Die „Flüchtlingskrise“ ist eine Krise der deutschen Hegemonie in der EU

Um den neuen Konsens in Europa wird noch kräftig gerungen werden

„Die EU, wir sie sie kennen, ist gescheitert. Das wird auch ein Sondergipfel nicht ändern.“ Diesen Befund verfasste die überzeugte EU-Befürworterin und Gründerin des European Democracy Lab[1], Ulrike Guérot[2] in der aktuellen Ausgabe[3] der Wochenzeitung Freitag. Ihre Analyse ist sehr klar: „Keine Frage ist in den letzten Wochen so oft gestellt worden wie die nach dem Scheitern der Europäischen Union, ja nach ihrem möglichen Untergang. Nicht von Unkenrufern, sondern von europäischen Abgeordneten oder europäischen Premierministern.“

Dann bekräftigt die Autorin noch einmal:

Und ja, die EU ist gescheitert, und jeden Tag wird dieses Scheitern offensichtlicher, greller. Es dringt hartnäckig ins öffentliche Bewusstsein – auch derer, die immer noch meinen, der nächste Adria- oder Ägäis-Urlaub wird der letzte, derer, die immer noch hoffen, der nächste EU-Sondergipfel am 7. März – spätestens der übernächste – hält die Lösung bereit. Eine Weile wird das noch weitergehen, eine Weile weiteres Warten auf den europäischen Godot.

Modell Urban versus Modell Merkel?

So prägnant Guérot den Zustand der EU beschreibt, so schwach ist sie in der Analyse. Was ist eigentlich der Kern der aktuellen Krise der EU? Irreführend wird immer von einer Flüchtlingskrise gesprochen. Nach dieser Lesart besteht die Krise darin, dass die EU keinen gemeinsamen Umgang mit den Zuwanderern findet. Das Bild einer humanistisch gesinnten deutschen Regierung wird gezeichnet, die unter Merkel die Flüchtlinge willkommen heißt und dabei von zunehmend mehr EU-Regierungen sabotiert wird.

Besonders der rechtskonservative ungarische Ministerpräsident wird als Merkels Antipode hingestellt. Während die ungarische Regierung Zäune um das Land bauen lässt, stehe Merkel für ein offenes Europa. Das ist das Bild, das Befürworter und Gegner von Merkel immer wieder zeichnen. Die einen ernennen Merkel zur Kanzlerin der Herzen[4] und diskutieren darüber, erstmals CDU zu wählen. Die Gegner organisieren derweil mit der Parole „Merkel muss weg“ eine personifizierte Kampagne gegen eine Kanzlerin, die mit der rechten Kampagne gegen Willi Brandt Anfang der 1990er Jahre vergleichbar ist. Auch damals tauchten im Neonazimilieu Galgen auf und Parolen wie „Brandt an die Wand“.

Doch durch die Stilisierung von Merkel entweder als Hort der Menschlichkeit oder als „Volksverräterin“ gerät der Charakter der gegenwärtigen EU-Krise in den Hintergrund. Er besteht im Wesentlichen im Unvermögen Deutschlands, in der EU eine Hegemonie herzustellen. Vor nicht allzu langer Zeit schien diese deutsche Hegemonie in der EU unangefochten. Merkel wurde schon zur mächtigsten Frau der Welt erklärt. Selbst Länder wie Italien und Frankreich konnten nicht gegen Deutschland Politik machen.

Führende CDU-Politiker jubelten darüber, dass in der EU deutsch gesprochen wird. Der Höhepunkt der deutschen Macht in Europa war auch der Kippunkt. Es ging um die Unterwerfung der griechischen Regierung unter das Austeritätsdiktat der EU. Deutsche Politiker, in erster Linie Wolfgang Schäuble, haben sich dabei besonders exponiert.

Warnende Stimmen aus verschiedenen europäischen Ländern, die für eine Lockerung des Austeritätsprogramms und für einen Dialog mit der linkssozialdemokratischen griechischen Regierung plädierten, wurden von Deutschland ignoriert. Doch damit hatten die Verantwortlichen in Deutschland ihre Macht überreizt. Die harte Haltung gegenüber Griechenland wurde von Politikern, aber auch von großen Teilen der Bevölkerung vieler europäischer Ländern mit Schrecken betrachtet und erzeugte Widerstand.

Selbst in Frankreich und Italien mehrten sich die Stimmen, die den Umgang der von Deutschland dominierten EU mit Griechenland als Pilotprojekt für andere Länder – und auch für sie selbst – betrachteten. So hat die deutsche Politik im Falle Griechenland einen Pyrrhussieg errungen. Gegen Griechenland konnten sie sich durchsetzen. In vielen anderen Ländern aber wuchs der Widerstand gegen die von Deutschland ausgehende Politik.

Migranten wollen in der Regel nach Deutschland

Dabei ist es auch kein Zufall, dass der Bruch der deutschen Hegemonie in der Frage des Umgangs mit den Migranten so deutlich wurde. Denn die überwiegende Mehrheit dieser Menschen will nach Deutschland und einige andere Kernstaaten der EU migrieren und nicht in die Balkanländer, nach Ungarn oder die Slowakei. Denn ihr Ziel ist ein besseres Leben in Europa und das erhoffen sie sich in den Kernländern.

Wenn nun von Deutschland gefordert wird, die Migranten auf Europa aufzuteilen, wird zunächst der Wille dieser Menschen ignoriert. Sie würden mehrheitlich in Länder verfrachtet, in die sie nicht wollen. Für die Regierungen vieler europäischer Länder bedeutet der Widerstand gegen die Flüchtlingskontingente neben xenophoben und rassistischen Motiven vor allem ein Infragestellen der deutschen Hegemonie über die EU.

Wie gut ihnen das gelungen ist, zeigt das Beispiel Österreich. Lange Zeit haben deren Politiker sich immer im Windschatten der deutschen Politik bewegt und noch im Frühherbst 2015 schien die Wiener Regierung ein guter Partner von Merkel beim Durchwinken der Migranten. Doch diese Transitrolle will die österreichische Regierung nicht mehr einnehmen. Sie hat sich mit ost- und südosteuropäischen Ländern verbündet und damit einen wesentlichen Schlag gegen die deutsche Hegemonie in Europa geführt.

Das Ende des Durchwinkens – der neue europäische Konsens

Nun versucht die deutsche Politik natürlich die verlorene Hegemonie wieder herzustellen. Die Pendeldiplomatie deutscher Politiker der letzten Wochen hatte genau dieses Ziel. Dazu gehören auch die regen Reiseaktivitäten des bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer, der vor einigen Tagen in Ungarn zu Gast war. Dabei greift es zu kurz, solche Aktivitäten nur durch die Brille zu sehen, ob sie Merkel nützen oder schaden.

Denn die Kanzlerin sucht natürlich schon längst den neuen europäischen Konsens, um vielleicht wieder die Hegemonie in Europa zu erlangen. Die Zeit des Durchwinkens ist vorbei, könnte dabei der kleinste gemeinsame Nenner werden. Wenn EU-Ratsherr Tusk die Migranten offiziell auffordert, nicht nach Europa zu kommen, so wird das von konservativer Seite als „Bankrott der Merkelschen Politik“ interpretiert[5].

Doch Tusk ist sich mit Merkel darin einig, dass eine massive Reduzierung der Migranten erfolgen muss. Zudem gibt es ähnliche Kampagnen zur Verhinderung von Migration bereits seit Längeren auch von deutschen Stellen beispielsweise in Afghanistan.

Deswegen war auch klar, dass Merkel die Aufforderung aus Österreich, die Migranten direkt von Griechenland nach Deutschland zu bringen, klar zurückweist. Nach einem Gespräch mit dem kroatischen Ministerpräsidenten Tihomir Oreskovic betonte sie, man wolle nun die Politik der EU-Kommission umsetzen, nämlich „die Politik des Durchwinkens beenden“.

Diese Willensbekundung verknüpft Merkel mit einer klaren Drohung gegen die Migranten und ihre Rechte. Es gebe kein Recht für sie, sich auszusuchen, wo sie um Schutz nachsuchen könnten. Die FAZ beschreibt[6], wie die Wiener Regierung auf diese Erklärung von Merkel reagierte.

In Wien reibt man sich in den Regierungsstellen die Augen: Das sei doch genau die österreichische Position. Nichts anderes wolle man: Registrierung und Warten der Flüchtlinge in Griechenland oder besser noch vor der EU-Außengrenze, und dann gegebenenfalls Weiterverteilung einiger Kontingente in die aufnahmewilligen Länder. Doch müsse klar sein, was Merkel nicht hinzugefügt habe: Dass die Flüchtlinge nicht in Griechenland bleiben würden, wenn sie nicht dazu gezwungen wären – durch die von Österreich initiierte Schließung der Balkanroute.

Um den neuen Konsens in Europa wird in der nächsten Zeit noch kräftig gerungen werden, sicher auch auf dem morgigen EU-Gipfel. Doch schon ist klar, die Rechte der Migranten werden noch mehr angegriffen. Darauf hat die Refugee-Welcome-Bewegung keine Antwort, die oft selber in die Falle gegangen ist, Merkel als Exponentin von offenen Grenzen zu loben. Es gab in diesen Kreisen schon keine klare Haltung zur deutschen Forderung nach europäischen Flüchtlingskontingenten. Teilweise wurde diese Forderung sogar befürwortet.

Die Staaten, die sich verweigern, galten als die Gegner. Die Tatsache, dass die meisten betroffenen Migranten nicht in diese Länder wollen, wurde ignoriert. So macht sich die Refugee-Welcome-Bewegung ungewollt zu Unterstützern der deutschen Hegemonie in der EU.

Jetzt wo die Grundanlagen neu ausgehandelt werden, müsste eine Forderung nach einem Transfer von Migranten aus Griechenland nach Deutschland im Mittelpunkt stehen. Damit würde das Recht auf Migration gestärkt, ohne Rücksicht auf die innereuropäischen Kämpfe um Hegemonie.

Cover

Hg.: Florian Rötzer Der halbe Hegemon Die Rückkehr der „deutschen Frage“ und die Lage der EU Als eBook[7] bei Telepolis erschienen

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

https://europeandemocracylab.wordpress.com

[2]

http://ulrikeguerot.eu

[3]

https://www.freitag.de/ausgaben/0916

[4]

http://www.taz.de/!5279025

[5]

http://www.rolandtichy.de/tichys-einblick/die-bankrott-erklaerung/

[6]

http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/oesterreich-und-deutschland-in-der-fluechtlingskrise-14102018.html

[7]

http://www.heise.de/tp/ebook/ebook_26.html