese Ablehnung gegenüber den Medien und ihrer Meinungsmache gut aus.

Dieses durchaus staatskritische Herangehen ist auch heute noch zu verteidigen. Es ist aber eben zu unterscheiden von dem rechtspopulistischen Lügenpresse-Geschrei und es ist wichtig hier auch Trennlinien zu ziehen. Nur so verhindert man, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den Medien den Rechten zugeschlagen wird. Eine solche kritische Medienrezeption wirft den Medien eben nicht in erster Linie vor, dass sie lügen, sondern dass sie populistische Stimmungen gegen Minderheiten, politisch oder gesellschaftlich Unliebsame aufgreifen und verstärken. Ein Beispiel ist die Berichterstattung in vielen Medien über Geflüchtete. Insofern sind Bewegungen wie Pegida etc. trotz ihrer Pressefeindlichkeit näher an der Praxis vieler Boulevardmedien, als sie wahrhaben wollen. Können heute Linke noch den Topos der Lügenpresse benutzen? Unter diesen Gesichtspunkten ist der Werbespruch der Tageszeitung junge Welt: „Sie lügen wie gedruckt. Wir drucken, wie sie lügen.“[11] zumindest eine verkürzte Medienkritik. Auch er wirft der Konkurrenz einfach vor, sie lüge und preist das eigene Medienprodukt dagegen als die Zeitung an, die unterdrückte Wahrheiten verbreitet.

Dabei zeigt ein Blick auf die Berichterstattung auf den Ukraine-Konflikt, dass es eben nicht um Lüge versus Wahrheit geht, sondern um die Frage, worauf der Focus gerichtet wird. So wird in der jW-Berichterstattung zum Ukrainekonflikt der rechte Hintergrund in der Maidan-Bewegung, der in einem Großteil de übrigen Medien nur am Rande vorkommt, breit thematisiert. Dafür werden in der jW rechte und nationalistische Tendenzen in der prorussischen Bewegung im Gegensatz zu einem Großteil der anderen Medien als Randbereich betrachtet. Diese Differenz unter das Stichwort Lügen zu bringen, ist problematisch.

Zudem steht eine kritische Medienrezeption im Zeitalter des Internet vor neuen Herausforderungen. Denn hier ist ja das Kennzeichen nicht die Unterdrückung, sondern die massenhafte Verbreitung der abstruseste Nachrichten und Verschwörungstheorien. Die Verbreiter wollen eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Thesen oft damit verhindern, dass sie alle gegenteiligen Meinungen als Machwerk der Lügenpresse diffamieren. Die populistische Medienfeindlichkeit, wie sie auf den Montagsmahnwachen bis Pegida auftritt, wird hiervon gespeist. Rechte Kreise können sie sich zu Nutze machen. Nicht immer führt eine solche Kampagne zu Angriffen auf kritische Journalisten. Aber der Anschlag auf den Fotografen in Berlin sollte eine Warnung sein und Linke zu einer Medienkritik auf der Höhe der Zeit animieren.

http://www.heise.de/tp/artikel/43/43743/1.html

Peter Nowak

Aktiv statt frustriert

Eva Willig bekommt die Folgen von Hartz IV auch als Rentnerin zu spüren

»Also ich bin Euphrasia Holler und ich will Bundespräsidentin werden. Es wird eine Freude sein, nach Amtsantritt wieder in Freiheit leben zu dürfen, nach über fünf Jahren Gefangensein in Hartz-IV-Regeln.« Im Internet hat die Kunstfigur, hinter der sich die 66-jährige Neuköllnerin Eva Willig verbirgt, Bundespräsident Joachim Gauck schon mal seinen Posten streitig gemacht. In der Realität saß sie Ende der 1980er Jahre bis 1991 für die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln und kandierte Mitte der 1990er für die PDS. Seit Jahrzehnten zeigt sie, dass man sich auch unter Hartz IV wehren kann und dabei die Lebenslust nicht verlieren muss.

Nicht nur als Euphrasia Holler prangerte sie die »Verarmung per Gesetz« an, für die Hartz IV ihrer Ansicht nach steht. Bereits vor der Agenda 2010 engagierte sie sich in der Berliner Kampagne gegen Hartz IV, redete auf Veranstaltungen und Kundgebungen. Nachdem die Gesetze nicht zu verhindern waren, unterstützte sie Betroffene. Fast sieben Jahre lang betreute sie das Notruftelefon der »Kampagne gegen Zwangsumzüge«; zuletzt gründete sie eine Initiative mit, die gegen die Verweigerung von Hartz-IV-Leistungen für EU-Bürger kämpft.

Daneben hat die gelernte Textilkauffrau, die auf dem zweiten Bildungsweg Sozialarbeit studierte, immer wieder Versuche unternommen, dem Hartz-Regime zu entkommen. Die scheiterten oft am Bürokratismus der Jobcenter. So musste sie 2007 eine Ladengalerie, in der Blumen, Kräuter und Wohnaccessoires angeboten wurden, aufgeben, weil die Behörde die Zuschüsse einstellte. Seit zwei Jahren bekommt sie die Folgen von Hartz IV als Rentnerin zu spüren. »Dadurch habe ich 100 Euro weniger im Monat, als mir 2004 ausgerechnet wurden«, betont sie den Zusammenhang von Hartz IV und Altersarmut.

Doch einen Grund zu Resignation sieht Willig nicht. Zurzeit probt sie mit dem Projekt »Beschwerdechor«, in dem gesellschaftliche Probleme künstlerisch angesprochen werden. »Aus Frust mach Lust« ist Willigs Devise. Vielleicht steht ja auch eine Bundespräsidentinnenkandidatur noch auf der Agenda.

Peter Nowak