Rot-Rot-Grün setze sich nur rhetorisch, nicht inhaltlich von den Vorgängerregierungen ab, so das Resümee
Die Berliner Mietergemeinschaft hat die Schonfrist für den rot-rot-grünen Senat mit der Veröffentlichung eines vierseitigen Papiers für beendet erklärt. «Positionierung zur Wohnungspolitik von »R2G« ist es überschrieben, verfasst wurde es von aktiven Mitgliedern mehrerer Bezirksgruppen der Mietergemeinschaft. »Gegen die Mietenpolitik des rot-rot-grünen Senats gibt es im Abgeordnetenhaus keine linke Opposition«, sagt Philipp Mattern, einer der Autoren des Positionspapiers.
Mattern engagiert sich in der Friedrichshainer Bezirksgruppe und ist Redaktionsmitglied der hauseigenen Publikation »Mieterecho«. Er findet, dass auch die außerparlamentarischen Initiativen bisher kaum fundierte Kritik an der Mietenpolitik des neuen Senats üben.
Das Papier soll die Diskussion über eine neue mietenpolitische Opposition anstoßen. Gleich zu Anfang steht die These, dass es unter Rot-Rot-Grün keinen Bruch mit der Wohnungspolitik der Vorgängerregierungen gibt. Die Koalitionsvereinbarungen setzten sich vor allem in der Rhetorik, nicht aber im Inhalt von Rot-Schwarz ab.
Die zentrale Kritik der mietenpolitischen Aktivisten lautet, dass die drängenden Probleme des Wohnungsmarkts nicht benannt werden. »Begriffe wie ›Wohnungsnot‹ und ›Wohnungsmangel‹ tauchen schlichtweg nicht auf«, monieren die Kritiker. »Das Wohnungsproblem wird vom Senat nicht als Mehrheitsproblem anerkannt, sondern wie ein Randgruppenphänomen behandelt«, kritisiert Mattern. Das Papier verweist darauf, dass rund 60 Prozent der Haushalte aufgrund ihrer Einkommenssituation einen Wohnberechtigungsschein beanspruchen können.
Vor allem beim Bau landeseigener Wohnungen enttäusche das Koalitionspapier maßlos, heißt es im Papier. Die geplanten 30 000 Wohnungen in fünf Jahren seien nicht geeignet, den bestehenden Wohnungsmangel zu beheben. Die Verfasser verweisen auf eine Studie von Andrej Holm, die der inzwischen geschasste Wohn-Staatssekretär im Mai 2016 für die LINKE verfasste: Demnach fehlen in Berlin 125 000 Wohnungen. »Auch diese selbst produzierten Erkenntnisse werden in der Koalitionsvereinbarung negiert«, so das Resümee der Mietergemeinschaft.
Auch auf dem Gebiet der energetischen Sanierung, die mittlerweile zum Instrument der Verdrängung geworden sei, seien die Aussagen des Koalitionsvertrages enttäuschend. »Die Modernisierungsmieterhöhung nach Paragraf 559 des Bürgerlichen Gesetzbuchs muss abgeschafft werden«, sagt Mattern. »Es fehlt ein Ansatz, der in diese Richtung geht.«
Die Kritiker schreiben weiter: »Der neue Senat setzt sich rhetorisch von seinem Vorgänger ab, tatsächlich bedient er alte Rezepte und zeigt kein wirklich neues Problembewusstsein.« Sie verweisen darauf, dass die angekündigte Aufstockung der Bestände der landeseigenen Wohnungsbauunternehmen auf 400 000 Wohnungen durch Zukauf und Neubau schon in der im April 2016 veröffentlichten Roadmap der SPD und CDU aufgeführt wurde – allerdings mit einem Fahrplan von zehn Jahren statt wie jetzt von fünf. Mattern resümiert: »Es ist ein Zeugnis erschreckende Hilflosigkeit, die den realen Problemen auf dem Berliner Wohnungsmarkt in keiner Weise gerecht wird.«
AGIT-KINO Neue Filmreihe widmet sich hiesigen Arbeitskämpfen, etwa an den Universitäten
Der Name der neuen Filmreihe ist Programm: „Cinéma Klassenkampf“ widmet sich aktuellen Arbeitskämpfen in Berlin. Bei der Auftaktveranstaltung an diesem Montag geht es um die hiesigen Hochschulen. Der Film „Ausbeutung an der TU-Berlin“ (17 Min, BRD 2016) lässt zwei Forscherinnen zu Wort kommen, die sich bei einem Arbeitseinsatz in Uruguay gegen gesundheitsgefährdende Bedingungen wehren wollen sowie gegen eine Projektleitung, die permanent Überstunden verlangt. Doch sie finden kein Gehör und werden als Querulantinnen abgestempelt und isoliert. Zurück in Berlin, wenden sie sich an die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU), und eine lange Auseinandersetzung beginnt. „Seit 2011 sammeln wir Filme aus der ArbeiterInnenbewegung und stellen sie auf der Seite labournet.tv kostenlos und mit Untertiteln zur Verfügung“, erklärt die Mitbegründerin Bärbel Schönafinger vom Kollektiv labournet. tv der taz. Mit der Veranstaltungsreihe wolle man neue Fördermitglieder für labournet.tv gewinnen, da dessen Finanzierung nur noch bis zum Jahresende gesichert sei. Nach den Filmen soll es Diskussionen geben: so am heutigen Montag über Organisationsversuche im prekären Wissenschaftsbereich unter anderem mit der FAU, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der kürzlich gegründeten Hochschulgewerkschaft unter_bau aus Frankfurt am Main.
Aktive kommen zu Wort
In den nächsten Monaten sollen Film- und Diskussionsveranstaltungen unter anderem zum Arbeitskampf an der Charité sowie zu Organisierungsansätzen im Niedriglohnsektor Gastronomie und bei den Kurierdiensten in Berlin folgen. Auch ein Rückblick auf die Bewegung „Nuit Debout“, die für einige Wochen im vorigen Jahr von Frankreich ausgehend auch hier für Aufsehen sorgte, ist in Vorbereitung. „Zu den Veranstaltungen wollen wir immer Menschen einladen, die aktiv an den Kämpfen beteiligt waren“, so Schönafinger. „Doch ich wünsche mir vor allem, dass die Filmreihe ZuschauerInnen ermutigt, sich anihren Arbeitsplätzen nicht alles gefallen zu lassen.“
»Jene Mütter, die selbst schon Tabakarbeiterinnen gewesen waren und dem Staate frühzeitig ihre Gesundheit opferten, mögen es nicht unterlassen, ihren Töchtern, die heute in der Tabakfabrik die Plätze ihrer frühzeitig zugrunde gerichteten Mütter einnehmen, die Notwendigkeit der Organisation vor Augen zu halten, damit sie nicht da gleiche Schicksal ereile«. Dieser in einer sozialdemokratischen Zeitung abgedruckte Aufruf sollte die Tschikweiber von Hallein in der Nähe von Salzburg zum Eintritt in die Gewerkschaft mobilisieren.
Tschikweiber wurden die Beschäftigten der Zigarrenfabrik zunächst von den bürgerlichen Halleinern genannt, die halb verächtlich, halb ängstlich von einer Lawine sprachen, wenn die Frauen nach Arbeitsschluss aus der Fabrik strömten. Bald nahmen sie den Namen an. »Tschikweiber haums uns g’nennt« heißt eine 1988 von der österreichischen Historikerin Ingrid Bauer veröffentlichte Studie über die letzte Generation der Arbeiterinnen, die dort von 1921 bis zur Schließung der Fabrik 1940 beschäftigt waren. Bauer gehörte zu einer Generation von jungen Wissenschaftlerinnen, die aus feministischem Interesse an ihre Arbeit heranging. Schließlich war die Halleiner Zigarrenfabrik in ihrer Zeit eine absolute Ausnahme, weil dort ausschließlich Frauen beschäftigt waren; zudem in Vollzeit. Mit der Neuauflage des Buches hat der Berliner Verlag »Die Buchmacherei« ein wichtiges Zeitdokument erneut zugänglich gemacht.
Die Passagen der 18 von Bauer interviewten Frauen, wovon zwölf Zigarrenarbeiterinnen waren, wurden im österreichischen Dialekt belassen. »Das Beibehalten der dialektgefärbten Umgangssprache in der Verschriftlichung der Interviews verlangt zwar eine gewisse Leserarbeit ab, ermöglicht es aber, sich sehr unmittelbar auf die Erfahrungszusammenhänge dieser Frauen einzulassen, die unter Anderem auch in ihrer ganz spezifischen Ausdrucksweise bestehen«, begründet Bauer im Vorwort ihre Entscheidung. Tatsächlich gelingt durch die Interviews und die kundigen Erläuterungen der Autorin ein guter Einblick in das Leben dieser Frauen. Sie mussten bereits als Kinder im Haushalt helfen, wurden oft schon mit 14 Jahren als Bedienstete zu reichen Leuten gegeben und den kargen Lohn bekamen die Eltern. So empfanden fast alle Frauen die Fabrikarbeit als Befreiung, obwohl die Hausarbeit weiterhin an ihnen hängen blieb.
Sie konnten über ihren Lohn selber verfügen, doch genau so wichtig war für sie der Austausch unter den Frauen. Sie sangen miteinander, besprachen damalige Tabuthemen wie Sexualität und vor allem die Vermeidung von Schwangerschaften. Dabei spielten die wenigen politisch in der Sozialdemokratie aktiven Kolleginnen eine wichtige Rolle bei der Wissensvermittlung. Dazu gehörte die Gewerkschafterin Agnes Primocic, die später als Kommunistin auch Widerstand gegen die Nazis geleistet hat. Ihr ist eine DVD gewidmet, die dem Buch beiliegt. Doch sie war mit dem politischen Engagement eine Ausnahme. Bauer zeigte, dass der eingangs zitierte Aufruf Erfolg hatte: Die Frauen setzten sich für bessere Löhne ein, wehrten sich gegen schikanöse Direktoren und 1934 streikten sie sogar für einen Tag gegen den Austrofaschismus. Doch zur Situation während der Nazis befragt, hieß es von den meisten Frauen nur: »Hauptsach, dass ma unsa Oarbeit ghobt haum«.
Ingrid Bauer. »Tschikweiber haums uns g’nennt« Die Buchmacherei. Berlin. 326 S.
– Neuer Film mit Originaldokumenten aus der Zeit der Autonomia“ in Italien
„Ich habe diesen Film gemacht, damit die ArbeiterInnen, die die Kämpfe führten, nicht vergessen werden“, erklärte Pietro Perroti bescheiden nach einer besonderen Filmpremier, auf der über 300 Menschen in Berlin ein besonderes Dokument der ArbeiterInnenbewegung gesehen haben. „Wir brauchen keine Erlaubnis“, lautet der programmatische Titel eines Films, der eine subjektive Geschichte der bewegen Jahre der ArbeiterInnenautonomie in den Jahren 1969 bis 1980 bei Fiat in Turin zum Thema hat. Ohne Pietro Perroti wäre der Film nicht entstanden. Als junger Arbeiter zieht er wie viele von Süditalien nach Turin, um bei Fiat zu arbeiten. Wie viele seiner KollegInnen wird er dort politisch aktiv und kommt bald nicht nur mit dem Fabrikmanagement, sondern auch mit den klassischen Gewerkschaften in Konflikt, die die ArbeiterInnen vertreten wollen und mit dem Engagement und dem Selbstvertrauen der jungen ArbeiterInnen wenig anfangen können. Denn diese wollten sich keine Erlaubnis einholen, wenn sie aktiv werden wollen, weder vom Boss, noch von den VorarbeiterInnen noch von der Gewerkschaftsbürokratie. So begann ab 1969 ein Jahrzehnt der Streiks, Besetzungen und Kämpfe, die Perroti mit einer kleinen Kamera dokumentierte.
Dieses wichtige Zeugnis eines ArbeiteInnenaktivismus , an der sich Zehntausende über Jahre beteiligten, wurde nun auf Deutsch untertitelt. Viele der Beschäftigten kamen wie Perroti aus Sizilien und gerieten mit den Normen des rigiden Fabrikregimes bei FIAT in Konflikt. „Immer wieder wurden Kollegen beim Verlassen der Fabrik von Aufsehen kontrolliert, nur die Haare zu lang schienen. Überall waren Zäune wie im Gefängnis, “ erinnert sich Perroti. Das von ihm kreierte Symbol eines von starken Arbeiterfäusten auseinandergedrückten Zauns war häufig zu sehen. Perroti dokumentiert den Aufschwung der Bewegung, als die Bosse in der Defensive waren und Zugeständnisse machen mussten. Deutlich wird aber auch die politische Breite, die nicht konfliktfrei war. Während UnterstützerInnen der sich damals schon staatstragend gebenden Kommunistischen Partei ihren Vorsitzenden bei einer Rede zu jubelnden, setzten viele linke Gruppen auf die Selbstorganisation. . Ende der 1970er Jahre schlugen Staat und Konzernleitung zurück. Während die Justiz zunehmend auch gewerkschaftliche Kämpfe verfolgte, wollte das FIAT-Management mit Massenentlassungen die Ordnung im Betrieb wieder herstellen. Höhepunkt war ein von ihnen gesponserter Marsch der sogenannten „Schweigenden Mehrheit“. Mit italienischer Flagge vorneweg demonstrierten sie für das Ende der Arbeitskämpfe. Hier wurde die historische Niederlag der Turiner ArbeiterInnenaktivisten besiegelt. Viele der Beteiligten wollten mit Politik nichts mehr zu tun haben Doch Perroti distanziert sich nicht von den Utopien und Idealen, die die Bewegung prägte. Das war auch der Grund, warum er die Aufnahmen, die jahrelang im Schrank lagen, doch noch zu einem Film verarbeitete. Das wäre ohne die Unterstützung des Istoreco Institut Reggio Emilia nicht möglich gewesen. Er zeigt auch, welche künstlerischen Mittel die ArbeiterInnen bei ihren Aktionen einsetzen. So wurden auf Demonstrationen große Gummipuppen getragen, die die Fiat-Chefs darstellen und karikieren sollten. Später verlagerte sich der Protest auch an die Toilettenwände. Einige der frechen Sprüche gegen Management, VorarbeiterInnen und später auch StreikbrecherInnen werden im Film gezeigt. Der Film ist aber nicht nur von historischem Interesse. In der Diskussion nach der Berliner Premiere erinnerte ein Zuschauer auf die aktuellen Arbeitskämpfe im Logistiksektor Norditaliens.
Peter Nowak
Wir brauchen keine Erlaubnis, von Pietro Peretti und Pier Milanese, Original mit deutschen Untertieln, 87 Minuten
Informationen und Bezug über: htpps://senzachiederepermesso.org/ Email: WirbrauchenkeineErlaubnis@gmx.de
http://www.labournet.de/express/
express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Wie geht es armen Menschen in dem hippen Kiez? Das war Thema einer Diskussion
Neukölln ist für InvestorInnen schon längst ein lukrativer Bezirk. Wie sieht es aber mit den einkommensschwachen Menschen in dem Stadtteil aus? Dieser Frage widmete sich amDonnerstagabend eine Veranstaltung der Berliner Mietergemeinschaft. Der Titel „… und am Ende wohnungslos?“ machte schon deutlich, dass Zwangsräumungen durchaus zum Alltag vieler Menschen im Kiez gehören.Zu Beginn zeigte die an der Alice-Salomon-Hochschule lehrende Armutsforscherin Susanne Gerull an Beispielen aus Politik und Medien auf, wie eikommensarme Menschen abgewertet werden, weil sie der Gesellschaft angeblich nicht nützten. Die Bild-Zeitung wurde ebenso erwähnt wie der ehemalige Wirtschaftsminister und Hartz-IV-Architekt Wolfgang Clement (früher SPD). Der Neuköllner Stadtteilaktivist Thilo Broschell berichtete dann, wie diese Abwertung konkret auch im Stadtteil umgesetzt werde. So seien auf Veranlassung des Quartiersmanagements Schillerkiez Bänke und Tische abgebaut worden, sagte Broschell. Dort hätten sich einkommensschwache Menschen niedergelassen, die sich einen Restaurantbesuch nicht leisten könnten Die Sozialwissenschaftlerin Nora Freitag erzählte von ihrer Arbeit als Leiterin der mobilen Erwerbslosenberatung „Irren istamtlich“ des Berliner Arbeitslosenzentrums. Die Beratung wirdderzeit temporär vom Senat finanziert. Das Thema Wohnen sei das Hauptproblem der Menschen, die Rat suchten, betonte Freitag. Dabei gehe es häufig um die Übernahme von Wohnkosten. Anträge auf ein Darlehen, um bei Mietschulden einen Wohnungsverlust zu vermeiden, würden teilweise so spät bearbeitet, dass die Betroffenen ein Kündigung erhielten, berichtete Freitag. Dann lehne das Amt den Antrag mit dem Argument ab, dass jetzt die Wohnung nicht mehr gesichert sei. Betroffene bestätigten, dass sie sich im Jobcenter öfters diskriminiert fühlten. Andere BesucherInnen informierten über die Aktion „Niemand muss allein zum Amt“. Dabei nehmen Betroffene Personen ihres Vertrauens mit zu den Jobcenterterminen, um der Behörde nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Der Stadtteilladen Lunte etwa bietet mit seinen Erwerbslosenfrühstücken diese Form der Unterstützung an.
Italien: Das Schreiben eines Mannes, der Suizid beging, hat in Italien eine große Resonanz. Sie zeigt, dass die Krise längst nicht vorbei ist
„Ich habe dreißig Jahre lang (schlecht) gelebt, einige werden sagen, dass es ein zu kurzes Leben war. Diese Leute aber können nicht die Grenzen der Geduld und des Erträglichen bestimmen, denn diese Grenzen sind subjektiv, nicht objektiv. Ich habe versucht, ein guter Mensch zu sein. Ich habe Fehler begangen. Ich habe viele neue Versuche gestartet. Ich habe versucht, meinem Leben einen Sinn zu geben und mir selbst ein Ziel zu setzen und dabei meine Fähigkeiten einzusetzen. Ich habe versucht, aus dem Unbehagen eine Kunst zu machen.“
Mit diesen Zeilen[1] beginnt ein Brief[2], der in Italien für Aufsehen, Trauer und Empörung sorgt. Es ist der Abschiedsbrief eines 30-Jährigen, der Suizid verübte und in diesen Schreiben seine Gründe darlegte.
Dass der sehr persönlich gehaltene Brief so große Resonanz erfährt, liegt daran, dass dort etwas formuliert wurde, das die Erfahrungen von vielen Menschen in Italien wiedergibt. Es sind die Menschen, die als „Generation Praktikum“ bezeichnet werden. Von der Kindheit an wird ihnen eingebläut, dass sie flexibel sein müssen, dass sie autonom und selbstständig für ihr Leben verantwortlich sind und dass sie, wenn sie sich anstrengen, auch Erfolg haben können.
Und sie machen eine Erfahrung, die der Verfasser des Briefes, der auf Wunsch seiner Eltern veröffentlicht wurde, aber anonym bleiben soll, so zusammenfasst:
Ich bin es leid, den Erwartungen Anderer gerecht zu werden, obwohl meine eigenen Erwartungen nie erfüllt wurden. Ich bin es leid, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, Interesse vorzutäuschen, mich selbst zu enttäuschen, auf den Arm genommen zu werden, aussortiert zu werden und mich selbst sagen zu hören, dass Sensibilität eine besonders tolle Charaktereigenschaft ist. Alles Lügen.
Brief eines Unbekannten
Da nimmt einer die ideologischen Prämissen des modernen Kapitalismus auseinander und erkennt, dass das Gerede über Sensibilität, Diversität, Individualität und Flexibilität die zeitgemäße Ideologiesegmente sind, hinter denen sich die aktuelle Ausbeutung gut verbirgt.
Vom Aufbegehren über die Auswanderung bis zur Resignation
Gerade Italien war Pionier bei der Zerschlagung der teils von der Arbeiterbewegung erkämpften, teils als Kompromiss zugestandenen Rechte. Die Prekarität der Lebens- und Arbeitsverhältnisse bekamen vor allem junge gut ausgebildete Menschen zu spüren. Sie waren es auch, die vor ca. 20 Jahren zum Anwachsen der starken Protestbewegungen in Italien führten[3]. Bekannt wurden die blutig niederschlagenen Proteste der Globalisierungsgegner in Genua im Jahr 2001.
Doch sie waren nur der Höhepunkt eines Protestzyklus, der danach repressiv niedergekämpft wurde. Es gab auch danach neue Versuche, sich zu organisieren und für Rechte zu kämpfen: Die Euromayday-Bewegung [4]ging unter anderem von Italien aus und strahlte auf andere Länder aus. Es waren Suchbewegungen, so flexibel wie die aktuellen Verhältnisse.
Vielen waren diese Organisierungsversuche zu langwierig oder sie hatten schlicht in ihrem prekären Alltag keine Zeit dafür. Tausende gut ausgebildete junge Menschen wanderten aus Italien aus, viele nach Deutschland, wo sie sich erneut im Niedriglohnsektor wiederfanden. In Berlin ist es die Gastronomie, und es gibt auch dort Organisierungsversuche von Menschen, die an den Protestzyklus beteiligt waren.
So gründete sich in Berlin das Netzwerk der Migrantstrikers[5]. Doch viele der Prekären resignierten und versuchten, nur noch zu überleben. Nicht alle schafften es, wie der Brief zeigt, der ausdrückt, was viele denken und fühlen.
Ich bin es leid, sinnlose Bewerbungsgespräche zu führen
Heute wissen wir, dass die Entsicherung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse zum Kennzeichen der gegenwärtigen Regulationsphase des Kapitalismus gehört und sie sich in allen Ländern ausbreitet. Daher ist das, was der Verfasser des Briefes ausdrückt, durchaus auch über Italien hinaus aktuell. Wenn der Schreiber die sinnlosen Bewerbungsgespräche beklagt, dann fühlen sich auch viele Menschen, die im Hartz IV-Regime gefangen gehalten werden, angesprochen.
Das Gefühl, einer staatlichen Instanz hilflos ausgeliefert zu sein, ist auch das Erfolgsgeheimnis des preisgekrönten Films Ich, Daniel Blake[6] von Ken Loach. Er zeigt, dass das Prekariat längst sämtliche Segmente der Lohnabhängigen erfasst hat. Die Generation Praktikum wird zur Erfahrung einer ganzen Klasse.
Folgt aus der Trauer neue Solidarität?
Es stellt sich nun die Frage, ob aus der Betroffenheit und Trauer, die der Brief in Italien ausgelöst hat, eine neue Bereitschaft zum Widerstand gegen diese Verhältnisse erwächst. In Marokko hatte schließlich der Suizid eines jungen Prekären mit zur Aufstandsbewegung geführt, die zum kurzzeitigen arabischen Frühling wurde.
Auch in Europa sind die Platzbesetzungen und die Krisenproteste der Jahre 2011- 2013 noch nicht vergessen. Damals gehörten Selbstmorde der Krisenbetroffenen in vielen Ländern der europäischen Peripherie zum Alltag. Heute versuchen die Regierungen und die EU-Instanzen alles, um uns glauben zu machen, es gebe gar keine Krise. Damit aber werden die Menschen, die im System nicht aufsteigen, zu Schuldigen erklärt, was in Krankheit und Suizid enden kann. Der Brief aus Italien macht noch einmal deutlich, dass für viele Menschen in Italien und anderswo in der EU die Krise nie vorbei war. Es ist die Frage, ob sich daraus neues Widerstandsbewusstsein gibt.
Die EU-Kommission hat gerade Italien wieder im Visier[7] und fordert die Radikalisierung der Austeritätspolitik. Doch es ist gerade diese Politik, die für die Entsicherung der Lebensverhältnisse vieler Menschen verantwortlich ist.
So ist auch dieser Abschiedsbrief eine Anklage gegen eine Politik, in der alles darauf gerichtet ist, dass die Banken, der Dax und die Börse nicht verärgert werden. Wenn Menschen nicht mehr mitkommen ist das in diesem System nicht mal eine Fußnote wert.
Die Argumente, Andrej Holm loszuwerden, sind austauschbar
Es ist schon einige Jahre her, dass Studierende in Berlin Universitätsräume besetzt haben, um Verbesserungen ihrer Studienbedingungen erkämpfen. Seit dem 17.Januar sind nun wieder Hochschulräume besetzt, nämlich die des Instituts für Sozialwissenschaft. Die Studierenden protestieren gegen die Entlassung des Stadtsoziologen Andrej Holm, der Mitte Januar nach wenigen Wochen als Staatssekretär zurücktreten musste.
Die Präsidentin der Humboldtuniversität erklärte, nicht die kurzzeitige Stasi-Mitgliedschaft von Holm sei der Grund für die Entlassung:
«Die Kündigung beruht nicht auf der Tätigkeit von Herrn Dr.Holm für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), sondern einzig darauf, dass Herr Dr.Holm die HU hinsichtlich seiner Biografie getäuscht und auch an dem wiederholt vorgebrachten Argument der Erinnerungslücken festgehalten hat.» Diese Erklärung wurde jedoch als Beispiel bürokratischer Willkür wahrgenommen, wie schon zuvor seine erzwungene Entlassung als Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Wohnen.
Seine Ernennung hatte bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt, weil mit Andrej Holm ein Mann diesen Posten bekommen hatte, der sich seit Jahren für die Interessen von Mietern einsetzt, und auch wusste, wo die Stellschrauben liegen, an denen Investoren gezwungen werden können, sich an Gesetze zu halten. Das passte der mächtigen Investorenbranche nicht. Schon unmittelbar nach seiner Ernennung warnte sie vor einem Staatssekretär, der gute Verbindungen zur außerparlamentarischen Linken hat, und erinnerte daran, dass er 2006 kurzzeitig verhaftet und angeklagt worden war, weil man ihn mit militantem Widerstand in Verbindung bringen wollte. Holm wurde damals freigesprochen.
Jetzt wurde seine kurzzeitige Stasitätigkeit zum Anlass für die Kampagne gegen ihn genommen. Dabei war die gar kein Geheimnis. Bereits 2007 hatte er sich mit linken DDR-Oppositionellen, die selber von der Stasi verfolgt worden waren, darüber auseinandergesetzt, dass er als Sohn von Kommunisten bereits mit 14 Jahren auf eine MfS-Tätigkeit vorbereitet worden war. Er hatte angegeben, als Mitglied des Wachregiments «Feliks Dzierzynski» auf eine MfS-Tätigkeit vorbereitet worden zu sein.* So steht es auch in dem Fragebogen, mit dem Holm sich für seine Tätigkeit als Stadtsoziologe an der Humboldt-Universität beworben hatte. Nach Aktenlage aber war er bereits von Anfang an Teil des MfS.
Viele außerparlamentarische stadtpolitische Initiativen und auch die protestierenden Studierenden haben die Maßnahmen gegen Holm als Angriff auf einen Kritiker der herrschenden Verhältnisse verstanden. Nicht für die Aufarbeitung des DDR-Repressionssystems, sondern für die Profite der Immobilienwirtschaft war Holm ein Problem, erklärten verschiedene stadt- und mietenpolitische Gruppen. Sie sahen in der Ernennung Holms eine Chance, eine Politik im Interesse der Mehrheit der Mieterinnen und Mieter in Berlin umsetzen. Die Studierenden befürchten nun, dass mit Holm ein letzter Rest von kritischer Wissenschaft von der Hochschule verschwinden soll, die heute in Forschung und Lehre weitgehend nach den Prämissen der Marktwirtschaft ausgerichtet ist.
Viele Studierende, die sich heute für den Verbleib von Holm einsetzen, werden sich nicht mehr darin erinnern, dass schon einmal, vor 25 Jahren, ein kritischer Theologe, Heinrich Fink, aus der Humboldt-Universität entlassen wurde, weil ihm MfS-Mitarbeit vorgeworfen wurde. Eine solche hat Fink stets bestritten, dabei aber immer betont, dass er für eine Demokratisierung, nicht für die Abschaffung der DDR eingetreten sei. Gemeinsam ist beiden Fällen: Hier wurden Menschen sanktioniert, die für eine kritische Wissenschaft und für eine demokratische Universität stehen. Deshalb besetzen im Jahr 2017 Studierende wieder Unigebäude wie Anfang der 90er Jahre.
Doch eine Schwäche hat die aktuelle Protestbewegung: Eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit und die Grenzen einer Reformperspektive, wie sie sich in der Unterstützung von Holm ausdrückt, findet nicht statt. Nachdem für Holm selber das Kapitel Staatssekretär abgeschlossen war, hätte die Forderung nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin aus der stadtpolitischen Bewegung den Druck auf die Berliner Koalition erhöhen können. Stattdessen konzentrierte man sich ausschließlich auf Andrej Holm. Nach seiner Entlassung heißt es jetzt, es zeige sich, dass Reformpolitik nichts bringt. Eine Strategiedebatte wäre angesichts dieser Widersprüche sinnvoll.
Der Bundesvorstand der Linkspartei erklärte sich im Herbst mit den Forderungen der Gefangenengewerkschaft GG/BO solidarisch. Die Realitätsprobe im rot-rot-grün regierten Thüringen lässt Zweifel an diesem Bekenntnis aufkommen.
»Soziale Gerechtigkeit endet nicht an Gefängnismauern. Rentenversicherung, Mindestlohn und Gewerkschaftsrechte für Inhaftierte!« Mit dieser Forderung ist ein Beschluss des Bundesvorstands der Linkspartei vom vergangenen Oktober betitelt. In dem Papier erklärt sich das Gremium mit den Zielen der 2014 gegründeten Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) solidarisch und unterstützt die Forderung nach der vollständigen Anerkennung von Gewerkschaftsrechten auch im Gefängnis. »Die Ausgrenzung Gefangener und Haftentlassener muss bekämpft werden, denn sie ist im Kern auch eine gesamtgesellschaftliche Frage«, heißt es in dem Beschluss, der auch den Entzug von Rechten für Mitglieder der GG/BO kritisiert: »Viele der beigetretenen Insassen sahen sich Schikanen der Anstalten ausgesetzt, Gewerkschaftsmaterial wurde konfisziert, sie wurden verlegt oder zum Dauereinschluss verbracht, die Zellen wurden durchsucht.«
Die beiden Gewerkschaftsmitglieder David Hahn und Maik Büchner haben solche Schikanen erlebt. Büchner ist in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tonna und Hahn in der JVA Untermaßfeld inhaftiert, beide Gefängnisse befinden sich in Thüringen. In dem Freistaat stellt die Linkspartei mit dem ehemaligen Gewerkschaftssfunktionär Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten. Deshalb wandten sich am 12. Januar Hahn, Büchner und die Gefangenensolidarität Jena in einem offenen Brief an Iris Martin-Gehl, die justizpolitische Sprecherin der Linkspartei-Fraktion im Thüringer Landtag. Unter Verweis auf den Beschluss des Parteivorstands forderten die Verfasser ein sofortiges Ende der Postzensur für die GG/BO-Mitglieder, zudem sollen regelmäßige Treffen der Gewerkschaftsmitglieder in den Gefängnissen ermöglicht werden. Ein historisches Vorbild für diese Forderungen sind Gefangene in Hessen, die in den achtziger Jahren den Grünen beigetreten waren und damals regelmäßige Parteitreffen erkämpften.
Erst knapp drei Wochen später kam eine Antwort – aufgrund einer entsprechenden Nachfrage der Jungle World. Jens Schley, ein Mitarbeiter Martin-Gehls, schrieb, ohne konkret auf die Forderungen der GG/BO-Mitglieder einzugehen: »Von vermeintlicher oder tatsächlicher Postzensur Betroffene« hätten das Recht, eine Beschwerde einzureichen und disziplinar- und strafrechtlich gegen die JVA vorzugehen. Auch der Forderung nach regelmäßigen Treffen der Gewerkschaftsmitglieder stellte Schley lediglich eine Interpretation der geltenden Rechtslage entgegen: »Die Vertretung der Gefangenen einer JVA über eine eigene Gewerkschaft ist durch das Thüringer Justizvollzugsgesetzbuch (ThürJVollzGB) nicht vorgesehen. An ihre Stelle treten, aber ohne gewerkschaftliche Struktur und ohne gewerkschaftliche Vertretungsaufgabe, die Gremien der Gefangenenmitverantwortung, deren Wahl, Vertretungsaufgabe und Bereiche der Berücksichtigung ihrer Mitwirkung über Verwaltungsvorschriften zum ThürJVollzGB geregelt sind.«
Bei den Verfassern des offenen Briefes ist man über die Reaktion enttäuscht. Konstantin von der Jenaer GG/BO-Soligruppe sagte im Gespräch mit der Jungle World: »Weder Frau Martin-Gehl noch sonst jemand aus der Linkspartei hat es für nötig erachtet, nach der Veröffentlichung unseres offenen Briefs mit uns oder unseren inhaftierten Sprechern Kontakt aufzunehmen.« Zudem verstecke sich die Partei »Die Linke« hinter bestehenden Gesetzen, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, diese zu ändern. Der Jenaer GG/BO-Sprecher kritisiert zudem, dass die Häftlinge in dem Schreiben Schleys auf die institutionalisierte Gefangenenmitverwaltung verwiesen werden. Schley könne offenbar nicht verstehen, »dass die inhaftierten Arbeiterinnen und Arbeiter ihr Leben in die eigenen Hände nehmen und ihre eigene Gewerkschaft aufbauen« wollen. Genau diese gewerkschaftliche Selbstorganisierung hinter Gittern aber werde in dem Beschluss des Linkspartei-Bundesvorstandes ausdrücklich begrüßt und unterstützt.
Schley kündigt an, dass die Linkspartei die Diskussion über eine Gesetzesreform in Thüringen weiter vorantreiben werde. Dass die GG/BO-Mitglieder und ihre Unterstützer sich damit zufrieden geben, ist kaum zu erwarten. Schließlich hatten sie schon in ihrem offenen Brief darauf hingewiesen, dass der Strafvollzug Ländersache sei: »Ausreden gibt es also keine. Vor allem aber erwarten wir Taten.«
Punkt elf begann das Scheppern. Ca. 15 AnwohnerInnen im Friedrichshainer Nordkiez schlugen am eisigen Wintervormittag vor dem Eingang der Rigaer Straße 71-73 kräftig auf Pfannen und Töpfe. Seit fast drei Wochen findet an diesem Ort täglich um 19 Uhr für 10 Minuten das von NachbarInnen organisierte Scheppern gegen die CG-Gruppe statt (MieterEcho berichtete). Am 10. Februar fand die Aktion ausnahmsweise vormittags im Rahmen einer Pressekonferenz statt, auf der die Aktionsgruppe gegen die CG-Gruppe, zu der sich die AnwohnerInnen zusammengeschlossen haben, in der Öffentlichkeit noch einmal die Gründe deutlich machte, warum sie gegen den Bau des sogenannten Carré Sama-Riga protestieren, das nach den Vorstellung des Investors CG-Gruppe dort errichtet werden soll. Gudrun Gut von der Aktionsgruppe zitierte dazu aus einer Publikation der CG-Gruppe, in der sie deutlich machte, dass ihr Ziel die Aufwertung ganzer Stadtteile ist. Die zahnlose Mietpreisbremse wird in der Broschüre als Eingriff in die Eigentümerrechte bezeichnet und abgelehnt. Gudrun Gut beschrieb auch die Folgen des CG-Projekts für die einkommensschwachen Menschen, die im Kiez wohnen. Die Mieten steigen auch in der Nachbarschaft. Schon häufen sich Kündigungen, bevor mit dem Bau überhaupt begonnen wird.
Wo einst der Lidl stand, sollen Eigentumswohnungen und ein Hotel errichtet werden
Welche Auswirkungen die Aufwertung des Stadtteils auf die Umgebung hat, konnten die PressevertreterInnen gut beobachten Auf dem Areal der Rigaer Straße 36-39 waren die Abrissarbeiten nicht zu überhören und zu übersehen. Dort stand bis zum 31. Dezember 2016 eine Lidl-Filiale. Jetzt sollen auf dem Areal Eigentumswohnungen und ein Hotel entstehen. Schon klagen kleine LadenbesitzerInnen über massive Einkommensrückgänge seit der Lidl-Schließung. Die AnwohnerInneninitiative betonte, dass es ihr nicht um die Verteidigung des Geschäftsmodells von Lidl gehe. Sie wolle aber darauf hinweisen, wie erst die soziale Infrastruktur für Menschen mit wenig Einkommen verschwindet und dann die MieterInnen selber verdrängt werden. Ein Mitglied der Friedrichshainer Bezirksgruppe der Berliner MieterInnengemeinschaft stellte die geplanten Nobelbauten in der Rigaer Straße in den Kontext einer Stadtpolitik, die Wohnungen für Vermögende und nicht für die Mehrheit der Bevölkerung baut. Doch im Friedrichshainer Nordkiez könnten die Pläne der CG-Gruppe ins Stocken geraten. Noch hat die BVV-Friedrichshain-Kreuzberg die Baugenehmigung nicht erteilt. Der neue Baustadtrat des Bezirks Florian Schmidt hat in einem Tagesspiegel-Interview erstmals Zweifel geäußert, ob die Pläne überhaupt genehmigungsfähig seien und sich ausdrücklich auf die Proteste sowie die Einwendungen gegen das Carré Sama Riga bezogen. Für die CG-Gruppe war das der Grund, erstmals zwei Mitarbeiter als Beobachter in die BVV-Sitzung zu schicken. Die Position der Stadtteilinitiative hat Gudrun Gut auf der Pressekonferenz noch einmal deutlich gemacht. Sie fordert einen Stopp aller Bauarbeiten und den Beginn einer öffentlichen Diskussion mit den Anwohner/innen über die Perspektive des Grundstücks. Die Aktionsgruppe machte allerdings auch deutlich, dass sie auf Protest vor Ort und nicht auf Politikberatung setzt. Auch davon konnten sich die PressevertreterInnen mit eigenen Augen überzeugen. „Wer hier kauft, kauft Ärger, „CG-Gruppe nicht erwünscht“ und „Versagen der Stadtpolitik“ lauteten die Parolen, die sehr deutlich auf den Bauzäunen zu sehen sind.#
http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/rigaer-str-71-73.html
GENTRIFIZIERUNG:Der Historiker Niko Rollmannarbeitet zur Geschichte der Cuvry-Brache
Niko Rollmann, 45 Jahre, Historiker, hat das Buch „Der lange Kampf – die Cuvrysiedlung in Berlin“ veröffentlicht (80 Seiten; 18 Euro). Bestellt werden kann es unter cuvry-siedlung@gmx.de.
taz: Herr Rollmann, warum ein Buch über einen Kampf, der bereits seit zwei Jahren durch die Räumung beendet ist?
Niko Rollmann: Zum einen geht es für mich darum, die Geschichte und Umstände dieser Siedlung in einer möglichst objektiven Form zu schildern. Denn zeit ihrer Existenz wurde die „Cuvry“ von den Medien zumeist in einer hochgradig verzerrten Form dargestellt. Zum anderen ist das Schicksal des Lagers exemplarisch für viele andere informelle Siedlungen in Berlin. Darüber hinaus zeugte die Siedlung auch als kleiner Mikrokosmos von Armut, Wohnungsnot und Verdrängung innerhalb dieser Stadt.
Sie sprechen von „Cuvry-Siedlung“ und nicht von „Cuvry-Brache“. Hat die Wortwahl eine Bedeutung?
Die Wortwahl ergibt sich daraus, dass das Areal ja bereits seit 1999 eine Brache ist. Und man könnte über das wechselhafte Schicksal dieser Fläche noch mal ein eigenes Buch schreiben! Aber mir ging es primär um die dort von 2012 bis 2014 existierende Siedlung.
Sie sprechen auch die Probleme an, die es mit der Siedlung gab. Wollten Sie damit die Romantisierung des Lebens in der freien Natur kritisieren?
Genau! Schließlich sollte die Siedlung gerade in der letzten Phase ihrer Existenz ein „hartes Pflaster“ sein. Es gab zum Beispiel Probleme mit Kleinkriminalität, Rassismus, Homophobie und Vermüllung. Und auch in gut funktionierenden informellen Siedlungen kann das Leben gerade im Winter recht anstrengend sein.
Haben Sie noch Kontakt mit BewohnerInnen?
Viele der ehemaligen BewohnerInnen sind seit der Räumung 2014 leider „vom Radarschirm“ verschwunden. Aber ja, zu mehreren Personen habe ich glücklicherweise noch Kontakt.
Auf dem Areal soll jetzt ein Nobelbau errichtet werden. Wolen Sie die Diskussion über die Bebauung noch einmal neu aufnehmen?
Sagen wir es mal so: Ich freue mich, dass es in Kreuzberg aktive Bürgerinitiativen gibt, für die in Sachen Cuvry-Brache noch nicht das letzte Wort gesprochen ist! Und ich weiß auch, dass viele BürgerInnen vor Ort Angst vor den Gentrifizierungstendenzen haben, die das Bauprojekt mit großer Wahrscheinlichkeit verursachen wird. Insofern betrachte ich mein Buch als Teil dieser Diskussion.
Informelle Siedlungen gibt es in Berlin auch außerhalb Kreuzbergs weiter. Wie sollte die Politik damit umgehen?
Die Politik sollte zuerst einmal genau hinschauen: Es gibt auf der einen Seite mehrere recht erfolgreiche informelle Siedlungen, die in der Tradition eines selbstbestimmten, alternativen Lebens im innerstädtischen Raum stehen. Sie symbolisieren die „Stadt von unten“-Bewegung, organisieren kulturelle Veranstaltungen und stellen eine Bereicherung für die Nachbarschaft dar – Orte wie zum Beispiel das „Teepeeland“ oder die „Lohmühle“. Die Politik sollte diese Siedlungen schützen und unterstützen. Andererseits gibt es aber auch „wilde Camps“, die für die AnwohnerInnen eine immense Belastung darstellen können. Hier muss die Politik ihre Verantwortung wahrnehmen und in einer sozialverträglichen Art und Weise eingreifen.
Taz, Die Tageszeitung, DONNERSTAG, 9. FEBRUAR 2017
– „Deutsche Wohnen“ will in der Otto-Suhr-Siedlung Bestandsmieter/innen verdrängen.
Die Otto-Suhr-Siedlung nordwestlich vom Moritzplatz wurde in den 1950er Jahren errichtet. Viele der Mieter/innen die dort seit Jahrzehnten wohnen sind heute Rentner/innen und Familien mit geringen Einkommen. Sie befürchten jetzt, vertrieben zu werden. Denn seit November 2016 erhalten sie Modernisierungsankündigungen der Deutschen Wohnen (DW), einer Gründung der Deutschen Bank, die in Berlin zum marktbeherrschenden Investor geworden ist. Sie wurde zum größten Wohnungsbesitzer Berlins, nachdem sie die Gehag, die GSW sowie weiteren Wohnungsbesitz aus öffentlicher Hand aufgekauft hatte. Die Otto-Suhr-Siedlung gehört dazu. Für die DW-Ökonomen gehört sie wegen ihrer exponierten Lage zu einer „Siedlung mit Potenzial“. Für die Mieter/innen ist das eine Drohung. Sie befürchten Mieterhöhungen, die sie mit ihren Einkommen nicht bezahlen können. So soll Manuela Besteck für ihre 58 Quadratmeter-Wohnung statt bisher 306 Euro nach der Modernisierung künftig 486 Euro zahlen.
Energetische Sanierung treibt Mieten in die Höhe
Dabei klagen die Mieter/innen schon lange, dass die DW notwendige Instandsetzungs- und Reparaturarbeiten nicht ausführt. Nun will sie mit den energetischen Modernisierungsmaßnahmen, die vom Gesetzgeber geschaffenen Schlupflöcher nutzen, damit die Wohnungen für sie auch dann noch profitabel bleiben, wenn die Siedlung, wie von der BVV Kreuzberg-Friedrichshain geplant, zum Milieuschutzgebiet erklärt wird. Denn in Sanierungsgebieten sind energetische Sanierungen und die damit verbundenen Mieterhöhungen zu genehmigen. Aber das Drohszenario, dass die DW mit den Modernisierungsankündigungen aufbaute, hat dazu geführt, dass sich die Mieter/innen organisieren. Unterstützt von Mieteraktivist/innen, haben sie Forderungen entwickelt und sind in der Öffentlichkeit gegangen. Am 8. Februar haben sie einen von 800 Menschen unterzeichneten Offenen Brief an die Mitglieder der BVV Kreuzberg-Friedrichshain übergeben. Dort sind auch sehr konkrete Forderungen aufgelistet. Dazu gehört die Rekommunalisierung der Wohnungen, eine Forderung, die sich auch an den neuen Berliner Senat richtet. Weitere Forderungen sind die Erstellung eines unabhängigen Gutachtens, mit dem ermittelt werden soll, wo und ob die geplante energetische Sanierung überhaupt zum Energiesparen beitragen kann, die Bereitstellung eines Raumes in der Siedlung, in dem sich die Mieter/innen treffen und organisieren können. Als konkreter Ort wird eine geschlossene Bibliothek genannt. Tatsächlich haben sich die Mieter/innen und ihre Unterstützer/innen in den letzten Wochen häufig getroffen. In den letzten Tagen haben sie gemeinsam Unterschriften für den Offenen Brief gesammelt, Transparente gemalt, eine Pressekonferenz und eine Kundgebung vor der BVV-Versammlung organisiert. Die Parole „Gemeinsam gegen hohe Mieten und Verdrängung“ ist auf dem Leittransparent auf deutsch und Türkisch zu lesen. Schließlich sind viele der Mieter/innen, die in der Siedlung leben, in der Türkei geboren. So machen die MieterInnen der Otto-Siedlung auch deutlich, dass sie Spaltungsversuche nach Sprache, Ethnie und Herkunft ablehnen. „Wir leben hier. Wir sind alle von den hohen Mieten betroffen. Wir kämpfen zusammen. Das ist doch selbstverständlich, sagt eine Mieterin.
Manche wollen Griechenland aus dem Euro hinausbegleiten. Gibt es auch eine EU ohne Austerität?
Der Polen-Besuch von Bundeskanzler Merkel wurde als großer Erfolg für die EU und für Merkel bezeichnet. Dabei war man sich nur in der gemeinsamen Gegnerschaft gegenüber Russland einig. Über die EU hatte die nationalkonservative Regierung, die einen Rückbau der EU fordert, ganz andere Vorstellungen[1] als der von Merkel repräsentierte Block der deutschen EU.
Doch man hofft, Polen auf Linie zu bringen, weil mit dem Brexit Polen ein Bündnispartner verloren ging. Die Konservativen saßen sogar mit der polnischen Regierungspartei in der gleichen EU-Fraktion. Aber Merkels Bekenntnis, dass es in der EU keine Mitglieder mit unterschiedlichen Rechten geben dürfe, werden wohl auch die polnischen Gastgeber als Propaganda erkannt haben. Schließlich wird in den letzten Monaten mehr denn je, auch von Politikern aus Merkels Umfeld von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten gesprochen.
Arbeitsrecht ist Vergangenheit
Ein EU-Staat minderen Rechts ist schon lange Griechenland, das unter dem im Wesentlichen von Deutschland orchestrierten Austeritätsprogramm nicht nur auf sozialem Gebiet einen beispiellosen Aderlass erlebte. Auch die Schleifung tariflicher und gewerkschaftlicher Rechte ist fester Bestandteil dieses Austeritätsprogramms. Griechische Gewerkschafter beschreiben die Folgen in der Zeitschrift ver.di Publik[2]:
Darunter fällt auch die Aufweichung des Kündigungsschutzes. Das betrifft die Zahl der zugelassenen monatlichen Kündigungen in einem Betrieb aus wirtschaftlichen Gründen. Bisher sind sie auf fünf Prozent der Beschäftigten beschränkt, jetzt sollen sie auf zehn Prozent angehoben werden. Hinzu kommen weiter sinkende Lohnniveaus, die unter dem Mindestlohn von 585 Euro für Berufseinsteiger liegen können und bei denen den Gewerkschaften die Tarifhoheit genommen werden soll, ebenso wie die Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Zudem soll das Streikrecht geändert werden: Streiks müssen beim Arbeitgeber künftig 20 Tage vorher angemeldet werden. Die Gewerkschaftsverbände sollen nicht mehr zu Streiks aufrufen dürfen. Stattdessen muss die Mehrheit der Beschäftigten des jeweiligen Betriebs für einen Streik stimmen. Weiterhin fordern die Gläubiger, dass Freistellungen für Gewerkschaftsarbeit reduziert und Aussperrungen als Arbeitskampfmaßnahme für Arbeitgeber eingeführt werden.
ver.di Publik
Eine treibende Kraft bei dieser Entrechtung der Beschäftigungen zum Zwecke der Deregulierung des Arbeitsmarktes ist der Internationale Währungsfonds, der schon bei einem Treffen in Westberlin 1988 von Kritikern[3] als Institution markiert wurde, die zur Verarmung und Entrechtung beiträgt.
In Griechenland bestätigt sich dieses Urteil. Deswegen will vor allem die Bundesregierung den IWF mit im Boot haben, wenn Griechenland der Knüppel gezeigt wird. Doch weil die IWF-Bürokratie einschätzt, dass Griechenland seine Schulden nicht zurückzahlen kann, könnte sich der IWF daraus zurückziehen und in Deutschland steht eine neue Grexit-Debatte an. Der Europapolitiker der FDP, Alexander Graf Lambsdorff[4], hat schon mal den Austritt Griechenlands aus der EU-Zone gefordert[5]:
„Wir müssen so schnell wie möglich einen Weg finden, wie wir Griechenland zwar in der EU und ihrer Solidargemeinschaft halten, aber aus der Eurozone hinaus begleiten“, sagte Lambsdorff und regte einen geordneten Übergang zur griechischen Nationalwährung an.
Die Debatte dürfte in Deutschland wieder an Fahrt aufnehmen, wenn es um weitere Gelder für die griechischen Banken geht, die immer fälschlich als Griechenlandhilfe bezeichnet werden. Gerade im Vorwahlkampf dürften verschiedene populistische Attacken gegen Griechenland gestartet werden.
Hat sich für Tsipras die Unterwerfung unter das EU-Diktat gelohnt?
Da stellt sich noch einmal dringlicher die Frage, ob sich für Tsipras und die Mehrheitsfraktion seiner Syriza die Unterwerfung unter das EU-Diktat gelohnt hat? Damit wurde seine eigene Partei gespalten und die vor zwei Jahren sehr aktive soziale Bewegung in Griechenland demotiviert.
Wäre er mit dem gewonnenen Referendum im Rücken, bei dem die Mehrheit der griechischen Bevölkerung OXI zu den Zumutungen der EU gesagt hat, aus der Eurozone ausgetreten, hätte das auch über Griechenland hinaus eine soziale Dynamik in Gang setzten können, die nicht den Kapitalismus, aber das deutsche Austeritätsmodell in Frage gestellt hätte.
Mit der Unterwerfung Griechenlands und der Niederlage der sozialen Bewegungen schlug die Stunde der Rechtspopulisten. Die deutsche Politik hat also an ihrem Aufstieg einen großen Anteil, über den kaum geredet wird. Wenn jetzt wieder über ein Hinausdrängen Griechenlands aus der Eurozone geredet wird, ist auch das Wasser auf die Mühlen der Rechten. Ein selbstbewusster Austritt Griechenlands vor zwei Jahren wäre hingegen Labsal für die sozialen Bewegungen in vielen europäischen Ländern gewesen.
Ein anderer Weg in der EU?
Noch immer gibt es Reformgruppen, die hoffen und auch dafür arbeiten, dass in dieser EU ein anderer Weg als die Austerität möglich ist. Die Gründung der DIEM[6] geht auf den kurzzeitigen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis zurück, der in seiner kurze Amtszeit bewiesen hat, dass die Eurokraten völlig resistent gegenseine Argumente der ökonomischen Vernunft waren. Die Bewegung Diem hat sich bis 2025 Zeit gegeben, ihre Pläne für ein anderes Europa zu konkretisieren.
Ob es dann die EU, wie wir sie kennen, noch geben wird, ist völlig unklar. Auch manchen überzeugten Europäern schwant mittlerweile, dass zumindest in Großbritannien die „Deutsch-EU“ eine Schlacht verloren hat. Dominik Johnson hat kürzlich in der Taz die Fakenews aufgelistet[7], die die EU-Befürworter über den Brexit verbreiten und die EU aufgefordert, endlich Abschied vom Selbstbetrug zu nehmen.
Vielleicht sollte sich auch die Mehrheit der griechischen Bevölkerung, die noch vor zwei Jahren hoffte, ohne Austeritätsdiktat in der EU-Zone bleiben zu wollen, von diesem Selbstbetrug verabschieden. Lambsdorff und sicher noch einige andere Politiker könnten den Lernprozess mit ihrem Ausschlussgerede beschleunigen. Auch in Deutschland suchen Linke[8] neue Wege jenseits der EU und einer Renaissance der Nationalstaaten.
PROTEST: Im Friedrichshainer Nordkiez scheppernAnwohnerInnen täglich gegen Verdrängung
Kaum Menschen sind am kalten Winterabend im Friedrichshainer Nordkiez auf der Straße. Punkt 19 Uhr ist plötzlich Lärm zu hören. Es wird auf Töpfe und Pfannen geschlagen, Pfeifen und Tröten ertönen. Auf einmal füllt sich die leere Straße zwischen den beiden Baustellen an der Rigaer Straße 71–73 und der Rigaer Straße 36–39, dem Grundstück gegenüber. Auch auf den Balkonen der umliegenden Häuser stehen Menschen, manche lärmen mit. Nach etwa zehn Minuten setzt wieder Stille ein. Dieses Szenario wiederholt sich seit dem 19. Januar täglich.„Kiezscheppern gegen die CG-Gruppe und andere Luxusinvestoren“ heißt die Aktion, mit der AnwohnerInnen deutlich machen wollen, dass sie sich gegen ihre drohende Verdrängung wehren. Im Fokus der Kritik steht das Carré Sama-Riga, das nach Plänen der CG-Gruppe auf dem Gelände der Rigaer Straße 71–73 entstehen soll. In den letzten Monaten gab es verschiedene Protestaktionen von NachbarInnen, die befürchten, dass mit diesem Projekt die Aufwertung im Stadtteil beschleunigt wird. „Wir wehren uns mit dem täglichen Scheppern gegen das Wahnsinnsbauprojekt in der Rigaer 71–73 und 36–39 – laut und mit viel Kraft aus einer Straße, einem ganzen Kiez. Wir wollen uns die Art zu leben von niemandem vorschreiben lassen“, erklärte Nordkiez-Bewohnerin Gudrun Gut gegenüber der taz. Sie macht so oft wie möglich beim Kiezscheppern mit. Auf dem Gelände der Rigaer Straße 36–39 gegenüber dem geplanten CG-Bau hat der Abriss einer Lidl-Filiale begonnen. Auf dem Areal sollen Eigentumswohnungen und ein Hotel entstehen. „Der Nordkiez soll für TouristInnen attraktiv gemacht werden. Bald werden die entsprechenden Restaurants folgen, und für Menschen mit wenig Geld bricht die Infrastruktur weg“, befürchtet eine Anwohnerin, die sich auch an der Lärmaktion beteiligt. Der Widerstand gegen das CG-Projekt geht nicht nur auf der Straße weiter. Im Rahmen des baurechtlichen Verfahrens sind beim Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg zahlreiche Einwendungen eingegangen, die nun von der Behörde geprüft werden. Doch die AnwohnerInnen sind skeptisch.„Natürlich fordern wir das Bezirksparlament auf, das CG Projekt nicht zu genehmigen. Doch egal wie die Abstimmung ausgeht, für uns geht der Widerstand vor Ort weiter“, sagt eine Frau, bevor sie zwei alte Pfannen schlägt.
Hunderte protestieren gegen die Entlassung des Ex-Staatssekretärs und den Mietwahnsinn
»Andrej Holm – das war ein Knüller, weg mit McKinsey Müller«. Diese Parole wurde am Samstag auf einer Demonstration von Studierenden und stadtpolitischen Gruppen am Rosa-Luxemburg-Platz in Mitte angestimmt, um gegen die Entlassung Andrej Holms von der Humboldt-Universität (HU) und als Wohn-Staatssekretär zu protestieren. Nach Angaben der Veranstalter kamen bis zu 1500 Menschen. Zu der Demonstration mit dem Motto »Nuriye, Holm, Kalle – wir bleiben alle! Für Uni von unten und Recht auf Stadt!« hatten Bürger-, Studenten- und Mieterinitiativen aufgerufen. Sie beziehen sich auf Nuriye Cengiz und den Kölner Kalle Gerigk, die sich gegen ihre Zwangsräumungen gewehrt haben.
Im Streit um den Umgang mit seiner Stasi-Vergangenheit war Andrej Holm als Wohn-Staatssekretär zurückgetreten. Die Präsidentin der HU, Sabine Kunst, hatte Holm anschließend zum 30. Juni gekündigt. Holm hatte 2005 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Personalfragebogen verneint, hauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi gewesen zu sein. Die Hochschule sieht sich dadurch nun arglistig getäuscht und kündigte das Arbeitsverhältnis. Holm bestreitet, bewusst falsche Angaben gemacht zu haben.
»Diese Entlassung brachte für uns das Fass zum Überlaufen«, sagt die Studentin Martina Steinert. Sie gehört zu den Studierenden, die nach Holms Entlassung das Sozialwissenschaftliche Institut besetzen. Von dort ging auch die Initiative zu der Demonstration aus, an der sich jetzt zahlreiche stadtpolitische Gruppen und Mieterinitiativen beteiligten.
Die offizielle Begründung für die Doppelentlassung fand bei den Demonstrierenden kein Verständnis. »Holm war der Schrecken der Investoren«, meint ein Vertreter der linksradikalen Interventionistischen Linken (IL). »Er wäre als Staatssekretär die richtige Person gewesen«, ist Magnus Hengge von der Kreuzberger Stadtteilinitiative »Bizim Kiez« überzeugt. Sara Walther vom »Bündnis Zwangsräumung verhindern!« äußert allerdings Zweifel, ob Andrej Holm als Staatssekretär seine Vorstellungen hätte durchsetzen können. Sie erinnerte daran, dass bereits kurz nach seiner Ernennung Politiker von CDU und FDP monierten, der neue Staatssekretär stünde Mieterinitiativen und linken Hausbesetzern näher als der Immobilienwirtschaft.
Während verschiedene Redner auf einer Zwischenkundgebung vor dem Roten Rathaus den rot-rot-grünen Senat aufforderten, die versprochene Politikwende für Mieterinteressen umzusetzen, stand auf der Abschlusskundgebung vor dem Hauptgebäude der Humboldt-Universität der Erhalt und die Ausweitung der kritischen Wissenschaft im Zentrum. So sollen im besetzten Institut für Sozialwissenschaften auch in der nächsten Woche zahlreiche Veranstaltungen stattfinden.
Ein Berliner SPD-Landespolitiker will Obdachlose aus seinem Wahlkreis vertreiben.
»Eine engelsgleiche Frau bedeckt Obdachlosen mit einer Decke.« Mit solchen paternalistischen Bildern wirbt die Berliner Stadtmission der evangelischen Kirche für Spenden für Wohnungslose. Auf der Website der Berliner Obdachlosenhilfe hingegen kommt man ohne himmlische Hilfe aus. Dort wirbt man mit dem Spruch: »Wir können die Welt nicht verändern. Doch wir können aktiv sein und helfen.« Seit September 2013 versucht der von sozial engagierten Menschen getragene Verein Berliner Wohnungslosen das Leben etwas erträglicher zu machen. An verschiedenen Plätzen in Berlin, an denen sich Obdachlose bevorzugt aufhalten, bieten die ehrenamtlich arbeitenden Helfer ein gesundes Essen, einen warmen Tee und saubere Kleidung an.
Bis Ende des vergangenen Jahres gehörte auch der Hansaplatz im Stadtteil Moabit zu diesen Orten. Doch die dortige Filiale der Supermarktkette Rewe hat der Obdachlosenhilfe seit dem ersten Januar untersagt, weiterhin ihren Parkplatz für die Essensausgabe zu nutzen. Falko Stein von der Obdachlosenhilfe sieht das Problem nicht beim Filialleiter, sondern bei Thomas Isenberg (SPD). Das Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses hat rund um das Hansaviertel seinen Wahlkreis. Mitte Dezember moderierte Isenberg eine Veranstaltung unter dem Motto »Sicherheit und Sauberkeit im Hansaviertel«. Dort inszenierte sich der Sozialdemokrat als Sprachrohr von Anwohnern, die die Wohnungslosen als Bedrohung empfinden. Der Polizeikommissar Mario Kanisch hielt dieser Wahrnehmung entgegen, dass die Kriminalität in der Gegend in den vergangenen Jahren zurückgegangen sei. Daher hatte das Verwaltungsgericht den Hansaplatz aus der Liste der kriminalitätsbelasten Orte (KBO) herausgenommen, was die polizeilichen Eingriffsmöglichkeiten reduziert.
Isenberg forderte die Anwohner auf, es zu melden, wenn Wohnungslose in eine Hecke pinkeln oder im Vorraum einer Bankfiliale schlafen. Die Gewerbetreibenden rund am Hansaplatz rief er dazu auf, Wohnungslosen nichts zu verkaufen und von ihnen keine Pfandflaschen anzunehmen. Die Berliner Obdachlosenhilfe beschuldigte er, Wohnungslose in den Stadtteil zu locken. Der Hansaplatz solle in einem Jahr sauber sein und dazu sei er auch bereit, die Wohnungslosen zu verdrängen, drohte Isenberg.
Erst vor zwei Wochen wies die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslose auf Gewalt als alltägliches Problem für Obdachlose hin. Allein 2016 starben demnach 17 Wohnungslose eines unnatürlichen Todes. In den vergangenen 26 Jahren seien es insgesamt sogar 289 wohnungslose Menschen gewesen, so der Verein. »Sie erfroren im Freien, unter Brücken, auf Parkbänken, in Hauseingängen, in Abrisshäusern, in scheinbar sicheren Gartenlauben und in sonstigen Unterständen«, heißt es in der Pressemeldung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslose.