Wohlfühlort, Täterort

Acht Jahre lang gab es das besetzte Haus in Erfurt auf dem ehemaligen Gelände der Firma Topf und Söhne, die im Nationalsozialismus Krematoriumsöfen herstellte. Nun widmen sich ehemalige Bewohner einer kritischen Rückschau.

Gleich zwei Jubiläen stehen für die linke Szene in Erfurt an. Am 12. April jährt sich zum 12. Mal die Besetzung des ehemaligen Geländes der Firma Topf und Söhne. Am 15. April 2009 wurde es mit einem großen Polizeieinsatz geräumt. Auch beinahe vier Jahre nach der Räumung sind das Gelände und das ehemals besetzte Haus, das sich dort befindet, noch nicht in Vergessenheit geraten. Das zeigt der ansprechend gestaltete Bildband »Topf & Söhne – Besetzung auf einem Täterort«, der von den ehemaligen Hausbewohnern Karl Meyerbeer und Pascal Späth kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution herausgegeben wurde.

Anders als in vielen anderen Schriften über Haus­projekte handelt es sich keineswegs um eine Publikation, in der sich ehemalige Besetzer wehmütig an die gute, alte Zeit erinnern und die Repression beklagen. Vielmehr ist der Band ein Geschichtsbuch über die radikale Linke der vergangenen 15 Jahre. Denn »das besetzte Haus«, wie es auf Flugblättern immer genannt wurde, war nie nur ein Wohlfühlort für Unangepasste.

Schon im Titel des Buches wird deutlich, dass die Geschichte des Ortes für die Außen- und die Selbstwahrnehmung der Besetzer eine zentrale Rolle spielte. Denn die Erfurter Firma Topf und Söhne stellte auf dem Gelände in der Zeit des Nationalsozialismus Krematoriumsöfen für Konzentrations- und Vernichtungslager her. Die Mehrheit der jungen Menschen, die im Frühjahr 2001 die Besetzung vorbereiteten, sah in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Geländes von Anfang an eine politische Notwendigkeit. Das ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit in der Geschichte der Besetzerbewegung. So thematisierten die Bewohner des als Köpi international bekannten Hausprojekts in Berlin nie öffentlich, dass sich während des Zweiten Weltkriegs auf dem Gelände eine der vielen Unterkünfte für Zwangsarbeiter befunden hat.

In Erfurt wurde hingegen bereits 2002 das Autonome Bildungswerk (ABW) gegründet, das mit Veranstaltungen und historischen Rundgängen über das ehemalige Gelände von Topf und Söhne aufklärte. Marcel Müller, der bis 2003 im ABW mitarbeitete, kommt im Buch zu einem sicher diskussionswürdigen Resümee über das Bildungswerk: »Als ein echtes Stück bürgerschaftlichen Engagements kann es als Teil einer unerzählten Geschichte der Erfurter Zivilgesellschaft gelten. Als revolutionäres Projekt der kollektiven Bildung für eine andere Gesellschaftsordnung ist es Teil linker Geschichte des Scheiterns. Für die Beteiligten kann es als Erfahrungsraum für spätere Lebensabschnitte in seiner Bedeutung möglicherweise nicht hoch genug eingeschätzt werden, war mit ihm doch die Einübung bestimmter Skills wie Selbständigkeit, Geschichtsbewusstsein, Organisationstalent verbunden, die z. B. einer akademischen Karriere nicht eben abträglich sind.« Ein solches Fazit könnten Angehörige der radikalen Linken auch in anderen Bereichen ziehen.

In einem eigenen Kapitel zur geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit dem »Täterort« zeigt sich, wie diese selbst dazu beitrug, dass es mittlerweile auch offiziell einen »Erinnerungsort Topf und Söhne« gibt. Diesen bewirbt die Stadt Erfurt auf ihren Tourismusseiten im Internet, umgeben wird der Verweis auf »die Ofenbauer von Auschwitz« von Slogans wie »erleben und verweilen« und »Rendezvous in der Mitte Deutschlands«. Das passt sehr gut zu jener Erinnerungspolitik, die im besetzten Haus einer radikalen Kritik unterzogen wurde.

Auch in innerlinken Auseinandersetzungen ergriffen die politisch aktiven Bewohner Partei und scheuten dabei nicht die Auseinandersetzung. So sorgte die Demonstration unter dem Motto »Es gibt 1 000 Gründe, Deutschland zu hassen«, die mehrere Jahre in Folge am 3. Oktober in Erfurt mit Unterstützung des besetzten Hauses veranstaltet wurde, vor allem in reformistischen Kreisen für Aufregung. Die Ablehnung von Antiamerikanismus und antiisraelischer Politik, die ein Großteil der Hausbewohner nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vertrat, sorgte auch in der radikalen Linken für Konflikte.

Es ist erfreulich, dass auch diese strittigen Themen im Buch nicht ausgespart werden. So findet sich ein Interview mit einem ehemaligen Mitglied der Gruppe Pro Israel und einem Antizionisten, der bei einer Veranstaltung dieser Gruppe im April 2002 Hausverbot erhielt. Elf Jahre später sind beide in der linken Bildungsarbeit in Thüringen tätig und sehen den damaligen Streit mit großer Distanz. Der ehemalige Pro-Israel-Aktivist stellt nun selbstkritisch fest: »Dass die Auseinandersetzung über linken Antisemitismus geführt wurde, fand ich richtig. Von heute aus gesehen würde ich sagen, dass die Fokussierung auf einen Punkt ein Problem war. Die soziale Frage hat überhaupt keine Rolle gespielt, was – muss man auch mal sagen – daran lag, das die uns kaum betroffen hat.« Der Streit um eine US-Fahne, die ein Hausbewohner an seinem Zimmerfenster angebracht hatte und die andere ­erzürnte, wird von den Beteiligten mittlerweile eher als Punkrock denn als Politik bezeichnet.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des über acht Jahre lang besetzten Hauses in Erfurt führt so auch zu den damaligen Diskussionen, die die radikale Linke bundesweit beschäftigten. Dass trotz der sicher nicht immer besonders erfreulichen Diskussionen ehemalige Hausbewohner drei Jahre nach der Räumung noch in unterschiedlichen linken Gruppen tätig sind, macht deutlich, dass das Haus bei der Politisierung ­einer Generation junger Menschen in Erfurt und Umgebung eine wichtige Rolle spielte.

http://jungle-world.com/artikel/2013/13/47408.html
Peter Nowak

Eine halbe Million


Belzec – das vergessene Vernichtungslager

Auschwitz, Treblinka, Sobibor, die Namen dieser deutschen Vernichtungslager im von der Wehrmacht besetzten Polen sind in einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Das 40 Kilometer südlich von Zamoscz errichtete Vernichtungslager Belzec hingegen war lange Zeit weitgehend vergessen. Dabei sind dort zwischen Februar und Dezember bis zu einer halben Million Juden sowie Sinti undm Roma ermordet worden. Danach wurde das Lager aufgelöst und die Täter pflanzten Pflanzen und Gras über der Todesstätte. Jetzt hat Berliner Metropol-Verlag die erste deutschsprachige Untersuchung zu Belzec herausgegeben. Autor ist der polnische Historiker Robert Kuwalek, der Mitarbeiter des Staatlichen Museums Majdanek in Lublin ist und von 2004 bis 2009 die Gedenkstätte Belzec leitete.
Kuwalek versteht es in seinem Buch detaillierte Informationen so darzustellen, dass sie auch für historische Laien gut nachvollziehbar sind. In den ersten beiden Kapiteln fasst der aktuellen Forschungsstand zu den Entscheidungsprozessen unter den NS-Eliten zusammen, die zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung führte. Dabei weist er nach, dass die als T4-Aktion bekannten Morde an als Geisteskrank erklärten Menschen der Probelauf für die Shoah war.
Anders als die anderen Vernichtungslager lag Belzec nicht abseits im Wald sondern an einer zentralen Bahnlinie. Daher widmete sich Kuwalek ausführlich der Frage, was darüber bekannt war. Die Bewohner der Umgebung waren über die Massenmorde informiert. Dafür sorgte schon der süßliche Geruch über dem Areal. Kuwalek zitiert auch aus Berichten von Zugpassagieren, die damals aufgefordert wurden, die Fenster in ihren Abteilen zu schließen. Es gab allerdings vor allem unter den NS-Chargen auch einen Holocaust-Tourismus. Sie berichten darüber auch ihren Familien. Nach 1945 wollten natürlich alle nichts gewusst haben. Auch bei den aus ganz Polen und der heutigen Ukraine nach Belzec deportierten Juden sprach sich bald rum, dass es sich dabei nicht um eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Osten handelte, wie die NS-Propaganda den Opfern anfangs vorgaukelte. Später verzichteten sie auf diese Camouflage. In mehreren dokumentierten Berichten wird die Brutalität deutlich, mit denen die deutschen Täter und ihre ukrainischen Helfer schon beim Transport mit den Juden umgingen. Ein großer Teil war schon tot, als sie in Belzec ankamen.
Sehr kritisch geht Kuwalek auch mit polnischen Geschichtsmythen in Polen um. So widerlegt er Berichte über Tausende in Belzec umgekommenen Polen. Zudem hätten Bewohner der umliegenden Dörfer noch bis Ende der 40 Jahre auf der Suche nach Wertgegenständen die Leichen ausgegraben. Mit Chaim Hirszman ist einer der wenigen Überlebenden von Belzec am 19. März 1946 von rechten Untergrundgruppen, die gegen die entstehende Volksrepublik Polen kämpften, in seiner Wohnung ermordet wurden. Wenige Stunden zuvor hatte er vor einer historischen Kommission über seine Erlebnisse in Belzec berichtet. Hirszman war schon in den 30er Jahren in der sozialistischen Jugendbewegung aktiv. Ein eigenes Kapitel widmet Kuwalek dem christlichen SS-Mann Kurt Gerstein, der nach einen Besuch in Belzec über die Zustände so erschüttert war, dass er Diplomaten informierte, um die Weltöffentlichkeit wachzurütteln. Vergeblich, Gerstein starb in französischer Haft, wo er mit NS-Tätern in eine Zelle gesperrt war. Die für die Morde in Belzec Verantwortlichen hingegen wurden bis auf ganz wenige Ausnahmen nie bestraft.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/815526.eine-halbe-million.html

Peter Nowak
Robert Kuwalek, Das Vernichtungslager Belzec, Aus dem Polnischen übersetzt von Steffen Hänschen, Metropol Verlag, Berlin, 2012, SBN: 978-3-86331-089-0, 392 Seiten, 24,– Euro

Der vergessene Terror

Im März 1919 wurde in Berlin ein Generalstreik von Militär und Freikorps blutig niedergeschlagen. Der Historiker Dietmar Lange liefert einen tiefen Einblick in ein weitgehend unbekanntes Kapitel der deutschen Geschichte.

Unter dem Motto »Zerstörte Vielfalt« erinnern staatliche Stellen 2013 an mehrere Jahrestage des NS-Terrors, von der Machtübernahme bis zur Reichspogromnacht. Mit dem Titel wird suggeriert, dass es in Deutschland bis 1933 eine weit­gehend heile Welt gegeben habe, die von den Nazis zerstört wurde. Der Publizist Sebastian Haffner, der während der NS-Zeit im Exil lebte, eröffnete in seinem 1969 erschienenen Buch »Die verratene Revolution 1918/19« eine ganz andere Perspektive auf die Geschichte vor 1933. Dort bezeichnet er die von rechten Freikorps mit Unterstützung der SPD-Führung verübten Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als »Auftakt zu den tausendfachen Morden in den folgenden Monaten der Noske-Zeit und den millionenfachen Morden in den folgenden Jahrzehnten der Hitlerzeit«.

Der Berliner Historiker Dietmar Lange widmet sich in seinem bei Edition Assemblage veröffentlichten Buch »Massenstreik und Schießbefehl« einem weniger bekannten Kapitel der deutschen Zwischenkriegsgeschichte und setzt sich intensiv mit dem Generalstreik und den Kämpfen in Berlin im März 1919 auseinander. Der Streik war einerseits ein letzter Versuch, die Ziele der Revolution wie die »Sozialisierung der Schlüsselindustrien« und die Etablierung von Räten durchzusetzen. Andererseits ging es aber auch schlicht um die Verbesserung der miserablen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft. Lange führt in diesem Zusammenhang Aussagen von Sozial- und Gesundheitsexperten an, denen zufolge mehr als die Hälfte der Todesfälle in den Berliner Krankenhäusern in den ersten Wochen des Jahres 1919 auf Unterernährung zurückzuführen sind.

Das Bürgertum wappnete sich auf seine Weise für die Konfrontation. Am 10. Januar 1919 trafen sich »40 bis 50 Vertreter von Banken, Industrie und Gewerbe (…), wo nach einem Vortrag des führenden antikommunistischen Agitators und Vorsitzenden der antibolschewistischen Liga, Edward Stadler, ein Fonds zur Niederschlagung der Revolution mit mehreren Millionen Mark ausgestattet wurde«, zitiert Lange ein historisches Dokument. Dieses Geld wurde vor allem zum weiteren Aufbau der Freikorpsverbände und Bürgerwehren genutzt, die an der blutigen Niederschlagung der Aufstände im März 1919 beteiligt waren.

Lange geht detailliert auf die Straßengewalt ein, die sich parallel zum Generalstreik in einigen Berliner Stadtteilen entwickelte und von der sich sämtliche politische Gruppen – auch die junge KPD – distanzierten. Der Historiker verweist auf verbreitete Thesen, dass diese Aktionen von der Konterrevolution bezahlt wurden, um die Streikbewegung zu diskreditieren und schließlich zu zerschlagen. Er beschreibt aber auch die soziale und politische Anspannung auf den Straßen Berlins, die durch die schlechte wirtschaftliche Situation verschärft wurde. Tatsächlich traten mit Verweis auf die Unruhen Sondergesetze in Kraft, die den Arbeitskampf von Anfang an erheblich behinderten. Selbst die Herausgabe einer Streikzeitung wurde verboten.

Auch nachdem der Ausstand in Berlin nach sechs Tagen abgebrochen wurde, wütete der Terror der Freikorps und Bürgerwehren noch wochenlang weiter. Zu den Opfern gehörte neben vielen anderen Leo Jogiches, ein langjähriger Weggefährte Rosa Luxemburgs und Mitbegründer des Spartakusbundes. Nach der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts war Jogiches Parteivorsitzender der KPD geworden, doch hatte er diesen Posten ebenfalls nur kurze Zeit inne. Im März 1919 wurde er aus seiner Neuköllner Wohnung verschleppt und kurz darauf, am 10. März, im Untersuchungsgefängnis Moabit durch einen Kopfschuss getötet. Vor allem seine Recherchen zur Ermordung Luxemburgs und Liebknechts waren Militär und Freikorps ein Dorn im Auge gewesen. In den Akten heißt es, er sei auf der Flucht erschossen worden.

Jogiches war nicht der einzige Oppositionelle, der ermordet oder Repressalien ausgesetzt wurde. Die Freikorps durchkämmten die Berliner Arbeiterviertel mit Listen, auf denen Personen verzeichnet waren, die sich gegen den Krieg ausgesprochen hatten oder die in den Tagen der Novemberrevolution in Räten aktiv geworden waren. Auch missliebige Intellektuelle und dadaistische Künstler gehörten zu den Opfern des »Weißen Terrors«. Einer von ihnen war der Schriftsteller Wieland Herzfelde, der Bruder des Künstlers John Heartfield, der wegen der Herausgabe einer sati­rischen Zeitschrift inhaftiert wurde. »Diese Lynchungen«, zitiert Lange den Publizisten, beruhten »nicht auf Erregung, sondern auf System und Instruktion.«

In den Arbeitervierteln Berlins wurden Standgerichte eingesetzt, um unliebsame Oppositionelle ad hoc verurteilen zu können. Lange referiert in seinem Buch auf die damaligen Akten und führt erschreckende Beispiele an. So wurde etwa der Zigarettenhändler Johannes Müller denunziert und vor ein Standgericht gestellt, weil er als revolutionär geltende Bücher besaß. In der And­reasstraße in Friedrichshain wurden ein Vater und sein 19jähriger Sohn erschossen, weil sie zwei Handgranatenstiele von ihrer Arbeitsstelle mitgebracht hatten.

Der Schießbefehlerlass wurde erst am 16. März aufgehoben. Nach einem offiziellen Bericht des Reichswehrministers Gustav Noske (SPD) sind in Berlin insgesamt 1 200 Menschen ums Leben gekommen. Der überwiegende Teil von ihnen ist jedoch nicht bei den Kämpfen gestorben, sondern von Standgerichten erschossen worden. Lange schätzt die Zahlen Noskes allerdings als zu niedrig ein, da ein Teil der Opfer in Massengräbern verscharrt oder in die Spree geworfen wurde. Noch im Sommer 1919 wurden Berichten zufolge vereinzelt aufgedunsene Leichen ans Ufer geschwemmt.

Als sich die Nationalversammlung am 27. März 1919 mit dem Geschehen befasste, erklärte Noske unter dem Beifall sämtlicher Parteien von der SPD bis hin zur äußersten Rechten: »Da gelten Paragraphen nichts, da gilt lediglich der Erfolg, und der war auf meiner Seite.« Schon der Historiker Sebastian Haffner hat 1969 in seinem Buch einen Zusammenhang zwischen dem Terror der Freikorps gegen die Novemberrevolution und den Massenmorden des NS-Regimes hergestellt. Langes Erkenntnisse stützen diese Einschätzung anhand zahlreicher Beispiele und untermauern auch die Worte, die der Rechtshistoriker Otmar Jung in einer Ausgabe der Militärhistorischen Mitteilungen von 1989 für die Geschehnisse des März 1919 fand: »Noskes Erschießungsbefehl reiht sich so als unwürdiges Glied in eine Kette (prä)faschistischer deutscher Gewaltpolitik ein, welche die Welt nicht zu Unrecht ›hunnisch‹ nannte.«

Lange widerlegt mit seinem Buch die These von der 1933 durch die Nazis zerstörten Vielfalt und zeigt am Beispiel des März 1919 auf, was sich bei der Niederschlagung der Bayerischen Räterepublik im April 1919, des Ruhraufstands 1920 und auch des Hamburger Aufstands 1923 in ähnlicher Form wiederholte. Für den 14. März dieses Jahres planen linke Gruppen eine Veranstaltung mit dem Autoren des Buchs, bei der auch die Frage diskutiert werden soll, weshalb es bis heute keinen einzigen Gedenkort für die Opfer dieses Terrors gibt.
http://jungle-world.com/artikel/2013/07/47138.html
Peter Nowak

Analyse der Krisenproteste in Europa

Ein Buch betrachtet Widerstandsperspektiven

Warum gibt es in Europa trotz der großen Krise relativ wenig gemeinsamen Widerstand? Ein kürzlich im Verlag Assoziation A erschienenes Buch mit dem Titel »Krisen. Proteste« gibt einige Antworten auf diese Frage und zieht eine Zwischenbilanz der Proteste, Aufstände und Streikbewegungen, die es bisher als Reaktion auf die sozialen Verwerfungengab. Die Ungleichzeitigkeit der Krisenpolitik und der Wahrnehmung bei den Betroffenen erschwert einen gemeinsamen Widerstand. Diese Entkoppelung stellt für die Linken ein großes Problem dar, »das keineswegs mit bloßen Appellen und weltweiten Aufrufen bewältigt werden kann«, schreiben die Herausgeber des Buches, Peter Birke und Max Henninger, in der Einleitung. In zwölf Aufsätzen, die größtenteils auf der Onlineplattform Sozial.Geschichte Online veröffentlicht wurden, werden die aktuellen Bewegungen in den unterschiedlichen Ländern auf hohem Niveau analysiert. Zur Lage in Griechenland gibt es gleich zwei Beiträge. Während der Historiker Karl Heinz Roth die Vorgeschichte der Krise rekonstruiert und dabei auf das Interesse des griechischen Kapitals am Euro eingeht, beschäftigt sich der Soziologe Gregor Kritidis mit der vielfältigen Widerstandsbewegung der letzten Jahre. Er sieht in den Aufständen nach der Ermordung eines jugendlichen Demonstranten durch die Polizei im Dezember 2008 »die Sterbeurkunde für die alte Ordnung«. Ausführlich geht er auch auf die Bewegung der Empörten ein, die im Sommer 2011 aus Protest gegen die EU-Spardiktate öffentliche Plätze in Griechenland besetzten und mit massiver Polizeirepression konfrontiert waren. Ebenso stellt Kritidis die Bewegung zur Schuldenstreichung vor, die es seit einem Jahr gibt.Kirstin Carls zeigt am Beispiel Italien auf, wie die technokratische Monti-Regierung in den letzten Monaten
Einschnitte in die Arbeits-, und Sozialgesetzgebung umgesetzt hat, die Berlusconis Regierung nach heftigem Widerstand hatte zurückziehen müssen. Das Bündnis The Free Association liefert Hintergrundinformationen über die Proteste in Großbritannien. Zwei spanische Aktivisten beschreiben, wie sich ein Teil der Empörten, nachdem sie Zelte auf den öffentlichen Plätzen aufgegeben hatten, auf den Kampf gegen Häuserräumung und die Unterstützung von Streiks konzentrierten. Das Buch kann nach den Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt wichtige Anregungen für eine Perspektivdebatte der Krisenprotestbündnisse liefern.

aus: Sprachrohr
http://medien-kunst-industrie.bb.verdi.de/sprachrohr/#ausgaben-2012
Peter Nowak
Peter Birke, Max Henninger, Krisen.Proteste,
Berlin 2012, 312 Seiten, 18 Euro, ISBN
978-3-86241-413-0

Feministischer Blick auf die Krise

Hausfrauenlohn – eine alte Debatte neu gelesen

Viel wurde in letzter Zeit in linken Debatten vom Ende der Arbeitsgesellschaft gesprochen. Meist wird dieser Befund an der Entwicklung n der industriellen Produktion festgemacht. Doch in letzter Zeit meldeten sich vermehrt Stimmen zu Wort, die in diesen linken Konzepten eine Unsichtbarmachung der Reproduktionsarbeit sehen, die in den letzten Jahrzehnten weltweit gewachsen ist und noch immer überwiegend von Frauen ausgeübt wird. So fand 2009 in Berlin ein gut besuchter Kongress unter dem Titel „Who cares“ statt, der sich mit der Pflegearbeit in den Familien und im Dienstleistungssektor befasst. Feministische Zusammenhänge haben diese Debatten schon vor mehr 40 Jahren geführt. Der Münsteraner Verlag Edition Assemblage hat jetzt einige Grundlagentexte dieser Debatte in einem kleinen Band zusammengestellt und unter dem Titel „Aufstand aus der Küche“ veröffentlicht. Darin sind zwei aktuelle und ein alter Aufsatz der emeritierten US-Professorin Silvia Federici abgedruckt, die 1972 das „Feministische Kollektiv“ mitbegründete, dass mit der Forderung „Lohn für Hausfrauenarbeit“ weit über die feministische Bewegung hinaus für Kontroversen sorgte.
Federici formuliert in dem Band eine aktuelle Kritik der Reproduktinsarbeit im globaen Kapitalismus und plädiert für eine feministische Politik der Gemeingüter. Der Verlag eröffnet damit seine neue Reihe „Kitchen Politics – Querfeministische Interventionen“. Sie soll einen Mangel der aktuellen feministischen Diskussion beheben, die sich zu wenig um Kapitalismuskritik bemühe, zugleich aber den ökonomiekritischen, marxistischen Diskurs erweitern, der bis heute an einem männerdominierten Blick krankt und Geschlechterverhältnisse nur am Rande behandelt.
Federicis zentrales Anliegen war die Politisierung der Arbeitsteilung und der geschlechtsspezifischen Zuweisung der privaten, unbezahlten Sorgearbeit an Frauen. Die Forderung nach einem Hausfrauenlohn sorgte in linken Zusammenhängen für große Aufregung, galt sie doch als „Herdprämie“ fürs Zuhausebleiben und nicht zuletzt stellte sie den Arbeitsbegriff von Karl Marx infrage. Für ihn war Reproduktionsarbeit nicht produktiv, weil sie keinen Mehrwert erwirtschaftet.
Wie heftig die Diskussion damals auch in feministischen Zusammenhängen geführt wurde, zeigt der letzte Beitrag im Buch. Die 1974 verfasste Replik auf die Kritik des Hausfrauenlohns wurde damals von einer marxistischen Zeitung nicht abgedruckt. Fast 40 Jahre später liest sich er Text erstaunlich aktuell. Federicis These „Es ist aber nicht nötig, eine Fabrik zu betreten, um von der kapitalistischen Organisation der Arbeiter_innenklasse betroffen zu sein“. Das mag Mitte der 70er Jahren noch auf Unverständnis gestoßen sein. Im Zeitalter der boomenden Dienstleistungsbranche ist die Einschätzung nachvollziehbar. Das ist ganz im Sinne der Herausgeberinnen: Sie wollen mit dem Buch nicht etwa ein historisches Interesse befrieden, sondern einen Beitrag zur aktuellen Debatte um die Reproduktionsarbeit liefern.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/812138.feministischer-blick-auf-die-krise.html
Peter Nowak

Silvia Federici, Aufstand aus der Küche, Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution, Aus dem Englischen von Max Henninger, Edition Assemblage, Reihe: Kitchen Politics, Band 1, 128 Seiten, 9.80 Euro, Münster 2012, ISBN 978-3-942885-32-4
http://www.edition-assemblage.de/aufstand-aus-der-kuche

NS-Geschichte in Dokumenten

Eine Trilogie erinnert an die braune Zeit in Berlin – ein Beitrag zum Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ mit dem 2013 an mehrere Jahrestage des Nazi-Terrors erinnert wird.

„Wer die Vergangenheit verstehen will, muss die zeitgenössischen Quellen im Original lesen. Nur so lässt sich direkt nachvollziehen, wie die Situation im jeweiligen Moment einer Entscheidung wahrnehmbar war, wie die Beteiligten die Situation subjektiv verstanden und mitgestalteten.“ Diese Sätze schrieb der Historiker Sven Felix Kellerhoff in der Einleitung des im Berlin Story Verlag erschienen Dokumentenbands „Das braune Berlin“.

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Angriff der christlichen Taliban?

Ein Buch konstatiert eine neue Radikalität der Abtreibungsgegner in Deutschland. Das Spektrum reicht von der extremen Rechten bis in fast alle Bundestagsparteien

Die Abweisung eines Vergewaltigungsopfers durch zwei katholische Klinken in Köln sorgt derzeit bundesweit für Schlagzeilen. Vor allem die Begründung verursachte Empörung. Danach ist es dem Personal seit Kurzem unter Androhung einer fristlosen Kündigung dienstlich verboten, Vergewaltigungsopfer zur Beweissicherung gynäkologisch zu untersuchen, weil damit eine Beratung über eine eventuell daraus drohende Schwangerschaft und eine Verordnung der von der katholischen Kirche abgelehnten „Pille danach“ einhergehen könnte.

Ist das nicht ein guter Beweis für den zunehmenden Einfluss von Abtreibungsgegnern in Deutschlands, der am Mittwochabend auf einer Podiumsdiskussion im Berliner Familienplanungszentrum Balance konstatiert wurde? Dort wurde ein neues Buch mit dem Titel „Die neue Radikalität der Abtreibungsgegner_innen im (inter-)nationalen Raum“ vorgestellt, das kürzlich im Verlag AG Spak veröffentlicht worden ist.

Es macht auf ein Thema aufmerksam, dass in Deutschland lange Zeit kaum mehr beachtet worden ist. Vorbei scheinen die großen Debatten um den Paragraphen 218, der mit dem Slogan „Mein Bauch gehört mir“ von der Frauenbewegung angegriffen worden ist. 1990 brachte das Thema noch mal Tausende auf die Straße, die forderten, dass im wiedervereinigten Deutschland das Abtreibungsgesetz der DDR Übernommen werden soll. Doch auch hier setzte sich die BRD durch. Nach dem Schwangerschafts- und Familienhilfeänderungsgesetz, das im Oktober 1995 in Kraft trat, bleiben Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich strafbar. Die eng begrenzten Ausnahme sind seitdem umkämpft, denn nicht mehr die Befürworter, sondern die Gegner jeglicher Abtreibung machen seitdem inner- und außerparlamentarisch mobil, wie verschiedene Autoren in dem Buch nachweisen. So hat die CDU/CSU 2008 einen Gesetzesentwurf zur Verhinderung von Spätabtreibungen vorgelegt. 2010 wurden die Bedingungen für die medizinische Indikation verschärft.

1000 Kreuze und Guerillajournalismus der Abtreibungsgegner

Doch auch auf außerparlamentarischer Ebene haben die Abtreibungsgegner in den letzten Jahren ihre Aktivitäten ausgeweitet. Seit einigen Jahren organisieren sie in verschiedenen europäischen Ländern Mitte September sogenannte „Märsche für das Leben“, auf denen weiße Kreuze getragen werden, die aus der Sicht der Abtreibungsgegner die getöteten Kinder symbolisieren sollen. Seit 2011 hat sich die Teilnehmerzahl erhöht und durch die Beteiligung jüngerer Gruppen und Einzelpersonen hat sich auch das Aktionsrepertoire erweitert.

Die Szene der jungen Lebensschützer trifft sich europaweit zu Tagungen und hat auch das Internet als Kampffeld entdeckt. Vorbild der Abtreibungsgegner ist dabei eindeutig die USA, wo sie im Windschatten der von Ronald Reagan ausgerufenen Konservativen Revolution Erfolge verzeichneten, wie die Historikern Dagmar Herzog aufzeigt. Zu den Aktionsfeldern gehört auch ein Guerilla-Journalismus. Danach geben sich Abtreibungsgegnerinnen als hilfesuchende Frauen aus, die dann die Ärzte und das Klinikpersonal dadurch zu kompromittieren versuchen, dass sie ihnen Gesetzesverstöße nachweisen wollen und Videos von Gesprächen ins Netz stellen.

Auch in Deutschland müssen sich Einrichtungen, die legale Abtreibungen durchführen oder die betroffenen Frauen unterstützen, wie Pro Familia oder Balance immer wieder mit Anzeigen der Gegner auseinandersetzen. Aufhänger ist dabei der Paragraph 219 a des Strafgesetzbuches, der Werbung für eine Abtreibung unter Strafe stellt. Damit kann schon die Information über eine Einrichtung, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt, kriminalisiert werden, stellt die Gesundheitsberatung Sybill Schulz fest. Weiterhin versuchen Abtreibungsgegner, Frauen auch vor den Einrichtungen direkt anzusprechen und moralisch unter Druck zu setzen, was von dem österreichischen Arzt Christian Fiala als psychische Gewalt beschrieben wird, die als freie Meinungsäußerung getarnt wird.

Dass dieses unterschiedliche Repertoire der Abtreibungsgegner ihre Wirkung nicht verfehlt, wird an mehreren Stellen im Buch deutlich. So musste das Familienzentrum Balance ihre Webpräsenz verändern. Viele der von der Einrichtung angeschriebenen Ärzte und Pro-Choic- Einrichtungen, die ins Visier der Gegner geraten sind, wollen darüber in der Öffentlichkeit nicht sprechen. Die Befürchtung ist groß, dass heute eine offensive Propagierung des feministischen Grundsatzes „Mein Bauch gehört mir“ wieder mit Stigmatisierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung verbunden ist.

Neue Perspektiven für die Abtreibungsgegner?

Es gibt aber auch andere Erfahrungen. So schreibt die Publizistin Jutta Ditfurth, die schon 1988 erklärte, dass sie zwei Mal abgetrieben habe und es nicht bereue, in ihrem Vorwort, dass von Männern in ihrem Wikipedia-Eintrag immer wieder heftige Diskussionen von Abtreibungsgegnern geführt werden. Noch im letzten Jahr sei sie vom Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in einem Gespräch über ein völlig anderes Thema unvermittelt gefragt worden, ob sie abgetrieben habe. „Wie oft haben Sie in Ihrem Leben onaniert und damit mögliches menschliches Leben vergeudet?, fragte ich zurück. Mit roten Ohren wechselte er das Thema“, beschreibt Ditfurth die für den Redakteur wohl eher peinliche Episode.

Aber auch jenseits von persönlicher Courage hat die Offensive der „christlichen Taliban“ zur Entstehung einer neuen politischen Bewegung geführt, die das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung propagiert. Als Beispiele werden in dem Buch oft sehr kreative Aktionen anlässlich der Märsche der Abtreibungsgegner genannt aufgeführt. Ein Höhepunkt waren eine Großdemonstration und zahlreiche Aktionen anlässlich des Papstbesuches 2011 in Berlin und auch in anderen Städten. Auch dass es nun nach mehr als zwei Jahrzehnten wieder ein Buch gibt, das die Szene der Abtreibungsgegner analysiert und kritisiert, kann als Zeichen für ein neues Selbstbewusstsein de Pro-Choice-Bewegung interpretiert werden.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153561
Peter Nowak
Peter Nowak

»telegraph« über DDR-Jugendkultur

. In der DDR stand die Kirche von Unten (KvU) für eine staatsferne, unangepasste Kultur- und Jugendszene. Sie erkämpfte sich in der DDR Freiräume, doch im realexistierenden Kapitalismus soll die KvU aus ihrem Domizil im Prenzlauer Berg vertrieben werden. Diese Geschichte beschreibt der Historiker und einstige Aktivist der DDR-Jugendopposition, Dirk Moldt, in der neuen Ausgabe der ostdeutschen Zeitschrift »telegraph« (Nr. 124, 76 Seiten, 6 Euro). Dietmar Wolf, Mitbegründer der Autonomen Antifa Ostberlins erinnert darüber hinaus an die rassistischen Pogrome von Hoyerswerda, Rostock und Mannheim-Schönau. Über den Zusammenhang von Krise und Rassismus informiert der Journalist Thomas Konicz und der österreichische Verleger Hannes Hofbauer beschreibt, wie in Osteuropa sogenannte bunte Revolutionen in westlichen Stiftungen geplant werden. Ein interessantes Heft, das Themen abseits des Mainstreams behandelt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/809375.bewegungsmelder.html
telegraph.ostbuero.de
Peter Nowak

Das war linke Jugendkultur


MAGAZIN Die aktuelle Ausgabe des „telegraph“ beleuchtet die Rolle der „Kirche von unten“

Die Kirche von unten (KvU) hat keinen Mietvertrag mehr für ihre Räume in Prenzlauer Berg: Der Besitzer will Eigentumswohnungen schaffen. Da ist es erfreulich, dass mit dem Historiker Dirk Moldt ein Mitbegründer der KvU an die Rolle erinnert, die das Projekt für eine unangepasste linke Jugendkultur in der DDR hatte.

Moldts Rückblick ist in der aktuellen Ausgabe der „ostdeutschen Zeitschrift“ telegraph erschienen. 1987 als Sprachrohr der DDR-Umweltbibliothek entstanden, wurde sie 1989 zum Forum der DDR-Opposition, die nicht Wiedervereinigung und Kapitalismus anstrebte. Von dieser Prämisse lassen sich die MacherInnen bis heute leiten. In dieser Ausgabe erinnert Dietmar Wolf, Mitbegründer der Autonomen DDR-Antifa, an die rassistischen Pogrome vor 20 Jahren in Hoyerswerda, Rostock und Mannheim-Schönau. Er zeigt präzise auf, wie diese von PolitikerInnen zur Einschränkung des Asylrechts genutzt wurden.

Der Rapper Jens Steiner beschreibt, wie der traditionelle Protestsong zum Politkitsch wurde. Weitere Beiträge widmen sich dem NSU-Verfahren und rassistischen Strömungen im Europa der Krise.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F01%2F09%2Fa0144&cHash=87a502342887d41d4361754fe6a48853
Peter Nowak
telegraph 125/126, 6 €, beziehbar über telegraph.ostbuero.de

Keine Erfolge ohne Basisbewegungen

Peter Nowak über „Politische Streiks im Europa der Krise“

Am 14. November streikten Gewerkschaften in mehreren europäischen Ländern erstmals koordiniert gegen die europäische Krisenpolitik. Viele fragten sich nachher: War das der Beginn eines neuen Protestzyklus?
Gerade rechtzeitig kommt da ein Buch auf den Markt, in dem sich knapp 20 Autorinnen und Autoren aus verschiedenen europäischen Ländern mit der aktuellen Bedeutung der politischen Streiks im Europa der Krise befassen. Einige AutorInnen gehen dabei auch auf die Debatten über Massenstreiks in der Arbeiterbewegung vor 100 Jahren ein und heben dabei die Positionen von Rosa Luxemburg positiv hervor. Bezug genommen wird auf Rosa Luxemburg Schrift „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft, wo sie aus den Erfahrungen der gescheiterten Russischen Revolution von 1905 das Konzept des Massenstreiks als offensive Waffe einer erstarkenden Arbeiterbewegung bezeichnete. Auch 1913 schrieb sie in einem Artikel dass sich die Massen mit der Anwendung der neuen Kampfform vertraut machen müssen.
Der Schwerpunkt des Buchs liegt aber auf der Untersuchung der aktuellen Arbeitskämpfe.
Der Historiker Florian Wilde, der als Referent für Gewerkschaftspolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet und im Mai 2012 einen Kongress zum Thema politische Streiks in Europa vorbereitet hat, skizziert in der Einleitung den politischen Kontext, der sich fundamental von den Zeiten, als Rosa Luxemburg wirkte, unterscheidet. Während die Anzahl ökonomischer Streiks in den letzten Jahren zurückgegangen sei, hätten politische Generalstreiks zugenommen, denen er aber – anders als den Generalstreiks zu Beginn der Volksfrontregierung 1936 in Frankreich oder den 1968er-Streiks kein revolutionäres Potenzial attestiert.
„Im Gegenteil: Die zunehmende Zahl von politischen Streiks und Generalstreiks ist zunächst Ausdruck der hochgradig defensiven Stellung, in der sich die Gewerkschaften nach drei von Niederlagen geprägten Dekaden heute befinden (…) Die Gewerkschaften und die gesellschaftliche Linke kämpfen in dieser Situation mit dem Rücken an der Wand. Aus dieser Konstellation ergibt sich sowohl die massive Zunahme politischer Streiks als auch ihr vorrangig defensiver Charakter“ (S. 12).
In einer längeren, vergleichenden Studie (S. 24-106) werten die Sozialwissenschaftler Jörg Nowak und Alexander Gallas die aktuelle Streikgeschichte von Großbritannien und Frankreich aus und zeigen die Grenzen der auf den ersten Blick im Vergleich zur Situation in Deutschland beeindruckenden Auseinandersetzungen auf. In beiden Ländern konnten mit den Arbeitskämpfen keine grundlegenden Änderungen der Politik erreicht werden. „So gelingt es der Arbeiterbewegung nicht, konstruktive Gestaltungsmacht zu erlangen. Im Kontext der Krise, in der fast keine Regierung in Europa Zugeständnisse machte, hat sich dieses Protestmuster weitgehend erschöpft“ (S. 64), so Jörg Nowaks ernüchterndes Fazit zu den Streiks in Frankreich. Wenn er im Anschluss darauf verweist, dass der Wahlsieg der Sozialisten ein Effekt der Arbeitskämpfe war, ist damit angesichts der Politik der europäischen Sozialdemokratie keinesfalls gesagt, dass in diesem Wahlsieg auch ein politischer Erfolg der Streikenden lag. Alexander Gallas zeigt in seinem Großbritannien-Schwerpunkt, wie sich Gewerkschaften, Studierende und soziale Bewegungen in ihren Kämpfen in den Jahren 2010 und 2011 aufeinander bezogen haben. Überzeugend argumentiert er, dass es nur so möglich ist, einen gesellschaftlichen Einfluss zu erreichen – die Gewerkschaften alleine seien dazu nicht mehr in der Lage, da sie durch die drastische Deindustralisierung in Großbritannien massiv geschwächt worden seien.
Auch in Griechenland und Spanien, wo in den letzten Jahren die meisten Generalstreiks stattgefunden haben, die aber oft nur Aktionstage waren, ist es nicht gelungen, wenigstens Teile des Krisenprogramms zu verhindern. Olga Karyoti, die die griechische Basisgewerkschaft der Übersetzer vertritt, spricht sogar von ritualisierten Generalstreiks, die ohne politische Erfolge zu Enttäuschung und zum Rückzug der Aktivisten führen (S. 168).
Ähnlich selbstkritische Äußerungen finden sich vor allem in den zehn Länderbeiträgen, in denen linke BasisgewerkschafterInnen zu Wort kommen, wobei die Begründungen durchaus unterschiedlich ausfallen: So analysiert Christine Lafont vom Gewerkschaftsdachverband Solidaires, (den ehemaligen SUD-Gewerkschaften, Anm. d. Red.) wie in Frankreich die zögerliche Haltung der mitgliederstärkeren CGT-Gewerkschaft die letzten großen Streiks gegen die Sozialpolitik von Sarkozy in eine Niederlage führte (S. 145ff.). Deolinda Martin, die dem oppositionellen Flügel der portugiesischen Gewerkschaft CGTP angehört, beschreibt dagegen, dass der dritte Generalstreik seit 2010 im Januar 2012 von der Masse der Bevölkerung ignoriert wurde (S. 150ff.). Bisher wenig bekannte Informationen über das Streikgeschehen in Rumänien und im ehemaligen Jugoslawien liefert Boris Kanzleiter in seinem knappen, aber informativen Aufsatz (S. 114).
So beteiligten sich am 18. April 2012 an der größten Demonstration seit der slowenischen Unabhängigkeit fast 1000000 Menschen an einer Großdemonstration in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana gegen die Kürzungspolitik im öffentlichen Sektor. „In einem Land nur zwei Millionen EinwohnerInnen zählenden Land war dies eine Demonstration der Stärke der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und des Gewerkschaftsdachverbandes ZSSS“, schreibt Kanzleiter (S.115). In Kroatien wiederum bildete sich in Universitätsprotesten zwischen 2008 und 2010 eine neue Linke heraus, die sich im Zuge der Finanzkrise auch mit streikenden Arbeitern und protestierenden Landwirten solidarisierte. „So hielten bereits im Dezember 2009 protestierende Milchbauern an der Philosophischen Fakultät von Zagreb ein Plenum ab“, so Kanzleiter (S.119). Auch in verschiedene lokale Arbeitskämpfe habe die studentisch geprägte Linke in den letzten beiden Jahren interveniert. Als Treffpunkt der neuen kroatischen Linken habe sich das jährlich im Mai in Zagreb stattfindende Subversive Festival“ etabliert, in dem neben kulturellen Darbietungen auch politische Debatten eine wichtige Rolle spielen. In Serbien, wo sich durch die Dominanz des Nationalismus eine landesweite neue Linke bisher nicht herausgebildet hat, listet Kanzleiter in den letzten Jahren lokale Streiks auf, unter Anderem im Textilkombinat Raska. Der bekannte Aktivist dieses Streiks Zoran Bulatovic wurde anschließend mehrmals tätlich angegriffen und lebt daher mittlerweile im Ausland. Auch in Rumänien, wo sich bisher keine neue emanzipatorische Linke formieren konnte, haben im Januar 2012 massive soziale Proteste zum Rücktritt der dem Präsidenten nahestehenden neoliberalen Regierungskoalition geführt. Seitdem liefern sich der Präsident und die neue sozialliberale Regierung einen erbitterten Machtkampf. Eine eigenständige parteiabhängige soziale Bewegung hat sich aber bisher in dem Land nicht herausbilden können.
Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit Streiks in Deutschland. So erinnert Heidi Scharf, erste Bevollmächtigte der IG-Metall Schwäbisch Hall, an vergessene Arbeitskämpfe der letzten Jahrzehnte, die den Charakter politischer Streiks angenommen hatten. Dazu zählten Arbeitsniederlegungen gegen den heute weitgehend vergessenen „Franke-Erlass“, benannt nach dem ehemaligen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit: Dieser verfügte Mitte der 80er-Jahre, dass Lohnabhängige, die während eines Streiks von den Unternehmen ausgesperrt wurden, keine Unterstützung vom Arbeitsamt mehr bekommen sollten (S. 212). Auch der Frauenstreiktag vom 8. März 1994, der für Scharf und eine weitere Gewerkschafterin einen Strafbefehl wegen Rädelsführerschaft zur Folge hatte, weil die Aktivistinnen eine nicht für den Fußgängerübergang vorgesehene Straßenkreuzung überquerten, wird noch einmal in Erinnerung gerufen (S. 214). Der ehemalige IG Medien-Vorsitzende Detlef Hensche ruft ein Problem in Erinnerung, das sich für jede Geschichtsschreibung über politische Streiks stellt, wenn er schreibt, dass diese in der BRD nie so benannt wurden, weil die offiziell verboten sind. Hensche fordert dazu auf, sich das Recht auf politische Streiks zu erkämpfen. „Die Gewerkschaften sind unter ihren Möglichkeiten geblieben (S. 220)“, skizziert er sehr vorsichtig die Rolle der DGB-Gewerkschaften, die vom politischen Streik in der Mehrheit bis heute nichts wissen wollen und auf die Gesetzeslage verweisen. Dagegen richtet auch sich der „Wiesbadener Appell“ für ein Recht auf politischen Streik, den der Initiator und hessische IG Bauen Agrar Umwelt-Sekretär Veit Wilhelmy im Buch vorstellt und begründet (S. 227).
Leider fehlt aus Deutschland ein Beitrag von einer Basisgewerkschaft außerhalb des DGB. Schließlich waren in den letzten Jahren die GDL, die UFOs in den letzten Jahren oft viel streikfreudiger gewesen, als die DGB-Gewerkschaften. Die anarchosyndikalistische FAU befürwortet seit Langem politische Streiks. Dafür wäre der Schlusstext (S. 232ff.), eine Eröffnungsrede des Linken-Politikers Klaus Ernst auf der schon erwähnten Konferenz der Rosa-Luxemburg-Konferenz im Mai 2012, entbehrlich gewesen, weil er keine neuen Argumente liefert.
Das Buch liefert insgesamt einen guten Überblick über das politische Streikgeschehen im gegenwärtigen Europa. Das politische Fazit lautet, dass Streiks auch heute noch eine wichtige politische Kampfform im Europa der Krise sind. Die Länderbeispiele zeigen aber auch, dass dafür eine Basisorientierung der Gewerkschaften und eine Kooperation mit sozialen Bewegungen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Ablauf sind. In Deutschland aber muss das Thema ohnehin erst einmal auf die Tagesordnung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gesetzt werden.
Denn die Veränderungen der Arbeitsverhältnisse in vielen europäischen Ländern haben gerade kampferfahrene Gewerkschaften geschwächt. Isolierte Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungssektor, die in vielen Ländern boomen, sind auch nicht die besten Voraussetzungen für solidarische Kämpfe. In Deutschland, wo sich die DGB-Gewerkschaften sich als Sozialpartner begreifen und politische Streiks keine Tradition haben, war es schon ein relativer Erfolg, dass auf Initiative von außerparlamentarischen Linken auch die DGB-Gewerkschaften in Berlin am 14. November zu einer Kundgebung mit anschließender Demonstration aufriefen. Die Krisenproteste des Jahres 2012 vom antikapitalistischen Aktionstag am 31. März über die Blockuppy-Aktionstage Mitte Mai bis zum 14. November machen noch einmal deutlich, dass die Konzentration auf mit großen Aufwand organisierte Aktionstage verpuffen, wenn es an Widerstand im Alltag fehlt. Dass er möglich ist, zeigt der MieterInnenwiderstand in verschiedenen Städten. So hat sich n Berlin in den letzten Wochen ein Bündnis gegen Zwangsräumungen von Mietern, die ihre Miete nicht zahlen konnte, gebildet. Mit der Parole „Mieten runter – Löhne hoch“ wurde der Zusammenhang zwischen der MieterInnenbewegung und Arbeitskämpfen zumindest beim Motto hergestellt. Hier bieten sich Ansätze für Proteste, die da ansetzen, wo bei den Leuten die Krise ankommt.

Peter Nowak
Alexander Gallas / Jörg Nowak / Florian Wilde (Hrsg.): „Politische Streiks im Europa der Krise.“ VSA-Verlag, Hamburg 2012, 240 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3-89965-532-2

Das Buch erscheint unter einer gemeinfreien Creative Commons License und steht auf der Homepage der Rosa Luxemburg-Stiftung zum Download zur Verfügung: http://www.rosalux.de/publication/38866/politische-streiks-im-europa-der-krise-2.html

Veranstaltungshinweis zum Buch:
Die HerausgeberInnen haben Interesse an Diskussionsveranstaltungen zu dem Buch: In Berlin wird sie am 6.Februar 2013 im Stadtteilladen Zielona Gora in der Grünbergstr. 73 stattfinden. Kontakte vermittelt der VSA-Verlag: maren.schlierkamp@vsa-verlag.de oder gerd.siebecke@vsa-verlag.de

aus Express 12/2012
http://www.express-afp.info/newsletter.html

Vor dem Vergessen gerettet


WIDERSTAND Ein Forschungsprojekt der Freien Universität dokumentiert die Biografien linker GewerkschafterInnen zur NS-Zeit

Seit 2006 erinnert der Name einer kleinen Straße in der Nähe des Hauptbahnhofs an Ella Trebe. Die im Wedding geborene kommunistische Gewerkschafterin wurde am 11. August 1943 zusammen mit 14 weiteren NazigegnerInnen im Konzentrationslager Sachsenhausen erschossen. Ein Gedenkstein im Wedding, der an sie erinnerte, wurde in den 50er-Jahren wieder entfernt – man wollte im Kalten Krieg keine Kommunistin würdigen.

Ella Trebe teilte dieses Schicksal mit vielen antifaschistischen ArbeiterInnen, die sich schon gegen den Nationalsozialismus engagierten, als die heute gefeierten Männer des 20. Juli noch lange nicht an Widerstand dachten. ForscherInnen der „Arbeitsstelle Nationale und Internationale Gewerkschaftspolitik“ an der Freien Universität Berlin (FU) haben jetzt ein Buch veröffentlicht, das die Biografien von 58 kommunistischen GewerkschafterInnen aus Berlin dokumentiert.

Es ist der zweite Band eines umfangreichen Forschungsprojekts zum Thema „MetallgewerkschafterInnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“. Während der erste Band 82 Biografien aus dem sozialdemokratisch orientierten Deutschen Metallarbeiterverband (DMV) versammelte, geht es nun um AktivistInnen des Einheitsverbandes der Metallarbeiter Berlins (EVMB). Er bestand im Kern aus GewerkschafterInnen, die der DMV wegen kommunistischer Aktivitäten ausgeschlossen hatte, und wurde gegen Ende der Weimarer Republik zum Fokus der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO). Zu einer linken Massenbewegung konnte diese sich allerdings nie entwickeln, die KPD kritisierte die RGO-Politik schon bald als ultralinke Abweichung. Lange dominierte in der Forschung allerdings das Bild der RGO als einer von der KPD-Zentrale gesteuerten Kaderorganisation.

Konflikte mit der KPD

Das Buch zeichnet die unterschiedlichen Beweggründe für das Engagement in der linken Gewerkschaftsopposition nach. Viele der AktivistInnen waren schon während der Novemberrevolution von 1918 in linken Arbeiterräten aktiv und sahen in der RGO die Fortsetzung einer klassenkämpferischen Politik. Dabei gab es immer wieder Konflikte mit den KPD-FunktionärInnen. Auch in der DDR, wo viele der Porträtierten später lebten, war eine RGO-Vergangenheit nicht gerade karrierefördernd, wie an mehreren Beispielen belegt wird. Der Band füllt nicht nur eine Forschungslücke, sondern gibt den vergessenen WiderstandskämpferInnen aus der Arbeiterklasse ihre Biografie zurück.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2013%2F01%2F03%2Fa0174&cHash=f4f0b32f531368844553773bb17d4de4
Peter Nowak

Stefan Heinz, Siegfried Mielke (Hg.): Widerstand und Verfolgung“. Metropol Verlag, Berlin 2012, 304 Seiten, 19 Euro

War Hannah Arendt die Judith Butler der frühen 60er Jahre?

Ein neuer Film von Margaretha von Trotha behandelt die heftige Diskussion, die das Arendt verfasste Buch „Eichmann in Jerusalem“ vor 50 Jahren auslöste und wird wohl in Deutschland aus den falschen Gründen Zustimmung finden

Das Jubiläum des Buches wird auch in Deutschland nicht unbeachtet vorübergehen. Dafür wird der Film Hannah Arendt – ihr Denken veränderte die Welt sorgen, der auf internationalen Filmfestivals Preise gewann und Anfang Januar in die deutschen Kinos kommt. Die Regisseurin bleibt in dem Film ihrer Filmtradition treu, Frauen in der Geschichte ein filmisches Denkmal zu setzen. Nach Rosa Luxemburg und Hildegard von Bingen hat sie nun Hannah Arendt zur Heldin ihres neuen Filmes gemacht. Der Begriff Denkmal stimmt hier nicht nur im übertragenden Sinne. Die Regisseurin lässt keinen Zweifel, dass Arendt ihre Sympathie genießt. Dabei konzentriert sie sich nur auf eine relativ kurze Phase in Arendts Leben. Der Film beginnt, als sich die Politologin entschließt, den Eichmann-Prozess in Jerusalem als Journalistin zu besuchen, dokumentiert die heftige Kontroverse und hat ihren dramaturgischen Höhepunkt, als ihr der langjährige Freund und Kollege Hans Jonas die Freundschaft aufkündigte und Arendt besonders damit verletzte, dass er sie als Lieblingsstudentin des NS-belasteten Freiburger Professors Martin Heidegger bezeichnete.

Immer wieder wechselt der Film aus dem USA der 60er Jahre in die Marburger Universität, wo die Studentin Arendt sich bei Heidegger vorstellt und dann seine Vorlesungen besucht. Das Verhältnis zwischen Heidegger, der sich dem NS-System andiente und Arendt, die ihn dafür heftig kritisierte, aber nie mit ihm brach, ist seit Langem Gegenstand von Büchern und Debatten. Die Logik der Verknüpfung dieser beiden wichtigen Daten in Arendts Biographie ergibt sich schon daraus, dass auf dem Höhepunkt der Debatte um das Eichmann-Buch die vehementen Kritiker, nicht nur Hans Jonas, Heidegger gegen die Buchautorin ins Feld führten.

Nach dem Motto, wer bei einem Nazi studiert hat, muss zur Israelhasserin werden, findet man in der Auseinandersetzung vor 50 Jahren viele Elemente wieder, die sich heute wiederholen, wenn linke jüdische Intellektuelle die Politik Israels kritisieren. Ein prominentes noch recht aktuelles Beispiel ist die Auseinandersetzung um die Verleihung des Adorno-Preises an Judith Butler. Auch ihr wird jüdischer Selbsthass vorgeworfen.

„Hab Geduld mit uns Juden“

Schon in den ersten Minuten des Films deuten sich die intellektuellen Frontverläufe an. Wir sehen Arendts Freunde heftig darüber diskutieren, ob Israel das Recht hat, Eichmann in Jerusalem anzuklagen. Während einige von Arendts Freunden darauf verweisen, dass Israel als Heimstaat der Überlebenden der Shoah dazu legitimiert ist, plädiert Arendts Mann mit antizionistischen Argumenten für eine Anklage vor einen internationalen Gerichtshof.

Hannah Arendt wird in diesem Streit als Zuhörerin gezeigt, die die Argumente beider Seiten abwägt, ohne sich selber zu positionieren. Das ändert sich, als Arendt bei Freunden in Jerusalem angekommen ist, bei denen sie während ihres Prozessbesuches lebt. Hier wird schnell ihre Distanz zum jungen israelischenStaat deutlich. „Hab Geduld mit uns Juden“, bittet ein Verwandter. Sie betonen, dass der Prozess für den jungen Staat wichtig ist. Bis in die frühen 60er Jahre wurde über die Shoah in Israel wenig geredet. Das von der zionistischen Gründergeneration bevorzugte Bild von selbstbewussten, starken Menschen, die den neuen Staat begründeten, war nicht in Übereinstimmung zu bringen mit den Bildern der wehrlosen, gemarterten und getöteten Menschen in den Vernichtungslagern der Nazis und ihrer europäischen Verbündeten. Dass es selbst unter diesen Bedingungen Widerstandsaktionen gab und dass die Juden von ihren Mördern zu Opfern gemacht wurden, wurde in Israel im ersten Jahrzehnt nach der Gründung zum Leidwesen vieler Überlebender zu wenig reflektiert.

Der Eichmann-Prozess war eine Zäsur. Im Film ist in mehreren Szenen zu sehen, wie die Menschen überall in Israel an den Radios das Verfahren gebannt verfolgten. Arendt tat sich schwer, die Artikelserie für The New Yorker fristgerecht abzuliefern. Immer wieder sieht man sie vor Aktenbergen am Schreibtisch ihrer New Yorker Wohnung sitzen. Als sie ihre Arbeit schließlich beendet hatte, kamen vom Verlag sofort erschrockene Rückmeldungen. Man befürchtete, dass der Text einen Skandal auslösen würde, doch die Dimension des Konflikts konnte niemand vorhersehen.

Es waren vor allem drei Textpassagen, die die Kritik hervorrief. Arendt hatte den Judenräten vorgeworfen, mit den deutschen Behörden kooperiert zu haben, und ihnen eine Mitschuld an der Vernichtung gegeben. Zudem bescheinigte sie Eichmann. ein Prototyp der „Banalität des Bösen“ gewesen zu sein, der sich auf Befehle höherer Dienststellen berief und vorgab, nicht selber über diese nachgedacht zu haben. Arendt sah in dieser Unfähigkeit zu denken das Wesen von Eichmanns Persönlichkeit.

„Warum soll ich die Juden lieben, wo ich doch keine Völker liebe“

Im Film wird gezeigt, wie sich langjährige Bekannte, Freunde und selbst Verwandte sich von Arendt abwandten. Ein dramatischer Höhepunkt des Films ist erreicht, als Arendt am Bett des schwerkranken Verwandten sitzt, der ihr demonstrativ den Rücken zukehrt, nachdem er ihr vorgeworfen hat: „Du liebst die Juden nicht.“ Ihre Gegenfrage im Film hört sich fast programmatisch an. „Warum soll ich die Juden lieben, wo ich doch keine Völker liebe? Ich liebe Menschen.“ So würden auch viele linke Israelkritiker heute antworten, wenn ihnen jüdischer Selbsthass oder Feindschaft zu Israel vorgeworfen wird. So kann die Kontroverse um das Buch von Hannah Arendt tatsächlich als Beginn einer Kontroverse zwischen linken jüdischen Intellektuellen und dem Staat Israel gesehen werden, die bis heute andauert. Margarethe von Trotta macht Arendts zur Streiterin für Meinungsfreiheit. Kompromisslos widersetzt sie sich allen Aufforderungen, das Buch zurückzuziehen. An einer Stelle wird dramaturgisch übertrieben, als Arendt bei einem Waldspaziergang von mehreren Männern mit dunklen Brillen angehalten und barsch aufgefordert wird, das Buch zurück zu ziehen. Schnell stellt sich heraus, dass es Mossad-Mitarbeiter sind, die auch gleich erklären, zumindest in Israel werde das Eichmann-Buch nicht erscheinen. Tatsächlich wurde es dort erst im Jahr 2000 verlegt. Die Szene erinnert an staatliche Rollkommandos und scheint schon deshalb übertrieben, weil gleich im Anschluss gezeigt wird, wie Arendt ungehindert zu dem schwerkranken Verwandten nach Israel reist, der ihr wegen des Buches seine Freundschaft aufgekündigt hat.

Der Film dürfte in Deutschland aus den falschen Gründen viel Zustimmung bekommen. So wird es zumindest in großen Teilen der Bevölkerung nicht um die Wiederentdeckung von Hannah Arendt und ihrer radikalen Kritik an der Mehrheit der Deutschen im Nationalsozialismus gehen, wie sie in dem Eichmann-Buch formuliert wird. Sie wird vielmehr als Israelkritikerin gefeiert werden. Diese falsche Eingemeindung erleben linke jüdische Kritiker der israelischen Politik auch heute noch. Da wird dann womöglich Arendt noch mit Günther Grass auf eine Stufe gestellt, was die Politologin nun wirklich nicht verdient hat.

Die Instrumentalisierung von Hannah Arendt begann schon kurz nach der Herausgabe des Eichmann-Buches. Der Verlagsleiter des Piper-Verlag Hans Rößner, der die deutsche Ausgabe des Eichmann-Buches betreute, war während der NS-Zeit SS-Obersturmbannführer und Kulturreferatsleiter im Reichssicherheitshauptamt. Arendt hat davon nie erfahren.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153438
Peter Nowak

Europäische Rechte für Roma und Sinti

Buch zu Erinnerungsarbeit und heutigem Widerstand

Am 24. Oktober, 20 Jahre nach dem Beschluss für die Errichtung, wurde endlich das »Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas« feierlich eröffnet. In dem kürzlich von LLith Bahlmann, Moritz Pankow und Matthias Reichelt herausgegebene Buch „Das schwarze Wasser“ wird noch einmal auf den langen in verschiedenen europäischen Ländern geführten Kampf für die Fertigstellung des Erinnerungsort erinnert. Die Aktionen sind von den Medien in Deutschland kaum wahrgenommen worden. Völlig ignoriert wurde eine Kunstperfomance, mit der die US-Künstlerin De Laine Le Bais am 27.Januar 2012 auf der damaligen Denkmalbaustelle gegen die Ignoranz der politisch Verantwortlichen protestierte. Auch über eine von Romaktivisten aus ganz Europa im Rahmen der diesjährigen Berlin-Biennale am gleichen Ort initiierten Protestkundgebung am 2. Juni dieses Jahres berichten nur wenige Medien, darunter das ND. Am Ende der knapp einstündigen Kundgebung wurden Zettel an dem Bauzaun angebracht, auf denen Angriffe, Brandschläge schwere Körperverletzungen und Morde gegen Roma und Sinti in ganz Europa dokumentiert sind. Die Tatorte befinden sich in Rumänien und Ungarn aber auch in Dänemark, Italien und Frankreich. Der Inhalt der erschreckenden Liste von rassistischem Hass ist in dem Buch auf mehreren Seiten abgedruckt. Das Buch ist aber auch ein Dokument des Widerstands von Romaaktivisten gegen Entrechtung und Diskriminierung. Besonders der Beitrag der ungarischen Kunsthistorikerin Timea Junghaus macht deutlich, dass dabei die europäischen Institutionen und Rechte genutzt werden sollen. In einer von den Romaaktivisten am 2. Juni 2012 angenommenen Resolution wurden Empfehlungen an das Europäische Parlament verabschiedet, in denen es um das würdige Gedenken geht. So soll der 2. August vom EU-Parlament zum Gedenktag für den Massenmord an den Roma im Nationalsozialismus erklärt werden. Zudem sollen an allen Orten der Verfolgung Archive eingerichtet werden, in denen die Entrechtung der Menschen dokumentiert werden. Für die Gegenwart sollen in allen EU-Staaten Gesetze garantieren, dass Roma als gleichwertige Bürger ohne Diskriminierung leben können.
Die europäische Dimension nimmt in mehreren Aufsätzen in dem Buch eine zentrale Rolle ein. Die Historiker Wolfgang Wippermann, Silvio Peritore und Frank Reuter untersuchen hingegen verschiedene Aspekte der NS-Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma. Beeindruckende Fotos von Verfolgung und Widerstand der Sinti und Roma, sowie von dem Denkmal in den verschiedenen Perspektiven und Bauphasen machen das Buch zu einem kleinen Katalog zum Erinnerungsort.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/807975.europaeische-rechte-fuer-roma-und-sinti.html

Peter Nowak

Bahlmann, Lith, Pankok Moritz, Reichelt Matthias, Das schwarze Wasser, Das Denkmal für die Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas, Berlin 2012, Edition Braus, 96 Seiten, 14,95 EURO, ISBN 9783862280384

Politische Streiks in der Krise

Ein Buch über ein potenziell mächtiges Kampfinstrument der Gewerkschaften

Linke in Deutschland sehnen sich nach politischen Streiks. In Südeuropa gibt es sie, durchgesetzt haben sie jedoch kaum etwas. Ein Buch untersucht ihre Möglichkeiten und Grenzen.
Am 14. November streikten erstmals in mehreren europäischen Ländern Gewerkschaften koordiniert gegen die europäische Krisenpolitik. Der Beginn eines neuen Protestzyklus‘? Ein neues Buch zu politischen Streiks im Europa der Krise liefert für die Antwort interessante Hintergründe. Demnach sind die ökonomischen Streiks in den letzten Jahren zurückgegangen, während die politischen Generalstreiks zugenommen haben. Es sind jedoch vor allem Defensivkämpfe, um geplante Verschlechterungen bei Arbeitsbedingungen, Löhnen und Renten zu verhindern.

Ein Beitrag vergleicht die Streikgeschichte von Großbritannien und Frankreich und zeigt deren Grenzen. Auch in Griechenland und Spanien, wo in den vergangenen Jahren die meisten Generalstreiks stattgefunden haben, ist es nicht gelungen, wenigstens Teile des Krisenprogramms zu verhindern. Die Gewerkschafterin Olga Karyoti spricht sogar von »ritualisierten Generalstreiks«, die ohne politische Erfolge zum Rückzug der Aktivisten führten.

Ähnlich selbstkritische Einschätzungen finden sich in den zehn Länderbeiträgen, in denen linke Basisgewerkschafter zu Wort kommen. Sie zeigen, wie in Frankreich die zögerliche Haltung der großen Gewerkschaften die letzten großen Streiks in eine Niederlage führte. In Portugal wiederum wurde der dritte Generalstreik im Januar 2012 von der Masse der Bevölkerung ignoriert. Ein Beitrag liefert darüber hinaus wenig bekannte Informationen über das Streikgeschehen in Rumänien und im ehemaligen Jugoslawien.

Auch das Streikgeschehen in Deutschland wird in dem Buch ausführlich analysiert. So erinnert die Schwäbisch Haller IG-Metall-Chefin Heidi Scharf an vergessene Arbeitskämpfe der letzten Jahrzehnte, die den Charakter politischer Streiks angenommen hatten. Sie seien nur nie als solche benannt worden, wie der frühere IG-Druck-Vorsitzende Detlef Hensche in seinem Beitrag ausführt, weil Streiks für politische Ziele verboten sind. Hensche fordert dazu auf, sich dieses Recht zu erkämpfen.

Das Buch liefert gute Argumente für alle, die politische Streiks für eine wichtige Kampfform halten. Die Länderbeispiele zeigen aber auch, dass Basisorientierung und Kooperation mit sozialen Bewegungen eine Voraussetzung für erfolgreiche Streiks sind.

Alexander Gallas, Jörg Nowak, Florian Wilde (Hrsg.): Politische Streiks im Europa der Krise, VSA-Verlag 2012, 240 S., 14.80 €.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/806623.politische-streiks-in-der-krise.html

Peter Nowak

Da geht ein Mensch

Angelika Wittlichs filmische Hommage an den Schauspieler Alexander Granach

»Granach ist letzte Nacht an einer Blinddarmoperation gestorben.« Mit diesem Telegramm beginnt ein Film über einen der populärsten Schauspieler der Weimarer Republik: Alexander Granach. Gleich seine erste Filmrolle als Hausmeister Knock in Murnaus Nosferatu machte ihn bekannt. Doch der Machtantritt der Nazis beendete die hoffnungsvolle Karriere.
Die Regisseurin Angelika Wittlich hat in ihrer Dokumentation Alexander Granach – Da geht ein Mensch, die diese Woche in die Kinos kommt, das Leben dieses heute weitgehend vergessenen Künstlers nachgezeichnet. Neben Interviews mit Granachs vergangenes Jahr in Israel verstorbenem Sohn Gad stützt sich der Film auf schriftliche Quellen. Noch kurz vor seinem Tod in New York 1945 hatte Granach seine Autobiografie Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens fertiggestellt, die posthum im Stockholmer Neuen Exil-Verlag erschien.

Daneben konnte die Filmemacherin auf die umfangreiche Korrespondenz zurückgreifen, die Granach mit seiner Schauspielkollegin und langjährigen Freundin Lotte Lieven geführt hat. Angelika Wittlich hatte gemeinsam mit Hilde Recher die mehr als 300 Briefe bereits 2008 im Ölbaum Verlag als Buch unter dem Titel Du mein liebes Stück Heimat – Briefe an Lotte Lieven aus dem Exil herausgegeben. Es sind Momentaufnahmen großer Verzweiflung angesichts des sich in Europa ausbreitenden Nazismus. Aber immer wieder taucht in den Zeilen auch die Hoffnung auf, dass der Nazispuk ein Ende haben und Granach doch noch einmal durch das Brandenburger Tor spazieren könnte.
Ausschnitte aus der Biografie und den Briefen werden im Film eingestreut, gelesen von dem Schauspieler Samuel Finzi. Sie sorgen für die Lebendigkeit dieser biografischen Reise, die in dem galizischen Dorf Werbiwzi beginnt, das heute in der Ukraine liegt. Dort kam Jessaja Szajko Gronach 1890 in einer armen Bauernfamilie mit neun Kindern zur Welt. Mit zwölf Jahren riss er von zu Hause aus und wurde in damaligen Lemberg Bäckergeselle.

Im Jüdischen Theater der Stadt entdeckte er seine Liebe zur Schauspielerei. Mit 16 Jahren brannte Granach mit der Kasse der Bäckerei nach Berlin durch und tauchte ein in die kosmopolitische Welt des Scheunenviertels. Bald stand er in der deutschen Hauptstadt auf der Bühne, bereit, für seine Karriere die größten Opfer zu bringen. So ließ sich Granach die Beinknochen brechen, um seine O-Beine zu korrigieren. Im Film spricht ein Orthopäde über die Gefahren einer solchen »Schönheitsoperation«.

kiew 1933 gibt Granach am Berliner Staatstheater den Mephisto in Goethes Faust und muss erleben, wie Künstlerkollegen, etwa Veit Harlan, mit dem Naziwimpel am Auto vorfahren. Er geht zunächst ins polnische Exil. 1935 kommt eine Einladung ans JiddischenTheater in Kiew. Er übersiedelt in die Sowjetunion. Schon in der Weimarer Zeit hatte der parteilose Granach in linken Künstlerkreisen verkehrt und war in einem von Erwin Piscator geleiteten politisch engagierten Theater am Berliner Nollendorfplatz aufgetreten.

Doch seine anfänglichen Hoffnungen, in der Sowjetunion ein antifaschistisches deutsches Exiltheater aufbauen zu können, wurden schnell enttäuscht. Wie so viele Emigranten geriet auch er in die Mühlen der stalinistischen Verfolgung und wurde verhaftet. Auf Fürsprache seines Freundes Lion Feuchtwanger kam er frei, konnte die Sowjetunion verlassen und erreichte nach einem Zwischenstopp in der Schweiz, die ihm den Aufenthalt verweigerte, 1938 in die USA.

Auch dort brillierte Granach auf der Bühne. In der Rolle des Fischers Tomasino in dem Stück Eine Glocke für Adano schaffte er den Durchbruch. Eine wegen vieler Termine lange verzögerte Blinddarmoperation kostete ihn 1945 das Leben. Angelika Wittlichs Film ist nicht nur eine Reise durch ein bewegtes Schauspielerleben. Er führt uns auch in eine Welt, die von den Nazis und ihren Verbündeten vernichtet wurde. Fast die gesamte Verwandtschaft von Alexander Granach wurde Opfer der Schoa.

Jüdische Allgemeine, 2.12.2012
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/14585

Peter Nowak