»Wir unterstützen die Streiks bei Amazon in Deutschland« – Transparente mit diesem Motto hingen in der letzten Junihälfte rund um das Amazon-Werk in Poznań (Polen). Es blieb nicht bei Bekenntnissen. Die Nachtschicht bei Amazon in Poznań solidarisierte sich vom 24. auf den 25. Juni durch demonstratives Bummelstreiken mit dem Streik bei Amazon-Deutschland. Andere Beschäftigte stellten kurzfristig Urlaubsanträge, um keine Streikbrecher zu werden. Tage vorher hatten Mitglieder der anarchosyndikalistischen Inicjatywa Pracownicza (IP) in dem Werk Flugblätter über den Verdi-Streik in Deutschland verteilt und dabei T-Shirts mit dem Slogan »Pro Amazon mit Tarifvertrag« getragen. Noch im Dezember 2014 bei der Eröffnung der Werke in Poznań und Wrocław erklärte der Logistikchef von Amazon Europe, Tim Collins, dass die polnische Dependance für pünktliche Lieferungen an Amazon-Kunden sorgen werde, auch wenn Verdi in Deutschland zum Arbeitskampf aufrufe. Doch schon vor Weihnachten 2014 hatte sich ein Teil der Belegschaft an die IP gewandt, weil sie mit den Arbeitsbedingungen unzufrieden war. Mitte Mai organisierte die Gewerkschaft unter der Parole »My Prekariat« (Wir Prekären) eine erste Warschauer Mayday-Parade mit knapp 350 Teilnehmern. Neben Beschäftigten von Universitäten, Bauarbeitern, Theaterleuten und Erziehern beteiligten sich auch Arbeiter von Amazon daran. Vom 2. bis zum 4. Oktober 2015 haben auch die Amazon-Beschäftigten Gelegenheit, Kontakt zu den polnischen Kollegen aufzunehmen. Am ersten Oktoberwochenende wird zu einer Tagung mit dem Thema transnationaler sozialer Streik in Poznań aufgerufen. In Arbeitsgruppen soll erörtert werden, wie man sich kollektiv gegen die Fragmentierung und Individualisierung der Arbeit wehrt. Es geht um die Vernetzung fester und befristeter Angestellter und die Frage, wie die kapitalistische Ausbeutung länderübergreifend angegriffen werden kann.
Kategorie: Soziales
Sechs Monate Kampf und noch immer kein Lohn
Die Auseinandersetzung migrantischer Arbeiter der „Mall of Berlin“ für ihren Lohn und ihre Würde geht weiter
„Sie haben die Arroganz der Macht, doch sie haben nicht mit unserer Bereitschaft zum Widerstand gerechnet. Was das Aufgeben betrifft, da haben sie bei uns keine Chance.“ Die knapp 200 TeilnehmerInnen der Demonstration „Sechs Monate Kampf und noch immer kein Lohn“ brechen in Applaus aus, als einer der rumänischen Kollegen spricht, die um ihren Lohn kämpfen (DA berichtete). Ein Stundenlohn von sechs Euro sowie Kost und Logis war ihnen versprochen worden. Der Betrag ist wesentlich niedriger als der im Baugewerbe gültige Mindestlohn. Aber selbst dieser Niedriglohn wurde den Bauarbeitern vorenthalten.
Im Oktober 2014 hatten sie sich zunächst an den DGB Berlin-Brandenburg gewandt. Das im dortigen Gewerkschaftshaus angesiedelte „Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte“ nahm Kontakt mit dem Generalunternehmer der Baustelle, der Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, auf und schrieb Geltendmachungen. Außer Abschlagszahlungen, die nur einen Bruchteil des vorenthaltenen Lohnes ausmachten, konnten die Bauarbeiter auf diesem Weg allerdings nichts erreichen. Sie hatten weder Arbeitsverträge noch Gewerbescheine – das macht die Durchsetzung ihrer Ansprüche schwierig. Einige nahmen die Abschlagszahlungen und unterzeichneten zudem eine vom Unternehmen vorbereitete Erklärung, nach der sie auf weitere rechtliche Schritte verzichten sollten. Andere beharrten darauf, ihren vollen Lohn zu erhalten, und wollten weiter gehen. Erst, als sich die verbliebenen Bauarbeiter an die FAU wandten, begann die Öffentlichkeitsarbeit. „Mall of Berlin – auf Ausbeutung gebaut“ lautete die Parole. Der von der FAU kreierte Begriff „Mall of Shame“ hat sich mittlerweile im Internet verbreitet. Der gesellschaftliche Druck hatte bisher nicht ausgereicht, um zu bewirken, dass der Generalunternehmer und seine Subunternehmen die ausstehenden Löhne bezahlten. Dabei handelte es sich um einige Tausend Euro. Für die Unternehmen sind es Beträge aus der Portokasse. Für die betroffenen Bauarbeiter und ihre Familien in der Heimat ist das Geld existenziell. Anfang April hatten zwei der Bauarbeiter einen juristischen Etappensieg errungen. Das Berliner Arbeitsgericht bestätigte die Forderungen von Nicolae Molcoasa und Niculae Hurmuz. Das beklagte Subunternehmen war nicht zur Verhandlung erschienen und hatte auch keinen Anwalt geschickt. So musste das Gericht der Klage stattgeben. Doch wenige Tage später ging ein Anwalt des Unternehmens in Berufung – jetzt müssen die Arbeiter weiter auf ihren Lohn warten. Im August sind die nächsten Prozesse vor dem Arbeitsgericht angesetzt. Trotz aller Schwierigkeiten betonen die betroffenen Arbeiter, wie wichtig es für sie war, gemeinsam mit der FAU um ihren Lohn zu kämpfen. Nur ein Teil der Betroffenen kann die Auseinandersetzung jetzt noch in Berlin führen. Andere mussten wieder nach Rumänien zurück oder haben in einer anderen Stadt Arbeit gefunden. Die Kollegen, die bis heute durchgehalten haben, berichten auch über die vielen Schwierigkeiten. Zu Beginn ihres Kampfes hatten sie weder Geld noch Unterkunft. Die FAU kümmerte sich um Essen und Obdach. Wenn sie auch nach sechs Monaten Kampf noch immer auf ihren Lohn warten müssen, so haben sie doch schon einen wichtigen Erfolg errungen. Sie haben deutlich gemacht, dass ausländische ArbeiterInnen in Deutschland nicht rechtlos sind und sich wehren können. Denn der Fall der rumänischen Bauarbeiter ist keine Ausnahme. „Es gibt viele solcher Fälle. Aber leider sind die Betroffenen nur selten in der Lage, sich zu wehren“, meint eine Mitarbeiterin von Amaro Foro, einer Organisation von in Berlin lebenden Romajugendlichen, auf der Demonstration. Das Leben von vielen Arbeitsmigranten aus Osteuropa sei von ständiger Verunsicherung geprägt. Das erstrecke sich nicht nur auf die Löhne und Arbeitsbedingungen. Sie würden in den Jobcentern benachteiligt, seien oft von medizinischer Versorgung ausgeschlossen und müssten wegen rassistischer Diskriminierungen am Wohnungsmarkt oft in teuren Schrott-Immobilien wohnen. Zudem fehlt es den Betroffenen oft an Kontakten zu Organisationen und Initiativen, die sie im Widerstand unterstützen könnten. Das zeigte sich erst vor einigen Wochen wieder, als eine Gruppe rumänischer und bulgarischer Wanderarbeiter in den Fokus der Berliner Medien und einer Nachbarschaftsinitiative im grünbürgerlichen Stadtteil Schöneberg geriet. Nicht, dass sie in überteuerte Schrottwohnungen leben müssen, wird skandalisiert, sondern dass sie angeblich nicht in den Stadtteil passen. Es gibt also genug zu tun für eine kämpferische Organisation wie die Foreigners Section der FAU. Sie ist mittlerweile zum Anlaufpunkt für KollegInnen aus den verschiedenen Ländern geworden, die in Deutschland um ihren Lohn oder um bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.
aus: Direkte Aktion 230 – Juli/August 2015
https://www.direkteaktion.org/230/sechs-monate-kampf-und-noch-immer-kein-lohn
Peter Nowak
Sie wagen es, über ein Griechenland ohne Euro nachzudenken
Eine Kampagne gegen den ehemaligen griechischen Finanzminister Varoufakis zeigt, dass die Rechte Morgenluft wittert
Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis ist auch nach seinem Rücktritt ein gefragter Mann. Spiegel, Stern und das Zeit-Magazin haben erst in den letzten Tagen Reportagen über Varoufakis gebracht. Dabei geht es aber mehr um seine Hobbys und seinen Kleidungsstil als um seine Politik.
Anders war das Varoufakis-Gespräch im britischen New Statesman („Das vollständige Fehlen aller demokratischen Skrupel“ [1]), das in der Tageszeitung Neues Deutschland nachgedruckt [2] wurde. Dort sprach der linkssozialdemokratische Politiker über seine Verhandlungstaktik mit den EU-Ländern und die ignoranten Reaktionen. Varoufakis redete auch freimütig über ein Thema, das in den letzten Tagen in Griechenland und auch in Deutschland für Schlagzeilen sorgte. Es geht um einen Planungen für ein Griechenland jenseits des Euros.
Die kurze dazu Passage aus dem gespräch mit dem Magazin New Statesman:
Ja, absolut.
Die Antwort lautet Ja und Nein. Es gab eine kleine Gruppe, ein »Kriegskabinett« innerhalb des Ministeriums, ungefähr fünf Leute die folgendes gemacht haben: Wir haben das theoretisch, auf dem Papier ausgearbeitet, alles, das im Falle dessen gemacht werden müsste [um sich auf den Fall des Grexit vorzubereiten]. Aber es ist die eine Sache, das mit vier oder fünf Leuten zu machen, es ist etwas ganz anderes, ein Land darauf vorzubereiten. Um das Land darauf vorzubereiten, müsste eine Entscheidung der Regierungsspitze getroffen werden – und diese wurden nie getroffen.
Zunächst gab es darauf keine Reaktionen. Erst mit deutlicher Verspätung brachte der Spiegel die Nachricht [3] mit merklicher Akzentverschiebung. Das Nachrichtenmagazin hatte seine Informationen aus einem angeblichen Mitschnitt einer Telefonkonferenz mit Finanzinvestoren. Doch inhaltlich sind die Informationen fast deckungsgleich mit Varoufakis Ausführungen im New Statesman.
Der Spiegel zitiert aus dem angeblichen Telefonmitschnitt:
Plan B gehört zur Pflicht der griechischen Regierung
Im Anschluss gab es einige detaillierte Informationen über diesen Plan B:
Mittlerweile hat sowohl Varoufakis [4] als auch der bekannte US-Ökonom James Galbraith [5], der an der Arbeitsgruppe mitwirkte, sehr plausibel erklärt, warum diese Pläne in einer Zeit notwendig waren, als die deutsche Regierung, aber auch in EU-Instanzen einen erzwungenen Grexit androhten. Es gehört mithin in diesem Zusammenhang zu den Pflichtaufgaben der griechischen Regierung, solche Pläne vorzubereiten.
Dabei hat Varoufakis immer betont, dass seine Priorität die Beibehaltung des Euros ist. Er hatte auch sehr konkrete Pläne [6] für einen Ausweg aus der Krise, welche die Belastungen für die griechische Bevölkerung gemindert hätten. Die wurden in den Eu-Kreisen schlicht ignoriert.
Unabhängig von diesen Plänen, die auf einen von Außen erzwungen Grexit reagieren, hat der linke Syriza-Flügel schon vor der Regierungsübernahme Austrittspläne aus dem Euro diskutiert. Die Politiker sind überzeugt, dass der Euro ein Korsett ist, das Griechenland an der Umsetzung einer eigenständigen Wirtschafts- und Sozialpolitik hindert. Die Parteilinke hat schon lange Ausstiegsszenarien aus dem Euro diskutiert und dafür sowohl bei der Basis von Syriza aber auch der griechischen Bevölkerung geworben.
Es ist verständlich, dass dieser Parteiflügel in der Zeit, als die Drohung eines erzwungenen Grexit von Außen immer konkreter geworden ist, auch konkrete Überlegungen für einen Euroaustritt anstellte. Dabei soll die Beschlagnahme der Bargeldreserven der griechischen Zentralbank und die Entmachtung des Zentralbankchefs Giannis Stournaras diskutiert worden sein. Es ist erfreulich, dass sich zumindest einige Syriza-Politiker Gedanken darüber gemacht haben, wie ein Bruch mit der Austeritätspolitik aussehen kann.
Bedauerlich ist es, dass solche Pläne von der griechischen Regierung nicht übernommen wurden. So fehlte der Regierung ein Druckmittel, das sie bei den Verhandlungen mit den EU-Ländern hätte nutzen können. So kann man sagen, dass die griechische Regierung, weil sie keine Alternativen zum Euro entwickelt hatte, dem Austeritätsdiktat zustimmen musste.
Es hätte eine Alternative gegeben
Genau so argumentiert der griechische Ministerpräsident, um Syriza auf seine Linie einzuschwören. Er sagt richtig, dass ihm nur die Unterwerfung unter das Austeritätsdiktat geblieben ist, wenn Griechenland im Euro bleiben will. Die Überlegung, Wege außerhalb des Euros zu suchen, kommt in Tsipras Überlegen gar nicht vor.
Er begründete dieses Denkverbot immer mit einer Mehrheit in der Bevölkerung, die den Euro behalten will. Dass aber eine große Mehrheit „Nein“ zum Austeritätsprogramm gesagt hat, wird dabei unterschlagen. Genau zu diesem Zeitpunkt hätte Tsipras den Plan B für ein Griechenland außerhalb des Euros in die Diskussion bringen können und hätte mit einer großen sozialen Bewegungen im Hintergrund vielleicht bessere Bedingungen in Brüssel ausgehandelt oder Griechenland hätte tatsächlich zeigen können, dass es auch ein Leben nach dem Euro gibt.
Emanzipatorische Momente hätten daraus aber nur entstehen können, wenn gleichzeitig in Griechenland die sozialen Bewegungen stärker geworden wären, vielleicht auch Fabriken und Häuser besetzt worden wären. Ein Bruch mit dem Euro als selbstbestimmter Schritt aus Griechenland hätte aber die Bereitschaft der Syriza-Politiker vorausgesetzt, die ausgetretenen Pfade von einer alternativlosen Realpolitik notfalls zu verlassen und eine Konfrontation mit den Gewalten in Griechenland und der EU einzugehen.
Tsipras war dazu nicht bereit, ein Teil der Parteilinken hat sich zumindest mit Alternativen auseinandergesetzt und der zurückgetretene Finanzminister hat nur seinen Job gemacht, als er Exitpläne entwickelte.
Rache der abgewählten Eliten
Die mangelnde Entschlossenheit von Tsipras und Co. rächt sich nun. Die eng mit der EU verbundenen gerade erst abgewählten, alten Eliten Griechenlands wittern Morgenluft und wollten nun auch mit Repression gegen die vorgehen, die ein Leben jenseits des Euros immerhin nur in Erwägung zogen. In diesem Kontext bewegt sich auch die Anzeige wegen Hochverrat gegen Varoufakis.
Es kann durchaus sein, dass diese Anzeige schon in wenigen Tagen als gegenstandslos zurückgewiesen wird. Aber auch dann hat sie ihre Zweck schon erfüllt: Es geht um die Diffamierung von Politikern, die tatsächlich mit dem T.I.N.A.-Denken brechen und auch zum Euro eine Alternative sehen.
Die Landesverrats-Kampagne ist nur die Fortsetzung eines Kampfes, den EU-Deutschland gegen die griechische Syriza-Regierung geführt hat, seit sie die Wahlen gewonnen hat. Nachdem sie eingeknickt ist, spüren auch die abgewählten alten griechischen Eliten neue Hoffnung, wie die Anzeige zeigt. Dabei haben diese Kräfte großen Anteil an der griechischen Misere.
Viel wird auch davon abhängen, ob es Syriza gelingt, eine gemeinsame Reaktion auf diese Angriffe zu geben. Schließlich sind die Spaltungstendenzen unübersehbar. Während ein Teil der Partei an den Wahlversprechen und den Inhalt des Referendums festhalten will, redet Tsipras davon, dass sich die Partei an die neuen Gegebenheiten anpassen müsse. Setzt er sich durch, würde Syriza zur neuen Sozialdemokratie.
Die Kampagne gegen die Politiker, die zumindest den Mut hatten, nicht nur eine Alternative zur aufgezwungenen Austerität zu denken, sondern auch einige Pläne entwickelten, wie sie umgesetzt werden können, soll auch den Richtungsstreit bei Syriza beeinflussen. Es fragt sich nur, ob damit eher Tsipras oder seine Kritiker gestärkt werden und Syriza vielleicht doch noch nicht zur neuen Sozialdemokratie geworden ist.
http://www.heise.de/tp/news/Sie-wagen-es-ueber-ein-Griechenland-ohne-Euro-nachzudenken-2765941.html
Peter Nowak 31.07.2015
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Jobcenter Meißen, kein Skandal
Wenn Hartz IV besonders rigide umgesetzt wird…
Eigentlich hat Stefen Klaussner (Name geändert) alles richtig gemacht. Nach der Rückkehr aus dem Ausland war der knapp Fünfzigjährige erwerbslos und war auf die Leistungen von Hartz IV angewiesen. So wollte er schnell aus der Arbeitslosigkeit raus und sich als Webdesigner selbständig machen.
Um zu erkunden, ob es überhaupt Nachfrage nach seinen Angeboten gibt, erstellte er eine Webseite. Kaum war sie online, erfuhr das für Klaussner zuständige Jobcenter im sächsischen Meißen davon. Doch der Mann wurde wegen seiner großen Bemühungen, wieder Arbeit zu finden nicht etwa belobigt. Das Jobcenter unterstellte ihn vielmehr, er hätte über die Webseite Einkünfte, die er nicht angegeben hat.
Fortsetzungsgeschichte in 6 Akten
Seitdem befinde er sich im Dauerclinch mit dem Jobcenter. Die Auseinandersetzung hat Klaussner als Fortsetzungsgeschichte in mittlerweile 6 Akten im Netz dokumentiert [1].
„Nun begann das Jobcenter Meißen mich mit unzähligen Aufforderungen zur Mitwirkung zu malträtieren, die im März diesen Jahres darin gipfelte, dass man unter Androhung der Leistungseinstellung bei Weigerung meine Telefondaten bei meinem Provider einsehen wollte“, schreibt Klaussner. Auch die Rügen des Dresdner Sozialgerichts beeindruckten das Jobcenter in Meißen nicht. In einer Entscheidung des Gerichts heißt [2] es:
Nach den Prozessen [3] schickte das Jobcenter bereits den nächsten Fragebogen an Klaussner. Ein Mitarbeiter erklärte auf die Beschwerde hin, er könne alle Fragen stellen, wenn es um die geforderten Mitwirkungspflichten geht.
Das Dresdner Sozialgericht kam zu der Auffassung:
Doch das Jobcenter Meißen ließ sich davon nicht beeindrucken. Es schickte einen neuen Fragebogen [4], der 42 Seiten umfasste. Zudem wurde Klaussner ein Katalog eine Belehrung [5] zugestellt, die so umfangreich ist, dass es schwer sein dürfte, sich den Sanktionen zu entziehen. Das zeigte sich am letzten Freitag deutlich, als sich Erwerbslose aus der Region Meißen zum Austausch trafen. Schnell wurde deutlich, dass Klaussner keineswegs allein ist.
Da ist eine alleinerziehende Mutter mit ihrer schwerkranken Tochter mit einer Zwangsräumung konfrontiert [6]. Das Jobcenter Meißen wirft ihnen die Vernachlässigung der Mitwirkungspflichten vor. Ein Mann, der in der Finanzbranche beschäftigt war, bevor er erwerbslos wurde, erklärte nach dem Austausch, dass ihm klargeworden sei, dass nicht er schuld für die Probleme ist, die er mit dem Meißner Jobcenter hat. Ein älterer Mann begleitet mittlerweile Interessierte zum Jobcenter.
Die Kampagne Keiner muss allein zum Amt [7] ruft dazu auf, weil damit die Machtlosigkeit der Erwerbslosen zumindest ein Stück weit aufgebrochen werden kann. Einen solidarischen Umgang unter Erwerbslosen propagiert auch die Berliner Erwerbsloseninitiative Basta [8], die auf den Treffen in Meißen ihre Arbeit vorstellte und Unterstützung anbot.
Schikane mit System
Bei dem Austausch wurde auch darüber diskutiert, ob das Jobcenter Meißen nun eines dieser „schwarzen Schafe“ ist, die immer wieder gerne angeführt werden. Dabei wurde betont, dass das Jobcenter Meißen als Optionskommune [9] besonders strenge Kriterien beim Umgang mit Erwerbslosen praktiziert. Doch generell sei es falsch, ein Jobcenter zu skandalisieren statt das Hartz IV-System insgesamt in den Fokus der Kritik zu nehmen.
Im Rahmen dieses Systems agieren die Jobcenter und haben auch die Möglichkeit, besonders restriktiv aufzutreten. In Berlin hat sich dabei das Jobcenter Neukölln einen Namen gemacht. Es wurde vor einigen Wochen von Erwerbsloseninitiativen mit einen Negativpreis [10] ausgezeichnet. In der von Sozialwissenschaftlern der Humboldtuniversität erstellten Studie Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems [11] wird den Jobcentern eine zentrale Funktion bei dem Verlust der Wohnungen von Erwerbslosen zugeschrieben. Dabei wird dem Jobcenter Neukölln eine besonders repressive Rolle nachgewiesen.
Vor einigen Wochen hat Margit Englert die Zwangsräumung der Rentnerin Rosemarie F. auf Grund der hinterlassenen Dokumente in dem Buch „Rosemarie F. kein Skandal“ akribisch aufgearbeitet [12]. Dabei wird deutlich, wie das Grundsicherungsamt im Zusammenwirken mit der Wohnungseigentümerin die Räumung der schwerkranken Frau erreichte, die zwei Tage später gestorben [13] ist. Den Titel des Buches hat die Herausgeberin Margit Englert bewusst gewählt.
„Wenn so ein Fall wie Rosemaries Tod öffentlich als Skandal wahrgenommen wird, geht man in der Regel schnell wieder zur Tagesordnung über. Und auf der Tagesordnung steht halt, Gewinne mit Immobilien zu machen oder sich mit gutem Einkommen in Berlin eine der frei werdenden Wohnungen zu nehmen oder sich vorbildlich um die eigene Altersversorgung zu kümmern – durch Investition in Immobilien“, erklärte sie im Interview [14].
Analog könnte man auch sagen, dass das Jobcenter Meißen kein Skandal ist, sondern dass dort das Hartz IV-Regime im Sinne der Erfinder nur besonders rigide umgesetzt wird.
Hartz IV in ganz Europa
Bei dem kleinen Treffen in Sachsen kamen Menschen zu Wort, die im und unter dem Austeritätsregime made in Deutschland leiden, dass nun nach ganz Europa exportiert werden soll. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der griechischen Regierung in den letzten Wochen betonten immer wieder Politiker und Ökonomen, dass Deutschland mit der Einführung von Hartz IV seine Hausaufgaben gemacht habe und Griechenland jetzt gefälligst nachziehen solle [15].
Tatsächlich wurden in Deutschland mit der Einführung von Hartz IV die Lohnkosten so weit gesenkt, dass es damit ganz Europa niederkonkurrieren kann. Zu den ersten Opfern gehörten und gehören einkommensschwache Menschen in Deutschland. In Meißen kamen sie einmal zu Wort. In den meisten Medien sind sie genau so wenig ein Thema wie die Betroffenen der Austeritätspolitik in Griechenland.
http://www.heise.de/tp/news/Jobcenter-Meissen-kein-Skandal-2764638.html
Peter Nowak
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Etwas tun gegen Jobcenter-Willkür
Erfahrungsaustausch von Erwerblosen in Meißen
Der Runde, die sich im Vereinshaus des Kleingartenvereins Meißen traf, war nicht nach Feiern zumute. Gekommen waren Erwerbslose, um sich über ihre Konflikte mit dem Jobcenter Meißen auszutauschen. Initiator des Treffens war Stefan Klaussner (Name geändert), der im Erwerbslosenforum Deutschland seine Auseinandersetzung mit dem Jobcenter der sächsischen Stadt als »Fortsetzungsgeschichte in 6 Akten« veröffentlicht hatte.
Der Ärger begann, als sich Klaussner als Webdesigner selbstständig machen wollte. Er habe eine Webseite ins Netz gestellt, um zu sehen, »ob es überhaupt eine Nachfrage gibt«. Das Jobcenter unterstellte ihm, mit der Webseite Geld zu verdienen, das er nicht angegeben habe. Seine Leistungen wurden gestrichen, neue Anträge nicht beantwortet. Da die Zahlungen ausblieben, machte Klaussner Mietschulden. Im Wiederholungsfall droht ihm die Kündigung. Besonders empört ist er darüber, dass auch sein Sohn aus erster Ehe und seine jetzige Ehefrau unter der Leistungsverweigerung zu leiden haben.
Das Jobcenter hingegen macht Klaussner für die Probleme verantwortlich. Er habe die Existenz der Webseite nicht gemeldet und sei damit seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen.
Der Fall wurde juristisch geklärt: Das Dresdener Sozialgericht verpflichtete das Jobcenter zur Zahlung der vorenthaltenen Leistungen, denn der Verdacht, Klaussner verfüge über weitere Einnahmen, gehe nicht über Vermutungen hinaus. Im Verfahren sei »hinreichend glaubhaft gemacht worden, dass der Antragsteller über keine nennenswerten Vermögenswerte oder Einkommen verfügt, aus denen er seinen Lebensunterhalt und den seines Sohnes zunächst vollständig bestreiten kann«, heißt es in der Urteilsbegründung.
Doch dieser Erfolg beendete den Konflikt nicht. Klaussner soll erneut einen umfangreichen Fragenbogen ausfüllen, indem er unter anderem seine IP-Adressen sowie seine Telefonverbindungen vorlegen sollte. Eine Weigerung bedeutet erneute Leistungskürzungen wegen mangelnder Mitwirkung.
Wie sich bei dem Treffen herausstellte, ist Klaussner nicht der einzige, der mit dem Jobcenter Meißen Probleme hat. Eine Frau berichtete, dass sie und ihre schwer kranke Tochter fast ihre Wohnung verloren hätten, weil das Amt immer wieder Leistungen zu spät oder gar nicht überwiesen habe. In letzter Minute konnte mit Hilfe des Berliner Bündnisses gegen Zwangsräumungen die Obdachlosigkeit verhindert werden. »Das Jobcenter agiert wie eine Dampfwalze«, meinte ein Mann, der im Finanzsektor tätig war, bevor er erwerbslos wurde. »Wenn mal eine Auseinandersetzung erfolgreich beendet wurde, kommt schon der nächste Brief und der Kampf beginnt von Neuem.«
Peter Nowak
Mall of Shame verhandlungsunfähig
Die sieben rumänischen Arbeiter, die auf der Baustelle der Mall of Berlin am Leipziger Platz gearbeitet haben und denen ein Großteil ihres Lohns nie ausgezahlt wurde, müssen weiter auf ihr Geld warten.
Am 16. Juli sollten zwei der sieben Klageverfahren gegen die Openmallmaster GmbH (OMM), ein Subunternehmen beim Bau der Mall of Berlin, vor dem Berliner Arbeitsgericht stattfinden. Doch der Prozess wurde nach kurzer Zeit verschoben. »Der vom Gericht geladene Dolmetscher war kurzfristig erkrankt. Der für ihn erschienene Vertreter war nicht vereidigt«, schrieb der Berliner Rechtsanwalt Sebastian Kunz in einer Pressemitteilung. Der Arbeitsrechtler ist einer der Anwälte der rumänischen Beschäftigten. Zudem war auch der Geschäftsführer der OMM, dessen Erscheinen vom Gericht angeordnet worden war, nicht zur Verhandlung gekommen. Er ließ durch seinen Anwalt mitteilen, er sei verhandlungsunfähig erkrankt. In der kurzen Verhandlung stritt der Anwalt alle Vorwürfe gegen das Unternehmen seines Mandanten ab. OMM habe lediglich einen Bauleiter auf der Baustelle im Einsatz gehabt und alle Arbeiten durch Subunternehmen ausführen lassen.
»Rechtlich ist das möglich. Aber ist das praktikabel und glaubwürdig?«, schreibt die Basisgewerkschaft Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) auf ihrer Homepage. Die geprellten Arbeiter haben mit Unterstützung der FAU den Rechtsweg beschritten. Das dauert nun bereits mehr als acht Monate und noch immer haben sie ihren Lohn nicht bekommen. Im Oktober 2014 wandten sich die Arbeiter zunächst an den DGB Berlin-Brandenburg. Dessen »Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte« nahm Kontakt mit dem Generalunternehmer der Baustelle, der Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, auf und schrieb Geltendmachungen. Außer Abschlagszahlungen, die nur einen Bruchteil des vorenthaltenen Lohnes ausmachten, konnten die Bauarbeiter auf diesem Weg allerdings nichts erreichen. Sie hatten weder Arbeitsverträge noch Gewerbescheine – das macht die Durchsetzung ihrer Ansprüche schwierig. Einige nahmen die Abschlagszahlungen und unterzeichneten zudem eine vom Unternehmen vorbereitete Erklärung, nach der sie auf weitere rechtliche Schritte verzichten sollten. Sieben Beschäftigte beharrten darauf, ihren vollen Lohn zu erhalten, und wollten für diese Forderung kämpfen. Erst nachdem sie sich an die FAU wandten, traten sie unter der Parole »Mall of Berlin – auf Ausbeutung gebaut« auch an die Öffentlichkeit. Da die Beschäftigten trotz des positiven Presseechos auf die Kundgebungen und Demonstrationen vom Dezember 2014 nicht erreichten, dass ihnen die vorenthaltenen Löhne ausgezahlt wurden, reichten sie schließlich die Klagen vor dem Arbeitsgericht ein, über die noch immer nicht entschieden ist.
»Sie haben die Arroganz der Macht, doch sie haben nicht mit unserer Bereitschaft zum Widerstand gerechnet. Was das Aufgeben betrifft, da haben sie bei uns keine Chance«, sagte einer der klagenden Arbeiter selbstbewusst. Wenn die Beschäftigten auch noch immer auf ihren Lohn warten müssen, so haben sie doch schon einen wichtigen Erfolg errungen. Der Kampf um die ausstehenden Löhne hat gezeigt, dass ausländische Lohnabhängige in Deutschland nicht rechtlos sind und sich wehren können. »Es gibt viele solcher Fälle. Nur leider sind die Betroffenen nur selten in der Lage, sich zu wehren«, sagt eine Mitarbeiterin von Amaro Foro, einer Organisation von in Berlin lebender Roma-Jugendlicher. Das Leben vieler Arbeitsmigranten aus Osteuropa sei von ständiger Verunsicherung geprägt. Die erstrecke sich nicht nur auf die Löhne und Arbeitsbedingungen. Sie würden in den Jobcentern benachteiligt, seien oft von medizinischer Versorgung ausgeschlossen und müssten wegen rassistischer Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt oft in »teuren Schrottimmobilien« wohnen.
Nicht zuletzt fehlt es den Betroffenen oft an Kontakten zu Organisationen und Initiativen, die sie im Widerstand unterstützen könnten. Das zeigte sich erst vor einigen Wochen wieder, als eine Gruppe rumänischer und bulgarischer Wanderarbeiter in den Fokus der Berliner Medien und einer Nachbarschaftsinitiative im grünbürgerlichen Stadtteil Schöneberg geriet (Jungle World 23/2015). Dass die Arbeiter horrende Mieten für slumähnliche Behausungen bezahlten, war freilich nicht Anlass der Aufregung, sondern dass sie angeblich nicht in den Stadtteil passten. Passend dazu wird im Umgang mit den Arbeitern von OMM nicht der an ihnen begangene Lohnbetrug skandalisiert – es wird ihnen vorgeworfen, nicht arbeiten zu wollen. Auch die Dolmetscherin und Schriftstellerin Eva Ruth Wemme, die rumänische Migranten längere Zeit auf die Ämter begleitete und darüber das im Verbrecher-Verlag erschienene Buch »Meine 7 000 Nachbarn« geschrieben hat, berichtet von systematischer Entrechtung von Roma durch Vermieter und Arbeitgeber.
Positiv lässt sich zumindest festhalten: Der Lohnkampf gegen die Mall of Berlin hat die Roma als Menschen, die um ihre Rechte als Beschäftigte kämpfen, sichtbar und kenntlich gemacht. Ihr Kampf um die ausstehenden Löhne könnte Perspektiven für einen transnationalen Gewerkschaftskampf aufzeigen. Mittlerweile ist die »Foreigners«-Sektion der FAU zum Anlaufpunkt für Beschäftigte aus verschiedenen Ländern geworden, die in Deutschland um ihren Lohn oder um bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Auch in verschiedenen DGB-Gewerkschaften setzen sich Mitglieder dafür ein, dass Geflüchtete Mitglieder werden können. Dem Gewerkschaftstag von Verdi liegen entsprechende Anträge vor.
http://jungle-world.com/artikel/2015/30/52356.html
Peter Nowak
Gegen Niedriglohn und Überausbeutung
Wie sich Arbeitsmigranten zur Wehr setzen können
Wie wehren sich Arbeitsmigranten in Deutschland gegen Niedriglohn und schlechte Arbeitsbedingungen? Und welche Rolle spielen dabei die Gewerkschaften? Über solche Fragen wurde am Mittwochabend bei einer Veranstaltung anlässlich einer Ausstellung zu Flüchtlingswiderstand im Berliner Postbahnhof diskutiert.
Shendi Vali von der Gruppe Berlin Migrants Strikers beschrieb zunächst, wie die Austeritätspolitik junge, gut ausgebildete Menschen in der europäischen Peripherie in Verarmung und Arbeitslosigkeit treibt. In der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen kommen sie nach Deutschland – und landen im Nie-driglohnsektor. »Sie werden von den Eliten in Deutschland benutzt, um das Lohnniveau zu senken. Das ist eine gefährliche Politik, weil sie den Rassismus fördert«, so Rafal Aragües Aliaga von der Basisgewerkschaft GAS. Diese ist Teil der M15-Bewegung, die 2012 in vielen spanischen Städten Plätze besetzte, um ihrer Forderung nach Ende der Austeritätspolitik Nachdruck zu verleihen. Auch viele heute in Berlin lebende spanische Arbeitsmigranten seien dadurch politisiert worden.
Die Skepsis gegen große Parteien und Gewerkschaften, die als angepasst gelten, teilen auch Berliner Aktivisten. Mittlerweile hätten sie laut Aragües Aliaga aber die Erfahrung gemacht, dass eine Kooperation mit Gewerkschaften sinnvoll ist, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die GAS habe sowohl mit DGB-Gewerkschaften als auch mit der Freien Arbeiterunion (FAU) Kontakt. »Die kleine Basisgewerkschaft hat Zulauf von migrantischen Beschäftigten bekommen«, betont Vali. Romin Khan, Referent für Migration bei ver.di, würdigte das Engagement der FAU im Arbeitskampf der rumänischen Bauarbeiter an der Mall of Berlin. Es sei aber wichtig, dass auch große Gewerkschaften für die Rechte der migrantischen Arbeiter eintreten.
Auf dem Podium war man sich einig, dass Überausbeutung ein häufiges Problem migrantischer Arbeiter sei. In der Gastronomie gebe es Beschäftigte, die laut Arbeitsvertrag einen Minijob haben, in der Realität aber täglich zwölf Stunden arbeiten. Vali zeigte am Beispiel einer Pizzeria, wie kreative Wege helfen können: Die Beschäftigten schrieben an die mit dem Chef befreundete italienische Musikgruppe Banda Basotti vor deren Berlin-Auftritt einen Offenen Brief. Vor dem Konzert konnten sie von der Bühne aus ihr Anliegen vortragen – der Chef erklärte sich zu Verhandlungen bereit.
Ein solches Vorgehen hilft beim Kampf gegen Knebelverträge im Pflegebereich kaum. Laut solchen Vereinbarungen sind Beschäftigte über Jahre an eine Firma gebunden, die ihnen einen Sprachkurs finanziert hat. »Wir können gegen diese Verträge, die unsere Freizügigkeit einschränkt, nicht ohne die Gewerkschaften kämpfen«, betonte Vali. »Doch wir können auch nicht auf Gewerkschaften warten.«
https://www.neues-deutschland.de/artikel/978899.gegen-niedriglohn-und-ueberausbeutung.html
Peter Nowak
Soziale Reproduktion in der Krise
Interview mit Gabriele Winker von Peter Nowak
Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker lehrt und forscht an der Technischen Universität Hamburg-Harburg und ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts sowie des bundesweiten „Netzwerks Care Revolution“. Diesen März ist im Transcript-Verlag ihr Buch „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“ erschienen. Peter Nowak sprach für den Vorwärts mit Winker über die Krise sozialer Reproduktion und die entstehende Care-Bewegung.
vorwärts: Im März 2014 fand in Berlin eine Aktionskonferenz zur „Care Revolution“ statt. Was ist seither geschehen?
Gabriele Winker: Die „Care Revolution“ nimmt einen grundlegenden Perspektivwechsel vor. Das ökonomische und politische Handeln darf nicht weiter an Profitmaximierung, sondern an menschlichen Bedürfnissen, primär der Sorge umeinander ausgerichtet sein. Eine Gesellschaft muss sich also daran messen lassen, inwieweit sie grundlegende Bedürfnisse gut und für alle Menschen realisieren kann. Nach der Aktionskonferenz, an der sich etwa 500 im Care-Bereich tätige Menschen in vielfältigen Workshops beteiligten, haben wir im Mai 2014 das „Netzwerk Care Revolution“ gegründet. Das ist eine Art Plattform, über die sich die verschiedensten Care-Initiativen vernetzen, austauschen und gegenseitig unterstützen können. Wir haben uns ferner darauf geeinigt, uns in diesem Jahr als Netzwerk an Aktionen zum Internationalen Frauenkampftag am 8. März, zu Blockupy und zum 1. Mai zu beteiligen. An diesen drei Tagen war das „Netzwerk Care Revolution“ durch kleine Demonstrationsblöcke oder Infotische in mehreren Städten deutlich sichtbar. Auch gibt es inzwischen regionale Netzwerke in Berlin, Brandenburg, Hannover, Hamburg, Frankfurt und Freiburg. Andere befinden sich im Aufbau. Für April 2016 planen wir die zweite bundesweite Aktionskonferenz Care Revolution, wieder in Berlin.
vorwärts: Warum kommt die Debatte um die Care Revolution gerade in dieser Zeit auf?
Gabriele Winker: Der Wandel vom Ernährermodell zu verschiedenen neoliberalen Reproduktionsmodellen, die alle kein gutes Leben ermöglichen, ist in der BRD sehr langsam erfolgt, nicht zuletzt wegen der jahrzehntelangen Konkurrenz mit der DDR. Die neoliberale Familienpolitik, die mit dem Ziel der Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit und der Geburtenrate Wirtschaftspolitik betreibt und sehr stark zwischen Leistungsträgerinnen und -trägernund Ausgegrenzten unterscheidet, beispielsweise durch grosse Unterschiede in der Höhe des Elterngelds, nahm erst nach der Jahrtausendwende Fahrt auf. So wird erst derzeit deutlich spürbar, dass Menschen damit überfordert sind, sich – unabhängig von Geschlecht, Familienstatus, Umfang der Sorgeaufgaben – je einzeln durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft existenziell abzusichern und gleichzeitig die wegen der staatlichen Kostensenkungspolitik zunehmende Reproduktionsarbeit in Familien zu leisten. Arbeit ohne Ende wird für immer mehr Menschen zur Realität. Die Selbstsorge kommt zu kurz. Musse ist zum Fremdwort geworden. Und auch diejenigen, die auf die Unterstützung anderer angewiesen sind, wie Kinder oder pflegebedürftige Erwachsene, können ihre Bedürfnisse nicht realisieren. Es nimmt nicht nur der Stress zu, sondern auch die Erschöpfung, da Erholungsphasen fehlen. Dies führt nicht zuletzt zu mehr Fällen psychischer Erkrankungen.
vorwärts: Sie haben den Begriff der „Care Revolution“ wesentlich geprägt. Auf welche theoretischen und praktischen Vorarbeiten haben Sie sich gestützt?
Gabriele Winker: Einerseits bin ich beeinflusst von der Zweiten Frauenbewegung. Bereits in den 70er Jahren wurde in diesem Rahmen auch in der BRD dafür gekämpft, die nichtentlohnte Hausarbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit anzuerkennen. Dies führen beispielsweise Gisela Bock und Barbara Duden in ihrem Beitrag zur Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977 aus. In den 90er Jahren begannen dann in den USA Debatten um die Care-Arbeit. Mit diesem Begriff wies beispielsweise Joan Tronto sehr früh darauf hin, dass Menschen ihr ganzes Leben lang Sorge von anderen benötigen und somit nicht völlig autonom leben können, sondern ihr Leben vielmehr in interdependenten Beziehungen gestalten. Meine Vorstellung von einer solidarischen Gesellschaft, die ich als Ziel einer Care-Revolution entwickelte, baut deswegen auf menschliche Solidarität und Zusammenarbeit.
vorwärts: Worauf stützt sich die neue Care-Revolution-Bewegung?
Gabriele Winker: Auffallend ist, dass es im entlohnten Care-Bereich, in Bildung und Erziehung sowie Gesundheit und Pflege, aber auch im unentlohnten Bereich, ausgehend von der Sorgearbeit in Familien, viele kleine Initiativen gibt, zum Beispiel Elterninitiativen, Organisationen von pflegenden Angehörigen, Gruppen von Menschen mit und ohne Behinderungen, Initiativen von und für Flüchtlinge, aber auch Verdi-Gruppen sowie queerfeministische und linksradikale Gruppen, die das Thema Care aufnehmen. Viele engagieren sich für bessere politisch-ökonomische Rahmenbedingungen, damit sie für sich und andere besser sorgen können. Alleine und vereinzelt sind sie allerdings bisher zu schwach, um politisch wahrgenommen zu werden und eine grundlegende Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erreichen. Hinter der Care Revolution steht die Idee, diese Gruppen nicht nur über diesen Begriff zu verbinden, sondern damit auch aufeinander zu verweisen und eine sichtbare Care-Bewegung zu entwickeln. Wichtig ist dafür allerdings auch eine klare Analyse, die deutlich macht, dass der gesamte Care-Bereich unter den Folgen staatlicher Kostensenkungspolitik leidet, die mit der politisch-ökonomischen Krise sozialer Reproduktion verbunden ist. Davon ausgehend können wir mit der Care-Revolution als Transformationsstrategie gemeinsam erste Reformschritte in Richtung bedingungslose existenzielle Grundsicherung, deutliche Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit sowie Ausbau der sozialen Infrastruktur gehen.
vorwärts: Sie fassen in Ihrem Buch Aktivitäten der „Interventionistischen Linken“ über Verdi-Gruppen bis zu Pflegeinitiativen unter den Begriff „Care Revolution“. Wird da nicht über ganz unterschiedliche Aktivitäten ein Label gestülpt?
Gabriele Winker: Wichtig ist zunächst festzustellen, dass die im Buch genannten Gruppen und viele mehr, die zur Aktionskonferenz Care Revolution im März 2014 aufgerufen haben, sich selbst diesem Begriff und der Vorstellung zuordnen, dass die Bedingungen für Sorgearbeit in unserer Gesellschaft grundlegend revolutioniert werden müssen. Dabei sind das keine grossen Verbände, sondern Gruppen vor Ort, wie die IL Tübingen, die Verdi-Betriebsgruppe Charité, die Elterninitiative „Nicos Farm“ für behinderte Kinder in Hamburg oder kleinere Organisationen wie die Initiative „Armut durch Pflege“, die bereits viele Erfahrungen in sozialen Auseinandersetzungen im Care-Bereich haben. Die Zusammenarbeit dieser Gruppen wird eben nicht durch eine Organisation gestaltet, die über ein Label Bedeutung erringen will. Vielmehr sehe ich die besondere Stärke der im Werden begriffenen Care-Bewegung darin, dass sich Menschen in unterschiedlichen Positionen innerhalb der Care-Verhältnisse austauschen und ihre Kämpfe aufeinander beziehen.
vorwärts: Können Sie Beispiele nennen?
Gabriele Winker: Bei Treffen und Aktionen kommen beispielsweise Beschäftigte in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen mit pflegenden Angehörigen und Menschen zusammen, die aufgrund von körperlichen Einschränkungen oder Krankheiten zeitlich aufwändig für sich sorgen müssen. Wir alle können morgen von Krankheit betroffen sein und sind dann auf gute Pflege angewiesen. Und die staatliche Kostensenkungspolitik trifft nicht nur die Beschäftigten in allen Care-Bereichen gleichermassen, sondern in der Folge auch Familien, Wohngemeinschaften und andere Lebensformen, wenn Patienten „blutig“ entlassen werden oder notwendige Gesundheitsleistungen für Kassenpatientinnen gestrichen werden. Diese Verbindungen sind noch viel zu wenig präsent, auch in linken politischen Zusammenhängen. Nur wenn sich etwa Erzieherinnen und Eltern oder beruflich und familiär Pflegende als gesellschaftlich Arbeitende begreifen, können sie sich auf Augenhöhe in ihren Kämpfen um ausreichende Ressourcen und gute Arbeitsbedingungen unterstützen. Dies gilt unter dem Aspekt der Selbstsorge auch für Assistenzgebende und Assistenznehmende.
vorwärts: Warum kann im Kapitalismus das Problem der Sorgearbeit nicht gelöst werden?
Gabriele Winker: Das Ziel kapitalistischen Wirtschaftens ist Profitmaximierung. Die ist nur durch den Einsatz von Arbeitskraft zu erreichen, die allerdings tagtäglich und auch über Generationen hinweg immer wieder neu reproduziert werden muss. Der sich daraus ergebende Widerspruch, dass einerseits die Reproduktionskosten der Arbeitskraft möglichst gering gehalten werden sollen, um die Rendite nicht allzu sehr einzuschränken, gleichzeitig aber diese Arbeitskraft benötigt wird, ist dem Kapitalismus immanent. Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung dieses widersprüchlichen Systems ist, dass ein grosser Teil der Reproduktion unentlohnt abgewickelt wird. Mit der technologischen Entwicklung lassen sich nun zwar Güter und produktionsnahe Dienstleistungen schneller herstellen, nicht aber Care-Arbeit beschleunigen, zumindest nicht, ohne dass es zu einer massiven Verschlechterung der Qualität kommt. Denn Care-Arbeit ist kommunikationsorientiert und auf konkrete einzelne Menschen bezogen und damit sehr zeitintensiv. Die Folge ist, dass Produktivitätssteigerungen in diesem Bereich nur begrenzt möglich sind. Es kommt zu einer Krise sozialer Reproduktion, die ich als Teil der Überakkumulationskrise sehe.
Für mehr Infos siehe:
www.care-revolution.org
VORWÄRTS/1120: Interview mit Gabriele Winker – Soziale Reproduktion in der Krise
Welthandeln
Zur länderübergreifenden Solidarität im Amazon-Streik
Roberto Luzzi bekam am 30. März viel Applaus im Streikzelt der Amazon-Beschäftigten in Leipzig. Er hat im Rahmen einer Delegation der italienischen Basisgewerkschaft SI Cobas den Streikenden einen Solidaritätsbesuch abgestattet und solidarische Grüße überbracht. Bei einer Veranstaltung und einen Workshop in Berlin berichteten die SI-Cobas-GewerkschafterInnen, wie sie in den letzten Monaten im italienischen Logistikbereich erfolgreich Beschäftigte organisieren und Tarifverschläge abschließen konnten, die für die Beschäftigten Lohnerhöhungen und eine Verminderung der Arbeitshetze bedeuteten. Die großen italienischen Gewerkschaftsverbände haben an die Logistikunternehmer einen Brief geschrieben, in dem sie sich beschwerten, dass sie mit der kleinen Basisgewerkschaft bessere Tarifverträge als mit ihnen abschließt. „Die haben nicht begriffen, dass diese Verträge kein Geschenk der Unternehmen sondern ein Ergebnis der kämpferischen Gewerkschaftspolitik ist“, meint Luzzi.
So haben die Streikenden im italienischen Logistikbereich die Tore der Unternehmen blockier. Weder Personen noch LKW kamen rein oder aus. Der Warenverkehr stockte. Die GewerkschafterInnen wissen, dass sie damit die Logistikunternehmen am neuralgischen Punkt treffen. Wenn es bei den Warenauslieferungen Verzögerungen gibt, verlieren die Unternehmen große Summen. Deswegen sorgen Unternehmen wie Amazon vor. Es hat bereits vor Monaten eine Filiale im polnischen Poznan errichtet, um die Waren von dort auszuliefern, wenn in Deutschland gestreikt wird.
Dieser schnelle Wechsel ist in der Logistikbranche auch deshalb besonders einfach, weil in der Branche kein aufwendiger Maschinenpark verlegt werden muss. Die GewerkschafterInnen betonten auf den Workshop in Berlin, dass damit auch eine länderübergreifende Streiksolidarität in der Branche erleichtet werden könnte. Schließlich habe das Standortdenken bei Lohnabhängigen der fordistischen Schwerindustrie eine reale Grundlage auch in dem Maschinenpark, der nicht so leicht zu ersetzen oder auszulagern ist. Dieses Standortdenken erschwerte aber länderübergreifende Kämpfe. Wie die SI-Cobas-GewerkschafterInnen bemühen sich auch die Gruppen der Amazonstreiksolidarität, die sich in verschiedenen Städten gegründet haben, um eine Ausweitung dieser Solidarität über Landesgrenzen hinweg. Einige ermutigende Beispiele der letzten Monate wurden genannt. So streikten vor Weihnachten 2014 auch in Frankreich Amazon-Beschäftigte und bezogen sich auf den Arbeitskampf in Deutschland. Auch im Amazon-Werk in Poznan wächst die Unzufriedenheit der Beschäftigten. In einem Bericht eines der Beschäftigten, der kürzlich auf Deutsch übersetzt wurde, heißt es über die Stimmung Ende 2014 in dem Werk:
„Im Dezember drang die Unzufriedenheit der Leiharbeiter bei Amazon an die Öffentlichkeit: Sie fingen an, sich wegen nicht pünktlich gezahlter Löhne, Unregelmäßigkeiten bei der Berechnung der Löhne und überfüllter Kantinen an die lokalen Medien zu wenden.“ Mittlerweile sind zahlreiche Amazon-Beschäftige von Poznan in die kämpferische Basisgewerkschaft Workers Initiative eingetreten. Vielleicht wird beim nächsten Amazon-Streik tatsächlich ein Alptraum für die Manager war. und die Arbeitskämpfe und nicht nur das Kapital können keine Landesgrenzen mehr.
Herausforderung der Amazon-Streiksolidarität
Inzwischen sind ca. 150 Amazon-Beschäftigte in Poznan in einer Betriebsgruppe der Inicijatywa Pracownicza (IP) organisiert. Sie ist 2004 als Alternative zu den bürokratisierten, mit den verschiedenen Regierungsparteien verwobenen Gewerkschaften in Polen entstanden. Die IP versteht sich als Basisgewerkschaft in anarchosyndikalistischer und syndikalistischer Tradition. Ihre Hauptprinzipien sind die Unabhängigkeit vom Kapital und eine konsequente innergewerkschaftliche Demokratie. In Poznan hat sie IP eine Petition gegen die permanente Steigerung der Produktionsnormen im Amazonwerk lanciert und am 15. Mai 400 Unterschriften dazu präsentiert. Der Kampf gegen die Steigerung der Arbeitsnormen und der Arbeitshetze ist aktuell das zentrale Kampffeld der IP bei Amazon-Poznan. Am 23. Mai beteiligten sich an einer IP-Demonstration in Warschau auch gewerkschaftlich aktive Amazon-Beschäftigte aus Deutschlandl.
Die Herstellung solcher Kontakte ist auch eine Herausforderung für die Amazon-Streiksolidarität, die sich in verschiedenen Städten gegründet hat. Schwerpunkte sind Leipzig, Frankfurt/Main und Berlin. Es gab mittlerweile zwei bundesweite Treffen, eins in Leipzig und eins in Frankfurt/Main. Dabei gab es auch Diskussionen, ob diese Streiksolidarität über die Unterstützung verdi.-Aktivitäten hinaus eigene Akzente setzen soll. Die Kontakte mit KollegInnen von SI Cobas aus Italien oder der Workers Initiative aus Polen sind ein solcher eigenständiger Akzent. Beide Basisgewerkschaften gehören nicht zu den BündnispartnerInnen des DGB und seiner Einzelgewerkschaften. Die Verdi-Gewerkschafterin Mechthild Middeke sprach im Interview mit dem Express 3-4/2015 über die Kontakte des DGB und seiner polnischen Partnergewerkschaften in Poznan. Daher wäre der Kontakt zu Gewerkschaften wie SI Cobas und IP ein wichtiger Part der Amazon-Solidarität. Im Anschluss an die Blockupy-Proteste am 18. März in Frankfurt/Main und im Rahmen des Blockupy-Nachbereitungstreffens im Mai 2015 in Berlin gab es ein eigenes Treffen für die Koordinierung der transnationalen Betriebs- und Streiksolidarität. In den nächten Monaten sollen die Kontakte intensiviert werden.
http://www.labournet.de/express/
aus: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
4/5-2015
Peter Nowak
Mall of Berlin: Prozess um Löhne fiel aus
Am 16. Juli sollten zwei der sieben Klagenverfahren gegen die Openmallmaster GmbH (OMM), einem Subunternehmen beim Bau der »Mall of Berlin«, vor dem Berliner Arbeitsgericht stattfinden. Doch der Prozess wurde erneut verschoben. »Der vom Gericht geladene Dolmetscher war kurzfristig erkrankt. Der für ihn erschienene Vertreter war nicht vereidigt«, teilte der Rechtsanwalt Sebastian Kunz am Freitag mit. Der Arbeitsrechtler ist einer der Verteidiger der rumänischen Beschäftigten. Zudem erschien auch der Geschäftsführer der OMM, dessen Erscheinen vom Gericht angeordnet war, nicht zur Verhandlung. Er ließ durch seinen Anwalt mitteilen, er sei erkrankt und verhandlungsunfähig. Da zur Sache nicht verhandelt werden konnte, wird das Gericht einen neuen Kammertermin festsetzen.
In der kurzen Verhandlung stritt der Anwalt alle Vorwürfe gegen das Unternehmen seines Mandanten ab. OMM habe lediglich einen Bauleiter auf der Baustelle im Einsatz gehabt und alle Arbeiten durch Subunternehmen ausführen lassen. »Rechtlich ist das möglich. Aber ist das praktikabel und glaubwürdig?«, kommentierte die Basisgewerkschaft Freie Arbeiterunion (FAU) diese Einlassungen. Die rumänischen Bauarbeiter hatten sich an die FAU gewandt, nachdem sie vergeblich versucht hatten, ihren Lohn zu erhalten. Außerdem beklagten die Beschäftigten überlange Arbeitszeiten und unzumutbare Unterbringungen.
»Nun kämpfen die Bauarbeiter bereits mehr als acht Monate um ihren Lohn«, sagt ein FAU-Mitglied. Viele der betroffenen Arbeiter mussten neue Arbeitsplätze annehmen und können daher nicht in Berlin sein. Doch der Gewerkschafter betont auch, dass die Bauarbeiter den Kampf auf jeden Fall fortsetzen wollen. Für sie geht es dabei nicht um den vorenthaltenen Lohn.
Gegen transnationalen Streikbruch
Auch in Polen beginnen Amazon-Beschäftigte, für einen Tarifvertrag zu kämpfen
Nicht nur in Deutschland sind die Amazon-Beschäftigten mit ihren Arbeitsbedingungen unzufrieden. Auch im Amazon-Werk im polnischen Poznan fordern die KollegInnen verlängerte Pausenzeiten und eine Erhöhung des Stundenlohns von bisher 13 auf 16 Złoty. Das wären umgerechnet etwa vier Euro. Für das Amazon-Management ist der Arbeitskampf ein Warnsignal. Schließlich wurde die weltweit größte Amazon-Niederlassung in Poznan mit 3000 Beschäftigten im September 2014 eröffnet, um bei Streiks in den Amazon-Filialen in Deutschland in das Nachbarland ausweichen zu können. Einige Wochen später wurde bei Wroclaw ein weiteres Amazon-Verteilzentrum eröffnet.
»Aus Polen werden Kunden in ganz Europa beliefert«, erklärte der Logistikchef von Amazon Europe, Tim Collins, bei der Eröffnung des Werkes in Poznan und verhehlte nicht, dass von dort ein transnationaler Streikbruch geplant war. Dank des europaweiten Netzwerks mit insgesamt 28 Standorten, darunter auch in Polen und der Tschechischen Republik, werde trotz Arbeitsniederlegungen in Deutschland pünktlich geliefert »Amazon-Pakete kommen jetzt aus Polen«, titelte das »Handelsblatt« am 15. Dezember 2014. Damals brachten an verschiedenen Amazon-Standorten in Deutschland Beschäftigte das Weihnachtsgeschäft des Onlinehändlers durch Streiks ins Stocken.
»Die Polen arbeiten, die Deutschen streiken«, kommentierten konservative polnische Zeitungen. Doch die Beschäftigten dort wurden von den Arbeitskämpfen hier ermutigt, ebenfalls für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Eine wichtige Rolle spielte dabei die anarchosyndikalistische Gewerkschaft OZZ Inicjatywa Pracownicza (Arbeiterinitiative). In einen von der Gewerkschaft herausgegebenen Bulletin werden die Anfänge des gewerkschaftlichen Engagements bei Amazon-Poznan so beschrieben: »Im Dezember 2014 drang die Unzufriedenheit der Leiharbeiter bei Amazon an die Öffentlichkeit: Sie fingen an, sich wegen nicht pünktlich gezahlter Löhne, Unregelmäßigkeiten bei der Berechnung der Löhne und überfüllter Kantinen an die lokalen Medien zu wenden.« Auch durch die Kündigung von rund 100 Leiharbeitern ließ sich die Belegschaft nicht einschüchtern. Im Mai veröffentlichte sie eine Petition für bessere Arbeitsbedingungen. Vom 24. auf den 25. Juni solidarisierte sich ein Teil der Nachtschicht bei Amazon-Poznan durch demonstratives Langsamarbeiten mit dem Streik bei Amazon-Deutschland. Andere Beschäftigte stellten kurzfristig Urlaubsanträge, um nicht zum Streikbrecher zu werden. Zuvor hatten Mitglieder der Arbeiterkommission in dem Werk Flugblätter über den ver.di-Streik verteilt und dabei T-Shirts mit dem Slogan »Pro Amazon mit Tarifvertrag« getragen. In der Nähe der Niederlassung verkündeten Transparente: »Wir unterstützen die Streiks bei Amazon in Deutschland.«
»Amazon wird immer wieder versuchen, Beschäftigte an verschiedenen Standorten gegeneinander auszuspielen. Deswegen ist es wichtig, dass sich Beschäftigte aus verschiedenen Standorten über Ländergrenzen hinweg vernetzen und gemeinsam dafür streiten, bei Amazon das Recht auf gewerkschaftliche Vertretung, Tarifverträge und bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen,« zeigt sich die Presssprecherin des ver.di-Bundesvorstands Eva Völpel über die Solidaritätsaktionen erfreut.
Bisher gab es drei Vernetzungstreffen, an denen Gewerkschafter verschiedener Amazon-Standorte teilnahmen. Aus Polen waren neben Delegierten der Arbeiterkommission auch Vertreter der sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Gewerkschaft Solidarnosc anwesend. Mit ihr hatte ver.di bereits in der Vergangenheit kooperiert. »Polnische Kollegen haben Amazon-Standorte in Deutschland während der Streiks besucht und sich zuletzt an der großen Streikkundgebung am 24. Juni 2015 in Bad Hersfeld beteiligt«, so Völpel. Die Kooperation mit der Arbeiterkommission wurde bisher vor allem von außerbetrieblichen Amazon-Solidaritätsgruppen vorangetrieben Einige Aktivisten beteiligten sich gemeinsam mit Amazon-Beschäftigten aus Deutschland am 23. Mai an einer von der Gewerkschaft organisierten Demonstration in Warschau.
Die Arbeiterkommission lädt vom 11. bis 13. September nach Poznan zu einen internationalen Treffen von Amazon-Beschäftigten unabhängig von ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit ein. Das Ziel solle ein Austausch der Beschäftigten und nicht der Funktionäre sein, heißt es in dem im Internet verbreiteten Aufruf.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/978223.gegen-transnationalen-streikbruch.html
Peter Nowak
Das Ende des Projekts Rot-Rot-Grün
Die SPD wie die Grünen sind in vielen Fragen Teil einer strukturell rechten Mehrheit, wie die Griechenland-Debatte zeigt. Ein sozial gerechtes Europa wird anderorts gesucht
„Schon Ende dieser Woche könnte die Regierung Merkel Geschichte sein. Ihr furchtbarer Finanzminister Schäuble, der aus einem Europa der Verständigung und des Konsens eines der Erpressung und der Erniedrigung gemacht hat, müsste auf den Oppositionsbänken Platz nehmen. Sigmar Gabriel wäre Bundeskanzler, gewählt mit den Stimmen von Grünen und Linken. Wenn, ja, wenn nur die SPD jetzt ein konstruktives Misstrauensvotum beantragen würde. Die Griechen bekämen anschließend einen halbwegs fairen Deal, das Verhältnis zu Frankreich und Italien würde repariert.“
Diese Vision [1] einer von der Linkspartei tolerierten SPD-Bundesregierung im Bündnis mit dem Grünen formulierte der Inland-Redakteur der Taz, Martin Reeh, am vergangenen Dienstag in einem Kommentar. Dabei ist ihm klar, dass es die SPD nicht zu einem Bruch der Regierung an der Griechenlandfrage kommen lassen wird. Schließlich hat Sigmar Gabriel in den letzten Wochen auch in der Griechenlandfrage eher den Versuch gemacht, den Mehrheitsflügel der Union rechts zu überholen.
Wie der Schäuble-Flügel der Union bediente auch Gabriel die Ressentiments der deutschen Steuerzahler gegen eine angeblich teilweise kommunistische Regierung, für die Deutschland zahlen müsse. In diesem Diskurs kommen die Vorstellungen eines sozial gerechteren Europas, wie man es in sozialdemokratischen Sonntagsreden hört, nicht vor. Über die deutschen Schulden redet in der SPD sowieso niemand.
Dass Deutschland ein Darlehen aus der NS-Besatzung nicht zurückgezahlt hat und die Reparationsforderungen für die zahlreichen Verbrechen von SS und Wehrmacht eigenmächtig einen Schlussstrich gezogen hat, ignoriert die politische Anschauung eines Sigmar Gabriel genauso wie die eines Wolfgang Schäuble.
Das zweite Memorandum – oder die Täter werden den Opfern nie verzeihen
Es wäre zu fragen, ob nicht das besondere Interesse deutscher Politiker vom Schlage eines Schäuble und Gabriel, die Syriza-Regierung zu demütigen, gerade auch darin eine Ursache hat. Es war die neue griechische Regierung, die Deutschland die offenen Rechnungen aus der NS-Zeit präsentierte und es war ein besonders Vergnügen aller Deutschfühlenden, von der Bildzeitung angeführt, danach besonders selbstbewusst die Schilder mit der Forderung „Kein Geld nach Griechenland“ in die Kamera zu halten.
Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Schäubles Ansehen in der deutschen Bevölkerung wuchs, je mehr er „den Griechen“ noch einmal zeigte, was deutsche Ordnung ist. Für Gabriel, den schlechten Schäuble-Imitator, dürfte dann nur der Trostpreis bleiben, weiterhin den Vizekanzler spielen zu dürfen. Es sei denn, der Schäuble-Bonus beschert der Union bei den nächsten Wahlen die absolute Mehrheit.
Es hatten in den vergangen Wochen auch viele überzeugte Anhänger der kapitalistischen Marktwirtschaft ihre Schwierigkeiten damit, die Rationalität des von Deutschland diktierten Austeritätsdikats zu erklären. Immer wieder haben Ökonomen wie Paul Krugman, Thomas Piketty und viele andere dargelegt, dass die Vorschläge der griechischen Regierung sinnvoll sind, wenn man einen ökonomischen Aufschwung zum Ziel hat.
Das deutsche Diktat hingegen führt nicht nur zu einer weiteren Verelendung der Bevölkerung in Griechenland, sondern auch zu einem weiteren Niedergang der Wirtschaft. Viele bemängeln „ideologische Verblendung“. Dabei müsste sich doch die Frage stellen, ob Deutschland nicht hier noch einmal Rache an Griechenland nimmt. Angehörige von Überlebenden der Opfer der deutschen Massaker während der NS-Besatzung meinten vor drei Wochen auf einen Symposium in Berlin sarkastisch:
Auch damals wurde es mit den Verpflichtungen begründet, die Griechenland zu erfüllen hat. Es handelte sich um das Darlehen, das Deutschland bis heute nicht zurück gezahlt hat. Jetzt hat Deutschland Griechenland erneut ein Memorandum aufgezwungen und die SPD ist als Juniorpartner dabei.
„Sozialdemokratische Patrioten“ Deutschlands nicht regierungsfähig
In einem solchen revanchistischen Deutschland wird die Chimäre einer rot-rot-grünen Regierung, die seit Jahren immer wieder die Zeitungsseiten füllt, wohl erst einmal ad acta gelegt. Nicht nur Sahra Wagenknecht, die solchen Regierungsprojekten von Anfang an kritisch gegenüberstand, sieht keine Chancen [2] für rot-rot-grüne Regierungspläne, auch der Reformerflügel der Linkspartei, für den eine baldige Regierungsbeteiligung eine wichtige Option war, musste mittlerweile erkennen, dass es so bald mit den anvisierten Posten nichts wird.
Einer der profiliertesten Vertreter dieser Reformer, der Bundestagsabgeordnete Jan Korte, sieht [3] in der Führung der „Sozialdemokratischen Patrioten Deutschlands“ (SPD) die Schuld für das Scheitern der von ihm favorisierten Regierungsoption [4]. Dass die SPD sich in deutschem Patriotismus von niemand übertreffen lassen will, müsste Korte eigentlich früher aufgefallen sein.
Wenn nun die Reformer die Kontakte zu den Grünen verbessern wollten, die in vielen Fragen ebenso Teil einer strukturell rechten Mehrheit sind wie die SPD, zeigt, dass die Reformer in der Linkspartei ihre Regierungsoptionen nicht aufgeben, sondern nur auf einen längeren Zeitraum verschieben wollen. Wenn nun Korte nebulös erklärt, eine rot-rot-grüne Regierungsbeteiligung müsse über die Bundesländer erfolgen, wird auch klar, dass hier weiter eine Mitgestaltung angestrebt wird.
Dabei würde sich ein Blick nach Berlin lohnen, wo der Mehrheitsflügel der Linken die Kooperation mit der SPD gerne nach den nächsten Wahlen wieder aufnehmen würde. Diese SPD leistet sich mit Tom Schreiber einen Innenpolitiker, der mit Law-and-Order-Parolen die CDU rechts überholen will. Schon 2011 rückte er eine Stadtteilinitiative, die sich kritisch mit den Baugruppen befasst, in die Nähe des Terrorismus [5].
Immer wieder verteidigt [6] Schreiber umstrittene Polizeieinsätze. Kürzlich nahm er die ehemals besetzten Häuser und alternativen Projekte im Berliner Friedrichshain ins Visier und forderte [7] die Einrichtung einer Sondereinsatzgruppe Rigaer Straße und die verschärfte Repression gegen linke Szenelokale. Dabei sind bei der Langen Woche der Rigaer Straße [8], mit der die ehemals besetzten Häuser ihr 25jähriges Jubiläum feierten, die von den Boulevardmedien vorhersagten Straßenschlachten ausgeblieben.
Transnationaler Widerstand
Während so eine Linke, die sich aufs Mitverwalten konzentriert, angesichts des Rechtskurses der SPD nicht nur in der Griechenlandfrage ratlos wirkt, suchen andere Linke eine Kooperation des außerparlamentarischen Widerstands über Landesgrenzen hinweg.
Wenn die Austeritätspolitik wesentlich von Deutschland bestimmt wird, ist es verständlich, dass viele Menschen auch hier gegen diese Politik protestieren wollen Bei den Blockupyprotesten zur EZB-Eröffnung [9] war die transnationale Komponente des Widerstands schon zu spüren. Nun plant das Blockupy-Bündnis um den 1. Mai 2016 einen Kongress und eine Protestdemonstration mit internationaler Beteiligung.
Bereits am heutigen Mittwoch wollen in mehreren Städten Gruppen der Griechenlandsolidarität in verschiedenen Städten gegen das deutsche Diktat protestieren. Dabei werden keine Massen erwartet, aber es soll gezeigt werden, dass sich auch im „revanchistischen Deutschland“ eine Minderheit artikuliert.
Peter Nowak
http://www.heise.de/tp/news/Das-Ende-des-Projekts-Rot-Rot-Gruen-2750490.html
Links:
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[2]
[3]
[4]
[5]
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»Verdi hätte von sich aus nie zum Streik aufgerufen«
Andreas Heinz ist derzeit beurlaubter stellvertretender Betriebsrat und Mitglied der FAU-Betriebsgruppe des Kinos Babylon in Berlin-Mitte. Die FAU führte dort 2009 einen Arbeitskampf, dem der Geschäftsführer des Kinos, Timothy Grossman, sich entzog, indem er mit Verdi einen Haustarifvertrag zu für ihn günstigeren Bedingungen schloss.
Was ist der Anlass des aktuellen Babylon-Streiks?
Fünf Jahre nach Abschluss des Dumping-Tarifvertrages wurden Anpassungen nach und nach zugesagt. Doch davon ist nicht viel eingehalten worden. Die Arbeitsbedingungen sind eher schlechter geworden, und die Zahl der Kündigungen hat groteske Ausmaße angenommen. Die letzten vom damaligen Arbeitskampf verbliebenen Mitarbeiter wandten sich an Verdi. Die Gewerkschaft reagierte mit der Aufforderung, doch erst einmal sieben Mitglieder zu organisieren. Wir waren alle erstaunt, dass es gelang. Im September 2014 wurde der Haustarifvertrag zum Jahresende gekündigt. Erste Verhandlungen gab es erst im April 2015.
Wie geht es dem Kino wirtschaftlich?
Dem Kino müsste es nicht schlecht gehen. Es ist oft rappelvoll, Zuschauerzahlen, Eintrittspreise und Mietpreise für Einmietungen sind gestiegen. Doch es herrscht die alte Misswirtschaft: verschleppte Wartung und Instandsetzung, hohe Folgekosten, hohe Anwalts- und Gerichtskosten sowie hohe Personalausgaben in der Chefetage.
Vor einigen Jahren sorgte ein Streik der FAU beim Kino Babylon für große Aufmerksamkeit. Warum ruft jetzt Verdi zum Streik auf?
Verdi hätte von sich aus nie zum Streik aufgerufen, wurde aber von den Mitarbeitern dazu gedrängt. Verdi scheint sich seiner unrühmlichen Rolle beim damaligen Arbeitskampf der FAU schmerzhaft bewusst zu sein und zu versuchen, diesmal alles richtig zu machen. Aber die Zeit drängt. Mehrere Mitarbeiter sind von Kündigung bedroht, andere sind bereits gekündigt.
Die FAU hat kürzlich eine Broschüre zum ersten Arbeitskampf vorgelegt. Wie kommt sie beim aktuellen Streik an?
Die Unterstützung durch die FAU Berlin, die einen öffentlichen Aufruf zur Unterstützung des Streiks verfasste, weckt Hoffnungen. Die Broschüre erinnert an den von heute aus gesehen sehr organisierten und professionellen Arbeitskampf. Einzelne FAU-Mitglieder sind sicher bereit zu helfen, aber ein organisiertes Eingreifen ist ohne Strategie und klaren Kurs von Verdi zurzeit nicht möglich.
http://jungle-world.com/artikel/2015/28/52285.html
Interview: Peter Nowak
Wenn die Leinwand dunkel bleibt
STREIK Im Kino Babylon Mitte gibt es immer wieder Warnstreiks. Es geht um mehr Lohn und Personal
„Worst Case Scenario“ lautet der Titel eines Film im aktuellen Programm des Kinos Babylon Mitte. Für den Geschäftsführer des Filmhauses am Rosa-Luxemburg Platz, Timothy Grossman, wäre es ein Worst-Case-Scenario, wenn
die Leinwand dunkel bliebe. Denn die Verdi-Betriebsgruppe im Kino ruft seit dem 22. Mai immer wieder zu Warnstreiks auf. Die Gewerkschaft hatte den vor zehn Jahren geschlossenen Tarifvertrag gekündigt und die Geschäftsführung zu Tarifverhandlungen aufgefordert. Sie will die Übernahme des Bundestarifvertrages des Hauptverbands Deutscher Filmtheater (HDF) für die Babylon-Beschäftigten und eine Erhöhung der Personalbesetzung erreichen. „Seit fünf Jahren gab es im Bereich der FilmvorführerInnen keine Entgelterhöhung. Lediglich der Einstiegslohn für PlatzanweiserInnen
wurde 2014 auf den jetzt geltenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro erhöht“, erklärt Andreas Köhn vom
Verdi-Landesbezirk Berlin-Brandenburg. Bei zwei Verhandlungen habe Grossman erklärt, die z usätzlichen Gelder könne das Kino nicht aufbringen. „Die Eintrittspreise sind um teilweise 20 Prozent gestiegen“, kontert Köhn. „Auch die Anzahl der BesucherInnen hat sich deutlich erhöht.“ Zudem sind im Doppelhaushalt 2016/17 Subventionen
in Höhe von 361.500 Euro für das Filmhaus eingeplant. Bisher betrugen die Zuschüsse 358.000 Euro jährlich.
Zeitgleich mit dem aktuellen Verdi-Streik ist im Syndikat A die Broschüre „Babylohn“ von Hansi Oostinga erschienen, die an den Arbeitskampf der Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) in den Jahren 2008 bis 2010 in dem Kino erinnert. Neben zahlreichen Solidaritätsaktionen linker Gruppen spielen dort auch die juristischen Auseinandersetzungen mit den GewerkschafterInnen eine Rolle. Diese sind bis heute nicht beendet. FAU-Mitglied und Betriebsrat Andreas H. wehrt sich juristisch gegen seinen Rauswurf. Mit der Beschuldigung, ein Plakat beschädigt
zu haben, wurde ihm fristlos gekündigt und seine Wohnung polizeilich durchsucht. Den aktuellen Arbeitskampf unterstützt der bis zur gerichtlichen Klärung Beurlaubte trotzdem. Babylon-Geschäftsführer Grosman war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
aus: Taz, 9.7.2015
Peter Nowak
Dieses Kino wird bestreikt
Beschäftigte am Babylon in Mitte demonstrieren für Anpassungen ihrer Verträge
»Dieses kommunale Kino wird heute bestreikt. Darum bitten wir Sie, heute von einem Kinobesuch Abstand zu nehmen und die berechtigen Forderungen der Beschäftigten nicht zu unterlaufen«, heißt es auf Plakaten, die in den vergangenen Tagen rund um das Kino Babylon am Rosa-Luxemburg Platz verteilt wurden. Verfasst wurden sie von der ver.di-Betriebsgruppe des Kinos Babylon. Sie fordert die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der 15 KinomitarbeiterInnen. »Fünf Jahre Verzicht sind genug. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, steht auf einem Schild, den ein Streikender am Montag in die Höhe hält, als er mit einem Kinobesucher über den Arbeitskampf diskutiert. »Im Dezember 2013 wurde mein Stundenlohn nach einer Forderung des Senats auf 8,50 Euro tarifvertraglich angehoben. Seitdem gab es keine weiteren Anpassungen«, erklärte der Mitarbeiter. Die Filmvorführer hätten sogar seit fünf Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen.
Ver.di fordert die Übernahme des Bundestarifvertrages des Hauptverbands Deutscher Filmtheater (HDF) für die Babylon-Beschäftigten. Außerdem soll es eine verbindliche Mindestbesetzung während des laufenden Kino- und Veranstaltungsprogramms geben, die auf die Besucherzahlen abgestimmt wird. Andreas Köhn vom ver.di-Landesbezirk Berlin-Brandenburg betont, dass das Kino die Forderungen wirtschaftlich tragen kann. »Schließlich sind die Eintrittspreise und die Einmietung in den letzten Jahren um teilweise 20 Prozent gestiegen. Auch die Anzahl der Besucher hat sich deutlich erhöht.«
Zudem erhöhen sich auch die Subventionen, die das Land Berlin jährlich an das Kino überweist. Im Doppelhaushalt 2016/2017 sind 36 5000 Euro Zuschuss vorgesehen. Bisher betrug der jährliche Zuschuss an das Kino 35 8000 Euro. Ver.di fordert nun vom Senat, die Auszahlung der Zuwendungen an die Umsetzung des bundesweiten HDF-Tarifvertrages zu koppeln. Der Geschäftsführer der Neuen Babylon GmbH, Timothy Grossman, erklärte bei den zwei Verhandlungsterminen mit ver.di, aus eigenen Mitteln sei kein Spielraum für die Erfüllung der Forderungen. Gegenüber »nd« war Grossmann nicht zu einer Stellungnahme bereit.
Bereits 2009 und 2010 war das Kino Babylon durch einen Arbeitskampf über Berlin hinaus bekannt geworden. Damals wandten sich die Beschäftigten an die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU). »Der Arbeitskampf machte damals deutlich, dass auch in prekären Verhältnissen engagierte Arbeitskämpfe möglich sind«, heißt es im Vorwort einer Broschüre über den Arbeitskampf, die kürzlich vom FAU-Aktivisten Hansi Oostinga beim Verlag Syndikat A herausgegeben wurde. »Die Broschüre erinnert an den von heute aus gesehen doch sehr organisierten und professionellen Arbeitskampf«, sagt FAU-Mitglied und Babylon-Betriebsrat Andreas Heinz dem »nd«. Auch den aktuellen Streik von ver.di unterstützt die FAU ausdrücklich. Dabei waren die Beziehungen zwischen beiden Gewerkschaften nicht immer die besten. Die FAU warf ver.di vor, mit Grossman einen Tarifvertrag abgeschlossen zu haben, nachdem der der Basisgewerkschaft ihre Tariffähigkeit aberkennen wollte. Damals hatten sich in einen bundesweiten Solidaritätskomitee allerdings auch Mitglieder von DGB-Gewerkschaften mit der FAU solidarisiert.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/977003.dieses-kino-wird-bestreikt.html
Peter Nowak