Die Mitmachfalle

Thomas Wagner entlarvt Partizipationsprozesse bei großen Bauprojekten als Mogelpackung

Hat der Runde Tisch mit Heiner Geißler nur dazu beigetragen, dass der Bahnhof in Stuttgart doch gebaut wird? Thomas Wagner beleuchtet in seinem neuen Buch Bürgerbeteiligung von Startbahn West bis Porto Alegre.

Bürgerbeteiligung hat einen guten Ruf bei den Grünen, der Linkspartei und der außerparlamentarischen Linken. Doch oft ist

Bürgerbeteiligung hat einen guten Ruf bei den Grünen, der  Linkspartei aber auch der außerparlamentarischen Linken.  Doch oft ist die Aufforderung zum Mitgestalten eine Mogelpackung, lautet die These des Soziologen Thomas Wagner. Bereits vor zwei  Jahren hat er seine Kritik an Modellen der direkten Demokratie als „Deutschlands sanften Weg in den Bonapartismus“   in einem im Papy Rosa-Verlag erschienenen Buch theoretisch begründet. Jetzt hat Wagner im gleichen Verlag unter dem Buch  „Die Mitmachfalle – Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument“ seine Kritik erweitert und mit vielen aktuellen Beispielen  untermauert.
Am Prominentesten ist die  Mediation beim  Großprojekt Stuttgart 21, wo der vielgelobte Heiner Geißler vielleicht mehr dazu getan hat, dass das Projekt doch noch gebaut wird.  Der CDU-Veteran habe nicht erst am Beispiel Stuttgart erkannt, dass  neue Wege gesucht werden müssen, „um die Profitinteressen privater Unternehmen zu wahren und die Eigentumsverhältnisse zu schützen“, schreibt Wagner. Die stark politisierte Bewegung  gegen Stuttgart 21 war gerade dabei, Lernprozesse über Staat und Kapitel zu machen, die durch die Mediation weitgehend  neutralisiert wurden  Ähnliche Entwicklungen  hat es bereits Jahre zuvor bei der Erweiterung der Startbahn-West im Rhein-Main-Gebiet gegeben. Der langjährige Aktivist in der Anti-Startbahnbewegung Michael Wilk gehört zu den frühen Kritikern dieser Mitmachkonzepte. Im Gespräch mit  Wagner unterscheidet er  basisdemokratische Entscheidungsprozesse von den großen Parteien vorangetriebene  Mediationsverfahren am Frankfurter Flughafen, das Wilk als Befriedungsstrategie bezeichnet.
Als ein weiteres bekanntes Beispiel für die Mitmachfalle bezeichnet Wagner,   das  Guggenheim-Lab, das im  Sommer 2012  kurzzeitig die Presselandschaft bewegte, weil die Initiatoren nach Protestankündigungen seinen Standpunkt aus Kreuzberg nach Prenzlauer Berg verlegten.  In dem Lab werden Vorschläge für eine lebenswerte Welt für den Mittelstand  gesammelt. Die  Belange der einkommensschwachen Teile der Bevölkerung spielen kaum eine Rolle. Daher hat Wagner auch viel Verständnis für die  von der übergroßen Medienöffentlichkeit und  der Politik heftig angegriffen Kritiker des Lab.
In einem eigenen Kapitel unterzieht  Wagner die Ideologie der auch bei Politikern der Linkspartei beliebten Bürgerhaushalte  einer fundierten Kritik. Während das gute Image  vor allem daher rührt,  dass sie mit dem brasilianischen  Porto Alegre, der Stadt der ersten   Weltsozialforen, verknüpft werden, zigt Wagner  auf, wie mittels  Bürgerhaushalten Betroffene  an den Spar- und Kürzungsdiktaten beteiligt werden und diese so besser akzeptieren sollen. Daher haben auch immer  mehr unternehmerfreundliche Denkfabriken und selbst die FDP Gefallen an den Mitmachmodellen gefunden, wie Wagner nachweist.     Sie erhoffen sich davon eine reibungslosere Durchsetzung von Großprojekten.
Deren  Gegner sollten  daher auf die  Austragung von Interessengegensätzen ohne Vereinnahmung  sowohl in der Arbeitswelt, am Jobcenter wie im Stadtteil stark machen, so Wagners Plädoyer.     Sein Buch kann als nützlicher Ratgeber genutzt werden, um möglichst nicht in alle Mitmachfallen zu stolpern.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/831487.die-mitmachfalle.html
Peter Nowak
Wagner Thomas, Die Mitmachfalle – Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument, 160 Seiten, 12,90 Euro, Papy Rosa Verlag, 2013, ISBN 9783894385279

„Das KZ war als Folterhölle bekannt“

ist Mitbegründer des Arbeitskreises zur Geschichte des KZs und des Zuchthauses Sonnenburg bei der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten.

Der Publizist Kamil Majchrzak kämpft für das Gedenken an das NS-Konzentrationslager Sonnenburg. Dort waren überwiegend Berliner Kommunisten inhaftiert.

taz: Herr Majchrzak, welche Bedeutung hatte das Konzentrationslager Sonnenburg im heutigen Polen?

Kamil Majchrzak: Das ehemalige Zuchthaus, das wegen katastrophaler sanitärer Verhältnisse geschlossen worden war, diente vom 3. April 1933 bis 23. April 1934 als KZ. Zu den über 1.000 Häftlingen gehörten überwiegend Kommunisten aus Berlin, aber auch der Nobelpreisträger Carl von Ossietzky und der Schriftsteller Erich Mühsam. Wegen der außergewöhnlichen Brutalität wurde das KZ bald als „Folterhölle“ bekannt. Nach 1934 diente es wieder als Zuchthaus. Seit 1942 waren dort „Nacht- und Nebelhäftlinge“ aus fast allen okkupierten Ländern inhaftiert. In der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945 wurden über 800 Häftlinge wenige Stunden vor der Befreiung durch die Rote Armee von einem SS-Kommando erschossen. Es ist ein europäischer Gedenkort.

Warum ist das KZ bisher kaum bekannt?

In der BRD wollte man die in Sonnenburg begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vertuschen, die die enge Verstrickung von Justiz und Gestapo offenbarten. So wurde etwa der bereits zu lebenslanger Haft verurteilte Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Herbert Klemm, wieder freigelassen. Viele Nazi-Richter und Beamte waren in der BRD in Amt und Würden. Zahlreiche Folterer aus Sonnenburg wie Emil Krause oder Wladislaus Tomschek konnten in der BRD bis zur Rente weiterarbeiten. An einer juristischen Aufarbeitung war die bundesdeutsche Justiz nicht interessiert. Das belegt der Freispruch der für das Massaker verantwortlichen Gestapo-Angehörigen Heinz Richter und Wilhelm Nickel im Kieler Prozess 1970.

Wie ging die DDR damit um?

In der DDR stand das frühere KZ Sonnenburg auch im Schatten des Widerstands in Buchenwald. So entstand eine Lücke, die wir jetzt füllen wollen, und wir hoffen, dass auch der Senat diesen Gedenkort wiederentdeckt, der ja faktisch ein Teil Berliner Geschichte ist.

Wie geht Polen mit dem ehemaligen Lager um?

1974 wurde ein Museum errichtet. Das jährliche Gedenken an das Massaker wird von der Zivilgesellschaft der Gemeinde Słońsk getragen. Dort nehmen seit einigen Jahren Berliner Vertreter der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten“ teil. So ist die Idee zu einer gemeinsamen Tagung in Słońsk am 13. September entstanden. Angehörige von früheren Häftlingen werden das Wort ergreifen, und wir wollen über das Erinnern und Gedenken nach 1945 in Słońsk sprechen.

Und Ihre weiteren Planungen?

Wir hoffen, dass HistorikerInnen in Polen und Deutschland das Thema entdecken und wir vor allem mit Jugendlichen und SchülerInnen beider Länder Projekte entwickeln können. Auch internationale Geschichtswerkstätten wären denkbar.
http://www.taz.de/Gedenken-an-NS-Geschichte/!122265/

Interview: Peter Nowak

»Heino hat leider abgesagt«

Für den 17. Juni ist neben dem »Deutschlandfest« der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) in Berlin auch eine sogenannte Jubel­demonstration zum 150jährigen Bestehen der Partei geplant. Die Jungle World fragte Dominik Schneider, Mitglied des »150 Jahre SPD Jubel-­Komitees«, das die Demonstration organisiert, wie und was da gefeiert werden soll.

Warum planen Sie am 17. Juni eine Jubeldemonstration zum »Deutschlandfest« der SPD?

Wir wollten halt schon immer einmal ein Event mit den Prinzen, Nena und Sammy Deluxe unter dem Motto »Deutschlandfest« veranstalten. Heino hat leider abgesagt. Ein Fest reicht uns nicht, ­darum veranstalten wir eine Jubeldemonstration, um Hartz IV, Friedenseinsätze, engere Gürtel, 20 Jahre Asylrechtsänderung und ­andere unserer Errungenschaften zu feiern.

Können Sie etwas zum Ablauf sagen?

Wir werden um 14 Uhr vom Mauerpark zur Kastanienallee 85 ziehen, mit dem Ziel, die Bruchbude zu räumen. Auf unsere Anfrage bei der Gewerkschaft der Polizei, ob sie dies übernehmen könnten und ob sie einen Block auf der Demonstration machen, gab es bisher keine Antwort. Von dort aus geht’s weiter durch Mitte, vorbei an der FDP-Zentrale und dann direkt zum Fest.

Was sagt Ihr Komitee zur Kritik, dass dessen Ritt durch 150 Jahre SPD-Geschichte etwas holzschnittartig geraten ist und beispielsweise die Verfolgung der SPD während des Nationalsozialismus ausblendet?

Im NS wurden viele politische Strömungen verfolgt, so auch die SPD. Das ist auch auf der offiziellen 150-Jahre-SPD-Seite nachzulesen. Man muss aber kritisch anmerken, dass der offizielle Rückblick auf die Parteihistorie etwas lückenhaft ausfällt. Darum haben wir uns für eine Ergänzung unserer Parteihistorie entschieden.

Unabhängig von Ihrer Aktion gibt es von den Berliner Jusos Kritik am Begriff »Deutschlandfest«. Sehen Sie Kooperationsmöglichkeiten?

Die Berliner Jusos, ganz ehrlich, die gehen mir tierisch auf den Sack. Das ständige Rumgehänge bei Tennis Borussia im Mommsenstadion, Kontakt zur Antifa – die sind für uns komplett unbrauchbar. Das ist nicht das, was ich mir unter einer Parteijugend vorstelle. Die sollen unsere Transparente malen, Kaffee holen und uns endlich mit ihrem Gelaber von 20 Jahre Asylkompromiss in Ruhe lassen. So lange die Jusos die Füße unter unseren Tisch stecken, verändert sich hier in den kommenden 150 Jahren gar nichts.

http://jungle-world.com/artikel/2013/33/48274.html

Interview: Peter Nowak

Warnung vor der Mitmachfalle

Links

[1]

http://s445925490.e-shop.info/shop/article_527-9/Wagner%2C-Thomas%3A-%3CBR%3EDie-Mitmachfalle.html

[2]

http://www.horx.com/Zukunfts-Lexikon.aspx

[3]

https://www.entrepreneurship.de/artikel/holm-friebe-wir-nennen-es-arbeit/

[4]

http://saschalobo.com/

[5]

http://www.hfm-berlin.de/Adrienne_Goehler.html

[6]

http://worldcat.org/identities/lccn-n79-39875

Ein Jubiläum kommt bestimmt

Die Technische Universität Berlin hat sich der Aufarbeitung ihrer NS-Vergangenheit gewidmet.

»Universitäten oder Hochschulen besinnen sich meist dann auf ihre Geschichte, wenn ihnen ein Jubiläum ins Haus steht«, sagte Carina Baganz Mitte Juli im Lichthof der Technischen Universität (TU) Berlin. Die am Zentrum für Antisemitismusforschung arbeitende Historikerin stellte dort das von ihr herausgegebene Buch »Diskriminierung, Ausgrenzung, Vertreibung – die Technische Hochschule Berlin während des Nationalsozialismus« vor – drei Jahre vor dem 70. Jubiläum der TU.

Wenig überraschend für Kenner der Materie sind Baganz’ Forschungsergebnisse zur Entwicklung der Hochschule vor 1933. »An der TH Berlin hatte die nationalsozialistische Ideologie bereits lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten Einzug gehalten. 1927 löste die sozialdemokratische preußische Landesregierung die Studentenschaften auf, weil die sich geweigert hatten, die Zusammenarbeit mit großdeutschen antisemitischen Studentenschaften zu beenden, die Juden und Marxisten die Mitgliedschaft verweigerten. Schon 1931 erlangen die NS-Studentenverbände bei Studierendenwahlen fast eine Zweidrittelmehrheit.«

Nicht nur die Studierenden, sondern auch des Lehrpersonals der TH Berlin musste nach 1933 nicht gleichgeschaltet werden, weil dort schon vor 1933 großdeutsche und völkische Ideologien weit verbreitet waren. So war der Widerstand gering, als jüdische Wissenschaftler die Hochschule verlassen und oft auch ihre akademischen ­Titel zurückgeben mussten. Einige der Betroffenen verwiesen auf ihre patriotische Gesinnung und ihre Verdienste im Ersten Weltkrieg, was ihnen allerdings nur kurzzeitig das Amt rettete. Für die meisten entlassenen Wissenschaftler brach eine Welt zusammen. Mehrere Entlassene verübten Selbstmord, anderen gelang die Flucht. Nicht wenige wurden später in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet.

Ein bisher noch wenig erforschtes Kapitel ist der Einsatz von meist osteuropäischen Zwangsarbeitern an der TH Berlin wie auch an anderen deutschen Hochschulen. Im Dachgeschoss eines Gebäudes der TH Berlin in der Franklinstraße 29 war ein Zwangsarbeitslager mit mindestens 140 als »Ostarbeiter« bezeichneten Männern, Frauen und Kindern eingerichtet worden, die in den letzten Kriegsjahren die Schäden beheben mussten, die durch Bombenangriffe an Einrichtungen der Hochschule entstanden. Die Existenz dieser Zwangsarbeiter wurde erst bekannt, als Baganz in alten Akten Beschwerdebriefe von Hochschulmitarbeitern entdeckte, die die »Ostarbeiter« für die Belastung der Kanalisation verantwortlich machten. »Die meisten von ihnen kommen aus Dörfern und haben weder jemals ein Klosett mit Wasserspülung gesehen, noch eine Ahnung von der Müllbeseitigung in europäischen Städten«, schrieb ein Oberingenieur Traustel im September 1944 an den Rektor der TH Berlin.

Ein weiteres Forschungsthema wäre der Umgang mit Opfern und Tätern an der Hochschule nach 1945. So wurde selbst ein Nationalsozialist der ersten Stunde wie Willi Willing, der sich an der TH Berlin für die Maßnahmen gegen jüdische Hochschulangehörige mit Hingabe eingesetzt hatte, als minderbelastet eingestuft. Willing war seit 1925 NSDAP-Mitglied und befasste sich neben seiner Universitätskarriere mit dem Einsatz von wissenschaftlich ausgebildeten KZ-Häftlingen in der NS-Forschung. Auch der letzte Rektor der TH, Oskar Niemczyk, konnte seine Wissenschaftslaufbahn schon 1946 an der neugegründeten TU Berlin fortsetzen. Zu seinem 75. Geburtstag im Jahre 1961 gab es an der Universität sogar eine Feierstunde. Während die meisten ehemaligen NS-Wissenschaftler nach 1945 ihre Karriere fortsetzen konnten, erging es den Opfern nicht so gut. Als Dimitri Stein, dem als Jude 1943 an der TH seine Promotion im Fach Elektrotechnik verweigert worden war, in den fünfziger Jahren seine Promotion an der TU Berlin zu Ende führen wollte, wurde ihm mitgeteilt, man habe nun ganz andere Sorgen. Erst 2008 wurde Stein nach 65 Jahren der Doktortitel überreicht.

Schon in den fünfziger und sechziger Jahren gab es engagierte Studierende und eine kleine Minderheit von Wissenschaftlern, die der Geschichte nachgingen und die Verstrickung ihrer Institute in den Nationalsozialismus erforschten. Sie waren in der Regel mit großen Schwierigkeiten bis hin zu Klagedrohungen konfrontiert, wie Gottfried Oy und Christoph Schneider in ihrem kürzlich unter dem Titel »Die Schärfe der Konkretion« im Dampfboot-Verlag erschienenen Buch detailliert nachweisen. Dort beschreibt Reinhard Strecker, der als Student 1959 mit der von ihm konzipierten Wanderausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« für große Aufregung sorgte, die Reaktion des Dekans der Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin: »Das, was ich täte, dafür hätte man in der Weimarer Zeit die Leute ins Zuchthaus gesteckt und da gehörte ich auch hin. Dokumente aus dem Ausland zu besorgen, um Deutsche ins Gefängnis zu bringen, das sei wirklich das Letzte an nationaler Verkommenheit.« Auch der damalige Chefredakteur der Tübinger Studentenzeitschrift Notizen, Hermann L. Gremliza, war 1964 massiven Anfeindungen ausgesetzt, als er unter dem Titel »Die braune Universität. Tübingens unbewältigte Vergangenheit« die NS-Karriere des Juristen Georg Eißer und des Germanisten Gustav Bebermeyer nachzeichnete.

Oy und Schneider beschreiben in ihrem Buch sehr genau, wie sich aus diesen Auseinandersetzungen an vielen Hochschulen eine deutschlandkritische Bewegung entwickelte, die sehr schnell nicht nur die Ära des NS erforschen, sondern auch die Realität im Nachkriegsdeutschland kritisieren wollte. Welch zentrale Stellung dabei die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus einnahm, zeigen die Autoren am Beispiel eines von den Wissenschaftlern Margherita von Brentano und Peter Furth veranstalteten Seminars mit dem Titel »Antisemitismus und Gesellschaft«, das ein wichtiger Bezugspunkt für eine neue Linke jenseits von SPD und KPD war. Dabei weisen die Autoren überzeugend nach, dass gera­de nach 1968 die Beschäftigung mit dem NS umschlägt in einen allgemeinen Kampf gegen Faschismus und Imperialismus. Besonders Rudi Dutschke wird ein »verflachter, nahezu sinnentleerter Faschismusbegriff« bescheinigt. In dieser Entwicklung sehen Schneider und Oy auch einen wichtigen Grund dafür, dass die neue Linke innerhalb kurzer Zeit mehrheitlich eine pro­israelische gegen eine antizionistische Politik austauschte.

Wie falsch die These vieler Achtundsechziger war, dass die deutsche NS-Geschichte bewältigt worden und deshalb der Kampf gegen den Imperialismus weltweit zu führen sei, macht nicht nur die Veröffentlichung über die NS-Geschichte an der TU Berlin selbst deutlich. Bei der Vorstellung des Buchs von Baganz war die Zahl der anwesenden Studierenden überaus gering.

http://jungle-world.com/artikel/2013/30/48143.html

Peter Nowak

Häuserkampf in Holland?

nd: Auch in den Niederlanden nehmen Wohnungsnot und Räumungen zu. Gibt es Widerstand?
Verweij: Das Problem wird eher als individuelles gesehen. Eine Bewegung dagegen gibt es bisher nicht. Aber es existieren mehrere Mieterorganisationen, von denen die meisten jedoch auf Seiten der Wohnungsbaugesellschaften stehen. Dazu trägt auch die niederländische Tradition der Konsensgesellschaft bei. Soziale Konflikte werden in der Regel nicht konfrontativ ausgetragen. Wenn es Konflikte gibt, werden sie meist auf institutioneller Ebene gelöst.

Sie haben kürzlich bei einer Veranstaltung mit dem Titel »Sozialer Wohnungsbau ade« in Berlin über die Lage in den Niederlanden informiert. Wann ging es in Ihrem Land mit bezahlbarem Wohnraum zu Ende?
In den Niederlanden waren 2,3 Millionen der insgesamt drei Millionen Mietwohnungen Eigentum von Wohnungsbaugesellschaften. Sie machten keinen Gewinn und wurden vom Staat reguliert. Das änderte sich 1995, als sie privatisiert wurden und der Profit in den Fokus geraten ist. Die Regierung will die Wohnungsbaugesellschaften völlig dem freien Markt ausliefern. Damit ist das seit 1900 bestehende System des sozialen Wohnungsbaus beendet.

Die Niederlande sind als Ursprungsland der Kraakerbewegung bekannt. Sie hatte eine große Bedeutung für Hausbesetzungen in vielen Ländern. Welchen Einfluss hat sie heute auf die Mieterbewegung?
Das sind verschiedene Welten und Kulturen. In Gegenden, in denen Nachbarschaftsinitiativen gegen Gentrifizierung bestehen – wie in Amsterdam – gibt es aber Kontakte zur Kraakerbewegung.

In welchem Bereich engagieren sich solche Initiativen?
Ein gutes Beispiel ist Nieuw Crooswijk in Rotterdam-Ost, wo die Stadt 1800 von 2100 Sozialwohnungen abreißen wollte, um Eigentumswohnungen für Bewohner mit höheren Einkommen zu errichten. Es ist das erste Public-Private-Partnership-Projekt des Landes und zum Vorbild für andere Städte geworden. Aber dagegen gibt es mehrere Initiativen.

Zuletzt haben die Niederlande mit Antikraak-Projekten von sich reden gemacht. Was ist das?
Leerstehende Wohnungen sollen kurzfristig gegen eine Nutzungsgebühr an einkommensschwache Mieter vergeben werden, die sofort ausziehen müssen, wenn der Eigentümer es wünscht. Damit sollen Besetzungen verhindert werden. Die Nutzer verzichten dabei auf sämtliche Rechte.

Warum lassen sich Mieter darauf ein?
Das ist eine Folge der Wohnungsnot gerade bei Menschen mit geringem Einkommen. Zudem werden die Antikraak-Projekte in der Öffentlichkeit als modernes und flexibles Wohnen hochgelobt. Gegen diese Projekte gab es aber bereits im Parlament eine Gesetzesinitiative, um die Zahl der Antikraak-Firmen zu begrenzen. Für Druck sorgte auch ein Film. Zunächst schien es eine Mehrheit für die Regulierung zu geben. Doch die neoliberalen Parteien verwässerten das Gesetz. Jetzt sollen sich die Antikraak-Firmen ein freiwilliges soziales Siegel geben.

War die Debatte damit beendet?
Im Parlament schon. Aber die sozialen Bewegungen haben das Thema weiter im Blick.

Interview: Peter Nowak
http://www.neues-deutschland.de/artikel/828462.haeuserkampf-in-holland.html


Exil am Rio de la Plata

Jüdische Naziverfolgte fanden in Uruguay Zuflucht und mussten in den 70er-Jahren wieder fliehen

Enrique Blum hieß früher Heinrich. Erst in Lateinamerika hispanisierte er seinen Namen. Der Medizinstudent aus Halle kam zusammen mit seinen Eltern am 24. Juli 1937 in Uruguay an. »Man hat ein Loch außerhalb Europas gesucht«, begründet Heinrich Blum die Wahl seines Exillandes. Auch für andere wurde das kleine Land am Rio de la Plata zwischen 1933 und 1945 zum Zufluchtsort vor dem NS-Terror. Und die große Mehrheit der Exilanten waren Juden.

Die Berliner Historikerin Sonja Wegner hat mit ihrem Buch die Geschichte dieser »Zuflucht in einem fremden Land« erforscht. Im ersten Teil des Buches beschreibt sie die Wege ins Exil, das oft eine Rettung in letzter Minute war. Fast alle Länder verschärften gerade in dem Augenblick ihre Einwanderungsgesetze, als das Naziregime den Druck auf die Juden immer weiter steigerte. In einem eigenen Kapitel schildert die Autorin die perfiden Methoden der Ausplünderung der Emigranten.

Innenpolitik Während in Deutschland die Situation für Juden und Nazigegner immer lebensgefährlicher wurde, entwickelte sich die innenpolitische Situation in Uruguay für die Emigranten günstig. Nachdem eine rechte Diktatur, die gute außenpolitische Kontakte zu Deutschland und Italien pflegte, 1938 abtreten musste, näherte sich das Land außenpolitisch den USA an.

Die liberalen Einreisebestimmungen in Uruguay ermöglichten es den Einwanderern zudem, innerhalb von drei Jahren eingebürgert zu werden. Die Prokuristin Hedwig Freudenheim erhielt das begehrte Dokument sogar bereits nach wenigen Monaten. Dass trotz der Einwanderungsmöglichkeit das Leben für die jüdischen Emigranten in Uruguay keineswegs einfach war, zeigt Wegner am Beispiel von Carl Sichel auf.

Der 50 Jahre alte Rechtsanwalt durfte in Uruguay seinen Beruf nicht ausüben und versuchte, als Geschäftsmann zu überleben. Wie Sichel ging es vielen Exilanten, die in Deutschland bürgerliche Berufe ausgeübt hatten und in dem Aufnahmeland mit Gelegenheitsarbeiten ihren Lebensunterhalt verdienen mussten.

Konflikte Hoch waren die Einwanderungshürden allerdings für politische Emigranten, die häufig bereits in Deutschland in linken Organisationen aktiv waren. In eigenen Kapiteln geht Wegner auf die politischen Aktivitäten der Emigranten und die Auseinandersetzung darum unter den jüdischen Emigranten ein.

Als sich das Ende des NS-Systems abzeichnete, verschärften sich die Diskussionen auch innerhalb der jüdischen Exilgemeinschaft. Während der unter den jüdischen Emigranten in Montevideo sehr einflussreiche Hermann P. Gebhardt mit anderen antifaschistischen Organisationen für ein »anderes Deutschland« eintrat, wandte sich Karl Berets von der deutsch-jüdischen Neuen Israelitischen Gemeinde in einem Offenen Brief gegen dieses Engagement und trat für einen Staat Israel ein.

In den 50er-Jahren verhinderten die in Uruguay ansässigen jüdischen Emigranten, dass ausgerechnet der Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze, Hans Globke, als Staatssekretär der Adenauer-Regierung Uruguay besuchen konnte. Einige der neuen uruguayischen Staatsbürger mussten allerdings in den 70er-Jahren, als in Uruguay eine rechte Militärjunta die Macht ergriff, erneut fliehen. Ernesto Kroch, ein linker Gewerkschafter, der als Jugendlicher vor den Nazis geflohen war, suchte in Deutschland Exil.

Sonja Wegner: »Zuflucht in einem fremden Land: Exil in Uruguay 1933–1945«, Assoziation A, Berlin 2013, 375 S., 22 €

aus Jüdische Allgemeine

http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/16506

Peter Nowak

No Place on Earth

Der Film erzählt die bisher unbekannte Geschichte des Überlebenskampfs ukrainischer Juden im Nationalsozialismus.

Die deutschen Verbrechen in der Nazizeit werden schon lange historisiert. Die Menschen, die sie noch selber erleiden mussten, sind fast alle tot. Daher verdienen Filme, in denen die heute Hochbetagten noch selber zu Wort kommen, besondere Aufmerksamkeit.

No Place on Earth, der vom deutschen Verleih mit der Übersetzung «Kein Platz zum Leben» untertitelt wurde, gehört zu diesen Filmen. Die Regisseurin Janet Tobias verfilmt die Geschichte des US-Höhlenforschers Christopher Nicole, der sich nach seiner Pensionierung auf eine Expedition in die unbekannten Unterwelten in der Ukraine aufmacht und dort Spuren menschlichen Lebens entdeckt, die keinesfalls aus prähistorischer Zeit stammen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, wird er fündig. Die Spuren stammen von Juden, die vor den Nazis und ihren ukrainischen Helfern für mehrere Monate Zuflucht in der Höhle suchten. Schließlich findet er sogar einige Überlebende, die nach ihrer Befreiung in die USA ausgewandert sind.

Es wird ein  Kapitel von Verfolgung und Überlebenskampf geschildert, das die Zuschauer gefangen hält. Die Flucht in die Höhle bedeutete nicht dauerhafte Rettung. Die Menschen mussten Lebensmittel aus der Umgebung besorgen und kamen dabei mehrmals in gefährliche Situationen. Schließlich schütteten Dorfbewohner alle Eingänge der Höhle zu, und die Eingeschlossenen mussten sich mühselig einen neuen Weg an die Oberfläche graben.

Die Tragödie, die das Leben in der Höhle bedeutete, kann im Film nur angedeutet werden. Sie wird deutlich, wenn berichtet wird, wie einer der Jungen geschlagen wird, nachdem er erwischt wurde, wie er sich aus großem Hunger an den kargen Mehlvorräten zu schaffen machte. Schließlich stürmten die Nazis und ihre einheimischen Hilfstruppen die Höhle und verschleppten einen großen Teil der Bewohner in Vernichtungslager. Einige konnten sich im weit verzweigten Höhlensystem verstecken und überlebten.

Höhepunkt des Filmes ist ein Treffen der Überlebenden, die im hohen Alter erstmals wieder eine geführte Tour durch die Höhle machten und sich dabei erinnerten, an welchen Orten die wenigen Gegenstände des täglichen Bedarfs aufbewahrt worden waren. So spielte der Film für die Überlebenden eine wichtige Rolle bei ihrer Erinnerungsarbeit. Allein deswegen ist es begrüßenswert, dass er erschienen ist. In der deutschen Presse wurde er aber überwiegend negativ besprochen. Vor allem die vielen Reenactment-Darstellungen (die Neuinszenierung geschichtlicher Ereignisse in möglichst authentischer Weise) und die eingespielte Musik wurden als kitschig kritisiert. Diese scharfe Kritik könnte ihren Grund auch darin haben, dass es keinen deutschen Retter à la Oskar Schindler gibt, der zum deutschen Filmhelden wurde. Es war der Überlebenswille der Juden und die Rote Armee, die die Überlebenden aus der ukrainischen Höhle befreite und ihnen das Leben rettete. Dass mit dem Film diese bisher unbekannte Geschichte des jüdischen Überlebenskampfs einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde, ist begrüßenswert und sollte zum Kinobesuch animieren.

USA 2012, Regie: Janet Tobias

aus SoZ/Sozialistische Zeitung, Juni 2013

No Place on Earth

Peter Nowak

Das Märchen von der segensreichen Wirkung der Privatisierung

Links

[1]

http://norbertwiersbin.de/on-tour-das-marchen-der-deutschen-ralph-t-niemeyer/

[2]

http://www.heise.de/tp/blogs/8/154446

[3]

http://www.ingehannemann.de/

[4]

http://www.nachdenkseiten.de/

[5]

http://www.nachdenkseiten.de/?author=2

[6]

http://www.nachdenkseiten.de/?p=3232

[7]

http://www.stephan-lessenich.de/

[8]

http://www.monde-diplomatique.de/pm/2013/06/14.mondeText.artikel,a0006.idx,1

Peter Nowak

http://www.heise.de/tp/blogs/6/print/154647

Als eine Welt zusammenbrach

Die TU Berlin stellt sich endlich ihrer NS-Vergangenheit

»Universitäten oder Hochschulen besinnen sich meist dann auf ihre Geschichte, wenn ihnen ein Jubiläum ins Haus steht«, konstatierte Carina Baganz. Im Lichthof der Technischen Universität Berlin stellte sie ihr Buch ihr Buch „ Diskriminierung, Ausgrenzung, Vertreibung“ – die Technische Hochschule Berlin während des Nationalsozialismus“ vor. Die am Zentrum für Antisemitismusforschung arbeitende Historikerin versteht ihre Publikation  als Beitrag, im „Dritten Reich“ begangenes Unrecht wiedergutzumachen und die Erinnerung an die Einst betroffenen wachzuhalten.

Warum erst sieben Jahrzehnte vergehen mussten, ehe  die Hochschule  sich ernsthaft  mit ihrer NS-Vergangenheit auseinandersetzt, wäre selbst der Nachforschung wert. Tatsächlich hatte Studierenden in den 50er und frühen 60er Jahren nicht selten mit Strafverfahren   zu rechnen, wenn sie die NS-Geschichte ihrer Hochschule erforschen wollten und dabei  die Namen mancher noch lehrender Professoren entdecktem.  Erst nachdem fast alle pensioniert waren, setzte die zaghafte Beschäftigung mit der braunen Geschichte ein. In der TU Berlin wurde  1979 eine Festschrift mit dem Titel Wissenschaft und Gesellschaft herausgegeben, das sich erstmals ausführlicher mit der Hochschule im Nationalsozialismus  befasste.  In drei Jahren steht mit dem 70ten Jahrestag der TU-Gründung ein neues Jubiläum an. Eine gute Zeit also für eine Publikation, die  den bisher umfassendsten Überblick über das Ausmaß der Vertreibungen, Diskriminierung und Ausgrenzung von Wissenschaftlern und Studierenden gibt.        Der Grundstein wurde bereits vor 1933 gelegt. Der Rektor der TH Berlin in der Zeit von 1938 bis 1942 Ernst Stein erklärte am Ende seiner Amtszeit stolz , dass die TH Berlin  schon vor 1933 „als eine Hochburg des Nationalsozialismus unter den deutschen Hochschulen“ galt. Sowohl unter den Studierenden als auch bei einem Teil der Wissenschaftler hatten sich völkisches Gedankengut und Antisemitismus schon längst etabliert. So war der Widerstand auch gering, als oft langjährige Wissenschaftler die Hochschule verlassen und oft auch ihre akademischen Titel zurückgeben mussten, weil sie Juden waren.  Einige der Betroffenen verwiesen auf ihre patriotische Gesinnung und ihrer Verdienste im ersten Weltkrieg, was ihnen allerdings nur kurzzeitig das Amt rettete. Andere wie der aus Ungarn stammende Bauingenieur Nikolaus Kelen  reagierten auf seine Beurlaubung mit der Erklärung, dass er sich nicht mehr als  Angehöriger der TU Berlin betrachte.  Für andere Wissenschaftler brach mit ihrer Relegierung eine Welt zusammen. Mehrere der Entlassenen verübten Selbstmord, andere emigrierten. Viele wurden später in den Konzentrations-  und Vernichtungslagern ermordet.

Ein bisher noch weitgehend unerforschtes Kapitel ist der Einsatz  von meist osteuropäischen Zwangsarbeitern an der TH-Berlin. Sie sollten in den letzten Kriegsjahren die Schäden beheben, die durch Bombenangriffe an Einrichtungen der Hochschule entstanden sind.  Ein weiteres Forschungsthema wäre der Umgang mit Opfern und Tätern an der Hochschule nach 1945. So wurde selbst der  Nationalsozialist   der ersten Stunde an der TH-Berlin  Willi Willing, der für die Maßnahmen gegen jüdische Hochschulangehörige an vorderster Front beteiligt war, als minderbelastet eingestuft.  Während viele ehemalige Nationalsozialisten nach 1945 ihre Karriere fortsetzen konnten, wurde vielen  Opfern  die kalte Schulter gezeigt. Dazu gehört Dmitri Stein, der 1943 an der TH als Jude seine Promotion im Fach Elektrotechnik verweigert wurde. Als er in den 50er Jahren seine Promotion an der TU Berlin zu Ende führen wollte, wurde ihm mitgeteilt, man habe jetzt ganz andere Sorgen. 2008 wurde Dimitri Stein nach 65 Jahren die Doktorprüfung überreicht. Viele andere hatten das Glück nicht. Das Buch        sorgt nun dafür, dass ihre Namen nicht vergessen werden und  kann für heutige Formen von Diskriminierung auch an der Hochschule sensibilisieren, worauf die Studierende der Geisteswissenschaften  Filiz Dagci in ihren Beitrag zur Buchvorstellung hinwies.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/827308.als-eine-welt-zusammenbrach.html
Peter Nowak
Carina Baganz, Diskriminierung, Ausgrenzung, Vertreibung. Die Technische Hochschule währed des Nationalsozialismus. Metropol Verlag, Berlin 2013, 414 Seiten,  24 Euro

Rechtes Pilotprojekt

International Ein neues Buch über die Hintergründe der autoritären Entwicklung in Ungarn

Die innenpolitische Entwicklung Ungarns ist immer wieder Thema innerhalb der EU. Verstärkt drängen zivilgesellschaftliche Organisationen auf Sanktionen als Reaktion auf den Rechtskurs der Regierung Orbán, seitdem diese 2010 mit Orbáns Fidesz-Partei eine überragende Mehrheit erreichte und die faschistische Jobbik sich als Opposition etablierte. Anders als vor über zehn Jahren, als in Österreich mit der FPÖ unter Jörg Haider eine offen rechte Partei in Regierungsverantwortung kam, gibt es jedoch in der außerparlamentarischen Linken nur wenige Diskussionen über die innenpolitische Situation in Ungarn.
Da kommt ein Buch gerade Recht, das kürzlich unter dem Titel »Mit Pfeil, Kreuz und Krone« im Unrast-Verlag erschienen ist und einen fundierten Überblick über die Entwicklung Ungarns nach rechts gibt. Im ersten Kapitel geht die deutsch-ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky auf die ideologischen Hintergründe der völkischen Entwicklung in Ungarn ein und zeigt eine jahrzehntelange innenpolitische Entwicklung nach rechts auf.
Ein zentrales Datum war dabei der Sturm auf das Gebäude des staatlichen Fernsehens in Budapest am 18. September 2006 durch TeilnehmerInnen einer Großdemonstration gegen den damaligen Ministerpräsidenten Gyurcsány. In der darauf folgenden Lynchstimmung gegen Linke, Liberale und kritische JournalistInnen sei die neue Republik geboren worden, die Orbán zunächst als Oppositionspolitiker beschworen hatte und nun als Ministerpräsident vorantreibt.
Präzise beschreibt Marsovszky den nationalistischen Diskurs in der Geschichtspolitik sowie im Umgang mit den Nachbarländern. Wenn sie mit Rekurs auf den US-Historiker Fritz Stern resümiert, dass die Angst vor einer liberalen, offenen Gesellschaft das zentrale Problem in Ungarn sei, bleibt sie liberalen Gesellschaftsvorstellungen verhaftet. So ist es auch nur folgerichtig, dass Marsovszky bei ihrer Beschreibung der oppositionellen Kräfte in Ungarn die kleine kommunistische Arbeiterpartei mit keinem Wort erwähnt. Dabei gab es mehrere Strafprozesse gegen Mitglieder dieser Partei, weil sie weiterhin kommunistische Symbole wie Hammer und Sichel in der Öffentlichkeit zeigten, die in Ungarn kriminalisiert werden.
Antiziganismus, Homophobie und Antisemitismus
Im zweiten Kapitel geht der in Hamburg lebende Publizist Andreas Koob auf die Feindbilderklärung gegen Sinti und Roma, aber auch den Antisemitismus und die Homophobie in Ungarn ein. Koob macht an zahlreichen Beispielen deutlich, wie marginal die Unterschiede zwischen Fidesz, Jobbik und rechten Bürgerwehren besonders in der ungarischen Provinz oft sind. Vor allem in kleineren Orten führt dieses Zusammenwirken zu einem Klima der Ausgrenzung und Diskriminierung insbesondere gegenüber Sinti und Roma. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch ein von der Regierung beschlossenes Gesetz, das Erwerbslose, die öffentliche Leistungen bekommen, zu einem strengen Arbeitsregime mit ständiger öffentlicher Kontrolle verpflichtet.
Der Publizist Holger Marcks geht im dritten Kapitel auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik der ungarischen Regierung ein, die in der öffentlichen Debatte bisher selten erwähnt wird. Er macht deutlich, dass es sich hier um eine Wirtschaftspolitik handelt, wie sie viele völkische Gruppen schon vor 100 Jahren propagierten und die auch auf das Programm der frühen NSDAP großen Einfluss hatte. Der Kampf gegen ausländische Banken, aber auch Großorganisationen wie den IWF gehört ebenso zu den Elementen dieser Wirtschaftspolitik wie die Propagierung des Schutzes der heimischen Industrie und des Mittelstandes.
Trotz aller Kritik erhält die Fidesz-Partei nach wie vor Unterstützung durch die europäischen Konservativen und auch durch PolitikerInnen aus CDU und CSU. Ungarn könnte daher, so die Befürchtung der AutorInnen, durchaus eine Pilotfunktion haben, indem es völkisch-rechte Politik in der EU wieder salonfähig macht. Ein Grund mehr, dass die Linke darüber diskutiert.
Peter Nowak

Andreas Koob, Holger Marcks und Magdalena Marsovszky: Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn. Unrast-Verlag, Münster 2013. 208 Seiten, 14 EUR.

http://www.akweb.de/
ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 584 / 21.6.2013

Wilder Streik der Migrantinnen


Vor 40 Jahren traten Arbeiterinnen von Pierburg in den Ausstand – ein Buch versammelt Zeitzeugen und Dokumente

Eine Mark mehr Lohn und die Abschaffung der Leichtlohngruppe lauteten die zentralen Forderungen eines Streiks, der vor 40 Jahren die damalige Linke jenseits aller Differenzen mobilisierte. Es waren überwiegend migrantische Frauen, die bei der Autozubehörfirma Pierburg in Neuss in den Arbeitskampf getreten sind ohne auf die Gewerkschaftsbürokratie zu warten und sogar erfolgreich haben. Dabei hat der im Nationalsozialismus wie in der BRD erfolgreiche Unternehmerpatriarch Alfred Pierburg die streikenden Frauen hart bekämpft. Unterstützt wurde er dabei von den Neusser Polizeipräsidenten Günther Knecht, der die Knüppeleinsätze gegen die streikenden Frauen mit dem Satz rechtfertigte. „Wilder Streik, das ist Revolution“.
Dieses Zitat wurde zum Titel für einen Dokumentenband über den Pierburg-Streik, das der damalige oppositionelle Betriebsrat des Unternehmens Dieter Braeg kürzlich im Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ herausgegeben hat. Er hat dort zahlreiche zeitgenössische Berichte über den Streik und den 40minütigen Film „Ihr Kampf ist unser Kampf“ erneut zusammengestellt.

Hinter der Einschätzung von Dieter Braeg, der Pierburg-Streik sei ein Beispiel für „eine andere deutsche Arbeiterinnen – und Arbeiterbewegung“ muss allerdings ein großes Fragezeichen gesetzt werden. Mit einer viel größeren Berechtigung könnte der Streik als Beispiel für einen selbstorganisierten Kampf migrantischer Frauen angeführt waren. Die in dem Buch aufgeführten Dokumente machen deutlich, wie die im Nationalsozialismus sozialisierten Vorarbeiter auf den Kampf der Frauen reagierten. „Ihr seit doch das aufsässigste Pack, was mir je untergekommen ist“, ihr Scheißweiber“, schrie einer der Pierburg-Vorarbeiter eine griechische Beschäftigte an und drohte ihr mit Schlägen, weil sie sich bei dem Betriebsrat über die Arbeitsbedingungen beschwert hatte. Die Dokumente zeigen auch, die Ignoranz mancher Betriebsräte, denen die Pflege der Trikots der firmeneigenen Fußballmannschaft wichtiger als die Interessenvertretung der Kolleginnen war. Die IG-Metall-Führung versuchte den Streik in institutionelle Bahnen zu lenken. Nachdem der Ausstand erfolgreich abgeschlossen war, überzog das Unternehmen vier oppositionelle Betriebsräte mit langwierigen Gerichtsprozessen, bei denen sie sich für Solidaritätsbesuche bei anderen Betrieben rechtfertigen mussten. Braeg ordnet den Pierburg-Streik in den politischen Kontext jener Jahre ein. Mit den Septemberstreiks von 1969 begann ein Aufbegehren von Lohnabhängigen, die sich nicht mehr in DGB-konforme Vertretungsinstanzen pressen lassen wollten. Daran waren migrantische Beschäftigte federführend beteiligt. Höhepunkt war der Streik und die Besetzung der Kölner Fordwerke im August 1973. Als die Polizei die Fabrik mit Gewalt räumte, zahlreiche Streikende festnahm und mehrere der migrantischen Aktivisten als angebliche Rädelsführer abschieben ließ, titelte die Springerpresse: „Deutsche Arbeiter kämpfen Ford frei“.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/826492.wilder-streik-der-migrantinnen.html
Peter Nowak

Braeg Dieter, Wilder Streik, Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973, Die Buchmacherei, ISBN 978-3-00-039904-6, 13, 50 Euro
Der Herausgeber stellt das Buch und den Film am Samstag, 06. Juli, um 15 Uhr im Berliner Mehringhof Gneisenaustr. 2a vor

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„Wir verlangen, dass die Taliban die Verfassung nicht in Frage stellen“

Daud Rawosh (Volkspartei): Soziale Gerechtigkeit und der Kampf gegen ethnische Zersplitterung sind zentrale Ziele **

Es gibt Streit zwischen den USA und der afghanischen Regierung wegen der Verhandlungen mit den Taliban. Wie stehen Sie als Vorsitzender einer linken afghanischen Partei dazu?

Wir halten Gespräche mit den Taliban nur unter ganz klaren Bedingungen für sinnvoll. Dazu gehört die Respektierung der afghanischen Verfassung, was die Rechte der Frauen einschließt. Zudem müssen sie den bewaffneten Kampf aufgeben.

Befürchten Sie nach dem Abzug der NATO-Truppen einen Machtzuwachs der Taliban?

Die ausländischen Truppen ziehen nicht vollständig ab. Zudem ist mittlerweile auch eine afghanische Sicherheitsstruktur entstanden, die eine Machtübernahme der Taliban verhindern könnte. Aber selbst auf dieses schlimmste Szenario ist unsere Partei vorbereitet. Schließlich konnten wir selbst unter der Taliban-Herrschaft bis 2001 illegale Strukturen aufrechterhalten.

Wie steht Ihre Partei zur Militärintervention von 2001?

Wir sind prinzipiell gegen jede Besatzung. Doch 2001 gab es für uns nur die Alternative, weiter unter dem besonders reaktionären, mittelalterlichen Taliban-Regime zu leben oder es durch die Intervention loszuwerden. Zudem darf nicht übersehen werden, dass in dieser Zeit Afghanistan zum Aufmarschgebiet von Al Qaida und anderen islamistischen Gruppen geworden war. Deshalb lehnen wir nicht die Intervention ab. Wir protestieren aber gegen jegliche Menschenrechtsverletzungen durch die NATO-Truppen in unserem Land.

Afghanische Frauenorganisationen sehen nicht nur in den Taliban, sondern auch in den Warlords ein Problem.

Wir teilen diese Einschätzung völlig. Der Einfluss islamistischer Herrscher ist ein großes Hindernis bei der Durchsetzung von Demokratie und Frauenrechten.

Könnte durch die Verhandlungen mit den Taliban nicht das Gewicht dieser reaktionären Gruppierungen wachsen?

Die in der Verfassung garantierten Rechte dürfen weder durch die Taliban noch durch andere Gruppierungen infrage gestellt werden.

Wie sehen Sie die Rolle von Präsident Hamid Karsai?

Es ist bekannt, dass Karsai einem korrupten politischen System vorsteht, das in Drogenhandel verstrickt ist. Daher sind wir erklärte Gegner von Karsai. Das schließt allerdings nicht aus, dass wir einzelne Maßnahmen von Karsai unterstützen, wenn sie zur Stärkung der demokratischen Rechte beitragen.

Wie ist die von Ihnen repräsentierte Partei entstanden?

Sie ging voriges Jahr aus »Bewegungen für Demokratie« hervor, die in Afghanistan aktiv waren. Die Partei sieht sich in der historischen Tradition der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA), die 1978 führend an der Aprilrevolution beteiligt war. Dennoch sind wir eine völlig neue Partei, die unter den aktuellen Bedingungen und auf dem Boden der afghanischen Verfassung agiert.

Wie groß ist der Zuspruch bisher?

Viele Aktivisten der DVPA sind auch in der neuen Partei aktiv. Mittlerweile ist sie in 24 der 34 Provinzen vertreten. Ein Schwerpunkt der Partei ist die Arbeit in Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Auch der Vorsitzende des afghanischen Handwerksverbandes ist Mitglied unsere Partei.

Welche zentralen Ziele verfolgt Ihre Partei?

Wir kämpfen um soziale Gerechtigkeit und lehnen die ethnische Spaltung ab. Die meisten Parteien in Afghanistan sind nur in einer bestimmten Ethnie verankert, was zur Zersplitterung des Landes führt. Wir hingegen haben eine gesamtgesellschaftliche Perspektive und kämpfen für egalitäre Verhältnisse.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 21. Juni 2013
https://www.neues-deutschland.de/artikel/825090.wir-verlangen-dass-die-taliban-die-verfassung-nicht-in-frage-stellen.html

Interview: Peter Nowak

Radeln gegen AKW?

Ingo Falk ist Mitglied der Anti-Atom-Gruppe Freiburg

nd: Jährlich protestieren Atomkraftgegner in der Region um das an der Grenze zu Deutschland gelegene, französische AKW Fessenheim. Am Wochenende führt die Fahrraddemonstration »Tour de Fessenheim 2013« von Mulhouse nach Colmar. Was ist geplant?
falk: Bereits im vergangenen Jahr haben wir auf etliche Projekte der erneuerbaren Energien in der Region aufmerksam gemacht. Diesmal steht die Besichtigung der neuen Photovoltaikanlage in Staffelfelden auf 5,5 Hektar Fläche mit einer installierten Leistung von 5,3 Megawatt auf unserem Programm. Im Département Aude in der Gegend um Narbonne und Carcasonne wird schon heute mit Wind- und Solarenergie mehr als 50 Prozent des Stroms erzeugt. Nur in den Mainstreammedien in Deutschland ist immer noch die Rede von der »Atomstromnation Frank-reich«.

Lässt das Interesse am Protest nicht nach, da viele im Elsass meinen, das AKW Fessenheim werde in wenigen Jahren stillgelegt?
Zum einen wollen wir dieser trügerischen Hoffnung etwas entgegensetzen, zum anderen zeigen uns die Anmeldungen, dass gerade die Zahl der französischen Teilnehmer in diesem Jahr höher liegen wird als bei der »Tour de Fessenheim 2012«.

Welche Risiken sehen Sie durch den Betrieb dieses AKWs?
Das Rheintal ist eine geologische Bruchzone und daher Erdbebengebiet. Im Jahr 1356 wurde die rund 35 Kilometer von Fessenheim entfernte Schweizer Stadt Basel durch ein Erdbeben zerstört. Es handelte sich um das stärkste überlieferte Erdbeben in Mitteleuropa. Im Juni 2011 bestätigte ein Gutachten, dass das am Rheinseitenkanal gelegene Atomkraftwerk nicht ausreichend gegen die Folgen eines Dammbruchs gesichert ist. Laut einer TV-Dokumentation auf »France 2« hielt der Betreiberkonzern einen internen Bericht zurück, in dem katastrophale Untersuchungsergebnisse über den Zustand des Rheinseitenkanals zu lesen sind. Ein solcher Dammbruch kann durch ein Erdbeben ausgelöst werden.

Wenn es so gefährlich ist, wie Sie darstellen, warum bleibt das AKW am Netz?

Pro Jahr wirft ein Reaktorblock durchschnittlich 300 Millionen Euro an Profit ab. Bei den zwei Reaktorblöcken des AKW Fessenheim sind dies also rund 600 Millionen. Solange teure Nachrüstungen oder pannenbedingte Stillstandszeiten diesen Profit nicht minimieren, bleibt ein enormes ökonomisches Interesse am Weiterbetrieb. Bekanntlich unterstützt auch die kommunistische Gewerkschaft CGT den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke in Frankreich. Es ist bekannt, dass sich diese Gewerkschaft maßgeblich über Zuwendungen von Konzernen und insbesondere des französischen Stromkonzerns EdF finanziert.

Frankreich bleibt Atommacht?
Wir müssen sehen, dass die politische Kaste in Frankreich unbeirrt an der atomaren Bewaffnung, der »force de frappe«, festhält. Atomkraftwerk und Atombombe sind siamesische Zwillinge. Ohne eine Abkehr von der Atombombe ist daher das Versprechen von Präsident François Hollande, einen Atomausstieg in Frankreich einzuleiten, wenig glaubwürdig. Zumal wenn in Mali ein Krieg geführt wird, der der Sicherung von Uranminen im benachbarten Niger dient, und wenn weiterhin Milliarden Euro staatlicher Gelder in die Förderung der Atomenergie fließen.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/825974.radeln-gegen-akw.html
Interview: Peter Nowak

„Ein Unfall im AKW Fessenheim könnte gravierendere Auswirkungen haben als das Desaster in Japan“


„Tour de Fessenheim“: Atomkraft-Gegner protestieren gegen das an der deutsch-französischen Grenze gelegene AKW

Am kommenden Wochenende findet die Tour de Fessenheim 2013 statt – in diesem Jahr auf der Strecke von Mulhouse nach Colmar. Nach wie vor gilt die Fahrrad-Demonstration dem Protest gegen das an der deutsch-französischen Grenze gelegene AKW Fessenheim. Frankreichs neuer Präsident François Hollande hat zwar versprochen, das mit rund 36 Jahren älteste französische Atomkraftwerk gegen Ende seiner vierjährigen Amtszeit stillzulegen, doch die Atomkraft-Gegner dies- und jenseits des Rheins haben da ihre Zweifel und drängen auf eine sofortige Stilllegung. Außerdem stehen bei der diesjährigen Tour de Fessenheim die erneuerbaren Energien im Zentrum.

Die Tour de Fessenheim stellt gleich in dreierlei Hinsicht zu schnelle Urteile über die Anti-AKW-Bewegung infrage. Da gibt es die in den Medien immer wieder verwendete Behauptung, dass mit dem langsamen Ausstiegsbeschluss aus der Atomkraft auch die Anti-AKW-Bewegung ihre Funktion verloren habe, und es jetzt nur noch darum gehe, einen Platz für den atomaren Müll zu finden. Eine zweite Behauptung in vielen deutschen Medien besagt, dass die Bevölkerung in Frankreich mehrheitlich gegenüber AKW-kritischen Bestrebungen resistent sei.

Schließlich wird immer wieder behauptet, dass ein Desaster wie in Fukoshima in Europa nicht möglich wäre. Die Proteste gegen das AKW Fessenheim haben in den letzten zwei Jahren nach den Gau in Japan neuen Zulauf bekommen, die Kooperation mit französischen Mitstreitern wurde ausgebaut. Ein Unfall in Fessenheim könnte gravierendere Auswirkungen haben, als das Desaster in Japan, meint Ingo Falk vom Organisationsteam der Tour de Fessenheim im Gespräch mit Telepolis.

„Ein AKW in einem mitteleuropäischen Erdbebengebiet ist unverantwortlich“

Lässt das Interesse am Protest nicht nach, wenn nun viele im Elsass meinen, das AKW Fessenheim werde in wenigen Jahren stillgelegt?

Ingo Falk: Zum einen wollen wir dieser trügerischen Hoffnung etwas entgegensetzen, zum anderen zeigt uns die Zahl der Anmeldungen, dass gerade die Zahl der französischen Teilnehmer in diesem Jahr sicher höher liegen wird als im vergangenen Jahr.

Welche Risiken sehen Sie für das AKW-Fessenheim?

Ingo Falk: Das Rheintal ist eine geologische Bruchzone und daher Erdbebengebiet. Im Jahr 1356 wurde die von Fessenheim rund 35 Kilometer entfernte Schweizer Stadt Basel durch ein Erdbeben zerstört. Es handelte sich um das stärkste überlieferte Erdbeben in Mitteleuropa. Im Juni 2011 wurde durch ein Gutachten bestätigt, dass das am Rheinseitenkanal gelegene Atomkraftwerk nicht ausreichend gegen die Folgen eines Dammbruchs gesichert ist.

Laut einer TV-Dokumentation auf France 2 hielt der Betreiber-Konzern einen internen Bericht zurück, in dem katastrophale Untersuchungsergebnisse über den Zustand des Rheinseitenkanals zu lesen sind. Und auch ein solcher Dammbruch kann durch ein Erdbeben ausgelöst werden.

Wären die Folgen eines Super-GAU im AKW Fessenheim mit jenen in Japan vergleichbar?

Ingo Falk: Sie könnten weitaus verheerender ausfallen. In der Region um Fukushima hatten die Menschen noch Glück im Unglück, denn es wehte meist ein Wind in Richtung Meer, der dafür sorgte, dass die Todeszone auf einen Radius von 30 bis 40 Kilometer beschränkt blieb. Bei einem Super-GAU im AKW Fessenheim würde bei den vorherrschenden Windverhältnissen nicht nur die Region um das nur 24 Kilometer entfernte Freiburg unbewohnbar, sondern selbst Stuttgart, Schwäbisch Hall und Nürnberg könnten für Jahrzehnte unbewohnbar werden.

Das AKW Fessenheim enthält ein radioaktives Inventar, das 1.760 Hiroshima-Bomben entspricht. Im Februar erklärte Jean-Louis Basdevant, hochrangiger französischer Kernphysiker und Professor an der polytechnischen Hochschule, dass ein schwerer Unfall im AKW Fessenheim eine dramatische Katastrophe für ganz Europa wäre, die – so wörtlich – das Leben der zentraleuropäischen Region bis nach Rotterdam für mehr als 300 Jahre vernichten würde. Er erinnerte daran, dass sich das AKW an der Basis des Rheintals zwischen Basel und Rotterdam befindet, dem am dichtesten besiedelten Gebiet Europas mit einer hohen Konzentration von Industrieanlagen – und dass Fessenheim an der Basis des Oberrhein-Aquifers, einem der größten Trinkwasservorkommen Europas liegt.

Wenn es so gefährlich ist, wie Sie darstellen, warum bleibt das AKW dennoch am Netz?

Ingo Falk: In einem Jahr wirft ein Reaktorblock durchschnittlich 300 Millionen Euro an Profit ab. Bei den zwei Reaktorblöcken des AKW Fessenheim sind dies also insgesamt rund 600 Millionen Euro im Jahr. Solange teure Nachrüstungen oder pannenbedingte Stillstandszeiten diesen Profit nicht minimieren, bleibt ein enormes ökonomisches Interesse am Weiterbetrieb.

Bekanntlich unterstützt auch die französische kommunistische Gewerkschaft CGT den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. Es ist bekannt, dass sich diese Gewerkschaft maßgeblich über Zuwendungen von Konzernen und insbesondere des französischen Strom-Konzerns EDF finanziert. Zudem müssen wir sehen, dass die politische Kaste in Frankreich unbeirrt an der atomaren Bewaffnung, der „force de frappe“, festhält.

Atomkraftwerk und Atombombe sind siamesische Zwillinge. Ohne eine Abkehr von der Atombombe ist daher das Versprechen Hollandes, einen Atomausstieg in Frankreich einzuleiten, wenig glaubwürdig – zumal wenn ein Krieg geführt wird wie in Mali, der der Sicherung von Uranminen im benachbarten Niger dient, und wenn weiterhin Milliarden Euro staatlicher Gelder in die Förderung der Atomenergie fließen.
http://www.heise.de/tp/blogs/2/154529
Peter Nowak