Transnational streiken

»Wir unterstützen die Streiks bei Amazon in Deutschland« – Transparente mit diesem Motto hingen in der letzten Junihälfte rund um das Amazon-Werk in Poznań (Polen). Es blieb nicht bei Bekenntnissen. Die Nachtschicht bei Amazon in Poznań solidarisierte sich vom 24. auf den 25. Juni durch demonstratives Bummelstreiken mit dem Streik bei Amazon-Deutschland. Andere Beschäftigte stellten kurzfristig Urlaubsanträge, um keine Streikbrecher zu werden. Tage vorher hatten Mitglieder der anarchosyndikalistischen Inicjatywa Pracownicza (IP) in dem Werk Flugblätter über den Verdi-Streik in Deutschland verteilt und dabei T-Shirts mit dem Slogan »Pro Amazon mit Tarifvertrag« getragen. Noch im Dezember 2014 bei der Eröffnung der Werke in Poznań und Wrocław erklärte der Logistikchef von Amazon Europe, Tim Collins, dass die polnische Dependance für pünktliche Lieferungen an Amazon-Kunden sorgen werde, auch wenn Verdi in Deutschland zum Arbeitskampf aufrufe. Doch schon vor Weihnachten 2014 hatte sich ein Teil der Belegschaft an die IP gewandt, weil sie mit den Arbeitsbedingungen unzufrieden war. Mitte Mai organisierte die Gewerkschaft unter der Parole »My Prekariat« (Wir Prekären) eine erste Warschauer Mayday-Parade mit knapp 350 Teilnehmern. Neben Beschäftigten von Universitäten, Bauarbeitern, Theaterleuten und Erziehern beteiligten sich auch Arbeiter von Amazon daran. Vom 2. bis zum 4. Oktober 2015 haben auch die Amazon-Beschäftigten Gelegenheit, Kontakt zu den polnischen Kollegen aufzunehmen. Am ersten Oktoberwochenende wird zu einer Tagung mit dem Thema transnationaler sozialer Streik in Poznań aufgerufen. In Arbeitsgruppen soll erörtert werden, wie man sich kollektiv gegen die Fragmentierung und Individualisierung der Arbeit wehrt. Es geht um die Vernetzung fester und befristeter Angestellter und die Frage, wie die kapitalistische Ausbeutung länderübergreifend angegriffen werden kann.

http://jungle-world.com/artikel/2015/31/52416.html
Peter Nowak

Sechs Monate Kampf und noch immer kein Lohn

Die Auseinandersetzung migrantischer Arbeiter der „Mall of Berlin“ für ihren Lohn und ihre Würde geht weiter

„Sie haben die Arroganz der Macht, doch sie haben nicht mit unserer Bereitschaft zum Widerstand gerechnet. Was das Aufgeben betrifft, da haben sie bei uns keine Chance.“ Die knapp 200 TeilnehmerInnen der Demonstration „Sechs Monate Kampf und noch immer kein Lohn“ brechen in Applaus aus, als einer der rumänischen Kollegen spricht, die um ihren Lohn kämpfen (DA berichtete). Ein Stundenlohn von sechs Euro sowie Kost und Logis war ihnen versprochen worden. Der Betrag ist wesentlich niedriger als der im Baugewerbe gültige Mindestlohn. Aber selbst dieser Niedriglohn wurde den Bauarbeitern vorenthalten.

Im Oktober 2014 hatten sie sich zunächst an den DGB Berlin-Brandenburg gewandt. Das im dortigen Gewerkschaftshaus angesiedelte „Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte“ nahm Kontakt mit dem Generalunternehmer der Baustelle, der Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, auf und schrieb Geltendmachungen. Außer Abschlagszahlungen, die nur einen Bruchteil des vorenthaltenen Lohnes ausmachten, konnten die Bauarbeiter auf diesem Weg allerdings nichts erreichen. Sie hatten weder Arbeitsverträge noch Gewerbescheine – das macht die Durchsetzung ihrer Ansprüche schwierig. Einige nahmen die Abschlagszahlungen und unterzeichneten zudem eine vom Unternehmen vorbereitete Erklärung, nach der sie auf weitere rechtliche Schritte verzichten sollten. Andere beharrten darauf, ihren vollen Lohn zu erhalten, und wollten weiter gehen. Erst, als sich die verbliebenen Bauarbeiter an die FAU wandten, begann die Öffentlichkeitsarbeit. „Mall of Berlin – auf Ausbeutung gebaut“ lautete die Parole. Der von der FAU kreierte Begriff „Mall of Shame“ hat sich mittlerweile im Internet verbreitet. Der gesellschaftliche Druck hatte bisher nicht ausgereicht, um zu bewirken, dass der Generalunternehmer und seine Subunternehmen die ausstehenden Löhne bezahlten. Dabei handelte es sich um einige Tausend Euro. Für die Unternehmen sind es Beträge aus der Portokasse. Für die betroffenen Bauarbeiter und ihre Familien in der Heimat ist das Geld existenziell. Anfang April hatten zwei der Bauarbeiter einen juristischen Etappensieg errungen. Das Berliner Arbeitsgericht bestätigte die Forderungen von Nicolae Molcoasa und Niculae Hurmuz. Das beklagte Subunternehmen war nicht zur Verhandlung erschienen und hatte auch keinen Anwalt geschickt. So musste das Gericht der Klage stattgeben. Doch wenige Tage später ging ein Anwalt des Unternehmens in Berufung – jetzt müssen die Arbeiter weiter auf ihren Lohn warten. Im August sind die nächsten Prozesse vor dem Arbeitsgericht angesetzt. Trotz aller Schwierigkeiten betonen die betroffenen Arbeiter, wie wichtig es für sie war, gemeinsam mit der FAU um ihren Lohn zu kämpfen. Nur ein Teil der Betroffenen kann die Auseinandersetzung jetzt noch in Berlin führen. Andere mussten wieder nach Rumänien zurück oder haben in einer anderen Stadt Arbeit gefunden. Die Kollegen, die bis heute durchgehalten haben, berichten auch über die vielen Schwierigkeiten. Zu Beginn ihres Kampfes hatten sie weder Geld noch Unterkunft. Die FAU kümmerte sich um Essen und Obdach. Wenn sie auch nach sechs Monaten Kampf noch immer auf ihren Lohn warten müssen, so haben sie doch schon einen wichtigen Erfolg errungen. Sie haben deutlich gemacht, dass ausländische ArbeiterInnen in Deutschland nicht rechtlos sind und sich wehren können. Denn der Fall der rumänischen Bauarbeiter ist keine Ausnahme. „Es gibt viele solcher Fälle. Aber leider sind die Betroffenen nur selten in der Lage, sich zu wehren“, meint eine Mitarbeiterin von Amaro Foro, einer Organisation von in Berlin lebenden Romajugendlichen, auf der Demonstration. Das Leben von vielen Arbeitsmigranten aus Osteuropa sei von ständiger Verunsicherung geprägt. Das erstrecke sich nicht nur auf die Löhne und Arbeitsbedingungen. Sie würden in den Jobcentern benachteiligt, seien oft von medizinischer Versorgung ausgeschlossen und müssten wegen rassistischer Diskriminierungen am Wohnungsmarkt oft in teuren Schrott-Immobilien wohnen. Zudem fehlt es den Betroffenen oft an Kontakten zu Organisationen und Initiativen, die sie im Widerstand unterstützen könnten. Das zeigte sich erst vor einigen Wochen wieder, als eine Gruppe rumänischer und bulgarischer Wanderarbeiter in den Fokus der Berliner Medien und einer Nachbarschaftsinitiative im grünbürgerlichen Stadtteil Schöneberg geriet. Nicht, dass sie in überteuerte Schrottwohnungen leben müssen, wird skandalisiert, sondern dass sie angeblich nicht in den Stadtteil passen. Es gibt also genug zu tun für eine kämpferische Organisation wie die Foreigners Section der FAU. Sie ist mittlerweile zum Anlaufpunkt für KollegInnen aus den verschiedenen Ländern geworden, die in Deutschland um ihren Lohn oder um bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.

aus:  Direkte Aktion 230 – Juli/August 2015

https://www.direkteaktion.org/230/sechs-monate-kampf-und-noch-immer-kein-lohn

Peter Nowak

Sie wagen es, über ein Griechenland ohne Euro nachzudenken

Jobcenter Meißen, kein Skandal

Etwas tun gegen Jobcenter-Willkür

Erfahrungsaustausch von Erwerblosen in Meißen

Erwerbslose haben allerlei Ärger mit dem Jobcenter in Meißen . Bei einem Treffen vereinbarten Betroffene, sich künftig gegenseitig zum Amt zu begleiten.

Der Runde, die sich im Vereinshaus des Kleingartenvereins Meißen traf, war nicht nach Feiern zumute. Gekommen waren Erwerbslose, um sich über ihre Konflikte mit dem Jobcenter Meißen auszutauschen. Initiator des Treffens war Stefan Klaussner (Name geändert), der im Erwerbslosenforum Deutschland seine Auseinandersetzung mit dem Jobcenter der sächsischen Stadt als »Fortsetzungsgeschichte in 6 Akten« veröffentlicht hatte.

Der Ärger begann, als sich Klaussner als Webdesigner selbstständig machen wollte. Er habe eine Webseite ins Netz gestellt, um zu sehen, »ob es überhaupt eine Nachfrage gibt«. Das Jobcenter unterstellte ihm, mit der Webseite Geld zu verdienen, das er nicht angegeben habe. Seine Leistungen wurden gestrichen, neue Anträge nicht beantwortet. Da die Zahlungen ausblieben, machte Klaussner Mietschulden. Im Wiederholungsfall droht ihm die Kündigung. Besonders empört ist er darüber, dass auch sein Sohn aus erster Ehe und seine jetzige Ehefrau unter der Leistungsverweigerung zu leiden haben.

Das Jobcenter hingegen macht Klaussner für die Probleme verantwortlich. Er habe die Existenz der Webseite nicht gemeldet und sei damit seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen.

Der Fall wurde juristisch geklärt: Das Dresdener Sozialgericht verpflichtete das Jobcenter zur Zahlung der vorenthaltenen Leistungen, denn der Verdacht, Klaussner verfüge über weitere Einnahmen, gehe nicht über Vermutungen hinaus. Im Verfahren sei »hinreichend glaubhaft gemacht worden, dass der Antragsteller über keine nennenswerten Vermögenswerte oder Einkommen verfügt, aus denen er seinen Lebensunterhalt und den seines Sohnes zunächst vollständig bestreiten kann«, heißt es in der Urteilsbegründung.

Doch dieser Erfolg beendete den Konflikt nicht. Klaussner soll erneut einen umfangreichen Fragenbogen ausfüllen, indem er unter anderem seine IP-Adressen sowie seine Telefonverbindungen vorlegen sollte. Eine Weigerung bedeutet erneute Leistungskürzungen wegen mangelnder Mitwirkung.

Wie sich bei dem Treffen herausstellte, ist Klaussner nicht der einzige, der mit dem Jobcenter Meißen Probleme hat. Eine Frau berichtete, dass sie und ihre schwer kranke Tochter fast ihre Wohnung verloren hätten, weil das Amt immer wieder Leistungen zu spät oder gar nicht überwiesen habe. In letzter Minute konnte mit Hilfe des Berliner Bündnisses gegen Zwangsräumungen die Obdachlosigkeit verhindert werden. »Das Jobcenter agiert wie eine Dampfwalze«, meinte ein Mann, der im Finanzsektor tätig war, bevor er erwerbslos wurde. »Wenn mal eine Auseinandersetzung erfolgreich beendet wurde, kommt schon der nächste Brief und der Kampf beginnt von Neuem.«

Peter Nowak

Mall of Shame verhandlungsunfähig

Die sieben rumänischen Arbeiter, die auf der Baustelle der Mall of Berlin am Leipziger Platz gearbeitet haben und denen ein Großteil ihres Lohns nie ausgezahlt wurde, müssen weiter auf ihr Geld warten.

Am 16. Juli sollten zwei der sieben Klageverfahren gegen die Openmallmaster GmbH (OMM), ein Subunternehmen beim Bau der Mall of Berlin, vor dem Berliner Arbeitsgericht stattfinden. Doch der Prozess wurde nach kurzer Zeit verschoben. »Der vom Gericht geladene Dolmetscher war kurzfristig erkrankt. Der für ihn erschienene Vertreter war nicht vereidigt«, schrieb der Berliner Rechtsanwalt Sebastian Kunz in einer Pressemitteilung. Der Arbeitsrechtler ist einer der Anwälte der rumänischen Beschäftigten. Zudem war auch der Geschäftsführer der OMM, dessen Erscheinen vom Gericht angeordnet worden war, nicht zur Verhandlung gekommen. Er ließ durch seinen Anwalt mitteilen, er sei verhandlungsunfähig erkrankt. In der kurzen Verhandlung stritt der Anwalt alle Vorwürfe gegen das Unternehmen seines Mandanten ab. OMM habe lediglich einen Bauleiter auf der Baustelle im Einsatz gehabt und alle Arbeiten durch Subunternehmen ausführen lassen.

»Rechtlich ist das möglich. Aber ist das praktikabel und glaubwürdig?«, schreibt die Basisgewerkschaft Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) auf ihrer Homepage. Die geprellten Arbeiter haben mit Unterstützung der FAU den Rechtsweg beschritten. Das dauert nun bereits mehr als acht Monate und noch immer haben sie ihren Lohn nicht bekommen. Im Oktober 2014 wandten sich die Arbeiter zunächst an den DGB Berlin-Brandenburg. Dessen »Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte« nahm Kontakt mit dem Generalunternehmer der Baustelle, der Firma Fettchenhauer Controlling & Logistic, auf und schrieb Geltendmachungen. Außer Abschlagszahlungen, die nur einen Bruchteil des vorenthaltenen Lohnes ausmachten, konnten die Bauarbeiter auf diesem Weg allerdings nichts erreichen. Sie hatten weder Arbeitsverträge noch Gewerbescheine – das macht die Durchsetzung ihrer Ansprüche schwierig. Einige nahmen die Abschlagszahlungen und unterzeichneten zudem eine vom Unternehmen vorbereitete Erklärung, nach der sie auf weitere rechtliche Schritte verzichten sollten. Sieben Beschäftigte beharrten darauf, ihren vollen Lohn zu erhalten, und wollten für diese Forderung kämpfen. Erst nachdem sie sich an die FAU wandten, traten sie unter der Parole »Mall of Berlin – auf Ausbeutung gebaut« auch an die Öffentlichkeit. Da die Beschäftigten trotz des positiven Presseechos auf die Kundgebungen und Demonstrationen vom Dezember 2014 nicht erreichten, dass ihnen die vorenthaltenen Löhne ausgezahlt wurden, reichten sie schließlich die Klagen vor dem Arbeitsgericht ein, über die noch immer nicht entschieden ist.

»Sie haben die Arroganz der Macht, doch sie haben nicht mit unserer Bereitschaft zum Widerstand gerechnet. Was das Aufgeben betrifft, da haben sie bei uns keine Chance«, sagte einer der klagenden Arbeiter selbstbewusst. Wenn die Beschäftigten auch noch immer auf ihren Lohn warten müssen, so haben sie doch schon einen wichtigen Erfolg errungen. Der Kampf um die ausstehenden Löhne hat gezeigt, dass ausländische Lohnabhängige in Deutschland nicht rechtlos sind und sich wehren können. »Es gibt viele solcher Fälle. Nur leider sind die Betroffenen nur selten in der Lage, sich zu wehren«, sagt eine Mitarbeiterin von Amaro Foro, einer Organisation von in Berlin lebender Roma-Jugendlicher. Das Leben vieler Arbeitsmigranten aus Osteuropa sei von ständiger Verunsicherung geprägt. Die erstrecke sich nicht nur auf die Löhne und Arbeitsbedingungen. Sie würden in den Jobcentern benachteiligt, seien oft von medizinischer Versorgung ausgeschlossen und müssten wegen rassistischer Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt oft in »teuren Schrottimmobilien« wohnen.

Nicht zuletzt fehlt es den Betroffenen oft an Kontakten zu Organisationen und Initiativen, die sie im Widerstand unterstützen könnten. Das zeigte sich erst vor einigen Wochen wieder, als eine Gruppe rumänischer und bulgarischer Wanderarbeiter in den Fokus der Berliner Medien und einer Nachbarschaftsinitiative im grünbürgerlichen Stadtteil Schöneberg geriet (Jungle World 23/2015). Dass die Arbeiter horrende Mieten für slumähnliche Behausungen bezahlten, war freilich nicht Anlass der Aufregung, sondern dass sie angeblich nicht in den Stadtteil passten. Passend dazu wird im Umgang mit den Arbeitern von OMM nicht der an ihnen begangene Lohnbetrug skandalisiert – es wird ihnen vorgeworfen, nicht arbeiten zu wollen. Auch die Dolmetscherin und Schriftstellerin Eva Ruth Wemme, die rumänische Migranten längere Zeit auf die Ämter begleitete und darüber das im Verbrecher-Verlag erschienene Buch »Meine 7 000 Nachbarn« geschrieben hat, berichtet von systematischer Entrechtung von Roma durch Vermieter und Arbeitgeber.

Positiv lässt sich zumindest festhalten: Der Lohnkampf gegen die Mall of Berlin hat die Roma als Menschen, die um ihre Rechte als Beschäftigte kämpfen, sichtbar und kenntlich gemacht. Ihr Kampf um die ausstehenden Löhne könnte Perspektiven für einen transnationalen Gewerkschaftskampf aufzeigen. Mittlerweile ist die »Foreigners«-Sektion der FAU zum Anlaufpunkt für Beschäftigte aus verschiedenen Ländern geworden, die in Deutschland um ihren Lohn oder um bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Auch in verschiedenen DGB-Gewerkschaften setzen sich Mitglieder dafür ein, dass Geflüchtete Mitglieder werden können. Dem Gewerkschaftstag von Verdi liegen entsprechende Anträge vor.

http://jungle-world.com/artikel/2015/30/52356.html

Peter Nowak

Gegen Niedriglohn und Überausbeutung

Wie sich Arbeitsmigranten zur Wehr setzen können

Junge Arbeitsmigranten sind in Deutschland besonders wenig vor Ausbeutung geschützt. Oft hilft nur die Selbstorganisierung.

Wie wehren sich Arbeitsmigranten in Deutschland gegen Niedriglohn und schlechte Arbeitsbedingungen? Und welche Rolle spielen dabei die Gewerkschaften? Über solche Fragen wurde am Mittwochabend bei einer Veranstaltung anlässlich einer Ausstellung zu Flüchtlingswiderstand im Berliner Postbahnhof diskutiert.

Shendi Vali von der Gruppe Berlin Migrants Strikers beschrieb zunächst, wie die Austeritätspolitik junge, gut ausgebildete Menschen in der europäischen Peripherie in Verarmung und Arbeitslosigkeit treibt. In der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen kommen sie nach Deutschland – und landen im Nie-driglohnsektor. »Sie werden von den Eliten in Deutschland benutzt, um das Lohnniveau zu senken. Das ist eine gefährliche Politik, weil sie den Rassismus fördert«, so Rafal Aragües Aliaga von der Basisgewerkschaft GAS. Diese ist Teil der M15-Bewegung, die 2012 in vielen spanischen Städten Plätze besetzte, um ihrer Forderung nach Ende der Austeritätspolitik Nachdruck zu verleihen. Auch viele heute in Berlin lebende spanische Arbeitsmigranten seien dadurch politisiert worden.

Die Skepsis gegen große Parteien und Gewerkschaften, die als angepasst gelten, teilen auch Berliner Aktivisten. Mittlerweile hätten sie laut Aragües Aliaga aber die Erfahrung gemacht, dass eine Kooperation mit Gewerkschaften sinnvoll ist, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die GAS habe sowohl mit DGB-Gewerkschaften als auch mit der Freien Arbeiterunion (FAU) Kontakt. »Die kleine Basisgewerkschaft hat Zulauf von migrantischen Beschäftigten bekommen«, betont Vali. Romin Khan, Referent für Migration bei ver.di, würdigte das Engagement der FAU im Arbeitskampf der rumänischen Bauarbeiter an der Mall of Berlin. Es sei aber wichtig, dass auch große Gewerkschaften für die Rechte der migrantischen Arbeiter eintreten.

Auf dem Podium war man sich einig, dass Überausbeutung ein häufiges Problem migrantischer Arbeiter sei. In der Gastronomie gebe es Beschäftigte, die laut Arbeitsvertrag einen Minijob haben, in der Realität aber täglich zwölf Stunden arbeiten. Vali zeigte am Beispiel einer Pizzeria, wie kreative Wege helfen können: Die Beschäftigten schrieben an die mit dem Chef befreundete italienische Musikgruppe Banda Basotti vor deren Berlin-Auftritt einen Offenen Brief. Vor dem Konzert konnten sie von der Bühne aus ihr Anliegen vortragen – der Chef erklärte sich zu Verhandlungen bereit.

Ein solches Vorgehen hilft beim Kampf gegen Knebelverträge im Pflegebereich kaum. Laut solchen Vereinbarungen sind Beschäftigte über Jahre an eine Firma gebunden, die ihnen einen Sprachkurs finanziert hat. »Wir können gegen diese Verträge, die unsere Freizügigkeit einschränkt, nicht ohne die Gewerkschaften kämpfen«, betonte Vali. »Doch wir können auch nicht auf Gewerkschaften warten.«

https://www.neues-deutschland.de/artikel/978899.gegen-niedriglohn-und-ueberausbeutung.html

Peter Nowak

Soziale Reproduktion in der Krise

Interview mit Gabriele Winker von Peter Nowak

Die So­zi­al­wis­sen­schaft­le­rin Ga­brie­le Win­ker lehrt und forscht an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Ham­burg-Har­burg und ist Mit­be­grün­de­rin des Fe­mi­nis­ti­schen In­sti­tuts sowie des bun­des­wei­ten „Netz­werks Care Re­vo­lu­ti­on“. Die­sen März ist im Tran­script-Ver­lag ihr Buch „Care Re­vo­lu­ti­on. Schrit­te in eine so­li­da­ri­sche Ge­sell­schaft“ er­schie­nen. Peter Nowak sprach für den Vor­wärts mit Win­ker über die Krise so­zia­ler Re­pro­duk­ti­on und die ent­ste­hen­de Ca­re-Be­we­gung.

vor­wärts: Im März 2014 fand in Ber­lin eine Ak­ti­ons­kon­fe­renz zur „Care Re­vo­lu­ti­on“ statt. Was ist seit­her ge­sche­hen?

Ga­brie­le Win­ker: Die „Care Re­vo­lu­ti­on“ nimmt einen grund­le­gen­den Per­spek­tiv­wech­sel vor. Das öko­no­mi­sche und po­li­ti­sche Han­deln darf nicht wei­ter an Pro­fit­ma­xi­mie­rung, son­dern an mensch­li­chen Be­dürf­nis­sen, pri­mär der Sorge um­ein­an­der aus­ge­rich­tet sein. Eine Ge­sell­schaft muss sich also daran mes­sen las­sen, inwie­weit sie grund­le­gen­de Be­dürf­nis­se gut und für alle Men­schen rea­li­sie­ren kann. Nach der Ak­ti­ons­kon­fe­renz, an der sich etwa 500 im Ca­re-Be­reich tä­ti­ge Men­schen in viel­fäl­ti­gen Work­shops be­tei­lig­ten, haben wir im Mai 2014 das „Netz­werk Care Re­vo­lu­ti­on“ ge­grün­det. Das ist eine Art Platt­form, über die sich die ver­schie­dens­ten Ca­re-In­itia­ti­ven ver­net­zen, aus­tau­schen und ge­gen­sei­tig un­ter­stüt­zen kön­nen. Wir haben uns fer­ner dar­auf ge­ei­nigt, uns in die­sem Jahr als Netz­werk an Ak­tio­nen zum In­ter­na­tio­na­len Frau­en­kampf­tag am 8. März, zu Block­u­py und zum 1. Mai zu be­tei­li­gen. An die­sen drei Tagen war das „Netz­werk Care Re­vo­lu­ti­on“ durch klei­ne De­mons­tra­ti­ons­blö­cke oder In­fo­ti­sche in meh­re­ren Städ­ten deut­lich sicht­bar. Auch gibt es in­zwi­schen re­gio­na­le Netz­wer­ke in Ber­lin, Bran­den­burg, Han­no­ver, Ham­burg, Frank­furt und Frei­burg. An­de­re be­fin­den sich im Auf­bau. Für April 2016 pla­nen wir die zwei­te bun­des­wei­te Ak­ti­ons­kon­fe­renz Care Re­vo­lu­ti­on, wie­der in Ber­lin.

vor­wärts: Warum kommt die De­bat­te um die Care Re­vo­lu­ti­on ge­ra­de in die­ser Zeit auf?

Ga­brie­le Win­ker: Der Wan­del vom Er­nährer­mo­dell zu ver­schie­de­nen neo­li­be­ra­len Re­pro­duk­ti­ons­mo­del­len, die alle kein gutes Leben er­mög­li­chen, ist in der BRD sehr lang­sam er­folgt, nicht zu­letzt wegen der jahr­zehn­te­lan­gen Kon­kur­renz mit der DDR. Die neo­li­be­ra­le Fa­mi­li­en­po­li­tik, die mit dem Ziel der Er­hö­hung der Frau­en­er­werbs­tä­tig­keit und der Ge­bur­ten­ra­te Wirt­schafts­po­li­tik be­treibt und sehr stark zwi­schen Leis­tungs­trä­ge­rin­nen und -trä­gernund Aus­ge­grenz­ten un­ter­schei­det, bei­spiels­wei­se durch gros­se Un­ter­schie­de in der Höhe des El­tern­gelds, nahm erst nach der Jahr­tau­send­wen­de Fahrt auf. So wird erst der­zeit deut­lich spür­bar, dass Men­schen damit über­for­dert sind, sich – un­ab­hän­gig von Ge­schlecht, Fa­mi­li­en­sta­tus, Um­fang der Sor­ge­auf­ga­ben – je ein­zeln durch den Ver­kauf ihrer Ar­beits­kraft exis­ten­zi­ell ab­zu­si­chern und gleich­zei­tig die wegen der staat­li­chen Kos­ten­sen­kungs­po­li­tik zu­neh­men­de Re­pro­duk­ti­ons­ar­beit in Fa­mi­li­en zu leis­ten. Ar­beit ohne Ende wird für immer mehr Men­schen zur Rea­li­tät. Die Selbst­sor­ge kommt zu kurz. Musse ist zum Fremd­wort ge­wor­den. Und auch die­je­ni­gen, die auf die Un­ter­stüt­zung an­de­rer an­ge­wie­sen sind, wie Kin­der oder pfle­ge­be­dürf­ti­ge Er­wach­se­ne, kön­nen ihre Be­dürf­nis­se nicht rea­li­sie­ren. Es nimmt nicht nur der Stress zu, son­dern auch die Er­schöp­fung, da Er­ho­lungs­pha­sen feh­len. Dies führt nicht zu­letzt zu mehr Fäl­len psy­chi­scher Er­kran­kun­gen.

vor­wärts: Sie haben den Be­griff der „Care Re­vo­lu­ti­on“ we­sent­lich ge­prägt. Auf wel­che theo­re­ti­schen und prak­ti­schen Vor­ar­bei­ten haben Sie sich ge­stützt?

Ga­brie­le Win­ker: Ei­ner­seits bin ich be­ein­flusst von der Zwei­ten Frau­en­be­we­gung. Be­reits in den 70er Jah­ren wurde in die­sem Rah­men auch in der BRD dafür ge­kämpft, die nich­tent­lohn­te Haus­ar­beit als ge­sell­schaft­lich not­wen­di­ge Ar­beit an­zu­er­ken­nen. Dies füh­ren bei­spiels­wei­se Gi­se­la Bock und Bar­ba­ra Duden in ihrem Bei­trag zur Ber­li­ner Som­mer­uni­ver­si­tät für Frau­en 1977 aus. In den 90er Jah­ren be­gan­nen dann in den USA De­bat­ten um die Ca­re-Ar­beit. Mit die­sem Be­griff wies bei­spiels­wei­se Joan Tron­to sehr früh dar­auf hin, dass Men­schen ihr gan­zes Leben lang Sorge von an­de­ren be­nö­ti­gen und somit nicht völ­lig au­to­nom leben kön­nen, son­dern ihr Leben viel­mehr in in­ter­de­pen­den­ten Be­zie­hun­gen ge­stal­ten. Meine Vor­stel­lung von einer so­li­da­ri­schen Ge­sell­schaft, die ich als Ziel einer Ca­re-Re­vo­lu­ti­on ent­wi­ckel­te, baut des­we­gen auf mensch­li­che So­li­da­ri­tät und Zu­sam­men­ar­beit.

vor­wärts: Wor­auf stützt sich die neue Ca­re-Re­vo­lu­ti­on-Be­we­gung?

Ga­brie­le Win­ker: Auf­fal­lend ist, dass es im ent­lohn­ten Ca­re-Be­reich, in Bil­dung und Er­zie­hung sowie Ge­sund­heit und Pfle­ge, aber auch im un­ent­lohn­ten Be­reich, aus­ge­hend von der Sor­ge­ar­beit in Fa­mi­li­en, viele klei­ne In­itia­ti­ven gibt, zum Bei­spiel El­tern­in­itia­ti­ven, Or­ga­ni­sa­tio­nen von pfle­gen­den An­ge­hö­ri­gen, Grup­pen von Men­schen mit und ohne Be­hin­de­run­gen, In­itia­ti­ven von und für Flücht­lin­ge, aber auch Ver­di-Grup­pen sowie queer­fe­mi­nis­ti­sche und links­ra­di­ka­le Grup­pen, die das Thema Care auf­neh­men. Viele en­ga­gie­ren sich für bes­se­re po­li­tisch-öko­no­mi­sche Rah­men­be­din­gun­gen, damit sie für sich und an­de­re bes­ser sor­gen kön­nen. Al­lei­ne und ver­ein­zelt sind sie al­ler­dings bis­her zu schwach, um po­li­tisch wahr­ge­nom­men zu wer­den und eine grund­le­gen­de Ver­bes­se­rung der Ar­beits- und Le­bens­be­din­gun­gen zu er­rei­chen. Hin­ter der Care Re­vo­lu­ti­on steht die Idee, diese Grup­pen nicht nur über die­sen Be­griff zu ver­bin­den, son­dern damit auch auf­ein­an­der zu ver­wei­sen und eine sicht­ba­re Ca­re-Be­we­gung zu ent­wi­ckeln. Wich­tig ist dafür al­ler­dings auch eine klare Ana­ly­se, die deut­lich macht, dass der ge­sam­te Ca­re-Be­reich unter den Fol­gen staat­li­cher Kos­ten­sen­kungs­po­li­tik lei­det, die mit der po­li­tisch-öko­no­mi­schen Krise so­zia­ler Re­pro­duk­ti­on ver­bun­den ist. Davon aus­ge­hend kön­nen wir mit der Ca­re-Re­vo­lu­ti­on als Trans­for­ma­ti­ons­stra­te­gie ge­mein­sam erste Re­form­schrit­te in Rich­tung be­din­gungs­lo­se exis­ten­zi­el­le Grund­si­che­rung, deut­li­che Ver­kür­zung der Er­werbs­ar­beits­zeit sowie Aus­bau der so­zia­len In­fra­struk­tur gehen.

vor­wärts: Sie fas­sen in Ihrem Buch Ak­ti­vi­tä­ten der „In­ter­ven­tio­nis­ti­schen Lin­ken“ über Ver­di-Grup­pen bis zu Pfle­ge­initia­ti­ven unter den Be­griff „Care Re­vo­lu­ti­on“. Wird da nicht über ganz un­ter­schied­li­che Ak­ti­vi­tä­ten ein Label ge­stülpt?

Ga­brie­le Win­ker: Wich­tig ist zu­nächst fest­zu­stel­len, dass die im Buch ge­nann­ten Grup­pen und viele mehr, die zur Ak­ti­ons­kon­fe­renz Care Re­vo­lu­ti­on im März 2014 auf­ge­ru­fen haben, sich selbst die­sem Be­griff und der Vor­stel­lung zu­ord­nen, dass die Be­din­gun­gen für Sor­ge­ar­beit in un­se­rer Ge­sell­schaft grund­le­gend re­vo­lu­tio­niert wer­den müs­sen. Dabei sind das keine gros­sen Ver­bän­de, son­dern Grup­pen vor Ort, wie die IL Tü­bin­gen, die Ver­di-Be­triebs­grup­pe Cha­rité, die El­tern­in­itia­ti­ve „Nicos Farm“ für be­hin­der­te Kin­der in Ham­burg oder klei­ne­re Or­ga­ni­sa­tio­nen wie die In­itia­ti­ve „Armut durch Pfle­ge“, die be­reits viele Er­fah­run­gen in so­zia­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen im Ca­re-Be­reich haben. Die Zu­sam­men­ar­beit die­ser Grup­pen wird eben nicht durch eine Or­ga­ni­sa­ti­on ge­stal­tet, die über ein Label Be­deu­tung er­rin­gen will. Viel­mehr sehe ich die be­son­de­re Stär­ke der im Wer­den be­grif­fe­nen Ca­re-Be­we­gung darin, dass sich Men­schen in un­ter­schied­li­chen Po­si­tio­nen in­ner­halb der Ca­re-Ver­hält­nis­se aus­tau­schen und ihre Kämp­fe auf­ein­an­der be­zie­hen.

vor­wärts: Kön­nen Sie Bei­spie­le nen­nen?

Ga­brie­le Win­ker: Bei Tref­fen und Ak­tio­nen kom­men bei­spiels­wei­se Be­schäf­tig­te in Kran­ken­häu­sern und Al­ten­pfle­ge­hei­men mit pfle­gen­den An­ge­hö­ri­gen und Men­schen zu­sam­men, die auf­grund von kör­per­li­chen Ein­schrän­kun­gen oder Krank­hei­ten zeit­lich auf­wän­dig für sich sor­gen müs­sen. Wir alle kön­nen mor­gen von Krank­heit be­trof­fen sein und sind dann auf gute Pfle­ge an­ge­wie­sen. Und die staat­li­che Kos­ten­sen­kungs­po­li­tik trifft nicht nur die Be­schäf­tig­ten in allen Ca­re-Be­rei­chen glei­cher­mas­sen, son­dern in der Folge auch Fa­mi­li­en, Wohn­ge­mein­schaf­ten und an­de­re Le­bens­for­men, wenn Pa­ti­en­ten „blu­tig“ ent­las­sen wer­den oder not­wen­di­ge Ge­sund­heits­leis­tun­gen für Kas­sen­pa­ti­en­tin­nen ge­stri­chen wer­den. Diese Ver­bin­dun­gen sind noch viel zu wenig prä­sent, auch in lin­ken po­li­ti­schen Zu­sam­men­hän­gen. Nur wenn sich etwa Er­zie­he­rin­nen und El­tern oder be­ruf­lich und fa­mi­li­är Pfle­gen­de als ge­sell­schaft­lich Ar­bei­ten­de be­grei­fen, kön­nen sie sich auf Au­gen­hö­he in ihren Kämp­fen um aus­rei­chen­de Res­sour­cen und gute Ar­beits­be­din­gun­gen un­ter­stüt­zen. Dies gilt unter dem As­pekt der Selbst­sor­ge auch für As­sis­tenz­ge­ben­de und As­sis­tenz­neh­men­de.

vor­wärts: Warum kann im Ka­pi­ta­lis­mus das Pro­blem der Sor­ge­ar­beit nicht ge­löst wer­den?

Ga­brie­le Win­ker: Das Ziel ka­pi­ta­lis­ti­schen Wirt­schaf­tens ist Pro­fit­ma­xi­mie­rung. Die ist nur durch den Ein­satz von Ar­beits­kraft zu er­rei­chen, die al­ler­dings tag­täg­lich und auch über Ge­ne­ra­tio­nen hin­weg immer wie­der neu re­pro­du­ziert wer­den muss. Der sich dar­aus er­ge­ben­de Wi­der­spruch, dass ei­ner­seits die Re­pro­duk­ti­ons­kos­ten der Ar­beits­kraft mög­lichst ge­ring ge­hal­ten wer­den sol­len, um die Ren­di­te nicht allzu sehr ein­zu­schrän­ken, gleich­zei­tig aber diese Ar­beits­kraft be­nö­tigt wird, ist dem Ka­pi­ta­lis­mus im­ma­nent. Grund­vor­aus­set­zung für die Auf­recht­er­hal­tung die­ses wi­der­sprüch­li­chen Sys­tems ist, dass ein gros­ser Teil der Re­pro­duk­ti­on un­ent­lohnt ab­ge­wi­ckelt wird. Mit der tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lung las­sen sich nun zwar Güter und pro­duk­ti­ons­na­he Dienst­leis­tun­gen schnel­ler her­stel­len, nicht aber Ca­re-Ar­beit be­schleu­ni­gen, zu­min­dest nicht, ohne dass es zu einer mas­si­ven Ver­schlech­te­rung der Qua­li­tät kommt. Denn Ca­re-Ar­beit ist kom­mu­ni­ka­ti­ons­ori­en­tiert und auf kon­kre­te ein­zel­ne Men­schen be­zo­gen und damit sehr zeit­in­ten­siv. Die Folge ist, dass Pro­duk­ti­vi­täts­stei­ge­run­gen in die­sem Be­reich nur be­grenzt mög­lich sind. Es kommt zu einer Krise so­zia­ler Re­pro­duk­ti­on, die ich als Teil der Über­ak­ku­mu­la­ti­ons­kri­se sehe.

Für mehr Infos siehe:
www.care-revolution.org

VORWÄRTS/1120: Interview mit Gabriele Winker – Soziale Reproduktion in der Krise

vorwärts – die sozialistische zeitung, Nr. 25/26 vom 3. Juli 2015
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/vorw1120.html

Welthandeln

Zur länderübergreifenden Solidarität im Amazon-Streik

Roberto   Luzzi bekam am 30. März viel Applaus im  Streikzelt der Amazon-Beschäftigten in Leipzig. Er hat im Rahmen einer Delegation der italienischen Basisgewerkschaft  SI Cobas den Streikenden einen Solidaritätsbesuch abgestattet und solidarische Grüße überbracht.   Bei einer Veranstaltung und einen Workshop in Berlin berichteten die SI-Cobas-GewerkschafterInnen, wie sie in den letzten Monaten  im italienischen Logistikbereich erfolgreich Beschäftigte organisieren und Tarifverschläge abschließen konnten, die für die  Beschäftigten Lohnerhöhungen und eine Verminderung der Arbeitshetze bedeuteten. Die großen italienischen Gewerkschaftsverbände haben an die Logistikunternehmer einen Brief geschrieben, in dem sie sich beschwerten, dass sie mit der    kleinen Basisgewerkschaft bessere Tarifverträge als mit ihnen abschließt. „Die haben nicht begriffen, dass diese Verträge kein Geschenk der Unternehmen  sondern  ein  Ergebnis der  kämpferischen Gewerkschaftspolitik ist“, meint Luzzi.

So haben die Streikenden im  italienischen Logistikbereich  die  Tore der Unternehmen blockier.  Weder Personen noch LKW kamen rein oder aus.  Der Warenverkehr stockte.   Die GewerkschafterInnen  wissen, dass sie damit die Logistikunternehmen am neuralgischen Punkt treffen.   Wenn es bei den Warenauslieferungen Verzögerungen gibt, verlieren die Unternehmen große Summen.  Deswegen sorgen Unternehmen wie Amazon vor. Es hat bereits vor Monaten eine Filiale im polnischen Poznan errichtet,  um die Waren von dort auszuliefern, wenn in Deutschland gestreikt wird.

Dieser schnelle Wechsel  ist in der Logistikbranche auch deshalb besonders einfach, weil  in der Branche  kein aufwendiger Maschinenpark verlegt werden muss.  Die  GewerkschafterInnen  betonten auf den Workshop in Berlin,    dass damit auch eine länderübergreifende Streiksolidarität in der Branche erleichtet werden könnte.    Schließlich habe das  Standortdenken   bei Lohnabhängigen der fordistischen Schwerindustrie eine reale Grundlage auch in dem Maschinenpark, der nicht so leicht zu ersetzen oder auszulagern ist.   Dieses Standortdenken erschwerte aber  länderübergreifende  Kämpfe.    Wie die SI-Cobas-GewerkschafterInnen bemühen    sich auch die  Gruppen der Amazonstreiksolidarität, die sich in verschiedenen Städten gegründet haben, um eine Ausweitung dieser Solidarität über Landesgrenzen hinweg.  Einige ermutigende Beispiele der letzten Monate wurden genannt. So streikten vor Weihnachten 2014 auch in Frankreich Amazon-Beschäftigte und bezogen sich auf den Arbeitskampf in Deutschland.   Auch im Amazon-Werk in Poznan wächst die Unzufriedenheit der Beschäftigten. In  einem  Bericht eines der Beschäftigten, der kürzlich auf Deutsch übersetzt wurde, heißt es über die Stimmung Ende 2014 in dem  Werk:

„Im Dezember drang die Unzufriedenheit der Leiharbeiter  bei Amazon an die Öffentlichkeit: Sie fingen an, sich wegen nicht pünktlich gezahlter Löhne, Unregelmäßigkeiten bei der Berechnung der Löhne und überfüllter Kantinen an die lokalen Medien zu wenden.“  Mittlerweile sind zahlreiche Amazon-Beschäftige von Poznan in die kämpferische Basisgewerkschaft Workers Initiative eingetreten. Vielleicht  wird beim  nächsten Amazon-Streik tatsächlich  ein Alptraum für die Manager war. und  die Arbeitskämpfe    und nicht nur das Kapital  können keine Landesgrenzen mehr.

Herausforderung der Amazon-Streiksolidarität

Inzwischen sind ca. 150 Amazon-Beschäftigte in Poznan in einer  Betriebsgruppe der Inicijatywa Pracownicza (IP) organisiert. Sie ist 2004 als  Alternative zu den bürokratisierten, mit den verschiedenen Regierungsparteien verwobenen Gewerkschaften in Polen entstanden. Die IP versteht sich als Basisgewerkschaft in anarchosyndikalistischer    und syndikalistischer Tradition. Ihre Hauptprinzipien sind die Unabhängigkeit vom Kapital und  eine konsequente innergewerkschaftliche Demokratie. In Poznan hat sie IP eine Petition gegen die permanente Steigerung der Produktionsnormen  im Amazonwerk lanciert und am 15. Mai 400 Unterschriften dazu präsentiert. Der Kampf gegen die Steigerung der Arbeitsnormen und der Arbeitshetze ist aktuell das zentrale Kampffeld der IP bei Amazon-Poznan. Am 23. Mai  beteiligten sich an einer IP-Demonstration in Warschau auch  gewerkschaftlich aktive Amazon-Beschäftigte aus Deutschlandl.

Die Herstellung solcher Kontakte ist auch eine Herausforderung für die Amazon-Streiksolidarität, die sich in verschiedenen Städten gegründet hat. Schwerpunkte sind Leipzig, Frankfurt/Main und Berlin. Es gab mittlerweile zwei bundesweite Treffen, eins in Leipzig und eins in Frankfurt/Main. Dabei  gab es auch Diskussionen, ob diese Streiksolidarität über die Unterstützung  verdi.-Aktivitäten hinaus eigene Akzente setzen soll. Die Kontakte mit KollegInnen von SI Cobas  aus Italien oder der Workers Initiative  aus Polen  sind  ein solcher eigenständiger Akzent.  Beide Basisgewerkschaften gehören nicht zu den BündnispartnerInnen des DGB und seiner Einzelgewerkschaften. Die Verdi-Gewerkschafterin Mechthild Middeke  sprach im Interview mit dem Express 3-4/2015   über die  Kontakte des DGB und seiner polnischen Partnergewerkschaften in Poznan. Daher wäre der  Kontakt zu Gewerkschaften wie SI Cobas und IP ein wichtiger Part der Amazon-Solidarität. Im Anschluss an die Blockupy-Proteste    am 18. März in Frankfurt/Main und im Rahmen des Blockupy-Nachbereitungstreffens im Mai 2015 in Berlin  gab es ein eigenes Treffen für die  Koordinierung der  transnationalen Betriebs- und Streiksolidarität. In den nächten Monaten sollen die Kontakte intensiviert werden.

http://www.labournet.de/express/

aus:  express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

4/5-2015

Peter Nowak

Mall of Berlin: Prozess um Löhne fiel aus

Die rumänischen Bauarbeiter, die auf der »Mall of Berlin« arbeiteten und um einen großen Teil des vereinbarten Lohns geprellt wurden, müssen weiter warten.

Am 16. Juli sollten zwei der sieben Klagenverfahren gegen die Openmallmaster GmbH (OMM), einem Subunternehmen beim Bau der »Mall of Berlin«, vor dem Berliner Arbeitsgericht stattfinden. Doch der Prozess wurde erneut verschoben. »Der vom Gericht geladene Dolmetscher war kurzfristig erkrankt. Der für ihn erschienene Vertreter war nicht vereidigt«, teilte der Rechtsanwalt Sebastian Kunz am Freitag mit. Der Arbeitsrechtler ist einer der Verteidiger der rumänischen Beschäftigten. Zudem erschien auch der Geschäftsführer der OMM, dessen Erscheinen vom Gericht angeordnet war, nicht zur Verhandlung. Er ließ durch seinen Anwalt mitteilen, er sei erkrankt und verhandlungsunfähig. Da zur Sache nicht verhandelt werden konnte, wird das Gericht einen neuen Kammertermin festsetzen.

In der kurzen Verhandlung stritt der Anwalt alle Vorwürfe gegen das Unternehmen seines Mandanten ab. OMM habe lediglich einen Bauleiter auf der Baustelle im Einsatz gehabt und alle Arbeiten durch Subunternehmen ausführen lassen. »Rechtlich ist das möglich. Aber ist das praktikabel und glaubwürdig?«, kommentierte die Basisgewerkschaft Freie Arbeiterunion (FAU) diese Einlassungen. Die rumänischen Bauarbeiter hatten sich an die FAU gewandt, nachdem sie vergeblich versucht hatten, ihren Lohn zu erhalten. Außerdem beklagten die Beschäftigten überlange Arbeitszeiten und unzumutbare Unterbringungen.

»Nun kämpfen die Bauarbeiter bereits mehr als acht Monate um ihren Lohn«, sagt ein FAU-Mitglied. Viele der betroffenen Arbeiter mussten neue Arbeitsplätze annehmen und können daher nicht in Berlin sein. Doch der Gewerkschafter betont auch, dass die Bauarbeiter den Kampf auf jeden Fall fortsetzen wollen. Für sie geht es dabei nicht um den vorenthaltenen Lohn.

Peter Nowak

Gegen transnationalen Streikbruch

Auch in Polen beginnen Amazon-Beschäftigte, für einen Tarifvertrag zu kämpfen

Beim Onlinehändler Amazon kämpfen die Beschäftigten in Deutschland seit zwei Jahren für den Tarifvertrag. Die Unternehmensstrategie ist, Pakete dann eben von Polen zu verschicken – noch. Auch hier beginnen die Kämpfe.

Nicht nur in Deutschland sind die Amazon-Beschäftigten mit ihren Arbeitsbedingungen unzufrieden. Auch im Amazon-Werk im polnischen Poznan fordern die KollegInnen verlängerte Pausenzeiten und eine Erhöhung des Stundenlohns von bisher 13 auf 16 Złoty. Das wären umgerechnet etwa vier Euro. Für das Amazon-Management ist der Arbeitskampf ein Warnsignal. Schließlich wurde die weltweit größte Amazon-Niederlassung in Poznan mit 3000 Beschäftigten im September 2014 eröffnet, um bei Streiks in den Amazon-Filialen in Deutschland in das Nachbarland ausweichen zu können. Einige Wochen später wurde bei Wroclaw ein weiteres Amazon-Verteilzentrum eröffnet.

»Aus Polen werden Kunden in ganz Europa beliefert«, erklärte der Logistikchef von Amazon Europe, Tim Collins, bei der Eröffnung des Werkes in Poznan und verhehlte nicht, dass von dort ein transnationaler Streikbruch geplant war. Dank des europaweiten Netzwerks mit insgesamt 28 Standorten, darunter auch in Polen und der Tschechischen Republik, werde trotz Arbeitsniederlegungen in Deutschland pünktlich geliefert »Amazon-Pakete kommen jetzt aus Polen«, titelte das »Handelsblatt« am 15. Dezember 2014. Damals brachten an verschiedenen Amazon-Standorten in Deutschland Beschäftigte das Weihnachtsgeschäft des Onlinehändlers durch Streiks ins Stocken.

»Die Polen arbeiten, die Deutschen streiken«, kommentierten konservative polnische Zeitungen. Doch die Beschäftigten dort wurden von den Arbeitskämpfen hier ermutigt, ebenfalls für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Eine wichtige Rolle spielte dabei die anarchosyndikalistische Gewerkschaft OZZ Inicjatywa Pracownicza (Arbeiterinitiative). In einen von der Gewerkschaft herausgegebenen Bulletin werden die Anfänge des gewerkschaftlichen Engagements bei Amazon-Poznan so beschrieben: »Im Dezember 2014 drang die Unzufriedenheit der Leiharbeiter bei Amazon an die Öffentlichkeit: Sie fingen an, sich wegen nicht pünktlich gezahlter Löhne, Unregelmäßigkeiten bei der Berechnung der Löhne und überfüllter Kantinen an die lokalen Medien zu wenden.« Auch durch die Kündigung von rund 100 Leiharbeitern ließ sich die Belegschaft nicht einschüchtern. Im Mai veröffentlichte sie eine Petition für bessere Arbeitsbedingungen. Vom 24. auf den 25. Juni solidarisierte sich ein Teil der Nachtschicht bei Amazon-Poznan durch demonstratives Langsamarbeiten mit dem Streik bei Amazon-Deutschland. Andere Beschäftigte stellten kurzfristig Urlaubsanträge, um nicht zum Streikbrecher zu werden. Zuvor hatten Mitglieder der Arbeiterkommission in dem Werk Flugblätter über den ver.di-Streik verteilt und dabei T-Shirts mit dem Slogan »Pro Amazon mit Tarifvertrag« getragen. In der Nähe der Niederlassung verkündeten Transparente: »Wir unterstützen die Streiks bei Amazon in Deutschland.«

»Amazon wird immer wieder versuchen, Beschäftigte an verschiedenen Standorten gegeneinander auszuspielen. Deswegen ist es wichtig, dass sich Beschäftigte aus verschiedenen Standorten über Ländergrenzen hinweg vernetzen und gemeinsam dafür streiten, bei Amazon das Recht auf gewerkschaftliche Vertretung, Tarifverträge und bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen,« zeigt sich die Presssprecherin des ver.di-Bundesvorstands Eva Völpel über die Solidaritätsaktionen erfreut.

Bisher gab es drei Vernetzungstreffen, an denen Gewerkschafter verschiedener Amazon-Standorte teilnahmen. Aus Polen waren neben Delegierten der Arbeiterkommission auch Vertreter der sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Gewerkschaft Solidarnosc anwesend. Mit ihr hatte ver.di bereits in der Vergangenheit kooperiert. »Polnische Kollegen haben Amazon-Standorte in Deutschland während der Streiks besucht und sich zuletzt an der großen Streikkundgebung am 24. Juni 2015 in Bad Hersfeld beteiligt«, so Völpel. Die Kooperation mit der Arbeiterkommission wurde bisher vor allem von außerbetrieblichen Amazon-Solidaritätsgruppen vorangetrieben Einige Aktivisten beteiligten sich gemeinsam mit Amazon-Beschäftigten aus Deutschland am 23. Mai an einer von der Gewerkschaft organisierten Demonstration in Warschau.

Die Arbeiterkommission lädt vom 11. bis 13. September nach Poznan zu einen internationalen Treffen von Amazon-Beschäftigten unabhängig von ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit ein. Das Ziel solle ein Austausch der Beschäftigten und nicht der Funktionäre sein, heißt es in dem im Internet verbreiteten Aufruf.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/978223.gegen-transnationalen-streikbruch.html

Peter Nowak

Das Ende des Projekts Rot-Rot-Grün

»Verdi hätte von sich aus nie zum Streik aufgerufen«


Andreas Heinz ist derzeit beurlaubter stellvertretender Betriebsrat und Mitglied der FAU-Betriebsgruppe des Kinos Babylon in Berlin-Mitte. Die FAU führte dort 2009 einen Arbeitskampf, dem der Geschäftsführer des Kinos, Timothy Grossman, sich entzog, indem er mit Verdi einen Haustarifvertrag zu für ihn günstigeren Bedingungen schloss.

Was ist der Anlass des aktuellen Babylon-Streiks?

Fünf Jahre nach Abschluss des Dumping-Tarifvertrages wurden Anpassungen nach und nach zugesagt. Doch davon ist nicht viel eingehalten worden. Die Arbeitsbedingungen sind eher schlechter geworden, und die Zahl der Kündigungen hat groteske Ausmaße angenommen. Die letzten vom damaligen Arbeitskampf verbliebenen Mitarbeiter wandten sich an Verdi. Die Gewerkschaft reagierte mit der Aufforderung, doch erst einmal sieben Mitglieder zu organisieren. Wir waren alle erstaunt, dass es gelang. Im September 2014 wurde der Haustarifvertrag zum Jahresende gekündigt. Erste Verhandlungen gab es erst im April 2015.

Wie geht es dem Kino wirtschaftlich?

Dem Kino müsste es nicht schlecht gehen. Es ist oft rappelvoll, Zuschauerzahlen, Eintrittspreise und Mietpreise für Einmietungen sind gestiegen. Doch es herrscht die alte Misswirtschaft: verschleppte Wartung und Instandsetzung, hohe Folgekosten, hohe Anwalts- und Gerichtskosten sowie hohe Personalausgaben in der Chefetage.

Vor einigen Jahren sorgte ein Streik der FAU beim Kino Babylon für große Aufmerksamkeit. Warum ruft jetzt Verdi zum Streik auf?

Verdi hätte von sich aus nie zum Streik aufgerufen, wurde aber von den Mitarbeitern dazu gedrängt. Verdi scheint sich seiner unrühm­lichen Rolle beim damaligen Arbeitskampf der FAU schmerzhaft bewusst zu sein und zu versuchen, diesmal alles richtig zu machen. Aber die Zeit drängt. Mehrere Mitarbeiter sind von Kündigung bedroht, andere sind bereits gekündigt.

Die FAU hat kürzlich eine Broschüre zum ersten Arbeitskampf vorgelegt. Wie kommt sie beim aktuellen Streik an?

Die Unterstützung durch die FAU Berlin, die einen öffentlichen Aufruf zur Unterstützung des Streiks verfasste, weckt Hoffnungen. Die Broschüre erinnert an den von heute aus gesehen sehr organisierten und professionellen Arbeitskampf. Einzelne FAU-Mitglieder sind sicher bereit zu helfen, aber ein organisiertes Eingreifen ist ohne Strategie und klaren Kurs von Verdi zurzeit nicht möglich.

http://jungle-world.com/artikel/2015/28/52285.html

Interview: Peter Nowak

Wenn die Leinwand dunkel bleibt

STREIK Im Kino Babylon Mitte gibt es immer wieder Warnstreiks. Es geht um mehr Lohn und Personal

„Worst Case Scenario“ lautet der  Titel eines Film im aktuellen Programm des Kinos Babylon Mitte. Für den Geschäftsführer des Filmhauses am Rosa-Luxemburg Platz, Timothy Grossman, wäre es ein Worst-Case-Scenario, wenn
die Leinwand dunkel bliebe. Denn die Verdi-Betriebsgruppe im Kino ruft seit dem 22. Mai immer wieder zu Warnstreiks auf. Die Gewerkschaft hatte den vor zehn Jahren geschlossenen Tarifvertrag gekündigt und die Geschäftsführung zu Tarifverhandlungen aufgefordert. Sie will die Übernahme des Bundestarifvertrages des Hauptverbands Deutscher Filmtheater (HDF) für die Babylon-Beschäftigten und eine Erhöhung der Personalbesetzung erreichen. „Seit fünf Jahren gab es im Bereich der FilmvorführerInnen keine Entgelterhöhung. Lediglich der Einstiegslohn für PlatzanweiserInnen
wurde 2014 auf den jetzt geltenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro erhöht“, erklärt Andreas Köhn vom
Verdi-Landesbezirk Berlin-Brandenburg.  Bei zwei Verhandlungen habe Grossman erklärt, die z usätzlichen Gelder könne das Kino nicht aufbringen. „Die Eintrittspreise sind um teilweise 20 Prozent gestiegen“, kontert Köhn. „Auch die Anzahl der BesucherInnen hat sich deutlich erhöht.“ Zudem sind im Doppelhaushalt 2016/17 Subventionen
in Höhe von 361.500 Euro für das Filmhaus eingeplant. Bisher betrugen die Zuschüsse 358.000 Euro jährlich.
Zeitgleich mit dem aktuellen Verdi-Streik ist im Syndikat A die Broschüre „Babylohn“ von Hansi Oostinga erschienen, die an den Arbeitskampf der Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) in den Jahren 2008 bis 2010 in dem Kino erinnert. Neben zahlreichen Solidaritätsaktionen linker Gruppen spielen dort auch die juristischen Auseinandersetzungen mit den GewerkschafterInnen eine Rolle. Diese sind bis heute nicht beendet. FAU-Mitglied und Betriebsrat Andreas H. wehrt sich juristisch gegen seinen Rauswurf. Mit der Beschuldigung, ein Plakat beschädigt
zu haben, wurde ihm fristlos gekündigt und seine Wohnung polizeilich durchsucht. Den aktuellen Arbeitskampf unterstützt der bis zur gerichtlichen Klärung Beurlaubte trotzdem. Babylon-Geschäftsführer Grosman war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

aus: Taz, 9.7.2015

Peter Nowak

Dieses Kino wird bestreikt

Beschäftigte am Babylon in Mitte demonstrieren für Anpassungen ihrer Verträge

Weil ihre Verträge in zwei beziehungsweise fünf Jahren nicht tarifrechtlich angepasst wurden, bestreiken Mitarbeiter das Kino Babylon.

»Dieses kommunale Kino wird heute bestreikt. Darum bitten wir Sie, heute von einem Kinobesuch Abstand zu nehmen und die berechtigen Forderungen der Beschäftigten nicht zu unterlaufen«, heißt es auf Plakaten, die in den vergangenen Tagen rund um das Kino Babylon am Rosa-Luxemburg Platz verteilt wurden. Verfasst wurden sie von der ver.di-Betriebsgruppe des Kinos Babylon. Sie fordert die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der 15 KinomitarbeiterInnen. »Fünf Jahre Verzicht sind genug. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, steht auf einem Schild, den ein Streikender am Montag in die Höhe hält, als er mit einem Kinobesucher über den Arbeitskampf diskutiert. »Im Dezember 2013 wurde mein Stundenlohn nach einer Forderung des Senats auf 8,50 Euro tarifvertraglich angehoben. Seitdem gab es keine weiteren Anpassungen«, erklärte der Mitarbeiter. Die Filmvorführer hätten sogar seit fünf Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen.

Ver.di fordert die Übernahme des Bundestarifvertrages des Hauptverbands Deutscher Filmtheater (HDF) für die Babylon-Beschäftigten. Außerdem soll es eine verbindliche Mindestbesetzung während des laufenden Kino- und Veranstaltungsprogramms geben, die auf die Besucherzahlen abgestimmt wird. Andreas Köhn vom ver.di-Landesbezirk Berlin-Brandenburg betont, dass das Kino die Forderungen wirtschaftlich tragen kann. »Schließlich sind die Eintrittspreise und die Einmietung in den letzten Jahren um teilweise 20 Prozent gestiegen. Auch die Anzahl der Besucher hat sich deutlich erhöht.«

Zudem erhöhen sich auch die Subventionen, die das Land Berlin jährlich an das Kino überweist. Im Doppelhaushalt 2016/2017 sind 36 5000 Euro Zuschuss vorgesehen. Bisher betrug der jährliche Zuschuss an das Kino 35 8000  Euro. Ver.di fordert nun vom Senat, die Auszahlung der Zuwendungen an die Umsetzung des bundesweiten HDF-Tarifvertrages zu koppeln. Der Geschäftsführer der Neuen Babylon GmbH, Timothy Grossman, erklärte bei den zwei Verhandlungsterminen mit ver.di, aus eigenen Mitteln sei kein Spielraum für die Erfüllung der Forderungen. Gegenüber »nd« war Grossmann nicht zu einer Stellungnahme bereit.

Bereits 2009 und 2010 war das Kino Babylon durch einen Arbeitskampf über Berlin hinaus bekannt geworden. Damals wandten sich die Beschäftigten an die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU). »Der Arbeitskampf machte damals deutlich, dass auch in prekären Verhältnissen engagierte Arbeitskämpfe möglich sind«, heißt es im Vorwort einer Broschüre über den Arbeitskampf, die kürzlich vom FAU-Aktivisten Hansi Oostinga beim Verlag Syndikat A herausgegeben wurde. »Die Broschüre erinnert an den von heute aus gesehen doch sehr organisierten und professionellen Arbeitskampf«, sagt FAU-Mitglied und Babylon-Betriebsrat Andreas Heinz dem »nd«. Auch den aktuellen Streik von ver.di unterstützt die FAU ausdrücklich. Dabei waren die Beziehungen zwischen beiden Gewerkschaften nicht immer die besten. Die FAU warf ver.di vor, mit Grossman einen Tarifvertrag abgeschlossen zu haben, nachdem der der Basisgewerkschaft ihre Tariffähigkeit aberkennen wollte. Damals hatten sich in einen bundesweiten Solidaritätskomitee allerdings auch Mitglieder von DGB-Gewerkschaften mit der FAU solidarisiert.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/977003.dieses-kino-wird-bestreikt.html

Peter Nowak