MUT Ein Student der Hochschule der Arbeitsagentur kritisiert seinen Ausbilder: Die Sanktionen gegen Erwerbslose sind oft falsch. Nun muss er fürchten, von der Schule geworfen zu werden
taz: Herr Kallwass, als Student an der Hochschule der Bundesanstalt für Arbeit haben Sie mehrfach die Bundesarbeitsagentur kritisiert. Warum?
Marcel Kallwass: Ich habe im Jobcenter Ulm hospitiert. Dort habe ich mitbekommen, wie Erwerbslose sanktioniert wurden. Das kann nicht der richtige Weg sein. Ich habe in der Hochschule Diskussionen über die Sanktionen angeregt. Dabei musste ich mit Erschrecken feststellen, dass viele meiner Kommilitonen Sanktionen befürworten.
Bekamen Sie Unterstützung?
Einige Studierende wurden durch meine Argumente zum Nachdenken angeregt. Sie erklären, dass sie jetzt die Sanktionen kritischer sehen. Allerdings war vielen meine Totalablehnung von Sanktionen zu radikal.
Warum haben Sie Ihre Kritik öffentlich gemacht, beispielsweise auf Ihrem Blog?
Nach den Diskussionen in der Hochschule habe ich gemerkt, dass ich an eine Grenze stoße. Also begann ich vor fünf Monaten, meine Argumente auf dem Blog „Kritischer Kommilitone“ zu veröffentlichen. Damit wollte ich meine Solidarität mit der Hamburger Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann ausdrücken, die wegen ihrer Kritik am Hartz-IV-System vom Dienst suspendiert wurde.
Bekamen Sie auch Druck?
Im Juni hatte ich den Blog eröffnet, Anfang August wurde ich vom Leiter der Hochschule zu einem ersten Gespräch eingeladen. Das war noch moderat. Nachdem ich einen offenen Brief an den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht hatte, in dem ich Vorschläge für eine Berufsberatung ohne Sanktionen machte, drohte mir die Regionaldirektion von Baden-Württemberg in Stuttgart erstmals mit einer Abmahnung. Nachdem ich auch in der Hochschule mit Flugblättern meine Kritik fortsetzte, habe ich Anfang November die erste und wenige Wochen später die zweite Abmahnung erhalten.
Gefährden Sie Ihre Karriere?
Nach intensiven Gesprächen mit meinen Eltern und FreundInnen habe ich mich entschieden, den Blog weiter zu betreiben. Ich weiß, dass das dazu führen kann, mein Studium abbrechen zu müssen. Das Risiko gehe ich ein, mir geht es um Menschenrechte.
Könnten Sie als kritischer Berufsberater nicht mehr gegen die Sanktionen tun?
Nein, ich wäre dann ein Rädchen in der Maschinerie. Auch wenn ich von der Schule geschmissen würde, wird mich die Bundesanstalt für Arbeit nicht los. Ich wäre dann selber arbeitslos und würde mich weiter gegen Hartz IV engagieren.
INTERVIEW: PETER NOWAK
22, ist Student an der Hochschule der Bundesanstalt für Arbeit in Mannheim. Nachdem er auf seinem Blog das Arbeitsamt kritisierte, wurde er gemaßregelt.
Die neue Verteidigungsministerin zeigt mit ihren Truppenbesuch sowohl den Wandel des Frauenbildes als auch die Änderungen bei der Bundeswehr
Die neue Bundesverteidigungsministerin hat den Einstand in ihr neues Amt mit ihrem Truppenbesuch in Afghanistan mediengerecht inszeniert. Natürlich gehört es bereits zur vorweihnachtlichen Routine, dass ein Minister in diesem Amt einen Truppenbesuch im Ausland macht. Afghanistan bietet sich schon deshalb dafür an, weil dort die meisten Soldaten aus Deutschland stationiert sind.
Schon von der Leyens Vorvorgänger Guttenberg inszenierte seinen Truppenbesuch mediengerecht. Für ihn war das Teil einer Medienoffensive, die den Minister kurze Zeit zum Bundeskanzler der Herzen machte. Wie wir wissen, katapultierten ihn die gleichen Medien bei der passenden Gelegenheit ins Aus.
Wenn jetzt bei von der Leyens Truppenbesuch daran erinnert wird, dann sicher auch mit dem Hintergedanken, wie schnell ein Liebling des Boulevards stürzen kann. Schließlich hat von der Leyen mit Guttenberg eines gemeinsam. Sie wird in den Medien als mögliche Anwärterin auf den Kanzlerinnenposten gehandelt. Ihr aktuelles Amt wäre dann eine Bewährung dafür. Guttenberg ist dabei durchgefallen. Doch es wäre zu kurz gegriffen, von der Leyen nur vor der Folie ihrer Vorgänger zu sehen.
Die Mutter, die ihre Kinder versteckt
Dabei kommt der Aspekt zu kurz, dass in Deutschland erstmals eine Frau dieses Amt antritt. Manchen strammen Militaristen dürfte es gar nicht passen, dass eine Ungediente jetzt dieses Amt innehat. Wie schnell sich auch Militarismuskritiker in den Fallstricken des patriarchalen Denkens verstricken können, führte der Fraktionsvorsitzende der Linken Gregor Gysi bei Günther Jauch vor.
„Wenn man sieben Kinder hat, will man nicht, dass sie in den Krieg gehen“, war sein Statement zu von der Leyens Ernennung. Damit bewegte sich Gysi in einem Diskurs, der in der traditionalistischen Linken sehr lange gepflegt wurde. Die Mutter, die ihre Kinder vor dem Kriege bewahrt, wurde bei Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky in Gedichten beschworen. Käthe Kollwitz hat ihr ein kummervolles Gesicht gegeben. Ausgeblendet wurde, dass ein solcher Diskurs die biologistischen Impressionen teilte, dass die Frau als Gebärerin für die Sicherheit und Sorge der Kinder zuständig ist. Seit den siebziger Jahren gab es auch eine Strömung im Feminismus, die einen solchen Diskurs bediente. Danach wäre eine Welt, die von Frauen regiert wird, menschlicher und friedlicher. Diese These wurde mit der Frau als Gebärerin von Leben begründet.
Dass sich solche Thesen an der Realität blamierten und Frauen auch in einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft Kriege affirmierten und den „Heldentod“ ihrer Kinder besangen, wurde dabei gerne verschwiegen.
Weltweit agierender Konzern Bundeswehr
Mit von der Leyen ist nun auch in Deutschland eine neue Frauengeneration in politischer Verantwortung, die diesen Biologismus ebenso dementiert, wie den Friedenskitsch, der sich darauf bezogen hat. Die moderne Frau versteckt ihre Kinder nicht vor dem Krieg, sondern sie sorgt dafür, dass sie die bestmögliche Ausrüstung bekommen.
Genau so lautete auch die Botschaft, die von der Leyen bei ihrem kurzen Afghanistan-Trip immer und überall verkündet. Sie sei für die Soldatinnen und Soldaten hier, erklärte sie. So begründete sie auch, dass sie sich nicht in der Nähe einer Drohne fotografieren lassen wollte. Ein Statement gegen dieses umstrittene Kriegsgerät wollte die Ministerin darin keineswegs sehen.
Nicht nur das Frauenbild, auch die Rolle der Bundeswehr werden durch den Truppenbesuch in neuem Licht gezeigt. Die Bundeswehr ist längst ein Unternehmen, das weltweit operiert und mit privaten Sicherheitsdiensten konkurriert. Daher ist es, anders als manche Militarismusnostalgiker der alten Schule betrauern, auch nicht entscheidend, ob der oder die Vorgesetzte, gedient hat. Sie oder er muss eine gute Managerin des Unternehmens sein – und von der Leyen will den Beweis antreten, dass die es kann. Wie alle weltweit tätigen Konzerne hat auch die Bundeswehr ihre Homebasis, man kann auch altmodisch von Standort sprechen. Der ist in diesen Fall Deutschland und die Managerin des deutschen Konzerns Bundeswehr vertritt eben auch bei ihren Truppenbesuch deutsche Interessen.
Kein Besuch für die Opfer von Kunduz
Daher ist es für sie ganz selbst verständlich, dass sie nur für die Bundeswehrangehörigen in das Land am Hindukusch geflogen ist. Ein Besuch bei den Angehörigen der Opfer des Bombardements von Kunduz wäre sicher Gysi und anderen Friedensfreunden als Beweis für eine besondere Mütterlichkeit der Ministerin vorgekommen. Der dafür Verantwortliche Oberst Klein wurde dafür nicht bestraft und eine Zivilklage der Opfer auf Entschädigung ist erst kürzlich gescheitert.
Eine solche Geste aber hätte sich für die Managerin des Bundeswehrkonzerns natürlich verboten. Für die Kollateralschäden ihre Konzernpolitik sind beim Konzern Bundeswehr genau so wie bei Monsanto und Bayer die Juristen zuständig. Und die sind vor allem dafür zuständig, die Ansprüche der Opfer ihrer Politik abzuwehren. In diesem Sinne hat sich von der Leyen bei ihren ersten Amtsbesuch bereits bewährt. Sie ist noch für höhere Managerdienste verwendungsfähig.
Die Antikriegsbewegung könnte ein neues Thema entdeckt haben
hat eine Mission. Die Antikriegsaktivistin aus den USA ist Mitbegründerin der Gruppe Codepink und reist durch die Welt, um den Einsatz von Drohnen als Kriegsinstrument zu verhindern. In der letzten Woche hatte sie zahlreiche Auftritte in Deutschland.
Sie hat ihr im Laika-Verlag erschienenes Buch „Der Tod aus heiterem Himmel“ vorgestellt. Auf verschiedenen Veranstaltungen hat sie auch dargelegt, dass der Drohnenkrieg unter der Obama-Administration in Gang gekommen ist und in vielen Teilen der Welt zahlreiche Menschenleben gekostet hat. Noch mehr Menschen aber leben in Angst und Schrecken, wenn sie nur die surrenden Geräusche hören, die den Anflug der Drohnen signalisieren. Benjamin hat Pakistan, Somalia, Afghanistan und den Jemen besucht. Das sind Regionen, in denen die Drohnen mittlerweile eine Kultur der Angst für viele der dortigen Bewohner erzeugt haben.
Von den Islamisten verfolgt, von US-Drohne getötet
Benjamin hat auf ihren Reisen von den vielen Opfern an Menschenleben erfahren, die von den Militärs als Kollateralschaden abgebucht werden. Es sind Menschen, die nur deshalb sterben müssen, weil sie zur falschen Zeit an einem Ort waren, an dem sich Menschen befanden, für die die Drohne bestimmt war. Fast bei jeden Drohneneinsatz sterben nicht nur diese Zielpersonen, die nie gerichtlich verurteilt wurden, denen also auch jede Verteidigungsmöglichkeit genommen ist.
Diejenigen, die die Drohnenopfer auswählen, spielen also Richter, Ankläger und Vollstrecker in einer Instanz. Bei fast jedem Drohneneinsatz sterben noch Freunde, Nachbarn, Bekannte oder Passanten, die sich zufällig in der Nähe der Zielperson aufhielten. Benjamin berichtet von einem islamischen Geistlichen in Afghanistan, der als erklärter Gegner der Taliban bekannt war. Viele seiner Freunde, und er auch selbst, fürchteten, dass er ein Opfer der Islamisten wird. Doch der Geistliche starb durch eine US-Drohne, als er sich auf einem Treffen mit Vertretern seiner Region befand. Er war eines von zahlreichen Opfern dieses Angriffs.
Widerstand gegen Drohnen auch in den USA
Medea Benjamin hat allerdings auch Optimistisches zu berichten. So wächst der Widerstand gegen die Drohnen in den Ländern, in denen sie eingesetzt werden. Nachdem kürzlich eine Drohne in einen Hochzeitszug in Jemen eingeschlug und 15 Tote forderte, führte dies dazu, dass das jemenitische Parlament die Drohnenangriffe verbat. Allerdings ist es fraglich, ob die USA dieses Verbot respektiert wird. Doch auch in den USA, wo die Polizei in verschiedenen Städten mit Überwachungsdrohnen ausgerüstet wird, wächst der Widerstand. Im liberalen Seattle hat der Protest der Bevölkerung dazu geführt, dass der Beschluss wieder rückgängig gemacht werden musste. In anderen Städten der USA haben sogar Bürgermeister dazu aufgerufen, den Einsatz der Drohnen zu sabotieren.
In Deutschland hat der Widerstand gegen Kampfdrohnen erst in den letzten Monaten begonnen, könnte sich aber schnell ausweiten. Vor allem weil die Erforschung der Drohnen-Technologie noch am Anfang steht und in viele Lebensbereiche eingreifen könnte.
So heißt es richtigerweise in der Unterzeile der Drohnen-Kampagne „gegen die Etablierung der Drohnentechnologie für Krieg, Überwachung und Unterdrückung“. Am 04. Oktober 2014 soll es den ersten globalen Aktionstag gegen bewaffneten Drohnen geben. Ein Ziel könnte dann auch der Ludwig Bölke-Campus bei München sein, wo Kampfdrohnen entwickelt werden.
Griechisches Linksbündnis Antarsya fordert grundlegend andere Krisenpolitik
Manos Skoufoglou ist Mitglied im Nationalen Komitee des linken griechischen Bündnisses Antarsya. Die »Antikapitalistische linke Zusammenarbeit für den Umsturz« wurde 2009 aus zehn Einzelorganisationen gegründet. Bei der letzten Wahl des griechischen Parlaments im Juni 2012 erhielt Antarsya 0,33 Prozent der Stimmen. Mit Skoufoglou sprach für »nd« Peter Nowak.
nd: Die griechische Regierung steht dieser Tage wieder unter besonderer Beobachtung der internationalen Kreditgeber. Der Protest gegen weitere Kürzungen und Sparmaßnahmen hat deutlich abgenommen. Hat sich die außerparlamentarische Bewegung kleinkriegen lassen?
Tatsächlich gab es nach den außerparlamentarischen Massenbewegungen von 2011 eine Ernüchterung und die Bewegung ging zurück. Doch in den letzten Wochen hat eine neue Welle begonnen. Teilweise sind Menschen wieder dabei, die schon 2011 auf der Straße waren. Aber auch neue Kräfte sind dazu gekommen. Viele der Menschen haben versucht, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. Aber sie haben erfahren müssen, dass ihnen immer neue Zumutungen abverlangt werden und sagen sich, dass es ihnen reicht.
nd: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften heute in der Protestbewegung?
M.S.: Sie haben allein in diesem Herbst zwei Generalstreiks organisiert. Dass Problem ist aber, dass es nicht gelingt, längere Streiks zu organisieren, der konkrete Maßnahmen der Troika und der Regierung verhindern könnte. Ein Grund dafür ist, dass verschiedene Gewerkschaften getrennt agieren und nicht zusammen arbeiten.
nd: Antarsya ist nicht im griechischen Parlament vertreten. Welche Rolle messen Sie sich selbst in der Opposition zur Krisenpolitik bei?
Bei Wahlen ist unser Einfluss begrenzt. Wir haben keinen Abgeordneten im griechischen Parlament, nur in einigen Bezirken und Städten haben wir einige wenige Sitze errungen. Doch unser Einfluss in der außerparlamentarischen Bewegung ist größer. Schließlich arbeiten in dem in unserem Bündnis organisierten Gruppen ca. 3000 Menschen kontinuierlich zusammen. Viele von ihnen sind in den sozialen Bewegungen aktiv.
nd: Was ist das Ziel dieser Arbeit, wenn doch eine Regierungsbeteiligung zur Zeit ausgeschlossen ist?
Bei Antarsya handelt sich nicht um kein temporäres Bündnis, das nur für eine Aktion oder Kampagne ausgerichtet ist. Wir sind aber auch keine Partei. Wir legen großen Wert auf dezentrale Strukturen. Die Mitglieder von Antarsya kommen aus unterschiedlichen linken Traditionen und Hintergründen. Unser Ziel ist eine pluralistische, nichtreformistische Linke.
nd: Wie ist Ihr Verhältnis zu dem linken Bündnis Syriza?
Da wir bei den Wahlen eigenständig kandieren, sind wir hier Konkurrenten. Grundsätzlich würden wir es natürlich begrüßen, wenn eine progressive Kraft die Regierung übernimmt und einem grundsätzlichen Bruch mit der bisherigen Politik einleitet. Das Problem ist nur, dass Syriza ihre Versprechen nicht einhalten können wird, weil die Partei nicht zu einem grundsätzlichen Bruch mit dem Kapitalismus bereit ist.
nd.: Können Sie dafür Beispiele nennen?
Vor einigen Monaten unterstützte Syriza noch die antifaschistischen Proteste auf der Straße. Als nach dem Mord an dem linken Rapper Pavlos Fyssas zehntausende zur Zentrale der Neonazipartei Goldene Morgendämmerung zogen, haben sich sämtliche Parteien auch Syriza ferngehalten. Sie haben die Demonstration sogar im Vorfeld denunziert. Stattdessen schlug Syriza ein Treffen aller verfassungsmäßigen Parteien, einschließlich der Regierungsparteien gegen den Faschismus vor. Kürzlich stimmte Syriza einem Gesetz der Regierung zu, dass die Finanzierung von Parteien verbietet, denen Terrorismus vorgeworfen wird, obwohl hier eine Handhabe geschaffen wird, auch gegen linke Gruppierungen vorzugehen.
nd: Haben Sie auch Kritik daran, dass Syriza Griechenland in der Eurozone halten will?
Ja, vor allem, weil sich auch in dieser Frage die Rhetorik von Syriza gewandelt hat. Vor den letzten Wahlen wurde noch betont, dass die bisherigen Troika-Verträge neu verhandelt werden müssen. Nun erklären führende Syriza-Politiker, sie werden alles tun, damit Griechenland den Euro behalten kann. Damit wird aber auch hier eine grundsätzliche Änderung der Politik ausgeschlossen.
nd: Fordert Antarsya einen Austritt aus der Eurozone?
M.S.: In dieser Frage gibt es bei uns unterschiedliche Positionen. Es gibt eine Strömung bei uns, die einen Austritt aus dem Euro fordert. Doch einig sind wir uns darin, dass wir eine Wirtschafts- und Sozialpolitik machen sollen, die mit einem Verblieb in der Eurozone nicht vereinbar ist. Wir würden es also darauf ankommen lassen, dass wir von den EU-Gremien aus der Eurozone geworfen werden. Im Rahmen eines solchen Konfliktes rechnen wir auch mit einer Solidarisierung von sozialen Bewegungen in anderen europäischen Ländern.
Das Urteil des Bonner Landgerichts im Fall von Kunduz ist für die Angehörigen der Toten eine Niederlage. Allerdings wird so auch der Mythos vom zivilisierten Krieg infrage gestellt
Am 11. Dezember wurde eine mittellose Rentnerin ins Gefängnis gebracht, weil sie häufiger ohne Ticket den öffentlichen Nahverkehr benutzt hat. Sie wurde mit Haftbefehl gesucht, weil sie zum Prozess vor dem Bonner Landgericht nicht erschienen war. Die Zeit bis zu einem neuen Prozess soll die Seniorin nun in Untersuchungshaft verbringen. Solche Verfahren sind Alltag in Deutschland.
Weniger alltäglich hingegen war das Verfahren gegen Oberst Klein, der im afghanischen Kunduz in Einsatz war. Am 4. September 2009 starben mindestens 140 Menschen, darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche, als Klein den Befehl für einen Luftangriff auf zwei von Islamisten entführte Tanklastzüge gab. Zum Zeitpunkt des Angriffs hatten sich viele Bewohner der umliegenden Dörfer um die Fahrzeuge versammelt, um Benzin abzuzapfen. Auf Initiative der Rechtsanwälte Karim Popal und Peter Derleder hatten Angehöriger der Umgekommenen im Rahmen eines Zivilverfahrens Schadenersatz von der Bundesregierung gefordert.
Das Bundesministerium für Verteidigung hatte eine außergerichtliche Einigung abgelehnt und die Klage für unzulässig erklärt. Das Landgericht Bonn stärkte deren Position und wies am 11. Dezember die Klage ab. Oberst Klein sei kein Verstoß gegen die Amtspflichten vorzuwerfen, entschied das Gericht. Er habe mehrmals nachgefragt, ob keine Zivilisten vor Ort sind, bevor er den Angriff befohlen habe, so das Gericht. Es gab allerdings damals auch andere Versionen, nach denen Klein Warnungen ignoriert habe, dass auch Zivilisten gefährdet sein könnten. Das Gericht versuchte gar nicht erst, mögliche Widersprüche aufzuspüren. Oberst Klein wurde vor Gericht nicht einmal vernommen.
„Das Gericht hatte mit einer konkreten Beweisaufnahme zunächst Hoffnungen geweckt, dass das Völkerrecht zur Geltung kommen könnte. Eine vom Gericht vorgeschlagene Einigung zwischen Klägern und der beklagten Bundesregierung hatten die Regierungsvertreter abgelehnt mit dem Ziel, ‚Rechtsklarheit‘ herzustellen. Nun hat die Regierung ihr Recht nach dem Motto ‚Recht ist, was den Waffen nützt‘.“ (Helmut Kramer/Wolfram Wette)
Das Komitee erinnerte auch daran, dass sich das Urteil in die Geschichte anderer Entscheidungen einreiht, die immer dem Militär juristische Absolution erteilen. So war es im Fall von Distomo, einer griechischen Kleinstadt, in dem die SS ein Massaker anrichtete. Alle Versuche der Angehörigen, wenigstens eine Entschädigung zu bekommen, waren bisher vergeblich.
Auch die Angehörigen der Opfer von Varvarin in Serbien, die starben als am 30. Mai 1999 Natoflugzeuge die Brücke des Ortes bombardierten, blieben mit ihren Klagen erfolglos. Für die Opfer sind diese Entscheidungen ein schwerer Rückschlag. Ob man allerdings gleich von einer Niederlage des Völkerrechts reden kann, wie das Komitee für Grundrechte, ist doch fraglich. Schließlich dürfte ein völkerrechtlich gezähmter Krieg eine Illusion sein. Das könnte die politischen Kräfte bestärken, die Kriege generell ablehnen.
El Masri erneut zu Haftstrafe verurteilt
Zufälligerweise wurde ebenfalls am vergangenen Mittwoch Khaled El Masri zu einer Haftstrafe von sieben Monaten wegen Beleidigung, Bedrohung und Körperverletzung von Vollzugsbeamten verurteilt.
Der Deutsch-Libanese hatte vor Jahren Schlagzeilen gemacht, weil er bei einen Urlaub von der CIA nach Afghanistan entführt und im Rahmen des Krieges gegen den Terror mehrere Monate in illegalen Gefängnissen festgehalten worden. Er wurde freigelassen, nachdem sich rausstellte, dass er verwechselt wurde.
Er hat also den Krieg gegen den Terror überlebt, fand sich aber danach im Leben nicht mehr zurecht. Er kam mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt und wurde immer wieder verurteilt. Prozessbeobachter sprachen von einem psychisch gebrochenen Mann, der mit dem Leben abgeschlossen hat. Er ist ein Opfer des Kriegs gegen den Krieg gegen Terror, der vom Gericht nicht freigesprochen wurde.
Luka Mesec sieht großes Potenzial für die Linke in seinem Land
Luka Mesec ist Ökonom und leitet das Institut für Arbeitsstudien in Ljubljana. Er ist Mitbegründer der Initiative für einen demokratischen Sozialismus in Slowenien. Mit ihm sprach für »nd« Peter Nowak.
nd: Slowenien macht in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise kaum Schlagzeilen. Ist das Land von der Krise verschont geblieben?
Mesec: Keineswegs. Allerdings gibt es einige historische Besonderheiten.In Slowenien gab es bereits Anfang der 90er Jahre große Arbeiterproteste, die dazu geführt haben, dass die wirtschaftsliberale Schocktherapie in unserem Land im Gegensatz zu den meisten anderen osteuropäischen Ländern nicht umgesetzt wurde. Slowenien wurde von den Sozialdemokraten durch die Transformationsperiode geleitet. Die orientierten sich damals am rheinischen Kapitalismus und stellten Deutschland als Modell heraus.
Frage: Welche Folgen hatte für das praktische Politik?
L.M.: In Slowenien befinden sich die Bahn und die Telekommunikationsgesellschaft noch in Staatsbesitz.
Frage: Kann Slowenien heute davon profitieren, dass es sich der Schocktherapie verweigerte?
L.M.: Nein. Die konservative Regierung, die die Sozialdemokraten ablösten, forcierte die wirtschaftsliberale Politik. Mit dem Beginn der Bankenkrise nahm die Politik der Privatisierungen zu. Es gibt Pläne noch weitere in staatlichen Besitz befindliche Firmen zu privatisieren. So soll in Slowenien mit mehr als 20 Jahren Verspätung die neoliberale Wirtschaftspolitik umgesetzt werden, die in vielen anderen osteuropäischen Ländern aber auch in Griechenland erst zur Verschärfung der Krise und zur Verarmung großer Teile der Bevölkerung beigetragen hat.
Frage: Gab es dagegen keine Proteste?
L.M.: Doch, wir hatten in unserem Land in den letzten Monaten die größten Proteste seit 20 Jahren. Sie richteten sich gegen die neoliberale und autoritäre Politik des rechtskonservativen Ministerpräsidenten Janez Jansa. Als seine Regierung Ende Februar 2013 durch ein Misstrauensvotum im Parlament gestürzt wurde, war die Hoffnung auf einen Politikwechsel groß. Doch die von der maßgeblich von der sozialliberalen Partei Positives Serbien und den Sozialdemokratischen sowie weiteren kleineren Parteien getragene neue Regierung setzt den wirtschaftsliberalen Kurs der Rechtsregierung im Wesentlichen unverändert fort.
Frage: Warum knüpften die Sozialdemokraten nicht an die 90er Jahre an?
L.M.: Die Begründung lautet, die Zeiten hätten sich geändert und die Rechtsregierung habe Fakten geschaffen, die auch sie nicht mehr ignorieren können. Dazu gehören die Verpflichtungen durch den EU-Beitritt und die Masstrichtkriterien.
Frage: Wie reagiert die slowenische Bevölkerung darauf, dass vermeintlich linke Parteien die wirtschaftsliberale Politik fortsetzen?
L.M.: Es gibt eine große Enttäuschung und auch Versuche, die Proteste fortsetzen. Allerdings ist es schwieriger gegen eine von Sozialdemokraten und Linksliberale getragene Regierung auf die Straße zu gehen, die erklären, sie seien zu der neoliberalen Politik gezwungen, als gegen eine Rechtsregierung, die autoritär und arrogant aufgetreten ist und schon deshalb große Teile der Bevölkerung gegen sich aufgebracht hat.
Frage: Gibt es auch politische Organisationen, die sich gegen den wirtschaftsliberalen Kurs stellen?
L.M.: Ja, wir haben die Initiative für einen demokratischen Sozialismus gegründet, weil wir der Überzeugung sind, dass die Linke ein großes Potential in Slowenien hat und weil die Menschen auch organisatorisch eine Alternative wollen. Wir orientieren uns dabei an europäischen Parteien, die ebenfalls den Kampf gegen die wirtschaftsliberale Politik in den Mittelpunkt stellen, wie in Deutschland beispielsweise die Linke.
Frage: Sehen Sie eine Alternative innerhalb der EU?
L.M.: Wir sind nicht für einen Austritt aus der EU aber wir kämpfen für ein anderes Entwicklungsmodell in Europa. Wir diskutieren darüber, wie wir es schaffen, die Zwangsjacke der Maastrichtkriterien wieder loszuwerden.
Frage: Sind die linken Bewegungen und Parteien dazu in der Lage?
L.M.: Im Moment sicher nicht. Die linken Parteien und Bewegungen sind noch immer nationalstaatlich organsiert. Wir haben noch keine europäische Linke. Das ist momentan unsere größte Herausforderung.
„Gefährliche Zugeständnisse“ – Die Kritik am Atomdeal aus israelischer Sicht
Über mehrere Jahre prägte der Konflikt um das iranische Atomprogramm die Weltpolitik. Nun soll die Auseinandersetzung der Vergangenheit angehören, wenn man den optimistischen Kommentaren der Vereinbarung glauben darf. Es ist verständlich, dass ein solches Abkommen gegensätzliche Einschätzungen nach sich zieht. Doch wenn die Reaktionen wichtiger Akteure so diametral entgegengesetzt sind, wie nach dem Genfer Vereinbarungen, muss man schon bezweifeln, ob dieser Vertrag Bestand haben wird.
Für den russischen Außenminister Lawrow ist der Kompromiss zwischen den UN-Vetomächten, Deutschland und Iran eine Chance für alle. Die israelische Regierung jedenfalls sieht sich bei dem Abkommen nicht auf Seiten der Gewinner. In einer Pressemitteilung des israelischen Premierministers wird das Abkommen als „historischer Fehler“ beschrieben.
Netanyahu stellt auch klar, dass Israel nicht an das Abkommen gebunden ist. Formal bedeutet die Aussage erst einmal nur, dass Israel an den Verhandlungen nicht beteiligt war und schon daher keine Verpflichtungen daraus hat. Doch realpolitisch betrachtet ist Israel in seiner Einschätzung der Vereinbarung mit dem Iran jetzt in einer klaren Minderheit. Bereits wenige Tage vor dem Abschluss des Abkommens warnte der Politikwissenschaftler Stephan Grigat in einem Interview mit dem Deutschlandfunk vor diesem Szenario.
Genfer Abkommen – Kniefall vor dem Iran?
„Israel wird durch diese vollkommen verfehlte Iranpolitik des Westens, sowohl der EU als auch der USA, in eine Ecke gedrängt und wird geradezu genötigt, sich Gedanken darüber zu machen, gegebenenfalls eigenständig gegen diese unmittelbare, für Israel wirklich existenzielle Bedrohung vorzugehen“, meint Grigat, der auch in der Organisation „Stop the Bomb“ aktiv ist. Die hat das Abkommen Iran scharf kritisiert.
„Von einem ‚Einfrieren‘ des Atomprogramms kann nicht die Rede sein. Vielmehr werden dem iranischen Regime gefährliche Zugeständnisse gemacht: So darf das iranische Regime den Ausbau des Plutonium-Reaktors Arak unter leichten Einschränkungen weiterbetreiben, Zentrifugen werden nicht abgebaut und die Urananreicherung kann fortgesetzt werden“, heißt es in der Pressemeldung. Der Politikwissenschaftler Matthias Küntzel hat in einem Aufsatz die Kritikpunkte aus israelsolidarischer Sicht zusammengefasst.
Die Vereinbarungen würden sogar mehr Zugeständnisse an den Iran machen als in den UN-Beschlüssen vorgesehen. Wenn Küntzel dann in dem Text daran erinnert, dass die syrischen Giftgasvorräte und ihre Produktionsanlagen viel gründlicher zerstört wurden, erwähnt er nicht, dass das iranische Regime längst nicht so mit dem Rücken an der Wand steht wie das Assad-Regime nach dem monatelangen Bürgerkrieg.
Das Abkommen wird von den Kritikern auch als Appeasement gegenüber Iran bezeichnet. Als Appeasement-Politik wird in der Historie vor allem jene Politik der Zugeständnisse an Nazideutschland durch Frankreich und Großbritannien zwischen 1936 und 1938 klassifiziert. Das Münchner Abkommen, das die tschechische Republik den deutschen Großmachtstreben opferte, wird als Höhepunkt und Inbegriff dieser Appeasement-Politik gesehen. Der Hintergrund dieser Politik war die Überlegung der Eliten dieser Länder, dass Hitler-Deutschland als Bollwerk gegen die Sowjetunion gestärkt werden sollte. Erst als sich abzeichnete, dass das Naziregime auch gegen die westlichen Staaten vorgehen würde, verlor die Appeasement-Politik die Grundlage.
Seither wurde der Begriff in völlig unterschiedlichen historischen Situationen verwendet. So warnten Gegner der Entspannungspolitik gegenüber den nominalsozialistischen Staaten Ende der 1960er Jahre vor einen Appeasement gegenüber dem Ostblock.
Der Begriff bekam nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 auch im Rahmen der Nahost-Debatte der außerparlamentarischen Linken eine neue Bedeutung. Israelsolidarische Gruppen warnten damals vor einem Appeasement vor dem Islamismus und meinten vor allem den Teil der Linken, die damals in erster Linie vor einen Krieg der USA warnten. Ein Teil der damaligen Aktivisten unterstützt heute die Initiative die Initiative „Stop the Bomb“, so dass man durchaus eine Verbindung vor den damaligen und den heutigen Warnungen ziehen kann.
Welche Alternative zu Genf?
In den nächsten Wochen wird sich erweisen, ob die Warnungen von Israel und den mit dem Land solidarischen Gruppen berechtigt sind. Sollte das Abkommen, aus welchen Gründen auch immer, scheitern, dürfte eine kriegerische Auseinandersetzung mit Iran kaum zu vermeiden sein. Dann haben sich die Kritiker als politisch weitsichtig erwiesen.
Es könnte aber auch sein, dass die Vereinbarungen tatsächlich der Beginn einer Entschärfung des Konflikts sind und sogar den Weg für Verhandlungen über eine atomwaffenfreie Zone in der gesamten Region eröffnen, wie es palästinensische Politiker erhoffen. Es fällt auf, dass bei den Kritikern des Abkommens und des gesamten Verhandlungsprozesses diese Möglichkeit nicht einmal erwähnt wird.
Natürlich verschwenden die Befürworter des Abkommens keine Gedanken daran, dass das iranische Regime damit nur Zeit gewinnen könnte, um weiter an seinem Atomprogramm zu arbeiten „und Israel vernichten“, wie es die Kritiker unterstellen. Wenn es allerdings um Alternativen zu den Verhandlungen geht, findet man auch bei ihnen nur die Forderung nach Erhalt und die Verschärfung der Sanktionen gegen den Iran.
Grigat erklärt in dem Radiointerview seine grundsätzlichen Bedenken, mit einem reaktionären diktatorischen Regime wie den Iran zu verhandeln. Doch vergisst er zu erwähnen, dass fast sämtliche arabischen Nachbarländer nicht weniger diktatorisch sind und Saudi-Arabien, das aus anderen Gründen als Israel eine Übereinkunft mit dem Iran ablehnt, als Zentrum der islamischen Reaktion gelten kann.
Zudem ist gerade die antiisraelische Haltung des Regimes in der iranischen Öffentlichkeit am wenigsten umstritten und es gelingt ihm damit immer noch, Teile der Bevölkerung hinter sich zu bringen. So könne gerade eine Entschärfung dieses Konflikts dazu beitragen, dass die Opposition im Iran wieder stärker wird. Auch für die israelische Gesellschaft könnte eine erfolgreiche Entschärfung des Konflikts positive Folgen haben.
Wenn die Angst vor der iranischen Bombe wegfallen würde, könnte die Diskussion über Zukunftsperspektiven des Landes wieder stärker in den Mittelpunkt treten. Es ist aber fraglich, ob die Regierung daran so viel Interesse haben wird. Denn konservative und nationalistische Parteien haben bei tatsächlichen oder fiktiven Bedrohungen von Außen immer Konjunktur.
„Die Gezipark-Proteste haben ein Bewusstsein für die Probleme der Stadterneuerung geschaffen“, sagt der türkische Regisseur Imre Azem Balanli. Im Film „Ekümenopolis“ befasste er sich mit dem Recht auf Stadt-Bewegung In der Türkei. Im Interview berichtet er über die Stadtentwicklungspolitik der AKP und wie sich die jüngsten Proteste dazu verhalten.
vorwärts: In Istanbul ist die Umstrukturierung in vollem Gange und wird mit der AKP-Regierung verbunden. Welches ökonomische Modell steht dahinter?
Imre Azem Balanli: Die türkische Regierung will Istanbul zur Global City und zum führenden Finanzzentrum des Nahen Ostens machen. Der Staat schafft dafür die Gesetze und beseitigt die Hindernisse. Allerdings begann diese Entwicklung nicht erst mit der AKP-Regierung, sondern schon mit dem Militärputsch 1980. Das war der Beginn des Neoliberalismus in der Türkei.
vorwärts: Welche Auswirkungen hatte dieser Einschnitt auf die Wohnungspolitik?
Imre Azem Balanli: In den 70er Jahren war eine Wohnung in der Türkei noch eine private Investition in die Zukunft. Das hat sich in den 80er Jahren verändert. Von da an wurden Wohnungen zu Spekulationsobjekten, mit denen Profit gemacht werden konnte. Wie in vielen anderen Ländern wurde der Wohnungs- und Immobilienmarkt auch in der Türkei zum Zugpferd einer kapitalistischen Ökonomie, die komplett nach dem Import ausgerichtet ist. Während der AKP-Regierung stiegen die Auslandsschulden der Türkei enorm an. Durch die Verkäufe im Wohnungssektor soll hier ein Ausgleich geschaffen werden.
vorwärts: Welche Anreize schafft die Regierung, um die oft mit Verlust gebauten Wohnungen zu verkaufen?
Imre Azem Balanli: Wohnungen werden zunehmend an Leute im Ausland verkauft. Vor zwei Jahren wurde die Limitierung für Immobilienverkäufe ins Ausland aufgehoben. Schon ein Jahr später wurden Immobilien in Milliardenhöhe in die Golfstaaten verkauft. Zudem wird innerhalb der Türkei die Herausbildung einer kaufkräftigen Schicht gefördert, die sich einen Kauf dieser Wohnungen leisten kann. Diese Entwicklung wird vom Staat gezielt vorangetrieben und geht mit der Vertreibung der bisherigen BewohnerInnen einher, die sich die neuen, teureren Wohnungen nicht leisten können. In diesem Zusammenhang steht der Kampf gegen die Arbeitersiedlungen, die sogenannten Gecekondular.
vorwärts: Warum sind diese Siedlungen zum Hindernis für eine Globalcity geworden?
Imre Azem Balanli: Die Gecekondular wurden in den 50er und 60er Jahren von Fabrikarbeitern gebaut, weil der türkische Staat nicht über genügend Kapital verfügte. Er gab den ArbeiterInnen sogar staatliches Land, damit sie dort ein Haus bauen konnten. Dies war eine Subvention durch den Staat, mit der sie an ihn gebunden werden sollten. Allerdings wurden diese Stadtviertel oft zu Hochburgen linker Gruppen, in denen eine für den Staat unerwünschte Gegenmacht entstand, die dann mit repressiven Massnahmen bekämpft wurde. Seit der Transformation zur Dienstleistungsgesellschaft sind die ArbeiterInnen in der Stadt unerwünscht, weil sie nicht genügend Geld für den Konsum haben. Sie sollen aus der Innenstadt verschwinden. Die Politik der Stadterneuerung hat das erklärte Ziel, sie an den Stadtrand zu verdrängen.
vorwärts: Welche Schritte hat die AKP-Regierung unternommen?
Imre Azem Balanli: Die Regierung hat ein Gesetz erlassen, dass die Errichtung weiterer Gecekondular verhindert. Die staatliche Wohnungsbaubehörde wurde in ein privates Bauunternehmen umgewandelt. Obwohl Gesetze zum Denkmalschutz erlassen wurden, konnten alte Stadtviertel abgerissen werden. 2012 wurde schließlich ein Gesetz erlassen, das die Wohnungen vordergründig vor Naturkatastrophen sichern soll. Es ist heute das zentrale Instrument der Umstrukturierung.
vorwärts: Ist ein solches Gesetz angesichts der vielen Erdbeben in der Türkei nicht sinnvoll?
Imre Azem Balanli: Die AKP sorgt für die autoritäre Durchsetzung der Gesetze, die von der Hauptstadt Ankara aus zentral eingeführt werden. Dafür ist das Ministerium für Umweltschutz und Stadtplanung verantwortlich. Es hat die Möglichkeit, ohne jegliche wissenschaftliche Untersuchung ganze Stadtteile für gefährdet zu erklären und abreissen zu lassen.
vorwärts: Wie reagieren die Bewohner darauf?
Imre Azem Balanli: Sie haben keine Möglichkeit, gegen diese Entscheidungen Widerspruch einzulegen. Mittlerweile wurde ein Gesetz erlassen, das Mietern mit Bestrafung und Verhaftung droht, wenn sie eine Räumung verhindern wollen.
vorwärts: Gibt es Beweise, dass der Schutz vor Erdbeben und andere Naturkatastrophen dabei keine Rolle spielen?
Imre Azem Balanli: Ich kann ein Beispiel nennen: Für ein Geceokondu in Istanbul wurde der Abriss beschlossen. Rundherum stehen jedoch zahlreiche Hochhäuser, die nicht abgerissen wurden, obwohl sie bei einem Erdbeben noch stärker gefährdet wären – wenn die Untersuchung für die Geceokondu zutrifft. Daraus kann man schliessen, dass es nur darum geht, die niedrigen Arbeiterhäuser zum Verschwinden zu bringen.
vorwärts: Was passiert mit den Bewohnern, nachdem ihre Häuser abgerissen wurden?
Imre Azem Balanli: Wenn sie sich widersetzen, droht ihnen eine Strafe und ihr Grundstück wird enteignet. Stimmen sie einem Umzug zu, müssen sie in teurere Wohnungen am Stadtrand ziehen und verschulden sich dafür bei einer privaten Bank. Wenn sie mit zwei Monatsraten in Verzug sind, verlieren sie ihre Wohnung. Neben den hohen Mietpreisen müssen die Kosten für die Betreuung der Grünflächen, die Gebühren für den Hausmeister und Verwaltung noch extra bezahlt werden. Viele Menschen versuchen, mit zusätzlichen Jobs über die Runden zu kommen und ihre Schulden zu zahlen. Aber sie müssen erkennen, dass sie trotz aller Anstrengungen ihre Verpflichtungen nicht tragen können und ihre Wohnungen verlieren. Wir haben in unserem Film „Ekümenopolis“ gezeigt, welche Folgen dies für die Betroffenen hat. Im Film verliert eine sechsköpfige Familie ihre Wohnung. Der älteste Sohn muss mit 14 Jahren die Schule verlassen und für einen Hungerlohn in einer Textilfabrik arbeiten. Er hat keine Chance mehr auf Bildung.
vorwärts: Gibt es Widerstand von den Betroffenen?
Imre Azem Balanli: Ja, es gibt im ganzen Land immer wieder Proteste, die aber lange Zeit kaum über einen regionalen Kontext hinaus wahrgenommen wurden. Beispielsweise haben Erdbebenopfer in Van mit einem Hungerstreik dagegen protestiert, dass sie nun seit fast 15 Jahren in Barracken leben müssen. Bei einem schweren Erdbeben im Jahr 1999 wurden ihre Häuser zerstört und seither nicht wieder aufgebaut. Die Regierung reagierte auf die Proteste mit Repression.
vorwärts: Welche Rolle spielten die vom Gezipark ausgehenden Proteste in diesem Kontext?
Imre Azem Balanli: Die Proteste waren ein kollektiver Protest dagegen, dass aus Profitgründen in den öffentlichen Raum eingegriffen wird. Jahrelang waren sie isoliert und fanden keine landesweite Beachtung. Der Geziprotest hat ein Bewusstsein für die Probleme der Stadterneuerung geschaffen und die Bedeutung der öffentlichen Grünflächen deutlich gemacht. Vier Jahre nach dem großen Erdbeben von 1999 hatte die Regierung einen Bericht in Auftrag gegeben, in dem Massnahmen aufgelistet sind, die die Folgen eines erneuten Erdbebens für die Bewohner verringern sollen. Unbebaute städtische Flächen wie Stadien und Parks sollten als Treff- und Sammelpunkte der BewohnerInnen nach einem Erdbeben fungieren. Im Bericht waren mehr als 400 solcher Flächen in Istanbul vorgesehen. Im Jahr 2012 wurde die Hälfte dieser Plätze bebaut. Weitere sollen folgen. Der Gezipark ist einer dieser städtischen Plätze, die laut dem Bericht nicht bebaut werden sollten. Er wurde weltweit zu einem Symbol des Widerstands.
vorwärts: Was ist von den Protesten geblieben?
Imre Azem Balanli: Im ganzen Land haben sich neue Initiativen gebildet. Allein in Istanbul gibt es mehr als 60 Stadtteilforen. Ihre Hauptforderung ist die Rücknahme des Gesetzes zum Abriss von Stadtvierteln wegen dem Schutz vor Naturkatastrophen.
vorwärts: Ist die Dynamik der Anfangstage nicht zum Erliegen gekommen?
Imre Azem Balanli: Es wurden auch die Grenzen und Probleme dieses Widerstands deutlich. Dazu gehörte die Konfrontation zwischen Wohnungseigentümern und Mietern. In Stadtteilen, in denen der Alltagswiderstand schwach entwickelt ist, gibt es auch kaum Möglichkeiten sich gegen die Vertreibung aus den Wohnungen zu organisieren.
vorwärts: Wie ist das Verhältnis der neuen Bewegung zur radikalen Linken in der Türkei, die schon vor den Gezi-Protesten gegen Umstrukturierung aktiv war?
Imre Azem Balanli: Die linken Gruppen haben den Widerstand in den Stadtteilen mit aufgebaut, in denen sie aktiv sind. In der Bewegung des Geziparks und des Taksimplatzes arbeiten die unterschiedlichsten Gruppen solidarisch zusammen. Als in der letzten Woche der junge Kommunist Hasan Ferit Gedik in einem Istanbuler Gecekondu von der Polizei erschossen wurde, protestieren sämtliche Teile der Bewegung.
vorwärts: Sie haben in Berlin einen Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Wohnen in der Krise“ gehalten. Welche Bedeutung hat die Vernetzung des Mieterwiderstands?
Imre Azem Balanli: Die Politik der Verdrängung einkommensschwacher Menschen ist ein weltweites Problem. Schon daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass sich die Bewegungen in den unterschiedlichen Ländern austauschen und voneinander lernen. Ich sehe das als einen doppelseitigen Prozess. Interview: Peter Nowak
Quelle:
vorwärts – die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40 – 69. Jahrgang – 8. November 2013, S. 6
Die Reaktionen auf die angebliche Entführung eines Kindes durch Roma in Griechenland zeigen, wie weit verbreitet rassistische Klischees in Europa sind.
»Sinti und Roma sind mittlerweile gezwungen, ihre Zugehörigkeit zur Minderheit zu verbergen.« Dieses bittere Resümee zog Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats deutscher Sinti und Roma, Anfang November auf einer Pressekonferenz in Berlin. Er kommentierte die jüngste rassistische Kampagne gegen diese Minderheit in mehreren europäischen Ländern. Als Vorwand für diese diente eine Razzia in einem griechischen Roma-Lager Ende Oktober, bei der der Polizei ein blondes Mädchen auffiel, das nicht zu ihrem Bild eines Roma-Kindes passte. Es wurde von den Beamten einem Heim übergeben und als »Maria« der Öffentlichkeit vorgestellt. Nachdem ein DNA-Test nachwies, dass es nicht bei seinen leiblichen Eltern gelebt hatte, machten Spekulationen über eine Kindesentführung die Runde.
Dass die verdächtige Frau falsche Papiere vorgelegt hatte, mache sie jedoch nicht zu einer Kidnapperin. »Das Paar hat das Mädchen geliebt, als sei es sein eigenes Kind«, betonte die Juristin Marietta Palavra-Zatirion, die Anwältin der Roma-Familie. Auch als durch medizinische Untersuchungen festgestellt werden konnte, dass das Kind bei bester Gesundheit war, beruhigten sich die Gemüter nicht.
Wenige Tage später zeigte sich, dass die Mär über ein von Roma entführtes Kind eine rassistische Projektion war: Bei den Eltern des Mädchens handelt es sich um ein Roma-Ehepaar aus der zentralbulgarischen Stadt Gurkowo. Die Mutter hat in einer polizeilichen Befragung erklärt, sie habe in einer wirtschaftlicher Notlage und mangels gültiger Papiere vor einigen Jahren ihre sieben Monate alte Tochter bei ihren damaligen Arbeitgebern in Griechenland zurückgelassen und wolle sie eines Tages zurückholen. Das Kind war nicht gerettet, sondern vielmehr ihren Pflegeeltern entrissen und mit einem christlichen Vornamen versehen an die Öffentlichkeit gezerrt worden.
Dass nun aber ausgerechnet die Pflegeeltern, die das Kind wohl ohne staatliche Unterstützung aufgenommen haben, als Kindesentführer an den Pranger gestellt wurden, ist nur durch rassistische Vorurteile zu erklären. So reicht die Mär von den »Zigeunern«, die christliche Kinder entführen, bis ins 15. Jahrhundert zurück und war immer wieder Anlass für Verfolgung. 1873 führte die Falschmeldung, »Zigeuner« hätten in Stettin ein Kind entführt, zu Polizeimaßnahmen gegen die Minderheit in ganz Preußen.
Die Ereignisse und die Berichterstattung zeigten, dass traditionelle rassistische Klischees auch in der gesellschaftlichen Mitte sehr weit verbreitet sind. Eine Adoption wurde zunächst gar nicht erst in Erwägung gezogen, der polizeiliche Zugriff ohne konkreten Tatverdacht stieß nicht auf Kritik. Vielmehr teilt die griechische Polizei mit großen Teilen der Bevölkerung in vielen europäischen Ländern die Annahme, dass Roma keine blonden Kinder haben können. Die Grundlage dieser Behauptung ist ein Rassismus, der aus dem Aussehen auf die Herkunft der Menschen schließen will.
Die Falschbehauptung vom blonden entführten Mädchen führte zu staatlichen Maßnahmen und rassistischen Angriffen auf Roma in verschiedenen europäischen Ländern. Im serbischen Novi Sad versuchten Rechte, einem Rom sein Kind auf offener Straße wegzunehmen, weil es nach ihrem rassistischen Weltbild zu blond war. In Irland ließ die Polizei nach einer anonymen Denunziation zwei Kinder aus Roma-Familien vorübergehend in Heime einweisen, weil sie den Beamten als zu blond erschienen, um Roma sein zu können. Erst nachdem zweifelsfrei nachgewiesen worden war, dass die Geburtsurkunden authentisch waren, konnten die Kinder wieder zu ihren Eltern zurückkehren.
Dass sich in allen Fällen der Entführungsverdacht als haltlos erwies, dürfte die Ressentiments nicht mindern. Die angegriffene Minderheit bekam kaum Unterstützung aus der vielzitierten Mitte der Gesellschaft. »Kein Politiker hat uns beigestanden«, resümierte Romani Rose in Berlin ernüchtert.
Bereits in den 1990er Jahren verhinderten Bürger mit ihren Protesten Olympische Spiele in Deutschland
Das Anti-Olympia-Komitee sorgte Anfang der 1990er Jahre mit zahlreichen militanten Kleinaktionen für internationales Aufsehen. Berlin entschied sich schließlich gegen die Olympiabewerbung.
»David gewinnt gegen Goliath – danke!« Mit diesen Worten kommentierten die Münchner Gegner der Olympiabewerbung ihren Erfolg vom vergangenen Wochenende. Bei einer Volksabstimmung votierte in allen vier für die Olympiabewerbung in Frage kommenden Städte die Mehrheit der Wähler gegen die Spiele. Selbst die massive Fürsprache ehemaliger und noch aktiver prominenter Sportler für Olympia 2022 konnte die Zustimmung zu den Spielen nicht erwirken.
Es ist nicht die erste Olympiabewerbung, die durch einen massiven Widerstand aus der Bevölkerung in Deutschland verhindert wurde. Im August 1989 hatten die Politiker West- und Ostberlins eine gemeinsame Olympiabewerbung für die Jahre 2000 oder 2004 beschlossen. In der Nachwende-Euphorie war sie eines der Projekte des wiedervereinigten Deutschlands. Doch schon 1991 gründete sich ein Berliner Anti-Olympia-Komitee (AOK), das bald mit vielfältigen Aktionen bekannt wurde. Großdemonstrationen und Spaßaktionen wechselten sich ab. Bald sorgte das Komitee international für Aufmerksamkeit.
Bei der Übergabe der Berliner Olympiabewerbung überreichten auch die Gegner dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) ein professionell gestaltetes Video, auf dem die Gründe gegen die Spiele aufgezeichnet waren. Die Olympiabefürworter zollten den Gegnern Anerkennung für ihre Arbeit und gaben zu, dass diese die bessere Öffentlichkeitsarbeit gemacht hatten. Mit einer Hochglanzbroschüre mit dem Titel »Berlin NO-Olympia-City 2000« nahm auch das AOK Abschied von den Informationsmaterialien im Punkfanzinestil, die die außerparlamentarische Linke bis dahin verteilt hatte. Weniger erfreut reagierten Politik und Polizei auf die zahlreichen militanten Kleinaktionen, die den Olympiagegnern zugesprochen wurden; beim AOK gab es einen Konsens, dass man sich nicht von Aktionen distanziert, solange keine Personen verletzt wurden. Die Olympiagegner lösten eine große Bewegung und Diskussion von unten aus, von der noch ein Jahrzehnt nach der gescheiterten Olympiabewegung die außerparlamentarische Linke profitierte.
Der Europäische Gerichtshof hat die Rechte von Flüchtlingen in der EU gestärkt, die als Homosexuelle in ihren Heimatländern verfolgt werden. In dem konkreten Verfahren (Aktenzeichen: C-199/12, C-200/12, C201/12) ging es um drei Männer aus Sierra Leone, Uganda und Senegal. Sie hatten in den Niederlanden Asyl beantragt und darauf verwiesen, dass ihnen in ihren Heimatländern wegen ihrer Homosexualität Repressalien drohen. Ihr Asylantrag war in den Niederlanden mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass sie nicht nachgewiesen hätten, ob sie tatsächlich verfolgt würden. Zudem könnten sie nicht erwarten, dass sie in ihren Heimatländern ihre sexuelle Orientierung ebenso frei ausleben können wie in den Niederlanden, argumentierte das Gericht.
Genau diesem Grundsatz hat der Europäische Gerichtshof jetzt diametral widersprochen. „Von Homosexuellen wird nicht verlangt, dass sie ihre Neigung bei ihrer Rückkehr verbergen“, heißt es in dem Urteil.
Zudem hat das Gericht erstmals explizit erklärt, dass die Homosexuelle eine soziale Gruppe darstellen kann, die wegen ihrer Verfolgung in der EU Asyl beantragen kann. So heißt es in dem Urteil: „Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet.“
Diese Entscheidung stärkt die Rechtsposition von Menschen, die wegen Verfolgung auf Grund ihrer sexuellen Orientierung geflohen sind. Schließlich gibt es auch in Deutschland nicht nur in religiösen Kreisen Menschen, die Homosexuelle allenfalls dann zu tolerieren bereit sind, wenn sie nur im privaten Rahmen auftreten und nicht an die Öffentlichkeit gehen. Dass dieses Ansinnen selbst schon eine Menschenrechtsverletzung darstellen kann, hat der Europäische Gerichtshof mit seiner Entscheidung deutlich gemacht.
Es hat damit auch verschiedenen kulturalistischen Argumenten widersprochen, die oft herangezogen werden, wenn Menschen Flüchtlingsrechte verweigert werden sollen. Dann wird oft erklärt, man müsse die Kultur und die Gepflogenheiten in den jeweiligen Herkunftsländern zum Maßstab nehmen. Damit wird aber explizit ein Standpunkt eingenommen, der als Kulturrassismus bezeichnet wird und auch bei vielen rechten Gruppen an Einfluss gewinnt. Danach wären bestimmte Rechte, wie sie in Deutschland erkämpft worden, die in anderen Ländern überhaupt keine Grundlage haben. So wird nach dem Motto verfahren, in diesem oder jenen Land sind eben noch solche Bräuche und Rituale lebendig und man solle daher nicht den Maßstab anwenden, der bei uns durchgesetzt wurde. Ein solcher kulturrelativistischer Ansatz verletzt die Rechte jener Menschen, die das Pech haben, in bestimmten Ländern zu leben. Er würde auch einer zusätzlichen Spaltungslinie Tür und Tor öffnen. Es gäbe Menschen, die das Recht hätten, beispielsweise ihre Homosexualität auszuleben, und andere hätten eben Pech gehabt.
Problem, überhaupt in die EU zu kommen
So sehr Flüchtlings- und Antirassismusgruppen das Urteil als Durchbruch zu einer Stärkung der Rechte von Homosexuellen begrüßen, so klar ist aber auch, dass damit noch nichts über die konkrete Umsetzung in Europa ausgesagt ist. Denn dahin müssen die Menschen erst einmal kommen, um konkrete Fluchtgründe angeben zu können. Doch das wird immer schwieriger, weil dank Frontex und anderer Einrichtungen immer mehr Geflüchtete erst gar nicht nach Europa gelassen werden.
Erst vor wenigen Tagen hat Pro Asyl mitgeteilt, dass viele Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze zurückgewiesen werden. Dabei seien zahlreiche gesetzliche Grundlagen verletzt worden. Auch Frontex sei involviert gewesen.
Es ist davon auszugehen, dass die Festung Europa nicht nur an der türkisch-griechischen Grenze verteidigt wird. Liberale Richtersprüche, die die Position der Geflüchteten stärken, können sogar bewusst damit beantwortet werden, dass diese Menschen gar nicht in den gemeinsamen Rechtsraum gelangen können.
Kritiker befürchten, dass das transatlantische Abkommen Großunternehmen freie Bahn für „Beutezüge“ verschafft
Fast hätte die NSA-Affäre auch den Zeitplan für die Verhandlungen für ein transatlantisches Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA durcheinandergebracht. Schließlich waren Stimmen laut geworden, dass man jetzt keine Verhandlungen führen könne.
Doch so schlecht können die Beziehungen zu den USA gar nicht sein, dass ein Abkommen vertagt würde, das von den führenden Wirtschaftsverbänden vehement gefordert wird. Trotz der Abhöraffäre werden daher die Gespräche fortgesetzt, die die weltweit größte Freihandelszone zum Ziel haben. Die wirtschaftsnahen Verbände übertrumpfen sich geradezu mit Verheißungen über den Segen, den das Freihandelsabkommen haben soll.
160.000 Arbeitsplätze soll es allein in Deutschland bringen, stellte das IFO-Institut fest. Über die Bezahlung ist damit natürlich noch nichts gesagt.
Auch der Verband der Automobilindustrie singt das hohe Lied auf die Freihandelszone. Allein der Abbau der Zölle könne deutliche Wachstumsimpulse auf beiden Seiten des Atlantiks auslösen, erklärte der VDA-Präsident.
„Konzerne auf Beutezug“
Doch auch die Kritiker des Freihandelsabkommen melden sich zu Wort. Die globalisierungskritische Organisation Attac fordert „die Elefantenhochzeit für Freihandel“ zu stoppen. Moniert wird, dass die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen geführt werden. Auf der Attac-Sonderseite sind einige geleakte Dokumente veröffentlicht, die in den Verhandlungen eine Rolle spielen.
Bereits einige Wochen zuvor wurden Papiere publiziert, die die Europäische Kommission für die Verhandlungen mit den USA vorbereitet hat. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen aus Europa und den USA haben bereits im Sommer in einem Offenen Brief scharfe Kritik an der Ausrichtung der Verhandlungen geübt. Zentraler Kritikpunkt sind die beschlossenen Sonderrechte für Konzerne.
So warnt Pia Eberhardt von der lobbykritischen Organisation Europe Observatory in einem Beitrag in der Taz vor einem Beutezug der Konzerne, der durch das geplante Abkommen unterstützt würde.
Solche Verträge würden es nämlich Wirtschaftsunternehmen ermöglichen, Staaten unmittelbar vor internationalen Schiedsgerichten zu verklagen, wenn eine politische Entscheidung, die Gewinnerwartungen aus ihren Investitionen schmälern. Eberhardt führt einige Beispiele dafür an.
So verklagt Vattenfall derzeit Deutschland, weil der Energiekonzern in dem beschlossenen Atomausstieg seine Gewinnerwartungen verringert sieht. In Australien und Uruguay geht Philip Morris gegen Warnhinweise auf Zigarettenpackungen vor. Der kanadische Öl- und Gaskonzern Lone Pine verklagt über eine US-Niederlassung seine eigene Regierung, weil die Provinz Quebec aufgrund massiver Umweltrisiken ein Moratorium für die als Fracking bekannte Bohrtechnik erlassen hat.
Wenn mit solchen Klagen auf die Staaten hohe Schadenersatzgesetze zukommen, wird es sich jede Regierung genau überlegen, ob sie noch Arbeits- Sozial- und Umweltgesetze erlässt, die ein Großunternehmen verärgern und zu einer Klage animieren könnte. Im Zweifelsfall kann eine Arbeitszeitverkürzung ebenso eine Gewinnbremse für die Konzerne sein wie jede andere Sozialreform. Bei solchen Aussichten ist es nicht verwunderlich, dass die Wirtschaftsverbände das hohe Lied auf diese Regelung singen.
Erinnerung an die kurze Kampagne gegen das MAI
Bei manchem Kritiker des neuen Freihandelsabkommen erinnert man sich noch eine kurze aber erfolgreiche Kampagne in der Frühzeit der globalisierungskritischen Bewegung. Es ging um das Multinationale Abkommen für Investitionen, das MAI abgekürzt und von Kritikern polemisch als „Ermächtigungsgesetz für Konzerne“ bezeichnet wurde.
Damals waren es auch überwiegend Nichtregierungsorganisationen, die sich mit ihrer Kritik zu Wort meldeten. Vor allem im globalen Süden wuchs der Protest gegen das Abkommen. Deshalb wurde es wieder zurückgezogen und die Kritiker sahen darin einen Erfolg ihrer Aktivitäten. Damit wurde der jungen globalisierungskritischen Bewegung ein großer Auftrieb gegeben.
Schon kursiert die Parole, das neue Abkommen nach dem Vorbild des MAI zu Fall zu bringen. Ob diese Orientierung reines Wunschdenken oder auf globaler Ebene realistisch ist, muss sich zeigen. Schließlich war auch der Widerstand gegen das MAI kurz und heftig.
Merkel als „Washingtons Hausmeisterin“: Wenn die Überwachungsdebatte zur Souveränitätsdebatte wird
Eigentlich hätte man erwarten können, dass die NSA-Affäre ihr Verfallsdatum schon hinter sich hat. Schließlich hatte sie, obwohl sie in die heiße Phase des Wahlkampfs fiel, wenig Einfluss auf die Wahlentscheidung. Mit der Piratenpartei und der FDP scheiterten dort zwei Parteien, die sich unterschiedlich intensiv den Datenschutz auf die Fahnen geschrieben haben. Dass wir nun noch einmal eine Neuauflage der NSA-Debatte erleben, liegt nicht in erster Linie im Bekanntwerden, dass auch Merkels Handy nicht vor Überwachung tabu war. Vielmehr nutzen Medien und Politiker die NSA-Debatte, um die nationale Karte zu ziehen und noch einmal über die fehlende deutsche Souveränität zu lamentieren.
Der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück machte Ende Juli den Anfang, als er einen deutschen Weg propagierte und sich damit explizit auf den Kurs von Bundeskanzler Schröder während des Golfkriegs 2003 bezog. Allerdings konnte Steinbrück nicht besonders davon profitieren, dass er die nationale Karte zog. Der Grund lag allerdings eher daran, dass die parteipolitischen Absichten so offensichtlich waren.
Merkel – Washingtons Hausmeisterin?
Denn die NSA-Debatte wird nur in den wenigsten Fällen zum Anlass genommen, über die Gefahren einer Massenüberwachung zu diskutieren. Viel häufiger ist das Lamento über die angeblich fehlende nationale Souveränität. Das scheint in Deutschland über alle Parteigrenzen hinweg Konsens zu sein. Gerade in Kreisen, die sich im „Zweifel links“ verorten, wird besonders vehement die nationale Karte gezogen.
So bezeichnet Jakob August Bundeskanzlerin Merkel als „Washingtons Hausmeisterin“ und dekretiert ein „Ende der Nachkriegs-Nostalgie“. Die ganze Wortwahl erinnert an die nationale Rhetorik, die in den frühen 1950er Jahren bereits Sozialdemokraten an den Tag legten, wenn sie damals im Bundestag Bundeskanzler Adenauer als „Kanzler der Alliierten“ bezeichneten.
Auch die deutsche Friedensbewegung war nie frei von nationalen Tönen. Dort wurde immer wieder die fehlende Souveränität Deutschlands angeprangert. Der Publizist Wolfgang Pohrt bezeichnete daher die Friedensbewegung auch schon mal polemisch als „deutsche Erweckungsbewegung“.
Jetzt wird zurückgeschossen im Cyberkrieg
Wenn nun 20 Jahre nach der Wiedervereinigung solche Töne wieder laut werden, heißt dies, dass die Rivalität zwischen einem deutschgeführten EU-Block und den USA, die es schon lange gibt, nun auch offen benannt wird. Schließlich scheint die Zeit günstig, da die USA angeschlagen sind. Am Prägnantesten benennt ein Taz-Kommentator diese Zusammenhänge unter der Überschrift „Rambo und der Cyberkrieg“:
„Die angeschlagene Weltmacht kann es sich nicht leisten, dauerhaft als Buhmann der Welt dazustehen, ganze Erdregionen von sich zu entfremden und als Beinahe-Pleite-Nation wirtschaftlich zunehmend gemieden zu werden. Von ehrlichen Partnern können die USA daher mehr profitieren als von ihrer Rolle als Rambo in der Weltpolitik.“
Auch hier wird die Diktion der deutschen Friedensbewegung übernommen. Natürlich ist Deutschland auch in diesem Cyberkrieg nur das Opfer, das sich verteidigt. So heißt es in dem Taz-Artikel: „Die Vereinigten Staaten von Amerika führen wieder Krieg. Es ist ein stiller und geheimer Krieg ohne Bomben und Panzer. Und dennoch: ein Krieg gegen den Rest der Welt. Ein Informationskrieg, der alle bisherigen Dimensionen sprengt. Es ist der Krieg des 21. Jahrhunderts. Auch Deutschland ist Ziel dieser Cyberattacken.“ Angesichts dieser martialischen Töne, fehlt nur noch der Satz, dass jetzt zurückgeschossen wird.
Die Frage, ob und wo deutsche Spione ebenfalls abhören, wird erst gar nicht gestellt. So wird eben deutlich, dass die Devise nicht generell gegen staatliche Überwachung geht, sondern nur gegen Überwachung durch die USA und andere ehemalige Staaten der Anti-Hitler-Koalition.
Diese Intention wird schon daran deutlich, wie das von dem Historiker Josef Foschepoth verfasste Buch „Überwachtes Deutschland“ rezipiert wird (siehe dazu auch: Lauschen und Horchen). Während die Kapitel, in denen es um die deutsche Souveränität geht, ausführlich kommentiert werden, wird kaum erwähnt, dass in dem Buch auch die diversen Überwachungsmethoden westdeutscher Behörden gegen die DDR ein Thema sind.
Massenhafte Postkontrolle und sogar die Vernichtung von Postsendungen aus der DDR durch BRD-Organe werden in dem Buch beschrieben, werden in der Öffentlichkeit aber wenig beachtet. Wären die USA-Organe dabei, wäre das Interesse sicher größer.
Die Kritiker der Austeritätspolitik der Bundesregierung bekommen Unterstützung aus den USA
Dass an der europäischen Peripherie die Kritik an der Austeritätspolitik der deutschen Bundesregierung nicht verstummt, ist seit langem bekannt und verwundert nicht. Doch jetzt kommt eine Kritik am deutschen Wirtschaftsmodell auch aus den Regierungskreisen der USA. In einem Bericht des US-Finanzministeriums wird genau die Kritik vorgetragen, die Gegner der Austeritätspolitik made in Germany schon seit Längerem hatten.
Der zentrale Kritikpunkt ist der große Handelsüberschuss, den Deutschland in der Eurokrise angehäuft hat: „Deutschlands anämisches Wachstum der Binnennachfrage und seine Exportabhängigkeit behindern das Ausbalancieren in einer Zeit, da viele andere Länder der Euro-Zone unter schwerem Druck stehen, die Nachfrage einzudämmen und Importe zu drosseln.“
Erwartungsgemäß wurde die Kritik von der Bundesregierung und von deutschen Wirtschaftsverbänden sofort vehement zurückgewiesen. Für das Bundeswirtschaftsministerium ist der Handelsüberschuss Ausdruck der deutschen Wettbewerbsfähigkeit und Deutschland die Wirtschaftslokomotive. Mit diesen Argumenten wird seit Monaten von der Bundesregierung Reklame für den Standort Deutschland gemacht, für den dann die Lohnabhängigen schon mal den Gürtel schnallen sollen.
Bei Teilen der Gewerkschaften und der SPD kommt diese Standortverteidigung gut an. Sie werden wohl auch nach der jüngsten Kritik aus den USA die Reihen schließen. Die anvisierte große Koalition könnte so auch eine Verteidigungsgemeinschaft des deutschen Standorts gegen die Kritik aus dem Ausland, vor allem aus den USA, werden. Denn im Gegensatz zur Kritik aus Griechenland und anderen Ländern der europäischen Peripherie kann die deutsche Politik die Schelte aus Übersee nicht einfach ignorieren.
Ob die schwachen sozialen Bewegungen in Deutschland, die seit Jahren gegen die Austeritätspolitik der Bundesregierung agieren, die Argumentationshilfe aus Washington annehmen, wird sich zeigen. Es wäre auf jeden Fall eine ungewohnte Situation. Bisher galt die USA auch ökonomisch in diesen Kreisen eher als abschreckendes Beispiel, das man gerne bekämpfte.
Interessengegensätze zwischen Deutsch-Europa und den USA wachsen
Natürlich bedeutet die Kritik aus den Regierungsetagen der USA nun keineswegs, dass dort jetzt Anhänger einer sozialeren Wirtschafts- und Finanzpolitik dominieren. Die Meinungsverschiedenheiten, die auf internationalen Kongressen immer wieder übertüncht werden, sind ein Ausdruck der wachsenden Interessengegensätze zwischen den USA und Deutschland auch in Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Auch die vieldiskutierte Abhöraffäre müsste unter diesen Aspekten diskutiert werden. Denn hier hören sich nicht Freunde gegenseitig ab, sondern Konkurrenten, die gelegentlich noch gemeinsame, immer öfter aber gegensätzliche Interessen haben.
Eine neue Hetzkampagne gegen Roma in verschiedenen europäischen Ländern macht deutlich, wie schnell gegen eine gesellschaftliche Minderheit eine Hetzkampagne losgetreten werden kann
Der Anlass war eine Razzia in einem griechischen Roma-Lager, bei der der Polizei ein blondes Mädchen auffiel. Weil es nach dem Äußeren nicht zum Bild eines Romakindes passte, wurde es von der Polizei einem Heim übergeben. Nachdem ein DNA-Test deutlich gemacht hatte, dass die Romafamilie, bei der das Kind aufwuchs, nicht die Eltern des Mädchens waren, begannen wilde Spekulationen, die Roma hätten das Kind entführt.
Die Bildzeitung machte vor einigen Tagen mit der Schlagzeile auf: „Polizei rettet Mädchen vor Gypsi-Bande“. Differenzierter las sich ein Bericht über die Angelegenheit im Spiegel. Nicht nur in der Überschrift wurde von einer mutmaßlichen Entführung gesprochen. Im Text kam auch die Anwältin der Romafamilie zu Wort:
„Die Anwältin des Paares, Marietta Palavra, erklärte, die Familie habe das Kind aus einem Heim zu sich geholt, als es erst wenige Tage alt war. Dort sei es von einem ausländischen Fremden abgegeben worden, der gesagt haben soll, dass er den Säugling nicht weiterversorgen könne. Nur weil die verdächtige Frau falsche Papiere vorgelegt hätte, mache sie das noch nicht zu einer Kidnapperin, sagte Palavra. „Das Paar hat das Mädchen geliebt, als sei es sein eigenes Kind.“ Das Mädchen war in Athen registriert; die angeblichen Eltern hatten von den Behörden in der griechischen Hauptstadt eine Geburtsurkunde für das Kind erhalten.“ Die griechische Polizei wies auf unklare Angaben des Paares hin.
Wenige Tage später zeigte sich, dass die Mär über ein von Roma entführtes Kind eine rassistische Projektion gewesen sind: „Die leiblichen Eltern des bei einem Roma-Paar in Griechenland entdeckten blonden Mädchens Maria sind gefunden. DNA-Tests hätten bestätigt, dass ein am Donnerstag befragtes bulgarisches Roma-Paar Maria gezeugt habe, sagte der Stabschef des bulgarischen Innenministeriums, Swetlosar Lasarow, am Freitag in Sofia. Die griechische Polizei meldete derweil die Festnahme eines weiteren Paares, das widerrechtlich ein Roma-Baby erworben haben soll.
Bei den Eltern von Maria handelt es sich nach Behördenangaben um Sascha Rusewa und ihren Mann Atanas Rusew. Am Donnerstag waren beiden in der zentralbulgarischen Stadt Gurkowo von der Polizei befragt worden. Rusewa soll in der Befragung angegeben haben, vor einigen Jahren ihre sieben Monate alte Tochter bei ihren damaligen Arbeitgebern in Griechenland zurückgelassen zu haben. Nach eigenen Angaben handelte sie aus schierer Not und mangels gültiger Papiere und wollte ihr Kind eines Tages zurückholen.“
So wird klar, dass hier nicht ein Kind von einer „Gypsi-Familie“ gerettet wurde, sondern vielmehr ihren Pflegeeltern brutal entrissen und an die Öffentlichkeit gezerrt worden ist. Es mag wohl sein, dass bei der Unterbringung des Kindes manche Regel des Adoptionsrechtes verletzt wurde. Doch in einer Gesellschaft, die es zulässt, dass Romamütter aus blanker Not ihr Kind zurücklassen, hat wohl kaum ein Recht, auf irgendwelche Formalien in dieser Richtung zu bestehen. Wenn Verhältnisse geschaffen würden, in denen auch Sinti und Roma ein menschenwürdiges Auskommen hätten, wäre schon viel gewonnen.
Wenn vom Aussehen auf die Herkunft geschlossen wird
Dass nun aber ausgerechnet die Pflegeeltern, die das Kind wohl ohne staatliche Unterstützung aufgenommen haben, als Kindesentführer an den Pranger gestellt werden, ist eine Infamie, die nur auf einen Boden gedeihen kann, wo Roma sowie jedes Verbrechen zugetraut wird . Zumal wird nicht nur bei der griechischen Polizei, sondern auch in vielen deutschen Medien davon ausgegangen, dass Roma keine blonden Kinder haben können. Diese Annahme ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar, im konkreten Fall einfach falsch, denn die Eltern waren Roma. Die Grundlage dieser Behauptung ist ein Rassismus, der aus dem Aussehen auf die Herkunft der Menschen schließen will.
Diese Weltsicht teilt die griechische Polizei mit vielen Rechtsaußengruppen in unterschiedlichen Ländern. So führte die falsche Behauptung vom blonden entführten Mädchen zu rassistischen Angriffen auf Roma in verschiedenen europäischen Ländern. Im serbischen Novi Sad versuchten Rechte einen Roma-Vater sein Kind auf offener Straße wegzunehmen, weil es nach ihrem rassistischen Weltbild zu blond war.
In Irland hatte die Polizei nach einer anonymen Denunziation zwei Romakinder vorübergehend ihren Familien entrissen und in Heime eingeliefert, weil sie für deren Rassenvorstellungen zu blond waren. In beiden Fällen konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass die von den Romaeltern vorgelegten Papiere authentisch waren. Es fragt sich aber, ob hier nur von einer Blamage der Polizei und nicht von manifestem staatlichen Rassismus gerettet werden muss.
Uraltes antiziganistisches Klischee
Der in Berlin lehrende Politologe Markus End schrieb bereits im Jahr 2011 in der Publikation „Aus Politik und Zeitgeschehen“ einen Aufsatz unter dem Titel „Bilder und Struktur des Antiziganismus“. Dort heißt es: „Die meisten deutschen Angehörigen wachsen mit solchen Vorurteilen über „Zigeuner“ auf, ohne, dass sie jemals eine/n Angehörige/n der Minderheit de Sinti und Roma kennengelernt haben. Viele dieser Vorurteile sind negativer Art, beispielsweise das Gerücht, „Zigeuner“ würden Kinder stehlen“.
End ist Mitherausgeber zweier im Unrast-Verlag erschienenen Bücher, die die antiziganistischen Zustände detailliert untersuchen. Zudem hat er in einer Studie die Forschungsansätze zum Antiziganismus und seiner Gegenstrategien vorgestellt.
Schon vor mehr 200 Jahren durchschaute der Aufklärer Jakob Grellmann das Klischee vom kinderklauenden Roma: „Mehrere Schriftsteller reden von Menschenraub der Zigeuner und beschuldigen sie, dass sie besonders Kindern nachstellen.“ Für Grellmann war bereits 1783 die Wahrheit jener Beschuldigung „durch den Umstand äußerst verdächtig, dass lange zuvor, ehe noch ein Zigeuner europäischen Boden betreten hatte, die Juden damit verschrien wurden“.