Kommt die Grexit-Debatte wieder?

Manche wollen Griechenland aus dem Euro hinausbegleiten. Gibt es auch eine EU ohne Austerität?

Der Polen-Besuch von Bundeskanzler Merkel wurde als großer Erfolg für die EU und für Merkel bezeichnet. Dabei war man sich nur in der gemeinsamen Gegnerschaft gegenüber Russland einig. Über die EU hatte die nationalkonservative Regierung, die einen Rückbau der EU fordert, ganz andere Vorstellungen[1] als der von Merkel repräsentierte Block der deutschen EU.

Doch man hofft, Polen auf Linie zu bringen, weil mit dem Brexit Polen ein Bündnispartner verloren ging. Die Konservativen saßen sogar mit der polnischen Regierungspartei in der gleichen EU-Fraktion. Aber Merkels Bekenntnis, dass es in der EU keine Mitglieder mit unterschiedlichen Rechten geben dürfe, werden wohl auch die polnischen Gastgeber als Propaganda erkannt haben. Schließlich wird in den letzten Monaten mehr denn je, auch von Politikern aus Merkels Umfeld von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten gesprochen.

Ein EU-Staat minderen Rechts ist schon lange Griechenland, das unter dem im Wesentlichen von Deutschland orchestrierten Austeritätsprogramm nicht nur auf sozialem Gebiet einen beispiellosen Aderlass erlebte. Auch die Schleifung tariflicher und gewerkschaftlicher Rechte ist fester Bestandteil dieses Austeritätsprogramms. Griechische Gewerkschafter beschreiben die Folgen in der Zeitschrift ver.di Publik[2]:

Darunter fällt auch die Aufweichung des Kündigungsschutzes. Das betrifft die Zahl der zugelassenen monatlichen Kündigungen in einem Betrieb aus wirtschaftlichen Gründen. Bisher sind sie auf fünf Prozent der Beschäftigten beschränkt, jetzt sollen sie auf zehn Prozent angehoben werden. Hinzu kommen weiter sinkende Lohnniveaus, die unter dem Mindestlohn von 585 Euro für Berufseinsteiger liegen können und bei denen den Gewerkschaften die Tarifhoheit genommen werden soll, ebenso wie die Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Zudem soll das Streikrecht geändert werden: Streiks müssen beim Arbeitgeber künftig 20 Tage vorher angemeldet werden. Die Gewerkschaftsverbände sollen nicht mehr zu Streiks aufrufen dürfen. Stattdessen muss die Mehrheit der Beschäftigten des jeweiligen Betriebs für einen Streik stimmen. Weiterhin fordern die Gläubiger, dass Freistellungen für Gewerkschaftsarbeit reduziert und Aussperrungen als Arbeitskampfmaßnahme für Arbeitgeber eingeführt werden.

ver.di Publik

Eine treibende Kraft bei dieser Entrechtung der Beschäftigungen zum Zwecke der Deregulierung des Arbeitsmarktes ist der Internationale Währungsfonds, der schon bei einem Treffen in Westberlin 1988 von Kritikern[3] als Institution markiert wurde, die zur Verarmung und Entrechtung beiträgt.

In Griechenland bestätigt sich dieses Urteil. Deswegen will vor allem die Bundesregierung den IWF mit im Boot haben, wenn Griechenland der Knüppel gezeigt wird. Doch weil die IWF-Bürokratie einschätzt, dass Griechenland seine Schulden nicht zurückzahlen kann, könnte sich der IWF daraus zurückziehen und in Deutschland steht eine neue Grexit-Debatte an. Der Europapolitiker der FDP, Alexander Graf Lambsdorff[4], hat schon mal den Austritt Griechenlands aus der EU-Zone gefordert[5]:

„Wir müssen so schnell wie möglich einen Weg finden, wie wir Griechenland zwar in der EU und ihrer Solidargemeinschaft halten, aber aus der Eurozone hinaus begleiten“, sagte Lambsdorff und regte einen geordneten Übergang zur griechischen Nationalwährung an.

Die Debatte dürfte in Deutschland wieder an Fahrt aufnehmen, wenn es um weitere Gelder für die griechischen Banken geht, die immer fälschlich als Griechenlandhilfe bezeichnet werden. Gerade im Vorwahlkampf dürften verschiedene populistische Attacken gegen Griechenland gestartet werden.

Da stellt sich noch einmal dringlicher die Frage, ob sich für Tsipras und die Mehrheitsfraktion seiner Syriza die Unterwerfung unter das EU-Diktat gelohnt hat? Damit wurde seine eigene Partei gespalten und die vor zwei Jahren sehr aktive soziale Bewegung in Griechenland demotiviert.

Wäre er mit dem gewonnenen Referendum im Rücken, bei dem die Mehrheit der griechischen Bevölkerung OXI zu den Zumutungen der EU gesagt hat, aus der Eurozone ausgetreten, hätte das auch über Griechenland hinaus eine soziale Dynamik in Gang setzten können, die nicht den Kapitalismus, aber das deutsche Austeritätsmodell in Frage gestellt hätte.

Mit der Unterwerfung Griechenlands und der Niederlage der sozialen Bewegungen schlug die Stunde der Rechtspopulisten. Die deutsche Politik hat also an ihrem Aufstieg einen großen Anteil, über den kaum geredet wird. Wenn jetzt wieder über ein Hinausdrängen Griechenlands aus der Eurozone geredet wird, ist auch das Wasser auf die Mühlen der Rechten. Ein selbstbewusster Austritt Griechenlands vor zwei Jahren wäre hingegen Labsal für die sozialen Bewegungen in vielen europäischen Ländern gewesen.

Noch immer gibt es Reformgruppen, die hoffen und auch dafür arbeiten, dass in dieser EU ein anderer Weg als die Austerität möglich ist. Die Gründung der DIEM[6] geht auf den kurzzeitigen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis zurück, der in seiner kurze Amtszeit bewiesen hat, dass die Eurokraten völlig resistent gegenseine Argumente der ökonomischen Vernunft waren. Die Bewegung Diem hat sich bis 2025 Zeit gegeben, ihre Pläne für ein anderes Europa zu konkretisieren.

Ob es dann die EU, wie wir sie kennen, noch geben wird, ist völlig unklar. Auch manchen überzeugten Europäern schwant mittlerweile, dass zumindest in Großbritannien die „Deutsch-EU“ eine Schlacht verloren hat. Dominik Johnson hat kürzlich in der Taz die Fakenews aufgelistet[7], die die EU-Befürworter über den Brexit verbreiten und die EU aufgefordert, endlich Abschied vom Selbstbetrug zu nehmen.

Vielleicht sollte sich auch die Mehrheit der griechischen Bevölkerung, die noch vor zwei Jahren hoffte, ohne Austeritätsdiktat in der EU-Zone bleiben zu wollen, von diesem Selbstbetrug verabschieden. Lambsdorff und sicher noch einige andere Politiker könnten den Lernprozess mit ihrem Ausschlussgerede beschleunigen. Auch in Deutschland suchen Linke[8] neue Wege jenseits der EU und einer Renaissance der Nationalstaaten.


Peter Nowak

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[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/angela-merkel-in-polen-kanzlerin-lehnt-rueckbau-der-eu-ab-a-1133587.html
[2] https://publik.verdi.de/2016/ausgabe-08/gewerkschaft/international/seite-8/A0
[3] https://autox.nadir.org/archiv/iwf/programm.html
[4] http://www.lambsdorffdirekt.de
[5] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/griechenland-alexander-graf-lambsdorff-fordert-euro-austritt-a-1133576.html
[6] https://diem25.org/home-de/
[7] http://www.taz.de/!a4/
[8] http://www.antikapitalistische-linke.de/

Außenminister Gabriel in den USA

Wenn sich zwei Konkurrenten am kapitalistischen Weltmarkt treffen

Eigentlich war das Treffen der Außenminister der USA und Deutschlands ein Routinetermin. Schließlich sind beide Minister neu im Amt und da gehören solche Treffen zum Protokoll. Doch in einer Zeit, in der der US-Präsident schon kurz nach seiner Amtseinführung von der politischen Klasse auf eine Ebene mit Putin gestellt wurde und ein FDP-Politiker sogar ein Einreiseverbot ins Gespräch brachte, hat dieses Treffen doch mehr Aufmerksamkeit erregt.

Nun sind die Verbalinjurien zwischen Trump und deutschen Politkern das eine, für das alltägliche Geschäft sind dann die Außenminister zuständig. Das zeigte sich schon beim Telefongespräch zwischen Merkel und Trump. Das Presseamt der Bundesregierung erklärte, beide Seiten hätten betont, „wie wichtig eine enge deutsch-amerikanische Zusammenarbeit für Sicherheit und Wohlstand ihrer Länder sei“.

Beide wollten „die ohnehin schon ausgezeichneten bilateralen Beziehungen in den nächsten Jahren noch vertiefen“. Nun wird diese Art von postfaktischer Wahrheit nicht Lüge oder Fake-News, sondern Diplomatie genannt. Die Mischung aus diesen Phrasen von ausgezeichneten Beziehungen und die gegenseitigen Drohungen werden aber sicherlich auch in Zukunft das Verhältnis zwischen Deutschland und den EU bestimmen und haben mit dem Regierungsantritt von Trump nur teilweise zu tun.

Der Theaterdonner der letzten Tage im deutsch-amerikanischen Verhältnis hat neben viel Rhetorik und Egomanie einen realen Hintergrund. Deutschland und USA treten als Kontrahenten auf dem kapitalistischen Weltmarkt gegeneinander an. Da werden natürlich weiter auch gemeinsame Interessen ausgelotet und es wird Gebiete mit begrenzter Kooperation geben. Aber die Grundtendenz des deutsch-amerikanischen Verhältnisses ist die eben die Konkurrenz.

Dabei ist es fatal, dass sich die Trump-Kritiker vor allem auf die besonderen Charaktereigenschaften, die Egozentrik und die Psychologie des neuen US-Präsidenten kaprizieren, die sicher nicht unwichtig sind, aber eben auch verhindern, dass der eigentliche Grund für die deutsch-amerikanische Entfremdung zur Sprache kommt: Die Interessen sind in vielen Bereichen verschieden und gehen weiter auseinander.

Da beschäftigte sich die Kritik von Trumps Handelsberater Peter Navarro an Deutschland schon viel konkreter mit den realen Gründen für die unterschiedlichen Interessen. Wenn er Deutschland vorwirft, dass es den stark unterbewerteten Euro einsetzt, um seine Handelspartner in Europa und in den USA „auszubeuten“, dann trifft er den Nerv vieler Menschen in europäischen Ländern (Trump gegen Merkel, die USA gegen Deutschland?[1]).

Die These von Navorra ist weder neu noch besonders originell. Trumps innenpolitischer Gegner George Soros äußerte[2] bereits vor fast fünf Jahren: „Deutschland muss führen oder aus dem Euro austreten.“

In vielen Ländern der europäischen Peripherie wird Trump mit seiner Kritik an der wirtschaftlichen Rolle Deutschlands auf offene Ohren stoßen. Schließlich wurde vor 5 Jahren in vielen europäischen Ländern „Deutsch-Europa“ als Hegemon gesehen, der den Rest der EU ausbeuten und unterwerfen will. Merkel war nicht nur in Griechenland, sondern auch in Portugal und Italien die unbeliebteste europäische Politikerin.

Die Unterwerfung der von der Syriza geführten griechischen Regierung unter das Austeritätsprogramm von „Deutsch-Europa“ hat die Kritik an Deutschland, aber auch die Angst vor Deutschland erhöht. Vor allem in vielen Ländern der europäischen Peripherie wurde die Unterwerfung Griechenlands durchaus als Gewalt gesehen.

Die Spaltung der EU in ein „Deutsch-Europa“ und den Rest der Länder ist seitdem Realität. Da aber der Rest der Länder selber ganz unterschiedliche politische Bedingungen hat, konnte Deutschland die innereuropäische Opposition bisher weitgehend ignorieren.

Diese Spaltung könnte auch innerhalb der EU durchaus noch zu Zerreißproben führen. Daher auch die Angst, dass die EU durch Trump, Putin und Erdogan manipuliert und bedroht wird, die einen sehr realen Hintergrund hat. Die EU nach dem Nutzen Deutschlands ist ein solch fragiles Gebilde, die Widersprüche sind hausgemacht und brauchen dann nur von wem auch immer ausgenutzt werden.

Dass Widersprüche zwar nicht von außen geschaffen, aber natürlich instrumentell genutzt werden können, ist eine Erkenntnis, die sich auch im Zusammenhang mit der EU-Krise durchsetzen sollte. In erster Linie sind nicht Trump, Putin oder Erdogan dafür verantwortlich, sondern Deutschland, das in seiner Rolle als Hegemonialmacht Europas immer mehr infrage gestellt wird.

Man sieht aktuell, dass Ungarn sich mit Putin wesentlich besser versteht als mit Merkel und dass gleichzeitig die „Deutsch-EU“ einen innenpolitischen Streit in Rumänien über eine Amnestie – nicht nur für korruptionsverdächtige Politiker – zu einer massiven Einmischung in die rumänische Innenpolitik nutzt. Auch dieses Mal wird viel von europäischen Werten geredet.

Doch eigentlich geht es darum, ob die pro-deutsche Fraktion, die von den rumänischen Präsidenten repräsentiert wird, oder die eher russlandfreundlichen Kräfte im Land an Einfluss gewinnen. Die von der „Deutsch-EU“ unterstützen Kräfte scheuen wie beim Umsturz in der Ukraine weder den Kontakt zur offenen Rechten, noch wollen sie auf Gewalt gegen die bürgerlich-demokratisch zustande gekommene Regierung verzichten.


So werden die so viel strapazierten europäischen Werte als Waffe zur Disziplinierung unbotmäßiger Regierungen genutzt. Dass dann die britische Bevölkerung mit dem Brexit-Votum signalisierte, dass es auch die eigentlich nicht vorgesehene Exitstrategie aus der EU gibt, ist die Nervosität in der „Deutsch-EU“ noch gewachsen.

Dabei gibt es durchaus Ökonomen, die auch im Brexit eine Entscheidung sehen, die der deutschen Wirtschaft nutzt. Doch das Signal der Brexit-Abstimmung – „Es gibt auch ein Leben ohne die EU“ – besorgt die Sachverwalter der deutscheuropäischen Interessen, so dass die Denunziation des Brexit überwiegt.

Daran beteiligen sich auch schlaue Köpfe wie der linkssozialdemokratische Wissenschaftler Michael Krätke[3], der in der Wochenzeitung Freitag sogar bedauerte, dass der EU-Austritt nicht vom britischen Parlament gestoppt wurde.

Demokratie hat also nur dann Sinn, wenn sie dafür sorgt, dass die Abstimmungen so ausgehen, wie deutsche EU sich das wünscht. Das ist nun mal gründlich schiefgegangen. Wenn Gabriel jetzt die Botschaft aus Washington mitbrachte, dort sehe man im Brexit nicht das Anfang vom Ende der EU, dann kann man gerade das Gegenteil annehmen. Gerade weil man das so betonen muss.

Der Brexit muss nicht zwangsläufig das Ende der EU einleiten, aber er hat das Potential dazu. Gabriel hat keine starke EU hinter sich, mit der er in den USA punkten konnte. Vielmehr gibt es viele in der EU, die die Kritik an Deutschland gerade auch in Bezug auf die Ökonomie durchaus teilen. Das Gerede über die gemeinsamen europäischen Werte ist nicht der Kitt, der die EU stabilisieren kann.

Dass dann in manchen Medien ausgebreitet wurde, dass sich Gabriel auf eigenen Wunsch eine in den USA verwendete deutsche Bibel von 1743 zeigen ließ, um klar zu machen, wie groß der deutsche Einfluss einmal war[4], fällt das in den Bereich Unterhaltung statt Politik.


https://www.heise.de/tp/features/Aussenminister-Gabriel-in-den-USA-3616978.html

Peter Nowak

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[2] http://www.spiegel.de/wirtschaft/george-soros-deutschland-muss-fuehren-oder-aus-dem-euro-austreten-a-854595.html
[3] http://www.lancaster.ac.uk/research/profiles/michael-kraetke/Sociology/
[4] http://www.focus.de/politik/ausland/neuer-aussenminister-auf-usa-reise-an-einem-historischen-ort-sendet-gabriel-eine-versteckte-botschaft-an-trump_id_6587445.html

Sind jetzt alle gegen die USA außer der AfD und Pegida?

Bei der harschen Trump-Schelte geht es auch um ein neues Selbstbewusstsein des EU-Blocks

„Mein Freund ist Amerikaner“ – Diese Parole hätte man lange Zeit kaum mit den Pegida-Aufmärschen assoziiert. Schließlich haben viele der patriotischen Europäer mit den USA alles das verbunden, was sie ablehnen. Doch seit Donald Trump in den USA die Regierung übernommen hat, ist alles anders. Der neue Präsident gilt den Pegidisten als Hoffnungsträger, der auch „einen Reigen der Politikveränderung in Europa“ einleiten soll, wie es ein der Pegidabewegung nahestehendes Magazin[1] formulierte.

Auf dem letzten Dresdner Pegida-Spaziergang in Dresden am 23.1. wurden von mehreren Rednern zwei Männer besonders mit Lob bedacht[2], der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke und der neue US-Präsident. Diese neue Konstellation hat natürlich auf die innerrechte Debatte Auswirkungen.

Profitieren werden jene Rechten, die sich als proamerikanisch bezeichnen wie das Onlinemagazin PI-News und natürlich die AfD, die sofort nach Trumps Wahl ein Glückwunschtelegram[3] versandte. Dort wird auch formuliert, was den Rechten – nicht nur in Deutschland – so an Trump gefällt:

Aufgrund Ihrer bisher getätigten Aussagen verfolgen wir als Deutsche und Europäer hoffnungsvoll Ihre außenpolitischen Positionen, weil sich diese wohltuend vom Kurs der vergangenen Jahrzehnte unterscheiden. Sie kündigen einen Weg der Nichteinmischung, der Lösungen und der Ordnung an. Sie haben die stabilisierende Funktion von Grenzen als einer zivilisatorischen Errungenschaft erkannt.

AfD

So ist es auch nur folgerichtig, dass die AfD schon Trumps deutsche Vorfahren ins Gespräch brachte und vom Trump-Effekt für das Örtchen Kallstadt schwärmte[4]. Doch viele Einwohner von Kallstadt sind einstweilen skeptisch mit Argumenten, die eigentlich auch die AfD verstehen müsste.

So wird Trumps Vorfahren noch immer übel genommen, dass er illegal aus Kallstadt verschwunden ist und sich vom Militärdienst gedrückt hat[5]. Da muss die AfD wohl aufpassen, dass ihr nicht nachgesagt wird, amerikanische Interessen zu vertreten. Das war ja bisher immer ein Lieblingsargument der Rechten nicht nur in Deutschland.

Anderseits wurde der Verdacht erhoben, „unsere amerikanischen Freunde“ nicht zu achten, wenn in den vergangenen Jahrzehnten Einzelpersonen, Gruppen und Initiativen Kritik gegen die Politik der USA geäußert haben. So wird schon mal die gesamte Apo der späten 1960er Jahren mit dem Anti-Amerikanismus-Verdikt belegt, weil die oft auch in polemischer Art und Weise den Vietnamkrieg kritisiert hat.

Dass aber gerade die Apo sehr wohl die neue US-Kultur adaptiert hatte und sie erst in der BRD etablierte, wird dabei gerne vergessen. Wenn man nun die Antiamerikanismus-Messlatte der alten BRD auf die aktuelle Situation anlegen würde, müsste man von einem tektonischen Beben sprechen. Während die AfD und Pegida Trump feiert, übt sich eine ganz große Koalition von der Linkspartei bis zur Union in Trump-Kritik.

Nur der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer wollte sich da nicht gleich die neue deutsche Volksfront einreihen und erinnerte daran, dass Trump seine Wahlversprechen schnell abarbeitet[6]. Doch dafür musste er sich fast entschuldigen und bald wollte es Seehofer auch nicht so gemeint haben[7].

Das ist eine ganz neue Erfahrung für einen konservativen Politiker, dass eine zu große verbale Nähe zum neuen US-Präsidenten der Karriere womöglich nicht gut bekommen könnte. Dabei entsprachen Seehofers Äußerungen zweifelsfrei der Realität. Denn all die Maßnahmen, die Trump jetzt umzusetzen versucht, auch das begrenze Einreiseverbot aus einigen islamischen Ländern gehörte zu den Wahlversprechen von Trump.

Nur wurde während des Wahlkampfs und vor allem nach seiner Wahl immer die Vermutung oder Hoffnung geäußert, dass seien nur leere Versprechungen, die ein amtierender Präsident möglichst schnell vergessen wird. Nun haben sich die Kommentatoren mit dieser Prognose vorerst getäuscht.

Trump macht das, was manche neue Politiker immer machen. Sie versuchen auch mit viel Symbolpolitik gleich in den ersten Wochen vieles von dem, was sie versprochen haben, umzusetzen, werden dann mit den verschiedenen Problemen konfrontiert und schwenken dann in eine sogenannte pragmatische Politik über, d.h. sie machen das, was dem kapitalistischen Standort nützt. Gemeint sind dabei immer die innovativsten Teile innerhalb des Kapitalismus.

Da haben die Startups von Silicon-Valley die Nase vorn und von dort kommt auch der größte Widerstand gegen das zeitweise Einreiseverbot. Denn diese Branche lebt in Gegensatz zu den alten Industriebranchen, wo Trump im Wahlkampf punktete, von den vielen Kreativen aus aller Welt, die in den USA ihr Glück versuchen. Nicht wenige haben ihre Ausbildung in asiatischen und afrikanischen Ländern gemacht.

Der Brain-Train, der dadurch ausgelöst wird, dass sie alle den Versprechungen des American Way of Life folgen, wird in der Regel nicht beachtet. Aber junge IT-Manager, Wissenschaftlerinnen oder Ärzte, die auf Flughäfen der USA wegen des Einreiseverbots stecken bleiben, können die US-Liberalen und die liberale Weltöffentlichkeit mobilisieren. Die Menschen, die nur einen Dollar am Tag zum Leben haben, sind von Einreiseverbot nicht betroffen.

Sie haben gar nicht die Möglichkeit, in die USA zu gelangen und wenn sie es doch irgendwie versuchen wollten, würden sie umgehend festgesetzt und zurückgeschickt. Denn es stimmte historisch und aktuell nie, dass die USA für alle Menschen, die es wollten, offenstanden. Im Gegenteil wurde die Migration in die USA schon seit Jahrzehnten streng geregelt. Nach dem islamistischen Anschlägen vom 9. September 2001 waren Tausende Menschen mit Einreiseverboten konfrontiert, oft wurde ihnen nicht einmal die Begründung genannt. Islamisten waren die wenigsten.


Wenn nun weltweit eine solche Erregung wegen der ersten Maßnahmen von Trump laut wird, muss man immer genau hinsehen, wer sich hier artikuliert. Sind es US-Linke, Vertreter von Minderheiten in den USA und weltweit? Dann kann man davon ausgehen, dass ihre Kritik berechtigt und unterstützenswert ist.

Wenn nun aber fast die gesamte politische Klasse in Deutschland und in anderen EU-Länder in die Trump-Schelte einstimmen, geht es vor allem um die Herausbildung eines EU-Nationalismus in scharfer Frontstellung zu den USA. Diese Entwicklung hat sich in den Jahren 2002 und 2003 schon abgezeichnet, als die europäischen Werte gegen den Irakkrieg in Stellung gebracht wurden. Unter Obama wurde diese Entwicklung weg von den USA mehr ökonomisch als politisch vorangetrieben.

Unter Trump nimmt man den Diskussion über die europäischen Werte erneut, aber mit noch mehr Vehemenz auf. Das korrespondiert mit dem gewachsenen Selbstbewusstsein des EU-Blocks und genau damit ist die neue Tonlage gegen die US-Administration zu erklären: „Deutsch-Europa“ kann sich diese Töne leisten.

Um politische Inhalte geht es dabei weniger. Wenn ausgerechnet die EU sich so sehr über den geplanten Mauerbau an der Grenze zwischen den USA und Mexiko echauffiert, die ja selbst ihr Territorium zur Festung ausgebaut hat und Migranten lieber im Mittelmeer ertrinken oder in den Balkanländern frieren lässt, als sie aufzunehmen, dann zeigt sich, dass die vielzitierten europäischen Werte vor allem Ideologie sind.

Auch in der EU gibt es mannigfache Einreiseverbote. Wer es nicht glaubt, sollte mit Menschen aus Lateinamerika und Afrika reden, denen Visa verweigert werden, weil ihnen unterstellt wird, sie würden nicht ihre Heimatländer zurückkehren. Nur sind die Gründe in diesem Falle meist nicht die Religion, sondern zu wenig Geld.

Wenn nun Trump beschuldigt wird, sämtliche Grundsätze der USA aufzugeben, könnte es daran liegen, dass die Details der US-Einwanderungspolitik zu wenig bekannt sind. Aber auch jüngeren Politikern dürfte der Vietnamkrieg und seine mörderischen Folgen bekannt sein. Damals haben Politiker von Union, SPD und FDP alle Kritiker dieses Militäreinsatzes als antiamerikanisch tituliert. Denn, so die Begründung, Deutschland werde auch in Vietnam verteidigt.

Das war mehr als eine Propagandafloskel. Damals war die BRD bei ihren Wiederaufstieg noch auf die US-Unterstützung angewiesen. Heute ist Deutschland ein Kontrahent der USA. Daher wird die Politik von Trump so angegriffen.

Es geht um europäische Kapitalinteressen und weil dafür Menschen nicht so ohne weiteres zu begeistern sind, wird eine Wertediskussion geführt. Daran beteiligen sich an vorderster Front auch die Grünen und die ihnen nahestehende Taz. Die will mit ihrer Kampagne „mein Land“[8] für einen angeblich inklusiven Patriotismus[9] endgültig von einer Linken Abschied nehmen, die mit Rio Reiser der Überzeugung war, „dieses Land ist es nicht“[10]. Denn, so schreibt[11] die Taz-Redakteurin Nina Apin:

Die Deutschen, die sich ihres Deutschseins schämten, suchten ihre Heimat im progressiven Weltbürgertum, im Europäer sein oder im Regionalen. Und für viele, auch die Verfasserin dieser Zeilen, erweckte die gern bei linken Demos skandierte Parole „Kein Gott! Kein Staat! Kein Vaterland!“ allemal mehr positive Gefühle als ein Land, das man – so man nicht bekennendeR AnarchistIn war – zwar als Staat akzeptierte, aber keinesfalls als Heimat- oder gar „Vaterland“.

Nina Apin

Nun gab es den gesellschaftlichen Rechtsruck, der eigentlich diesem Grundsatz für eine emanzipatorische Politik bestärken müsste. Doch Nina Apin zieht daraus eine andere Konsequenz:

Gerade in einem Einwanderungsland, in dem sich Homogenität der Herkunft, des Glaubens in eine Vielschichtigkeit auflöst, braucht es ein identitätsstiftendes Narrativ: eine positive Erzählung darüber, was eine Gesellschaft prägt, was sie ausmacht, wer sie sein will. Eine solche Erzählung anzubieten hat die mittelschichtsdominierte Linke bisher versäumt, die Notwendigkeit dafür wurde schlicht unterschätzt. Ortsverbundenheit, Geborgenheit – solcher vermeintliche Gefühlskitsch passte schlicht nicht zum eigenen Freiheitsnarrativ.

Nina Apin

Also aus Angst vor dem Rechten sollen jetzt alle Patrioten werden, ist also die Konsequenz. Und der schwarz-grüne Chefideologe der Taz Peter Unfried kippt eine kräftige Portion Wirtschaftsliberalismus in die patriotische Sauce. Deswegen hat Unfried im französischen Wahlkampf Emmanuel Macron zum Bannerträger der europäischen Werte ausgerufen[12]. Denn der ist anders als die beiden Sozialdemokraten Mélenchon und Hamon garantiert nicht links.

„Er ist radikal proeuropäisch, das ist zentral. Gesellschaftsliberal. Jenseits von linksnationalistischem Protektionismus, für eine Umgestaltung des Arbeitsmarktes. Verkürzt gesagt, Priorität hat das Zurückkommen in Anstellung und nicht mehr nur das Bleiben in Festanstellung“, lobt Unfried Deutschlands Hoffnungsträger in Frankreich.

Macron soll da weitermachen, wo Hollande gescheitert ist – bei der Umsetzung der Agenda 2010 in Frankreich. Dafür werden die europäischen Werte bemüht. Daher sollten wir gerade aktuell vorsichtig sein, dass wir bei der berechtigen Kritik an der Politik der jetzigen wie der vergangenen US-Administrationen nicht zu Lautsprechern einer „Deutsch-EU“ werden, die sich in Konkurrenz zu den USA befindet.

https://www.heise.de/tp/features/Sind-jetzt-alle-gegen-die-USA-ausser-der-AfD-und-Pegida-3613568.html

Peter Nowak


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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.epochtimes.de/politik/deutschland/pegida-feiert-us-wahl-trump-eroeffnung-eines-reigens-der-politikveraenderung-in-europa-a1975492.html
[2] http://www.pi-news.net/2017/01/pegida-dresden-solidaritaet-mit-bjoern-hoecke
[3] https://www.alternativefuer.de/glueckwunschtelegramm-der-afd-an-donald-trump/
[4] http://www.deutschlandradiokultur.de/der-kallstadt-impuls-trumps-deutsche-vorfahren.1001.de.html?dram:article_id=376295
[5] http://www.taz.de/!5374809/
[6] http://www.faz.net/aktuell/politik/trumps-praesidentschaft/horst-seehofer-lobt-donald-trump-fuer-tatkraft-konsequenz-14797201.html
[7] https://www.tagesschau.de/inland/seehofer-trump-101.html
[8] http://www.taz.de/!t5024660/
[9] http://www.taz.de/!t5024660/
[10] http://www.songtexte.com/songtext/ton-steine-scherben/der-traum-ist-aus-53d9a78d.html
[11] https://www.taz.de/Debatte-Deutsche-Identitaet/!5374678/
[12] https://www.taz.de/Kolumne-Die-eine-Frage/!5374703/

Hamburg und die Würdigung der Schlächter

»Wir möchten unsere große Unzufriedenheit darüber ausdrücken, dass sich die Stadt Hamburg entschieden hat, die historische Rolle zu ignorieren, die sie beim Genozid an den Overherero und Nama in den ehemaligen deutschen Kolonien in Südwestafrika spielte.« Diese harte Kritik steht in einen Offenen Brief, den der Regierende Bürgermeister von Hamburg Olaf Scholz am vergangenen Montag erhalten hat. In dem Schreiben kritisiert die Association of the Ovaherero Genocide in the USA (OGA), dass in Hamburg noch immer Kolonialverbrecher geehrt werden, die maßgeblich am Völkermord in Südwestafrika beteiligt waren

Dafür nennen die Organisation in dem Brief mehrere Beispiele, etwa das sogenannte Trothahaus. »Das in der NS-Zeit errichtete Gebäude, in dem bis heute Bundeswehrangehörige untergebracht sind, verherrlicht mit dem berüchtigten ›Schutztruppenkommandeur‹ Lothar von Trotha noch immer einen der Hauptverantwortlichen für den Genozid an den Herero und Nama in den Jahren 1904-08«, kritisieren die Verfasser des Briefes.

Auch dass in Hamburg weiterhin der Kolonialkaufmann und Reeder Adolph Woermann gewürdigt wird, findet bei den Verfassern des Briefes starken Widerspruch. Woermann habe durch den Transport von Truppen, die Einrichtung von privaten Konzentrationslagern und den Einsatz von Zwangsarbeitern direkt vom Völkermord profitiert. Gleich zwei Straßen tragen in dem Hamburger Stadtteil Ohlsdorf den Namen von Woermann. In dem Offenen Brief wird vorgeschlagen, die Straßen nach einer Persönlichkeit aus dem antikolonialen Widerstand umzubenennen.

Auch die Gedenktafel für die gefallenen deutschen Kolonialsoldaten, die noch immer in der Kirchengemeinde der Hauptkirche St. Michaelis zu sehen ist, wird kritisiert. »Statt der zahlreichen Opfer des deutschen Kolonialregimes werden noch immer Hamburgs gefallene Kolonialkrieger im damaligen Deutsch-Südwestafrika auf einer unkommentierten Ehrentafel glorifiziert.«

Christian Kopp, der seit Langem für Gerechtigkeit für die Opfer des deutschen Kolonialismus eintritt, erklärt im Gespräch mit dem »nd«, eine Delegation aus Afrika habe bei einem Hamburg-Besuch im letzten Jahr die Tafel entdeckt. »Wir erwarten, dass nicht nur an der Hamburger Universität über den deutschen Kolonialismus geforscht wird, sondern dass die antikoloniale Praxis auf der Straße sichtbar werden muss«, erklärte Kopp zu dem Zweck, der mit dem Offenen Brief verfolgt wird.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1040526.hamburg-und-die-wuerdigung-der-schlaechter.html

Peter Nowak

In Freiheit pfeifen

In den letzten Tagen seiner Amtszeit hat US-Präsident Barack Obama die Whistleblowerin Chelsea Manning begnadigt.

Chelsea Manning wird nicht bis 2045 im Gefängnis sitzen. Nach ihrer Begnadigung durch den scheidenden US-­Präsidenten Barack Obama dürfte die Whistleblowerin bereits am 17. Mai freikommen. Ende 2013 war die IT-Spezialistin, damals noch Bradley Manning, wegen Spionage und Verrat von Militärgeheimnissen zu einer Haftstrafe von 35 Jahren verurteilt worden, weil sie Dokumente und Videos an die Plattform Wikileaks weitergeleitet hatte, die unter anderem Kriegsverbrechen von US-Militärangehörigen während ihres Engagements im Irak dokumentierten. Kurz nach dem Urteil verlas ihr Anwalt eine Erklärung, derzufolge Manning fortan als Frau mit dem Vornamen Chelsea leben werde. Doch die Haftstrafe musste sie weiterhin in Fort Leavenworth, einem Militärgefängnis für Männer, verbüßen. Die Genehmigung für eine Hormontheraphie zur Geschlechtsangleichung musste sie juristisch erkämpfen.

Im Militärgefängnis verübte Manning in den Morgenstunden des 6. Juli vergangenen Jahres einen Suizidversuch. Informationen darüber wurden mit Verzögerung über Anwälte bekannt. »Ich bin okay. Ich bin froh, am Leben zu sein. Vielen Dank für eure Liebe. Ich komme da durch«, ließ Manning über Twitter ihre Unterstütze­rinnen und Unterstützer wissen. Doch im November wurde ein zweiter Suizidversuch bekannt. Bereits nach dem Suizidversuch im Juli war die Whistleblowerin sanktioniert worden. So verhängte der Disziplinarausschuss von Fort Leavenworth Ende September eine 14tägige Isolationshaft als Strafe. Sieben Tage wurden auf Bewährung ausgesetzt und sollen vollstreckt werden, wenn die Gefangene erneut gegen die Gefängnisordnung verstößt. Manning werden im Zusammenhang mit ihrem Suizidversuch bedrohliches Verhalten, der Besitz verbotener Gegenstände und der Widerstand gegen Gefängnisper­sonal vorgeworfen.

Solidaritätsgruppen befürchteten, dass solche Restriktionen das Leben der psychisch angeschlagenen Gefangenen gefährden könnten. »Chelsea braucht unsere Solidarität«, lautete ihr Motto. Diese war zumindest in Deutschland nach ihrer Verurteilung schnell zurückgegangen. Im Fokus der Berichterstattung über Whistleblower standen eher zwei Männer: der Wikileaks-Gründer Julian Assange, der durch ­seine Nähe zu rechten Populisten und wegen Vergewaltigungsvorwürfen zweier ehemaliger Unterstützerinnen viel Sympathie bei Linken eingebüßt hat, und Edward Snowden, der auf ­Anraten von Wikileaks im russischen Exil gelandet ist und in Deutschland als Kronzeuge für eine weltumspannende Überwachungspolitik der USA an­geführt wurde. Chelsea Manning hingegen wurde oftmals vergessen. Nach ihrem ersten Suizidversuch hatte der Chaos Computer Club (CCC), dessen Ehrenmitglied Manning ist, ihre Begna­digung gefordert. Er unterstützte wie andere Solidaritätsgruppen in aller Welt das Gnadengesuch, das Manning an Präsident Barack Obama richtete. »Ich brauche Hilfe. Ich durchlebe einen Zyklus von Angst, Wut, Hoffnungslosigkeit, Verlust und Depression«, schrieb die Gefangene. Bereits 2012 hatte der UN-Berichterstatter Juan E. Méndez die Bedingungen der achtmonatigen Haft Mannings im Militärgefängnis in Quantico als Folter kritisiert.

Vergangene Woche hat der scheidende US-Präsident Obama Manning schließlich begnadigt, am 17. Mai soll sie freikommen. Das ist ein Sieg im Kampf gegen unwürdige Haftbedingungen, nach ihrer Freilassung kann aber auch wieder die Auseinandersetzung mit dem im Mittelpunkt stehen, was sie in Haft gebracht hatte. Manning hatte durch die Veröffentlichung von Dokumenten geheimgehaltene Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak öffentlich bekannt gemacht, sie kann als Beispiel für antimilitaristischen Widerstand begriffen werden.

Das harte Urteil gegen Manning hatte weltweit Empörung ausgelöst. Doch fände sie in Deutschland Nachahmer, würden diese ebenfalls hart bestraft werden, während beispielsweise der Oberst Georg Klein, der für den Tod von über 90 Zivilisten bei einem Militäreinsatz im afghanischen Kunduz verantwortlich war, von der Bundeswehr befördert wurde. Die Begnadigung durch Obama kritisierten dessen Gegner als Verrat an der nationalen ­Sicherheit. Der Straferlass stellte wohl vor allem den Versuch dar, sich von der künftigen Präsidentschaft Donald Trumps abzugrenzen.

http://jungle-world.com/artikel/2017/04/55621.html

Peter Nowak

Widerspruch: Sowjetunion

Der französische Soziologe Charles Bettelheim kritisierte in den 70er Jahren die Sowjetunion aus einer kommunistischen Perspektive. Die Bände 3 und 4 seines Hauptwerks sind nun auch auf Deutsch erschienen.

Zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution wird uns eine Flut von Büchern erwarten, deren AutorInnen uns erklären werden, warum die Oktoberrevolution von Anfang an ein Verbrechen war. Charles Bettelheim gehörte nicht dazu. Der französische Soziologe hatte Bekanntheit errungen als linker Kritiker der Sowjetunion und des Realsozialismus und machte dabei immer deutlich, dass sein Ziel ein wirklicher Sozialismus ist. Eine Apologie der kapitalistischen Verhältnisse lag dem 1903 in Paris geborenen und dort 2006 verstorbenen engagierten Intellektuellen fern. Bettelheims besondere Stärke war seine profunde Kenntnis der ökonomischen Verhältnisse in der Sowjetunion und den realsozialistischen Staaten. Er begründete nicht moralisch, sondern mit seiner profunden Marx-Kenntnis, den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität in der realsozialistischen Ökonomie. Wer heute das nur noch antiquarisch erhältliche 1970 erschienene Buch «Ökonomisches Kalkül und Eigentumsformen» liest, bekommt eine gute Einführung in die präzise Argumentationsweise von Bettelheim. Dort weist er überzeugend nach, dass es falsch ist, Sozialismus mit Planwirtschaft und Verstaatlichung sowie Kapitalismus mit Markt gleichzusetzen. Bettelheim weist darauf hin, dass die formaljuristische Ebene noch keinen Aufschluss über die realen Produktionsverhältnisse gibt und Staatseigentum keine wirkliche Vergesellschaftung bedeutet. Es können auch in einer verstaatlichen Ökonomie kapitalistische Produktionsverhältnisse vorherrschen, so Bettelheims auf Texte von Marx und Engels gestützte Argumente.

Eine Form von Staatskapitalismus

In dem kürzlich im kleinen Berliner Verlag «Die Buchmacherei» erstmals in deutscher Sprache herausgegebenen Bände 3 und 4 seinen Monumentalwerkes «Klassenkämpfe in der UdSSR» spitzt Bettelheim seine Kritik am sowjetischen Modell fort. Er ezeichnet es als einen Staatskapitalismus, der weiterhin auf Ausbeutung von Arbeitskraft basiert. Dabei kann sich der Soziologe nicht nur auf Marx, sondern auch auf Lenin berufen. Der hat mehrmals erklärt, dass die Bolschewiki in der Sowjetunion nicht den Sozialismus aufbauen, sondern den Kapitalismus entwickeln müssen. Das war nun keine miese Finte der Bolschewiki oder gar ein Betrug an den  Massen, die die Revolution gemacht haben. Diese Entwicklung war vielmehr der tragischen Einsamkeit der Bolschewiki geschuldet. Nachdem alle anderen Räterepubliken blutig zerschlagen worden waren, sollte ausgerechnet das kapitalistisch noch kaum entwickelte Russland das Modell für den Aufbau des Sozialismus werden. Während Lenin diese Widersprüche noch benannte und sogar einmal davon sprach, dass eine neue kommunistische Partei gegründet werden müsste, die die ursprünglichen Ideen der Revolution nun gegen die Staatspartei erkämpfen müsse, haben seine NachfolgerInnen diese Widersprüche zunächst ausgeblendet und dann in der Stalin Ära blutig unterdrückt. Die ersten Opfer wurden die ArbeiterInnen und die Mitglieder der Bolschewiki. Bettelheim weist  überzeugend nach, wie mit der Etablierung eines besonderen Typs von Staatskapitalismus in der UdSSR die ArbeiterInnen mehr und mehr entmachtet wurden. Dabei macht er aber auch deutlich, dass dieser Prozess keineswegs reibungslos vor sich ging und sich grosse Teile der bolschewistischen AktivistInnen gegen diesen Kurs wehrten.

Klassengesellschaft neuen Typs

Die profunden Kenntnisse der sowjetischen Verhältnisse und besonders der Ökonomie zeigen sich da, wo Bettelheim die Debatte über die BetriebsleiterInnen nachzeichnet. Die hatten nach der Revolution massiv an Autorität eingebüsst. Statt dessen haben die Arbeiterkomitees viel Einfluss gehabt, der immer mehr beschnitten wurde, doch auch dieser Prozess war keineswegs linear. Wenn die ArbeiterInnenrechte zu stark eingeschränkt wurden, initiierte die Partei wieder eine Kampagne gegen die Macht der TechnikerInnen. Zudem wurden die Gewerkschaften aufgefordert, die Interessen der ArbeiterInnen besser zu vertreten. Ob solche Kampagnen reiner Populismus waren oder ob sie auch ein Ausdruck der improvisierten Politik der Bolschewiki war, die gegenüber ihrem eigenen Selbstbild und der Propaganda oft reagierten, lässt Bettelheim offen. Sehr differenziert betrachtet Bettelheim auchdie Stachanow-Bewegung. Dabei habe es sich zu nächst um eine Initiative gehandelt, die bei Segmenten der FacharbeiterInnen entstanden ist, die die Möglichkeiten der ArbeiterInnenmacht nutzten, die es nach der Oktoberrevolution gegeben hat. Doch bald wurde diese Initiative von der Staatspartei vereinnahmt und verfälscht. Auf einmal wurden überall Stachanow-Wettbewerbe ausgerufen, die meist keinerlei Erfolge brachten. So wurde eine Initiative von unten abgewürgt. Teile des Proletariats reagierten darauf allergisch, weil damit die Arbeitsnormen erhöht wurden. Bettelheim kommt auch zu dem Schluss, dass die bolschewistische Basis durchaus aus einem Teil der FacharbeiterInnen bestand. Es gab erfolgreiche Kampagnen, um mehr ArbeiterInnen in die Partei aufzunehmen. Allerdings sei ein Teil der Neumitglieder gleich in Funktionärsposten aufgerückt und habe sich so von der proletarischen Herkunft entfernt. Bettelheim zeigt auch auf, dass das Nomenklatura-System hierarchisch gegliedert war und es unterschiedliche Zugänge zu Vergünstigungen aller Art gab. So bildete sich eine Klassengesellschaft neuen Typs heraus. Ein Teil der alten FacharbeiterInnen wurde zur Nomenklatura und beutete andere ArbeiterInnensegmente aus, die oft erst aus der Landwirtschaft mehr oder weniger  freiwillig abwanderten. Die rigide Politik gegen die Bäuerinnen und Bauern erinnert auch an die ursprüngliche Akkumulation im Kapitalismus, wo das Bauernlegen ein wichtiger Bestandteil dafür war. Diese Aspekte werden von Bettelheim in klarer Diktion benannt und werden für eine hoffentlich kontroverse Debatte sorgen.

Einfluss der Neuen Philosophie

Doch leider bleibt das Buch nicht bei einer kommunistischen Kritik an der Sowjetunion stehen. An mehreren Stellen wird der Westen gelobt und gerade im zweiten Teil wird in eindeutig totalitarismustheoretischer Art und Weise über die Sowjetunion gesprochen. Hier wird deutlich, dass das Buch zumindest im zweiten Teil zunehmend von der sogenannten Neuen Philosophie kontaminiert ist, die sich bald als Vorkämpferin des freien Westens gegen den östlichen Despotismus aufspielte. Solche Töne kommen auch bei Bettelheim vor allem im hinteren Teil des Buches vor. Da hat er sein Fachgebiet verlassen und allerlei Theoriefragmente der Neuen Philosophie verwendet, deren Ziel ein Kampf gegen alle Formen linker Politik war. Einige der in dem B uch häufig zitierten WissenschaftlerInnen haben später das berüchtigte Schwarzbuch Kommunismus herausgegeben. So zeigt sich an diesem Buch ein zweifacher Bettelheim: Der präzise argumentierende mit profunder Marx-Kenntnis operierende Ökonomund der von der Neuen Philosophie beeinflusste Totalitarismustheoretiker.

Peter Nowak

CHARLES BETTELHEIM: KLASSENKÄMPFE IN DER UDSSR – BAND 3 UND 4. DIE BUCHMACHEREI, BERLIN 2016. 24 EURO

aus: vorwärts – 20. Jan. 2017

Ditib als Bauernopfer

Während die deutsch-türkische Partnerschaft bei der Flüchtlingsabwehr und gegen Linke reibungslos läuft, streitet man sich über einen Moscheeverein

Seit Monaten fordern Flüchtlings- und Menschenrechtsgruppen, dass die Bundesregierung das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei aussetzen soll. Es entspricht schon im Allgemeinen nicht den menschenrechtlichen Standards und droht das Asylrecht auszuhebeln. Dass nun in der Türkei der Weg in eine islamistische Präsidialdemokratur fortgesetzt wird, ist ein weiterer Grund für die Forderung, das Abkommen, das nie hätte geschlossen werden dürfen, aufzukündigen.

Doch in der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien stoßen diese Forderungen auf taube Ohren. Dort ist Flüchtlingsabwehr gerade im Wahljahr oberster Grundsatz und dafür taugt auch ein Erdogan noch genug. Dafür werden Ersatzdiskussionen geführt. Dazu gehört die wochenlange Auseinandersetzung über den türkischen Moscheeverband Ditib[1].

Keine Frage, für Anhänger einer säkularen Gesellschaft ist ein solcher Verband ein Anachronismus und es wäre eigentlich begrüßenswert, wenn sein Einfluss reduziert würde. Besser noch, es würden gesellschaftliche Verhältnisse entstehen, in denen ein solcher Verband wie alle religiösen Institutionen mangels Nachfrage absterben würden. Das wäre ein Zustand, in dem die Menschen nicht mehr Religion als „Opium des Volkes“ benötigten, wie es Karl Marx mal ausdrückte.

Doch wir leben heute in Zeiten, in denen die Subalternen mehr Betäubungsmittel denn je brauchen und der Islam ist nur eines davon. Das liegt auch daran, dass emanzipatorische Auswege aus den herrschenden Verhältnissen scheinbar nicht bestehen. Dann betäuben sich die Menschen besonders oft mit allen möglichen Opiaten, die nicht immer religiöser Natur sein müssen. Wenn die Diskussion um die Ditib in einem solchen Kontext stehen würde, würde sie in eine emanzipatorische Richtung laufen.

Aber die aktuelle Dauerdebatte ist in Wirklichkeit ein Ablenkungsmanöver. Auf die Ditib wird eingeprügelt, weil man so den konservativen Wählern suggerieren kann, dass man starke Worte gegen die Türkei findet. Als Hauptsache bleibt, dass der Flüchtlingsdeal mit der Türkei weitergeht. Auch viele der schärfsten Türkei-Kritiker finden es ganz in Ordnung, dass die Türkei mit dafür sorgt, dass Migranten gar nicht erst in den EU-Raum gelangen.

Aktuell regt man sich darüber auf, dass Ditib-Mitglieder angeblich Informationen über Gülen-Mitglieder an die türkischen Behörden geschickt haben. Hat Ditib diese Informationsweitergabe zugegeben, wie es deutsche Medien berichteten,[2] oder hat ein Ditib-Vertreter die Vorwürfe nur ernst genommen, wie es der Moscheeverein selber behauptet[3]?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Vorwürfe stimmen. Nach dem Putschversuch in der Türkei galt Gülen als Staatsfeind Nummer eins. Da es lange Zeit eine Kooperation mit den herrschenden Islamisten gab, ist auch sehr wahrscheinlich, dass die Moscheen die Orte waren, an denen sich die nun verfeindeten Glaubensbrüder noch regelmäßig trafen. Es wäre da nur logisch im Sinne der türkischen Staatsraison, dass dort nach Gülen-Mitgliedern gefahndet wurde.

Es ist aber unverständlich, warum das so auf besonders große Aufregung stößt. Bis heute ist unklar, wie groß die Rolle der Gülen-Bewegung beim gescheiterten Putschversuch war. Selbst erklärte Erdogan-Gegner betonen in der Regel, dass die Gülen-Bewegung einen wichtigen Anteil daran hatte. Natürlich wird diese Bewegung jetzt vom Erdogan-Regime zum omnipräsenten Hauptfeind aufgeblasen.

Damit soll auch vergessen gemacht werden, dass die Gülenbewegung und die Islamisten um Erdogan jahrelang gemeinsam Oppositionelle verfolgt und mit Kampagnen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt haben. Die Massenprozesse im letzten Jahrzehnt, als Oppositionelle beschuldigt wurden, einem tiefen Staat anzugehören und für Jahre in Gefängnissen verschwanden, wären ohne die Kooperation zwischen der Gülen-Bewegung und den erdogantreuen Islamisten nicht möglich gewesen.

Nun haben die sich die brothers in crime verkracht und die Gülenbewegung ist unterlegen. Das ist doch eigentlich kein Grund, sich darüber besonders aufzuregen.

Wenn nun die CDU-Vorstandsmitglieder Julia Klöckner und Jens Spahn erklären, dass Ditib kein Partner mehr sein kann und erst ihre Kooperation mit der Türkei lösen müssen, dann wird hier die eigene konservative Agenda bedient. Wie schon bei der Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft wird auch bei der Ditib-Diskussion vorausgesetzt, man könne nur einem Staat gegenüber loyal sein.

Wer noch politisch, kulturell oder religiös mit der Türkei verbunden ist, macht sich da schon mal verdächtig. Hier wird gegen einen islamistischen Nationalismus ein eigener Nationalismus in Anschlag gebracht. Das soll der Union, aber auch der SPD konservative Wähler bringen.

Auch Linkspolitiker wie Sevim Dagdelen[4] bedienen hier Klischees, wenn in verschiedenen Presseerklärungen der Eindruck erweckt wird[5], als stünde Erdogan via Ditib schon in den deutschen Klassenzimmern. Statt den notwendigen Kampf gegen reaktionäre Organisationen wie Ditib in den Kontext einer emanzipatorischen Islamkritik einzuordnen, wird hier das Klischee vom Türken bedient, der diesmal nicht mehr nur vor Wien, sondern schon in deutschen Klassenzimmern steht.

Dabei läuft auf anderem Gebiet die Kooperation zwischen der türkischen und der deutschen Justiz reibungslos. Gegen türkische und kurdische Linke, die oft bereits in ihrer Heimat gefoltert wurden und Jahre in Gefängnissen verbrachten, werden regelmäßig auch Erkenntnisse der türkischen Justiz verwendet.

Aktuelles Beispiel ist der vor einigen Wochen verhaftete Musa Aşoğlu[6], dem sogar die Auslieferung in die Türkei droht. In den Medien wird er zum Terrorfürsten[7] aufgebaut, weil er Mitglied einer linken Organisation ist, die bereits vom türkischen Faschismus gesprochen hat, als viele in Erdogan noch den Garanten einer islamischen Demokratie wähnten.

Die regimenahen türkischen Medien feierten die Verhaftung des Mannes in Hamburg als gelungene Kooperation. Auch die Prozesse gegen vermeintliche Mitglieder einer kleinen türkischen kommunistischen Partei[8] wären ohne die reibungslose deutsch-türkische Kooperation nicht möglich gewesen. Diese deutsch-türkische Partnerschaft will die Bundesregierung genau sowenig beenden wie den Flüchtlingsdeal. Ditib ist da nur ein Bauernopfer.

https://www.heise.de/tp/features/Ditib-als-Bauernopfer-3604641.html

Peter Nowak


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http://www.heise.de/-3604641

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.ditib.de
[2] http://www.tagesspiegel.de/politik/tuerkei-moscheeverband-ditib-bestaetigt-spitzelei-fuer-tuerkischen-staat/19242942.html
[3] http://www.ditib.de/detail1.php?id=560&lang=de
[4] https://www.sevimdagdelen.de/tag/erdogan/
[5] https://www.sevimdagdelen.de/erdogans-ditib-agenten-ausweisen/
[6] http://political-prisoners.net/item/4786-woechentliche-kundgebung-vor-dem-untersuchungsgefaengnis-ug-in-hamburg-fuer-musa-aolun.html
[7] http://www.mopo.de/hamburg/polizei/musa-asoglu-verhaftet-was-wird-jetzt-aus-dem-terror-fuersten–25249036
[8] https://www.tkpml-prozess-129b.de/de/

Der Trumpismus, seine Claqueure und Gegner

Anmerkungen zu einer neuen Politikform und der deutschen Querfront
Eins hat der künftige Präsident der USA schon geschafft. Obwohl er noch gar nicht im Amt war, wurde bereits eine Politikform nach ihm benannt. Der Begriff des Trumpismus wurde in vielen Medien[1] seziert. Dabei wusste niemand so genau, was dieser Trumpismus eigentlich sein soll.

„Ist es fair, Donald Trump aus der Ferne zu analysieren?“, fragte[2] denn auch Die Zeit. Damit wird das Problem des Trump-Diskurses der letzten Wochen auf den Punkt gebracht. Da Trump als rechter Populist immer das sagt, was das jeweilige Publikum seiner Zielgruppen von ihm hören will, kann es auch keine Definition des Trumpismus geben. Auch da kann jeder etwas Anderes rein interpretieren.

Querfront für Trump

Das erklärt, warum autoritäre Linke wie Rainer Rupp[3] durchaus Hoffnung in Trump setzen. Ausgerechnet vor einem Bild von Karl Marx[4], der die Globalisierung zu den Positiva der historischem Rolle des Kapitalismus zählte, lobt Rupp den angeglichen Globalisierungsgegner Trump. Besonders erfreut ist der Putin-Freund Rupp darüber, dass Trump mit Russland gut kooperieren will.

Nun könnte man dem ehemaligen Nato-Spion Rupp viel Spaß bei seiner Reise zum „Magazin für Souveränität“, Compact, wünschen. Doch es gibt im Lager der autoritären Traditionslinken durchaus mehr Sympathie für Trump, die aber bisher eher leise geäußert wird, weil viele noch unsicher sind, ob Trump seine Ankündigen überhaupt ernst meint. Doch sollte er sich mit Putin verständigen, könnte sich die Querfront zwischen Trumpisten und Teilen der autoritären Linken noch deutlicher manifestieren. Da wird wieder ein Lagerdenken bedient.

Auch die erklärten Trump-Gegner in Deutschland und in anderen Ländern bereiten sich schon ideologisch darauf vor, indem sie den USA unter Trump eine von Deutschland angeführte westliche Welt entgegensetzen. „Nur Merkel kann die Implosion des Westens verhindern“, schrieb[5] Alan Posener bereits Mitte November.

Diese These wird seitdem auch von deutschen Politikern wiederholt. Hier zeichnet sich schon eine Entwicklung ab, die unter Reagan und Bush ihre Anfänge genommen hat. Eine von Deutschland geführte EU will sich im Kampf mit den USA als letzte Verteidigerin der westlichen Werte gerieren. Dieser deutschen Triumph, 72 Jahre nach der totalen Niederlage, wird nur von Traditions-Rechten wie Björn Höcke noch immer nicht begriffen, der in seiner berüchtigten Dresdner Rede auch von einer „gegenderten Bundeswehr“, die Befehlsempfängerin der US-Politik sei, schwadroniert.
Schon Streit über Anti-Trump-Proteste

Während ein Lager der Grünen wie auch Sozialdemokraten und Teile der Konservativen zum Kampf der westlichen Werte gegen Russland aufrufen, als stünden wir erneut vor dem 1. Weltkrieg, haben manche Traditionslinke keine andere Antwort als eine Apologie Putins und ihre Hoffnung auf eine Achse Putin-Trump. In dieser Gemengelage gibt es auch über die ersten Proteste gegen Trump schon Zoff.

In den USA mobilisiert eine Koalition gegen Trump[6]. Diese Idee wurde von einen globalen Bündnis aufgerufen[7], das Trump als Vorreiter eines sich weltweit auf dem Vormarsch befindlichen Rechtspopulismus versteht. Daher soll heute in Berlin im Rahmen dieses Bündnisses[8] auch vor der Berliner AfD-Zentrale demonstriert werden.

Ausdrücklich distanziert von diesen Protesten hat sich die DKP[9], die sich von Trumps rassistischer Innenpolitik distanziert, ihn aber in der Außenpolitik noch als unentschieden bezeichnet. In der Neuen Rheinischen Zeitung, einem weiteren Querfront-Projekt von Traditionslinken, werden die Anti-Trump-Proteste als „Teil der anti-russischen Massenhysterie, die in den USA seitens der Wahlverlierer geschürt wird und die ihr Echo in den untertänigen NATO-Ländern findet“, bezeichnet[10].

In der NRZ macht man sich gar nicht mehr die Mühe, sich von Trumps Rassismus zu distanzieren, dafür wird völlig willkürlich noch ein Seitenhieb gegen George Soros ausgegeben. Die Klientel versteht, die reiche Juden sind auch gegen Trump.

„Wait and see!“

Dass die Positionierung vieler Jüdinnen und Juden in den USA gegenüber Trump vor allem davon abhängt, was sie von der Nahost-Politik seines Vorgängers Obama halten, zeigt ein Beitrag[11] von Michael Wolfssohn in der Jüdischen Allgemeinen Zeitung. Er warnt vor Horrorvisionen einer Ära Trump, spart sich aber auch jegliche Vorschlusslorbeeren. Sein abgeklärter Schluss lautet:

Man muss kein Trump-Fan sein, um festzustellen: Horror-Vorhersagen gehören zum menschheitsgeschichtlich üblichen und längst bekannten Getöse. Sie stammen von schlechten Verlierern und besonders von den jeweils entmachteten Gegeneliten und ihren Anhängern. Unter „Eliten“ sind Positions- und Meinungseliten zu verstehen. Gleiches gilt für unkritisch übernommene Horror-Überlieferungen. Sie stammen von den zuvor entmachteten und dann an die Macht zurückgekehrten Positionseliten. Und Trump? Wait and see!
Michael Wolfssohn[12]

Diesen Grundsatz hätten auch die meisten Autorinnen und Autoren beherzigen sollen, die in den wenigen Wochen zwischen der Wahl und der Amtseinführung von Trump bereits ihre Bücher auf dem Markt geworfen haben. Eine der wenigen Ausnahmen ist das kleine Büchlein des Kulturkritikers Georg Seeßlen (siehe: Donald Trump: Populismus als Politik[13], das im Verlag Bertz + Fischer[14] veröffentlicht wird.

Dort wird Trump überzeugend als Produkt der Kulturindustrie dargestellt. Dabei wird auch deutlich, wie stark sowohl Bewunderer als viele Gegner von Trump auf Inszenierungen hereinfallen. Das zeigt Seeßlen besonders deutlich im Kapitel „Spiel im Thronsaal – Eine Bildbetrachtung“, wo Trump, seine Frau und sein jüngster Sohn in einem spätfeudalistischen Ambiente zu sehen sind.

Danach gab es in den Medien viel Häme über den schlechten Geschmack der Trump-Familie. Seeßlen beschreibt das Bild detailreich auf 20 Seiten und beendet das Kapitel mit folgender Auflösung: „Die Bildunterschrift bei Getty Images besagt: ‚Melanie, Donald and Barron Trump at Home Shoot (this Image is been retouched). Donald Trump is wearing a suit tie by Brioni, Melanie Trump is wearing a dress by Halston, shoes by Manolo Blahnik, makeup by Mykel Renner for Kett Cosmetics and hair by Mordechia for Yarohair.com. Barron Trump is wearing a jackts and pants by Papo d’Anjo, shirt by Leon and shoes by Todds‘.“

Georg Seeßlen kommentiert diese Inszenierung: „Wir haben vielleicht zu viel gesehen. Es war alles bloß Reklame. Diesen Donald, diese Melanie und diesen Barron Trump gibt es gar nicht. Sie sind Erfindungen der Design-Industrie. Das erklärt manches.“ Dieser Kommentar könnte auch auf den Wahlkampf und auf fast alles, was bisher zu Trump und seinem Umfeld öffentlich wurde, ausgedehnt werden.

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http://www.heise.de/-3604037
https://www.heise.de/tp/features/Der-Trumpismus-seine-Claqueure-und-Gegner-3604037.html

Peter Nowak
Links in diesem Artikel:
[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/amerika/das-geheimnis-von-donald-trumps-erfolg-13730711.html
[2] http://www.zeit.de/2016/36/psychologie-donald-trump-ferndiagnose/seite-2
[3] https://deutsch.rt.com/meinung/43036-rainer-rupp-us-prasident-trump/
[4] https://deutsch.rt.com/meinung/43036-rainer-rupp-us-prasident-trump
[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article159602280/Nur-Merkel-kann-die-Implosion-des-Westens-verhindern.html
[6] https://www.democraticcoalition.org/the-coalition
[7] http://berlin.carpediem.cd/events/2212416-inauguration-day-protest-no-to-global-trumpism-at-brandenburger-tor/
[8] http://www.no-to-nato.org/2017/01/nein-zum-globalen-trumpismus-zeit-zu-handeln
[9] http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2017/01/erklaerung-der-dkp-berlin-zur-demonstration-am-20-1-nein-zum-globalen-trumpismus/
[10] http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23464
[11] http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/27456
[12] http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/27456
[13] https://www.heise.de/tp/features/Donald-Trump-Populismus-als-Politik-3600997.html
[14] http://www.bertz-fischer.de/product_info.php?products_id=506

»Wir brauchen keine Erlaubnis«

Pietro Perroti schmuggelte eine Kamera in das FIAT-Werk in Turin und dokumentierte das »rote Jahrzehnt« bei dem Autohersteller

Im August 1969 konnte man in einem Artikel der Wochenzeitung »Die Zeit« lesen: »Nach langen Jahren paradiesischen Arbeitsfriedens brach bei Italiens größtem Automobilkonzern, Fiat in Turin, der Krieg aus. Die ›Chinesen‹, so nennt die italienische Presse die Aufrührer, hatten im Frühjahr den Krieg angezettelt. Im Grunde ist es eine Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Kommunismus chinesischer Prägung.«

Der Autor beschrieb damit den Beginn eines Jahrzehnts der Arbeitskämpfe im norditialienischen FIAT-Werk. Die Auseinandersetzung wurde von den Linken in Westeuropa mit großer Sympathie verfolgt. Ging es doch bei den FIAT-Kämpfen nicht nur um mehr Lohn, sondern auch um die Mitsprache der Arbeiter im Betrieb und ihr Recht, Versammlungen abzuhalten.

»Wir wussten, dass uns keine Gewerkschaft und keine Partei rettet, sondern dass die Arbeiter selber für ihre Rechte kämpfen müssen«, beschreibt Pietro Perroti die damalige Stimmung bei FIAT. Am Dienstag kam der ehemalige Arbeiter zur Deutschlandpremiere des Films »Wir brauchen keine Erlaubnis« nach Berlin.

Perroti ist Protagonist des Films. Als junger Arbeiter zog er nach Turin, um bei FIAT zu arbeiten und politisch aktiv zu werden. Er kaufte sich eine kleine Kamera, die er in die Fabrik schmuggelte, um dort den Arbeitsalltag in Bild und Ton festzuhalten. Dieses wichtige Zeugnis der Arbeitermilitanz, an der sich Zehntausende über Jahre beteiligten, ist nun mit Untertiteln auch in Deutschland zu sehen.

Viele der FIAT-Beschäftigten kamen damals wie Perroti aus Sizilien und gerieten mit den Normen des rigiden Fabrikregimes in Konflikt. »Immer wieder wurden Kollegen beim Verlassen der Fabrik von Aufsehern kontrolliert, nur, weil die Haare zu lang schienen. Überall waren Zäune wie im Gefängnis«, erinnert sich Perroti. Das von ihm kreierte Symbol – ein von starken Arbeiterfäusten auseinander gedrückter Zaun – war häufig zu sehen. Perroti dokumentierte den Aufschwung der Bewegung, als die Bosse in die Defensive gerieten und Zugeständnisse machen mussten.

Deutlich wird aber auch die politische Vielfalt der Kämpfenden, die nicht konfliktfrei blieb. Während Unterstützer der Kommunistischen Partei, die sich schon damals sehr staatstragend gab, ihren Vorsitzenden bei einer Rede zujubelten, setzten viele linke Gruppen auf die Selbstorganisation. Auch eine Fabrikguerilla, die militante Aktionen durchführte, hatte in der Fabrik Unterstützer.

Ende der 1970er Jahre schlugen Staat und Konzernleitung zurück. Während die Justiz zunehmend auch gewerkschaftliche Kämpfe verfolgte, wollte das FIAT-Management mit Massenentlassungen die Ordnung im Betrieb wieder herstellen. Höhepunkt war ein von ihnen gesponserter Marsch der »Schweigenden Mehrheit«. Mit italienischer Flagge vorneweg demonstrierten sie für das Ende der Arbeitskämpfe. Hier zeichnete sich die historische Niederlage der Turiner Arbeiteraktivisten ab. »Ich habe diesen Film gemacht, damit die Arbeiter, die die Kämpfe führten, nicht vergessen werden«, erklärte Perroti. Der Film hat jedoch nicht allein historischen Wert: Im Logistiksektor in Norditalien werden auch aktuelle Kämpfe von beiden Seiten mit großer Härte geführt.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1039141.wir-brauchen-keine-erlaubnis.html

Peter Nowak

Polen: Barbara Rosolowska braucht unsere Solidarität

Gerichtsprozess gegen Scheinselbständigkeit

Die Zahl der polnischen Carebeschäftigten, also der im Gesundheitsbereich Tätigen in Deutschland wächst. Schließlich ist das Lohngefälle zwischen beiden Ländern groß.

Auch die Hebamme Barbara Rosolowska könnte mit dem Zug aus ihrem westpolnischen Wohnort in knapp 80 Minuten in Berlin sein. Doch sie nimmt eine deutlich schlechtere Zugverbindung und einen dreimal geringeren Lohn in Kauf und arbeitet weiter im polnischen Gorzów.

Dort könnte sie jetzt im Arbeitsrecht etwas bewegen. Rosolowska klagt vor dem Arbeitsgericht Gorzów gegen die Klinik, in der sie seit Jahren arbeitet. Doch wie Tausende Carebeschäftigte ist sie selbständig. Mit ihrer Klage will sie erreichen, dass die Klinik ihren Vertrag als Selbständige in einen regulären Arbeitsvertrag unwandelt. Damit will sie nicht nur ihre eigene Arbeitssituation verbessern. «Meine Klage wird von den Medien in Polen und auch von meinen Kolleginnen sehr genau verfolgt», betont die Hebamme.

Dass sie bisher als einzige klagt, begründet sie mit der Angst vieler Kolleginnen vor den Konsequenzen. Sie sind auf ihren Arbeitsplatz angewiesen, und wenn sie keine Aufträge mehr haben, bleibt ihnen, nach Deutschland oder in ein anderes EU-Land auszuweichen. Wer das nicht will, nimmt oft in Kauf, auf eigene Rechte zu verzichten.

Eine Kollegin von Rosolowska sagte unter Tränen gegenüber der Richterin des Arbeitsgerichts aus, warum sie eingewilligt hat, als Selbständige zu arbeiten, auch wenn es für sie ungünstig ist: «Was hätte ich denn machen sollen? Nach 23 Jahren wurde ich entlassen und das war die einzige Bedingung, unter der ich eingestellt wurde!» Die Richterin erwiderte darauf: «Sie sind hier vor Gericht, halten sie ihre Emotionen im Zaum!»

Das ist kein Einzelfall, weiß Rosolowska: «Es gibt Schwestern und Hebammen, die 12-Stunden-Schichten schieben und kaum einmal frei machen. Damit gefährden sie nicht nur ihre Gesundheit.» Sie will aber weder diese Arbeitsbedingungen akzeptieren noch im Ausland arbeiten. Deshalb hat sich die couragierte Frau in der kämpferischen Gewerkschaft Arbeiterkommission (IP) organisiert, die schon bei der Organisierung von Beschäftigten am Amazon-Standort Poznan für Schlagzeilen sorgte.

Gewerkschaften gespalten

Noch ist die IP klein, und die anderen Gewerkschaften sind keineswegs mit kämpferischen Beschäftigten solidarisch. So hat ein Vertreter der Gewerkschaft Solidarnosc, die gegenwärtig die rechte PiS-Regierung unterstützt, vor dem Arbeitsgericht gegen Rosolowska agiert, in dem er betonte, er habe keine Probleme mit der Selbständigkeit, die sei vom polnischen Zivilrecht gedeckt. «Leider ist die Gründung einer einheitlichen Gewerkschaft für die Beschäftigten im Gesundheitswesen in Polen bisher gescheitert», erklärt auch Norbert Kollenda, der in Attac-Berlin für die Kontakte zu den sozialen Bewegungen nach Polen zuständig ist.

In der letzten Zeit hat er sich vor allem der Kooperation mit Basisgewerkschaften gewidmet. Über die Onlineplattform Labournet rief Kollenda zur solidarischen Begleitung des Arbeitsgerichtsprozesses von Rosolowska auf. Die Resonanz war bescheiden, aber die Unterstützung wurde vom Arbeitsgericht und den polnischen Medien durchaus wahrgenommen. Mittlerweile hat sich auch die Transnational-Strike-Plattform dieser Unterstützung angeschlossen. Sie hat sich im Kontext der Blockupy-Proteste gegründet und unterstützt transnationale Arbeitskämpfe.

Anfang Dezember hat die Plattform Barbara Rosolowska und ihren ebenfalls in der IP aktiven Mann Jacek zu einer Veranstaltung nach Berlin eingeladen. Leider fehlten die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten aus dem Berliner Caresektor, die in der letzten Zeit an der Berliner Charité für bessere Arbeitsbedingungen gekämpft und auch gestreikt haben. Doch die Transnational-Strike-Plattform hat das Thema weiter auf ihrer Agenda.

Am 17.Januar wird das Arbeitsgericht in Gorzów über die Klage von Rosolowska entscheiden. Gewinnt sie den Prozess, könnten Tausende Solobeschäftigte im Carebereich feste Arbeitsverträge einfordern. Verliert sie den Prozess, will sie den Instanzenweg gehen. Es gibt also genügend Gelegenheit, auch in Deutschland die Solidarität über die Oder hinweg auszudrücken. Eine solche transnationale Solidarität ist umso notwendiger in einer Zeit, in der in Polen sich selbst links nennende Parteien Sparprogramme und Privatisierung gnadenlos durchgesetzt haben, während eine nationalkonservative Regierung mit einigen Sozialprogrammen durchaus auch unter den Beschäftigten auf Zustimmung stößt.

Polen: Barbara Rosolowska braucht unsere Solidarität

Soz Nr. 01/2017 |

von Peter Nowak

Lebenswichtiger Sieg für Mumia Abu Jamal

Der seit mehr als 35 Jahren inhaftierte US-Journalist Mumia Abu Jamal hat einen für ihn lebenswichtigen juristischen Erfolg errungen: Seine schwere Hepatitis-Erkrankung muss behandelt werden und er erhält ein neues Medikament. Menschenrechtsgruppen fordern eine Verstärkung der internationalen Solidarität.

Menschenrechtsaktivisten in den USA sprechen von einem bahnbrechenden juristischen Urteil, das der seit 1981 inhaftierte US-Journalist Mumia Abu Jamal kürzlich errungen hat. Der Bundesrichter Robert Mariani hat per Einstweiliger Verfügung angeordnet, dass Jamal mit einem neuen Medikament gegen seine lebensbedrohliche Hepatitis-Erkrankung behandelt werden muss. In dass Präparat setzen Hepatitis-Patient_innen große Hoffnungen, es verspricht eine Heilungschance von über 95 Prozent. Das wäre ein großer medizinischer Durchbruch, führten doch Hepatitis-Erkrankungen in der Vergangenheit oft zum Tode. Darüber hinaus gibt die aktuelle Gerichtsentscheidung auch Hoffnung für viele unbekannten Patient_innen in US-Gefängnissen.

Seit fast zwei Jahren ist bekannt, dass Mumia Abu Jamal an Hepatitis erkrankt ist. Erst als sich der Journalist bereits in lebensbedrohlichen Zustand befand, wurde er überhaupt behandelt. Doch weigerte sich die Gefängnisleitung, das neue Medikament in die Therapie einzubeziehen, weil es sehr teuer ist. Die Anwälte Robert Boyle und Bret Grote gingen vor Gericht und wurden dabei erneut von einer internationalen Solidaritätsbewegung unterstützt, die dazu beigetragen hat, dass der Gefangene noch am Leben ist. Dass der kritische Journalist zum Ehrenbürger von Paris ernannt wurde und Ehrenmitglied der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ist, sind Zeichen dieser weltweiten Solidarität.

Der Afroamerikaner war 1982 in einem Indizienprozess von einer nur mit Weißen besetzen Jury des Mordes  an den Polizisten Daniel Faulkner schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt worden. Intensive Recherchen von Jurist_innen und  Solidaritätsgruppen sorgten dafür, dass das Todesurteil aufgehoben werden musste. Doch die Forderung nach einem erneuten Gerichtsprozess, bei dem später gefundene Entlastungsbeweise vorgelegt werden könnten, wird von den US-Behörden bis heute abgelehnt. Mumia blieb in Haft.

Das jüngste Urteil wird von Menschenrechtsgruppen auch deshalb gefeiert, da es bisher zur gängigen Praxis gehörte, dass Gefangene in den USA sterben, weil ihnen aus Kostengründen lebensrettende Medikamente verweigert werden. In einem Interview mit dem Medienprojekt Prison-Radio sagte Mumia Abu Jamal selbst: „Ich denke an all die Gefangenen, die an Hepatitis C erkrankt sind und nun Hoffnung haben. Ich denke an diejenigen, die an Hepatitis C starben, weil ihnen nicht geholfen wurde“. Menschenrechtler_innen weisen darauf hin, dass die Law-and-Order-Fraktion unter einer Trump-Administration noch erstarken werde. Internationale Solidarität dürfte also noch wichtiger werden.

Lebenswichtiger Sieg für Mumia Abu Jamal

12. Januar 2017 von Peter Nowak

Bedrohter Freiraum in Ljubljana

Die slowenische Hauptstadt plant auf dem Gelände des autonomen Zentrums ROG ein neues Museum

Sollte das soziale Zentrum ROG geräumt werden, würde dies eine Lücke in die Subkultur Ljubljanas reißen. Zumal sich ein weiterer Freiraum, das Metelkova, zu einem Ort unpolitischer Partys entwickelt hat.

Ein Fahrrad über dem Eingang ist zum Symbol für das selbstverwaltete Zentrum ROG mitten in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana geworden. Nur knapp 500 Meter von der zentralen Löwenbrücke entfernt, die für Touristen das Tor zur Altstadt bedeutet, hat man vom geräumigen Garten des ROG einen guten Blick auf den Fluss Ljubjanica. Die große hintere Hausfassade macht deutlich, wie geräumig das ehemalige Fabrikgelände ist. Bereits 1871 wurde dort eine Gerberei errichtet, die bis in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts zu den Hauptproduzenten für Lederwaren wurde. Hauptabnehmer waren neben Armee und Marine auch viele europäische Länder.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Lederfabrik verstaatlicht. In den 1950er Jahren veränderten die Geschäftsführer die Produktpalette, und die Fabrik erhielt dadurch einen neuen Namen und ein neues Symbol, das die heutigen Nutzer noch immer hochhalten: In der Fabrik wurden Fahrräder der Marke ROG produziert, was auf Deutsch Horn heißt. In einer Ausstellung, die zurzeit im Städtischen Museum von Ljubljana zu sehen ist, wird die Geschichte der Industrie in und um die slowenische Hauptstadt ausführlich dargestellt.

In einem Film der Ausstellung werden über 20 Beispiele für die aktuelle Deindustrialisierung der Region gezeigt. Dabei werden Aufnahmen von der Fabrik in ihren Hochzeiten der Produktion mit Bildern kontrastiert, wie sich die Gebäude heute darbieten. Meistens sind leere Fabrikgebäude zu sehen. Einzig beim ROG wird in dem Film darauf hingewiesen, dass auf dem Areal ein autonomes Sozialzentrum entstanden ist und sich die aktuellen Nutzer mit der Geschichte des Gebäudes auseinandersetzen.

»Wir hatten Glück, dass hier zum Schluss Fahrräder produziert wurden«, meint der 18-jährige Andrej. Er fährt mit seinem bunten Rennrad auf dem Gelände herum. »Das Fahrrad ist für uns Jugendliche ein Symbol für Freiheit und Autonomie«, meint der Schüler, der seit Jahren im ROG mitarbeitet. Mit der früheren Lederfabrik dagegen kann sich der Veganer nicht identifizieren. Er und seine Freunde gehören zu einer Gruppe von Tierrechtlern, doch das ROG sehen sie hauptsächlich als Freiraum und Ort für Partys und kulturelle Aktivitäten. Das ist auch das Anliegen der meisten anderen Nutzerinnen und Nutzer.

Die Spuren der künstlerischen Arbeit sind auf den ersten Blick zu erkennen. Im Hof stehen zahlreiche Skulpturen, teilweise kunstvoll aus Draht fabriziert und mit dem Abfall der Konsumgesellschaft garniert. Die Geschichte des Geländes in den letzten zwei Jahrzehnten ist eng mit unterschiedlichen Auffassungen von Kunst und Kultur in der Stadt verbunden.

Politisch engagierte Studierende und Künstler besetzten das ROG

1998 wurde das ROG zum Industriekulturerbe erklärt und damit vor dem Abriss bewahrt. Von einem Forschungsprojekt wurde die Fabrik im Jahr 2000 zum Standort für bildende Kunst, Tanz, Musik und Theater vorgeschlagen. Auf dem Gelände gastierte das vierte internationale Festival junger Künstlerinnen und Künstler und die 17. Biennale für Industriedesign. Danach stand das Gelände allerdings wegen finanzieller Engpässe und Unklarheiten über die weiteren Pläne noch einige Jahre leer. Im März 2006 machten schließlich politisch engagierte Studierende, Künstler und soziale Aktivisten dem Leerstand mit der Besetzung ein Ende.

Sie wollten auf dem Areal auch eine Alternative zu einem anderen städtischen Freiraum schaffen, der sich allerdings längst zur Partymeile entwickelt hat: Nur fünf Minuten vom Zentralbahnhof von Ljubljana entfernt befindet sich das Metelkova. Nach dem Abzug der jugoslawischen Armee wurde das Kasernengelände Anfang der 90er Jahre zum Freiraum für Künstler und Politikaktivisten. Ein Infoladen bot vor allem Texte aus dem libertären und anarchistischen Spektrum an. Doch mittlerweile gehen vom Metelkova kaum noch politische Interventionen aus. Als Konzertort und Partymeile ist das günstig gelegene Zentrum vor allem bei jüngeren Menschen sehr gefragt. Jeden Morgen entsorgen die städtischen Reinigungsdienste die Spuren der Partyleute. Der Service gehört zum Vertrag, den die Nutzer des Metelkova mit den städtischen Behörden geschlossen haben.

Das Metelkova ist längst auch ein beliebter Ort für Touristen geworden, die sich für moderne Kunst und Kultur interessieren. Denn unmittelbar an das Gelände schließt sich das erst vor wenigen Jahren eröffnete Museum für moderne Kunst an, das sich häufig positiv auf die verschiedenen Subkulturen der letzten Jahrzehnte bezieht.

Ein eigener Raum dort ist der slowenischen Punkbewegung gewidmet. In Filmbeispielen kann man sehen, wie sich junge Punks Mitte der 1980er Jahre im Sozialismus jugoslawischer Prägung zurechtfanden und oft auch auf Unverständnis stießen. Ein anderer Raum ist der Band Laibach gewidmet, deren Name schon Teil ihrer umstrittenen Kunstinventionen war. Die Band benutzte bewusst den Namen, den die Stadt in der österreichischen Ära hatte und der nach 1945 verpönt war.

Für manche kulturaffinen Ausstellungsbesucher ist das Metelkova längst ein lebendiges Symbol für Subkultur geworden, bevor sie im Museum ausgestellt wird. Dem ROG droht dagegen die Räumung, um einem weiteren Museum Platz zu machen. Nach den Plänen der Stadtverwaltung soll auf dem Gelände das ROG Contemporary Arts Center entstehen, eine staatlich-private Kooperation, mit der angesagte zeitgenössische Kunst in Ljubljana präsentiert werden soll. Die bisherigen Nutzer sollen nach dem Willen der Stadt verschwinden.

Neonazis griffen das soziale Zentrum ROG an

Ein sogenanntes ROG-Lab am Flussufer soll die Veränderungen rund um das Areal begleiten, so der Plan. Mittlerweile sind die Außenwände des Containers, in dem das Lab sein Domizil haben soll, mit Parolen gegen Gentrifikation und Neonazis verziert. Damit positionieren sich die Nutzer und Unterstützer des ROG gegen die Vertreibungspläne der Stadt ebenso wie gegen die Neonaziszene, die zuletzt mit Attacken auf Geflüchtete und auf unangepasste Linke Schlagzeilen machte.

In den frühen Morgenstunden des 11. Juni 2016 griffen etwa 30 Neonazis das ROG mit Steinen und Böllern an. Mehrere Personen wurden bei der Attacke verletzt. Zuvor hatten sich die Nutzer und Unterstützer erfolgreich gegen einen von den städtischen Behörden eingesetzten Sicherheitsdienst gewehrt, der gemeinsam mit der Polizei das Räumungskonzept umsetzen wollten. Auch der Versuch, einige Gebäude abzureißen, scheiterte bislang an der Gegenwehr der Unterstützer. Schließlich wurde der Sicherheitsdienst vom Gelände vertrieben. Die Nutzer des ROG organisieren mittlerweile einen eigenen Sicherheitsdienst, um gegen Angriffe von Neonazis gerüstet zu sein. Für die Rechtsradikalen ist das ROG nicht zuletzt deshalb ein Angriffsziel, weil das Zentrum ein wichtiger Teil der Infrastruktur für die Flüchtlingshilfe in Ljubljana geworden ist.

In diesen Tagen ist es rund um das ROG ruhig. Nur die Aufkleber und Parolen erinnern an die turbulenten Tage im Juni 2016. Eine Räumung droht aber weiterhin.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1038114.bedrohter-freiraum-in-ljubljana.html

Von Peter Nowak

Flexibel ausgeliefert

Basisgewerkschaften rufen internationale Kampagne zur Vernetzung von Arbeitskämpfen bei Lieferdiensten ins Leben

In den letzten Monaten sorgten Arbeitskämpfe in verschiedenen europäischen Ländern für Schlagzeilen, mit denen Beschäftigte von Lieferdiensten wie Deliveroo und Foodora Erfolge bei der Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen erreichen konnten. Jetzt haben Basisgewerkschaften aus verschiedenen Ländern mit deliverunion eine internationale Solidaritätskampagne zur Vernetzung dieser Kämpfe initiiert. Aus Deutschland beteiligen sich die Basisgewerkschaften Freie Arbeiter Union (FAU) und IWW (Industrial Workers of the World).

Ausgangpunkt des internationalen Solidaritätsprojektes war eine Konferenz in Bilbao, wo Basisgewerkschaften aus aller Welt über eine Neuorientierung debattierten. »Der Wunsch nach mehr konkreten gemeinsamen Projekten, intensiverem Austausch und praktischer Klassensolidarität auch über die Grenzen des syndikalistischen Spektrums hinweg prägten diese Diskussion«, hieß es in einem Kongressbericht. Deliverunion ist eines der beschlossenen Projekte. Dabei soll nicht nur auf Italien und Großbritannien geschaut werden, wo bereits Arbeitskämpfe von Beschäftigten bei Lieferdiensten stattfanden. »Auch in Deutschland haben sich die FahrerInnen bereits selbstorganisiert und sich dabei ohne große Vorkenntnisse bisher sehr klug verhalten«, betont Clemens Melzer, Sprecher der Berliner FAU, gegenüber »nd«. Die Beschäftigten hätten sowohl zu ver.di als auch zur FAU Kontakt aufgenommen.

Melzer sieht gute Chancen, dass sich die Kooperation zwischen den renitenten Lieferdienstfahrern und seiner Gewerkschaft vertieft. Er sieht in den Kämpfen der Lieferdienste Sprengkraft. Ein Pluspunkt sei ihre Internationalität. So nutzen viele der Beschäftigten, die von Deliveroo angebotenen Möglichkeiten, sich in andere Länder versetzen zu lassen. Melzer sieht hierin eine gute Gelegenheit, auch die Erfahrungen über Arbeitskämpfe zu verbreiten. Basisgewerkschaften wie die FAU, die bereits seit langem eine »Foreigner Sektion« besitzt, in der Beschäftigte aus den unterschiedlichsten Ländern organisiert sind, könnten hier eine wichtige Rolle bei der Vernetzung spielen.

Der ver.di-Gewerkschaftssekretär Detlef Conrad ist skeptischer, was die dauerhafte Organisationsbereitschaft der jungen flexiblen Lieferdienstmitarbeiter betrifft. »Für viele ist es zudem nur ein Zweitjob neben dem Studium«, gibt er zu bedenken. Die Dienstleistungsgewerkschaft konzentriere sich auf den Teil der Beschäftigten, die dauerhaft an einen Ort beschäftigt sind, betont er. Bei Deliveroo sei man mit der Organisierung ebenso auf einen guten Weg, wie bei dem Unternehmen Bringmeister. Auch bei den Postzustellern der Pin-AG habe seine Gewerkschaft bereits einen erfolgreichen Arbeitskampf geführt.

Anders als die FAU setzt Conrad nicht auf die jungen, flexiblen Lieferdienstmitarbeiter sondern auf Beschäftigte, die aus gesundheitlichen Gründen die Arbeit nicht mehr leisten können. Meist, weil ihnen nach Jahren auf dem flexiblen Rennrad, der kaputte Rücken einen Strich durch die Rechnung macht. Hier werden Folgekosten für eine krankmachende Arbeit auf die Gesellschaft abgewälzt, meint Conrad, der bei ver.di neben den Lieferdiensten auch für Senioren zuständig ist. Eine eigene bundesweite Verwaltungsstelle nur für die Lieferdienste hält Conrad für denkbar, wenn sich zeige, dass eine relevante Anzahl von Beschäftigten sich bei ver.di organisieren wolle.

Link zur Kampagne:

http://deliverunion.com/

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1037633.flexibel-ausgeliefert.html

Peter Nowak

Das Brexit-Bashing bei Linken und Liberalen geht weiter


Vor allem in Deutschland wird EU-Kritik als moderne Form des Vaterlandsverrats hingestellt

Wenn Linke oder Liberale auflisteten, was ihnen im vergangenen Jahr so besonders sauer aufgestoßen ist, fehlte das Brexit-Votum selten. Die Entscheidung einer knappen Mehrheit der britischen Bevölkerung, sich aus der EU zu verabschieden, rangiert neben der Trump-Wahl und dem internationalen Bedeutungszuwachs von Erdogan und Putin als Indikator für einen weltweiten Rechtsruck.

Nun ist nicht zu bestreiten, dass die Brexit-Kampagne mit großer Mehrheit mit nationalistischen Argumenten geführt wurde. Die Lexit-Kampagne[1] linker Gruppen und einiger kleinerer Gewerkschaften, die mit ganz anderen Argumenten ebenfalls für den Austritt aus der EU warben, hatte es schon in Großbritannien schwer, wahrgenommen zu werden.

Doch in Deutschland wurde sie vor und nach dem Brexit-Votum gezielt ignoriert.

Das zentrale Argument der Lexit-Kampagne wurde nicht einmal diskutiert und kritisiert, sondern einfach nicht beachtet. Es lautet: Die EU in ihrer aktuellen Form ist ein Desaster für Arbeiter-, Gewerkschafts- und Flüchtlingsrechte. Sie ist also gerade nicht die von vielen Linken und Liberalen so hochgelobte Alternative zur nationalistischen Brexit-Kampagne, sondern nur die andere Seite der Medaille.

Deswegen hat das Lexit-Bündnis für einen Austritt aus der EU geworben und kämpft jetzt darum, Mitstreiter dafür zu gewinnen, dass ein Großbritannien außerhalb der EU eben nicht die Flüchtlingsrechte weiter einschränkt. Auch Arbeiter- und Gewerkschaftsrechte werden nicht am grünen Tisch, sondern in der konkreten Auseinandersetzung verteidigt. Wenn man mitbekommen hat, wie in den letzten Monaten die Arbeitskämpfe in Großbritannien in verschiedenen Bereichen zugekommen haben, könnte das auch schon ein kleiner Erfolg für die Lexit-Kampagne sein, obwohl viele der Streikenden sich selber gar nicht so positionieren wollten.

Schon vor einigen Monaten sorgten Londoner Mitarbeiter von einm Lieferservice-Start-Up mit ihrem Arbeitskampf[2] für Aufmerksamkeit[3]. Vor Weihnachten führten Streiküberlegungen von Beschäftigten der Post, Bahn und des Flugverkehres bei den herrschenden Torys zu Überlegungen, die Notstandsgesetze einzusetzen[4].

Das wäre doch für eine Linke, der angeblich so viel an Europa liegt, eigentlich eine Gelegenheit gewesen, diese transnationale Solidarität mal umzusetzen. Doch die Arbeitskämpfe und die Drohungen der Regierungen dagegen, wurden kaum registriert. Dafür ist noch immer das Lamento über den Brexit groß. Da wird auch die Generationengerechtigkeit ins Spiel gebracht.

Ältere Wähler hatten jüngeren Menschen um ihre Rechte als EU-Bürger gebracht, wird immer wieder behauptet. Um welche Rechte es genau geht, wird natürlich nie spezifiziert. Wenn es den Kritikern ernst wäre, müssten sie auf die deutsche Regierung Druck machen, dass die Briten auch nach einem Austritt nicht sanktioniert werden. Dann würden die vielzitierten jüngeren Briten auch nicht ihre EU-Rechte verlieren.

Aber dieselben Medien, die darüber klagen, setzen sich für harte EU-Austrittsverhandlungen ein und fordern, dass ein Exempel statuiert werden müsse, damit das britische Votum nicht etwa Nachahmer finden könnte. Da gäbe es vor allem in den Ländern der europäischen Peripherie sicher noch einige Kandidaten.


Es sind Länder wie Griechenland, Spanien, Italien, Portugal, wo durchaus nicht mehr so klar ist, wie ein Votum über die EU heute oder in einigen Monaten dort ausgehen würde. Ja selbst in Griechenland, wo vor zwei Jahren noch viele Syriza gewählt hatten, weil sie hofften, der Austerität zu entkommen und trotzdem in der EU und sogar in der Eurozone bleiben zu können, ist die Ernüchterung mittlerweile groß.

Die Niederlage von Syriza gegen die von Deutschland dominierte EU und deren Austeritätspolitik hat dazu geführt, dass die Enttäuschung auch in die Milieus eingedrungen ist, die noch hofften, es könnte eine andere, einer sozialere EU geben. Doch der Block der „Deutsch-EU“, hier verkörpert von Schäuble, hat die griechischen Politiker vor die Alternative gestellt, Unterwerfung oder ihr müsst die Eurozone verlassen. Seitdem werden die Rechte und Perspektiven vor allem der jüngeren Generation weiter geschmälert, Gewerkschafts- und Arbeitsrechte werden entgegen griechischem Recht weiter eingeschränkt.

So wie in Griechenland passierte und passiert es in Spanien und Portugal. Über einen längeren Zeitraum gab der portugiesische Autor Miguel Szymanski mit seiner Kolumne[5] in der Taz einen Einblick in das Ausmaß von Verzweiflung und Entrechtung, das gerade junge Menschen in diesen Ländern durch die Austeritätspolitik von Deutsch-Europa zu ertragen haben.

Aber merkwürdigerweise wird über diese Rechte junger Menschen, die ihnen durch die konkrete Politik der EU genommen werden, bei denen nicht geredet, die jetzt darüber klagen, die Brexit-Entscheidung habe jungen Briten Rechte als EU-Bürger genommen. Und es scheint auch wenig wahrscheinlich, dass die beeindruckenden Schilderungen der Folgen der Austeritätspolitik, die Szymanski in seinen Kolumnen darlegte, bei manchen bedingungslosen EU-Befürwortern auch nur zum Nachdenken geführt haben könnte.

Denn inhaltlich widerlegt wurde Szymanski nie, es gab keine Gegenargumente, wenn er Kolumne für Kolumne schilderte, wie die Austeritätspolitik seine Länder verarmt und vielen Menschen nicht nur die Hoffnung, sondern auch die Perspektiven raubt. Doch mit seinen Texten wurde so umgegangen wie mit den Argumenten der Lexit-Befürworter. Sie wurden „nicht einmal ignoriert“.

Stattdessen geben ökoliberale Vordenker wie der Taz-Publizist mit guten Kontakten ins grüne Milieu, Peter Unfried, die Parole aus, dass links nur sein könne, wer bedingungslos für EU und Nato ist. Konkret auf die innergrüne Debatte bezogen hat Unfried die Frage auf die Personalien „Merkel versus Wagenknecht“ zugespitzt. Sollten die Grünen – wenn es dafür Mehrheiten gäbe – also eher mit einer Merkel-Union oder mit SPD und einer Linkspartei, in der Wagenknecht eine wichtige Rolle spielt, koalieren?

Für Unfried ist die Antwort klar, Die Grünen werden mit Merkel gehen. Neben dem Credo, links kann nur für die EU und ihre Vertiefung sein, ist das Verhältnis zu Russland ein zweiter Knackpunkt. Dabei leben alte antirussische Klischees wieder auf, mit denen schon die Mehrheit der SPD mit Hurra in den ersten Weltkrieg gezogen ist. Dabei ging es damals nicht darum, das reaktionäre zaristische Regime zu verteidigen – wie auch die Ablehnung, sich aktuell in eine antirussische Mobilisierung einzureihen, natürlich nicht bedeutet, irgendwelche Sympathien mit dem reaktionären Putin-Regime zu haben.

Dabei sollte man nicht verschweigen, dass diese notwendige Trennschärfe auch manche vermeintlich Linke vermissen lassen, die sich gegen die neue antirussische Frontstellung wenden. Und dass heute fast alle rechts von Merkel, bis auf einige Vertriebenenfunktionärinnen wie Erika Steinbach, Putin huldigen, sollte noch einmal mehr verdeutlichen, dass emanzipatorische Politik und Putin-Hochjubelei nicht zu vereinbaren sind. Das Einreihen in die antirussische Front, bei der heute die Grünen an vorderster Linie stehen, allerdings ebenso wenig.


Genau so ist es mit der Haltung einer emanzipatorischen zur real-existierenden „Deutsch-EU“. Genau die sollte immer so benannt werden, wenn gerade deren Befürworter von der EU oder von Europa reden und den Gegnern unterstellen, sie wären ja gegen ein transnationales Bündnis und für die Wiederherstellung von Nationalstaaten.

Nein, es geht gegen diese „Deutsch-EU“, wie sie hier und heute existiert, vielen Menschen Rechte und Chancen nimmt, und in Deutschland eine Schicht von Gewinnern und Nutznießern hat entstehen lassen, die natürlich genau diese Privilegien verteidigen. Dazu gehört ein Großteil dr Grünen, aber auch ehemalige Aktivisten und Funktionäre von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von „Deutsch-Europa“ kooptiert wurden.

Für sie ist eine Infragestellung der „Deutsch-EU“ gleichbedeutend mit dem, was für die Deutschnationalen jeglicher Couleur der Landesverrat war. Und tatsächlich sind die Parallelen frappierend. In der aktuellen EU sind die deutschen Interessen so dominant, dass eine Infragestellung der EU in ihrer heutigen Form auch eine Infragestellung Deutschlands ist. Daher auch die Vehemenz und die Härte, mit der diese Auseinandersetzung geführt wird, die sich nach dem Brexit noch verschärft hat.

Denn nicht das rechte Nein ist es, was dabei stört, sondern die Tatsache, dass Menschen entscheiden, dieses „Deutsch-Europa“ wollen wir nicht mehr, es hat für uns mehrheitlich seine Mythos verloren. Schon 2013 titelte der Spanien-Korrespondent der Taz, Reiner Wandler, „Europa ist am Ende“[6] und hat eigentlich „Deutsch-Europa“ gemeint. Ansonsten liefert er genug Argumente für die Antwort auf Frage, ob es links ist, für oder gegen diese EU zu sein.

War einst von Solidarität die Rede, um das Projekt Europa zu verkaufen, ist jetzt klar, dass diejenigen Recht hatten, die die Union als ein Projekt der Märkte geißelten. In guten Zeiten fielen Brosamen für den Süden ab, in schlechten Zeiten zeigt sich klar, wem Europa nützt. Der deutschen Wirtschaft und den deutschen Banken. Sie verdienten und spekulierten in den heutigen Krisenländern fleißig mit. Während ihre Kunden, die Banken und Sparkassen in Südeuropa bankrott gehen, hat die Austeritätspolitik „Made in Germany“ die Geldgeber aus Deutschland und Frankreich aus der Schusslinie genommen.

Reiner Wandler[7]

Nein, diese Deutsch-EU muss nach dem Brexit hoffentlich noch einige weitere Niederlagen einstecken, damit sich ein transnationales europäisches Projekt entwickeln kann, das bestimmt nicht von Brüssel und Berlin vorgegeben wird. Wann und wie es sich entwickelt, hängt von der Bereitschaft ab, wie wir uns mit den Kämpfen von Menschen und Bewegungen solidarisieren.

Die Unterstützung der kleinen britischen Lexit-Kampagne bei ihren Bemühungen, nicht den Rechten und Nationalisten in einem Großbritannien ohne EU das Feld zu überlassen, könnte ein Anfang ein. Wenn in Großbritannien oder wo auch immer Streikenden mit Notstandsgesetzten gedroht wird, und es folgt eine solidarische Antwort, wäre das auch ein Baustein für ein solches Europa der Basis, das sich gerade deshalb zu verteidigen lohnt, weil es kein „Deutsch-Europa“ ist sondern eine Konsequenz von dessen Scheitern.

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Peter Nowak


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[1] http://www.leftleave.org
[2] http://www.taz.de/!5330318/
[3] http://www.labournet.de/internationales/grossbritannien/arbeitskaempfe-grossbritannien/der-streik-bei-deliveroo-britische-selbststaendige-radkuriere-setzen-ein-signal-gegen-einen-boss-der-keine-app-ist/
[4] http://www.nzz.ch/international/europa/arbeitskaempfe-in-grossbritannien-aerger-ueber-streiks-an-weihnachten-ld.135465
[5] http://www.taz.de/!5260894/
[6] http://www.taz.de/!5069936/
[7] http://www.taz.de/!506993

Wie man migrationspolitische Duftmarken setzt

Geht es um den Kampf gegen Flüchtlinge oder den Kampf gegen den Islamismus? Der Streit über die Einstufung der „sicheren Herkunftsländer“ wird nun im Schatten des Anschlags fortgesetzt

Der Unionspolitiker Armin Schuster[1] hat die SPD und die Grünen nun dazu aufgefordert, ihren Widerstand gegen die Deklarierung weiterer Länder, aus denen eine starke Migration nach Europa geht, zu „sicheren Herkunftsländern“ aufzugeben. Schuster hat sich in den letzten Tagen als Unionspolitiker profiliert, der in der Winterpause seine migrationspolitischen Duftmarken setzen will[2].

Dabei weiß er, dass es in beiden Parteien starke Kräfte gibt, die sich gerne von der Union in diese Richtung drängen lassen. So hat der Tübinger Oberbürgermeister mit grünem Parteibuch, der sich gerne als Kretschmann-Nachfolger geriert, schon in einem Interview[3] klargestellt, dass die Abschiebepolitik überdacht werden müsse, was nichts anderes heißt, als dass sie weiter an die Vorstellungen der besorgten Bürger angepasst werden muss.

Dabei hat Palmer zuvor selbst vor vorgefertigten Urteilen gewarnt. Ein solch falsches Urteil besteht aber darin, die Anschläge von Berlin, Nizza, Brüssel oder wo auch immer zu einem Problem von Migration und Flüchtlingen zu machen. Dabei ist es ein Problem des Islamismus in seiner besonderen Rolle als Islamfaschismus. Darin sind ganz unterschiedliche Menschen verwickelt.

Einige sind hier geboren, konvertiert und wurden zu militanten Islamfaschisten. Andere haben eine migrantische Biographie, haben aber seit Generationen in den europäischen Ländern gelebt. Es wird auch einige Islamisten geben, die im Rahmen der Migration nach Europa gekommen sind bzw. sich dahinter versteckt haben.

Nun aber das Problem der Anschläge zu einem Programm der Migration zu machen und deren Verschärfung zu fordern, ist bestenfalls aktionistische Symbolpolitik, die die Rat- und Hilflosigkeit von Behörden kaschieren soll, die einen längst bekannten und überwachten Islamisten nicht an seinem verbrecherischen Tun hindern konnten. Schlimmstenfalls wollen Politiker ihre politische Agenda im Schatten des Anschlags vorantreiben. Das ist doppelt fatal.

Es macht die Menschen, die die wenigste Unterstützung haben, zu Sündenböcken und es betreibt das Geschäft der Islamisten. Deren erklärtes Ziel besteht darin, mit den Anschlägen die Lebensbedingungen der Moslems in Europa so zu verschlechtern, dass die sich ihnen anschließen.

Deshalb ist es der größte Erfolg in der Strategie der Islamisten, wenn rechte Strömungen stärker werden und rechte Politiker Wahlen gewinnen. Sie brauchen also nur ihre Mordaktionen so zu timen, dass sie den Rechten bei Wahlen nutzen. So können wir auch im Hinblick auf die Wahl an Frankreich und anderswo noch einiges erwarten.

Doch auch die Liberalen und Linken müssen sich nach dem Anschlag von Berlin kritischen Fragen stellen. Sie müssen mehr tun, als sich selber Mut zu machen, dass wir alle besonnen sein sollen und das Leben weitergeht. Sie müssen wissen, dass mit dem Islamfaschismus ein Feind aufgetaucht ist, der neben Besonnenheit auch die Entschlossenheit braucht, ihn mit allen Mitteln zu bekämpfen.

Hätte ein Neonazi nach dem Vorbild des Münchner Oktoberfestes den Anschlag in Berlin verübt, wäre diese Entschlossenheit sicher zu hören gewesen. Warum wird nicht mit gleicher Verve gegen den Islamfaschismus agiert und dabei auch deutlich gemacht, dass die politische Rechte und die Islamisten sich gegenseitig brauchen? Dabei werden die Linken und Liberalen viele Menschen auf ihrer Seite haben, die sich von ihnen abgewandt haben, weil sie teilweise abgeschreckt sind, von der Ignoranz gegenüber dem Islamismus in Teilen der Linken[4], die manchmal noch als Bündnispartner gesehen werden. So erklärt[5] die Verfasserin der Studie Siding with the Oppressor: The Pro-Islamist Left[6] Maryam Namazie:

Wir haben zwei Schriften veröffentlicht, eine kritisiert die proislamistische Linke, die andere aber die extreme Rechte. Dieser Teil der Linken – und ich sage das als eine Person, die selbst links ist – sieht wegen seiner antiimperialistischen Neigung und seiner antikolonialen Perspektive jeden Widerstand gegen imperialistische Staaten als revolutionäre Kraft. Diese Linke kann nicht verstehen, dass der Islamismus, auch wenn er den westlichen Imperialismus herausfordert, ebenso eine regressive und unterdrückerische Kraft ist.

Es geht nach dem Schema: Der Feind meines Feindes ist mein Verbündeter, daher unterstützt jener Teil der Linken die Islamisten. Sie denken, diese seien eine Widerstandsbewegung wie der ANC in Südafrika gegen die Apartheid. Aber es ist eine grundlegend andere Bewegung, die in den Ländern, in denen sie die Macht übernommen hat, in erster Linie die Linke angegriffen und die Arbeiterbewegung vernichtet hat.

Die Islamisten haben ihre eigenen imperialistischen Projekte, wenn sie die Macht übernehmen. Des Weiteren denkt diese Linke, dass sie eine antirassistische Position einnimmt, dass sie damit Minderheiten verteidigt. Sie sieht nicht, dass Minderheiten keine homogenen Gemeinschaften sind. Sie stellt sich auf die Seite der Islamisten, derjenigen an der Macht, die unterdrückerischen Kräfte, und hilft somit Minderheiten innerhalb der Minderheit zu unterdrücken.

Maryam Namazie[7]

Es sollte sich auch die Frage stellen, warum im syrischen Bürgerkrieg – auch von Teilen der Linken – niemand die Islamisten sehen wollte? Da wurde noch vor wenigen Tagen, weit weg vom Geschehen, ein Massaker der syrischen Truppen und ihrer Verbündeter an einer wehrlosen Zivilgesellschaft angeprangert. Dabei waren schon längst Verhandlungen zur Evakuierung der Zivilbevölkerung angelaufen und die in den Berichten nicht existierenden Islamisten versuchten, diese zu verhindern, in dem sie die dafür vorgesehenen Busse in Brand steckten.

In einer Buchrezension im Neuen Deutschland[8] schreibt Emran Feroz, dass die Al Nusra Front, die Al-Qaida-Filiale in Syrien, von vielen Syrern anerkannt wird und hohen Respekt genießt. Dass Teile der Zivilbevölkerung also zumindest zeitweise mit den Islamisten verbündet waren, sollte aber auch dann gesagt werden, wenn wieder mal das Lamento über die hilflose Zivilbevölkerung gesungen wird.

Dass der Kampf gegen den Islamfaschismus auch ein Signal sein kann, dass ein solches Bündnis Konsequenzen hat, wie es die deutsche Volksgemeinschaft im Mai 1945 in Berlin erfahren musste, kann auch eine linke Konsequenz sein, wenn man den Islamisten als Feind ernst nimmt.

https://www.heise.de/tp/features/Wie-man-migrationspolitische-Duftmarken-setzt-3580936.html

Peter Nowak


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[1] http://armin-schuster.eu
[2] http://armin-schuster.eu/medien/presseveroeffentlichungen/presseveroeffentlichungen-1
[3] http://www.deutschlandfunk.de/nach-dem-anschlag-von-berlin-falsch-sind-die-vorgefertigten.694.de.html?dram:article_id=374460
[4] http://jungle-world.com/artikel/2016/50/55412.html
[5] http://jungle-world.com/artikel/2016/50/55412.html
[6] http://onelawforall.org.uk/siding-with-the-oppressor-the-pro-islamist-left/
[7] http://jungle-world.com/artikel/2016/50/55412.html
[8] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1028854.moerderischer-egoismus.html