MITBESTIMMEN Modelle der Bürgerbeteiligung können durchaus kritisch gesehen werden, sagt der Kultursoziologe Thomas Wagner, der gerade ein Buch dazu veröffentlichte
taz: Herr Wagner, Sie haben sich in mehreren Büchern kritisch mit den verschiedenen Formen der Bürgerbeteiligungen auseinandergesetzt. Warum?
Thomas Wagner: Unter dem Stichwort Bürgerbeteiligung werden auch Gesellschaftsmodelle propagiert, die in Bezug auf die Partizipation großer Teile der Bevölkerung noch hinter die parlamentarische Demokratie zurückfallen.
Inwiefern?
Die Forderung nach der Direktwahl von PolitikerInnen erfreut sich etwa bei Wirtschaftslobbyisten wie Olaf Henkel großer Beliebtheit. Ihnen geht es dabei vor allem um eine plebiszitär abgesicherte Elitenherrschaft. Trotzdem wird diese Forderung auch von linken Parteien oft kritiklos unterstützt. Modelle der Bürgerbeteiligung werden so zum Herrschaftsinstrument. Einst kam der Ruf nach BürgerInnenbeteiligung aus dem alternativen Milieu. Mittlerweile versprechen sich maßgebliche Kreise aus Wirtschaft und Politik davon eine Imageförderung oder wollen damit der schwindenden Zustimmung von neoliberalen Reformprojekten entgegenwirken.
Können Sie Beispiele nennen?
Ein in Berlin viel diskutiertes Projekt war 2012 das BMW Guggenheim Lab. Hier wurde unter dem Stichwort „BürgerInnenbeteiligung“ Imagepflege für einen international agierenden Autokonzern getrieben. Es gibt auch viele weniger bekannte Beispiele. Bei Mediationsverfahren etwa stellen engagierte BürgerInnen Unternehmen ihre Expertisen zur Verfügung. Im Rahmen von BürgerInnenhaushalten sollen sie selbst entscheiden, an welcher Stelle gekürzt werden soll. Die Frage, ob und wie politischer Druck zur Verhinderung von Kürzungsprogrammen aufgebaut werden kann, wird dann gar nicht mehr gestellt.
Warum befürchten Sie, dass die Interessen einkommensschwacher Teile der Bevölkerung durch Bürgerbeteiligungsmodelle noch mehr unter den Tisch fallen?
Verschiedene Studien weisen nach, dass sich an BürgerInnenbeteiligungsmodellen stärker als in den traditionellen Parteien Angehörige der Mittelschichten engagieren. Die Interessen der Marginalisierten sind dort noch weniger vertreten als bei traditionellen Partizipationsmodellen wie Parteien und Gewerkschaften.
Ist Bürgerbeteiligung also eine Klassenfrage?
Es ist auf jeden Fall ein Fakt, dass sich marginalisierte Menschen selbst dann weniger an Volksentscheiden beteiligen, wenn sie von den Forderungen direkt betroffen sind. So ist 2010 in Hamburg eine vom Senat geplante Schulreform, die mehr Chancengleichheit für SchülerInnen aus der einkommensschwachen Bevölkerung bringen sollte, daran gescheitert, dass sich genau diese Teile der Bevölkerung nicht an der Abstimmung beteiligt haben. Den Ausschlag gaben die Hamburger Mittelschichten, die sich massiv gegen die Reform engagierten.
Auch die Wahlbeteiligung ist bei Marginalisierten niedriger als bei Angehörigen der Mittelschichten. Insofern kann man daraus doch kein Argument gegen Volksentscheide machen.
Wenn InitiatorInnen von Volksbegehren mit der direkten Demokratie argumentieren, müssen sie sich schon Gedanken darüber machen, wie marginalisierte Teile der Bevölkerung einbezogen werden können. Sonst ist es zumindest keine Demokratie für alle.
Was hieße das für das Tempelhof-Volksbegehren?
Auch hier wäre wichtig, dass MieterInneninitiativen sowie Erwerbslosen- und Migrantengruppen in die Diskussion einbezogen werden.
Thomas Wagner Jahrgang 1967, ist Kultursoziologe und hat sich in mehreren Büchern kritisch mit Modellen von direkter Demokratie und BürgerInnenbeteiligung auseinandergesetzt, u. a. „Demokratie als Mogelpackung“ sowie „Die Mitmachfalle“, erschienen bei Papyrossa
Das deutschnationale Narrativ in der NSA-Debatte erschwert eine globale Bewegung gegen Überwachung
Über die NSA-Überwachung scheint in Deutschland fast alles gesagt. Daher müssen Kommentatoren mit immer absonderlichen Vorschlägen um Aufmerksamkeit buhlen. So machte der Publizist Heribert Prantl in einem Kommentar im Deutschlandfunk den Vorschlag, dereinst ein neu entdecktes chemisches Element Snowdenium zu nennen, um Edward Snowden als den Mann in Erinnerung zu behalten, der einen wichtigen Beitrag zur „globalen Sensibilität für den Wert der Kommunikationsgrundrechte“ leistete.
Ein Element namens Snowdenium fehlte noch in dem satirischen Ausblick auf Deutschland im Jahr 2034, den Horst Pankow in der Jungle World in eine Zeit wagte, in der „die mutmaßlichen Friedensverbrecher Barack Obama (73) und Keith Alexander (82) auf dem Gelände des Hans-Christian-Ströbele-Gerechtigkeitsparks in Stuttgart-Stammheim eingetroffen“ sind.
„Den Beschuldigten wird der Versuch des ‚Völkermords durch mentale Verunsicherung‘ vorgeworfen, für den das 2031 ratifizierte ‚Gemeinsame Strafrecht der Europäischen Union und aller recht- und billigfühlenden Völker‘ als ‚Mentozid‘ die Höchststrafe vorsieht. Mindestens zwischen 2009 und 2016, der Regierungszeit des Hauptbeschuldigten Obama, sollen sie Millionen völlig schuldloser Deutscher und Milliarden Bürger anderer Staaten durch Überwachung und Aufzeichnung jeder Art von Telekommunikation in einen Zustand mentaler Verunsicherung versetzt haben, der als humanitäre Katastrophe höchsten Ausmaßes bezeichnet werden muss. ‚Milliarden und Abermilliarden unschuldiger Menschen, von der Regierungschefin bis zum Arbeitssuchenden, deren einziges Verbrechen in ihrem Streben nach Kommunikation bestand‘, hatte die Europäische Ministerin für Volks- und Netzgesundheit, Manuela Schwesig (SPD), kürzlich in einer ergreifenden Ansprache erklärt, ’sind, wie wir heute eindeutig wissen, traumatisiert. Ihnen wurde jegliche Netzfreude, alle Netzsicherheit einfach genommen. Ja, nicht wenigen wurde jedes Netzvertrauen ausgelöscht, ausradiert – vielleicht für immer.'“
Wenn die USA die deutsche Grundordnung unterminiert
Prantls Vorschlag könnte also eine gute Ergänzung dieser Vorschau sein. Nur gibt es einen gravierenden Unterschied. Während Pankow mit seiner dystrophischen Erzählung vielleicht der Realität näher kommt, als ihm lieb ist, hat Prantl seinen Vorschlag ganz ohne jede Ironie mit dem Gestus des großen liberalen Aufklärers gemacht. Dass es ihm dabei aber weniger um die globalen Grundrechte als um das deutsche Selbstbewusstsein geht, wird in seinem Beitrag sehr deutlich.
„Auf dem Boden des Grundgesetzes wurzeln und wachsen auch das Selbstbewusstsein und die Selbstsicherheit der deutschen Bürgerinnen und Bürger. Dieses Selbstbewusstsein und diese Selbstsicherheit geraten ins Wanken, seitdem bekannt wurde, dass unter dem Boden des Grundgesetzes US-Geheimdienste arbeiten, die sich um die deutschen Grundrechte nicht kümmern, die das Fernmeldegeheimnis so wenig achten wie den Schutz der Privat- und Intimsphäre der Bundesbürger. All diese Rechte sind auf dem Boden des Grundgesetzes gewachsen; dieser Boden aber wird von NSA & Co. unterminiert und unterhöhlt.“
Bei Prantl wird sehr deutlich, wie eine Debatte um die globalen Grundrechte in eine nationale Erzählung umgewandelt wird. Die USA unterhöhlten das Grundgesetz und damit gleich das deutsche Selbstbewusstsein, so die Rede. Auf den historischen Einschub, dass schließlich die USA als Teil der Anti-Hitler-Koalition erst die Bedingungen mitgeschaffen haben, die im Westteil Deutschlands zur Verabschiedung des Grundgesetzes führten, verzichtet der liberale Publizist. Das selbstbewusste Deutschland hat soviel historische Korrektheit nicht mehr nötig. Die war in einer Ära nötig, in der Deutschlands NS-Vergangenheit noch nicht bei allen Wirtschaftspartnern als historisch erledigt betrachtet wurde. In Deutschland selber setzte der Prozess ja bereits mit Hitlers Tod ein.
Kein Respekt für Deutschlands Souveränität
So ist die NSA-Diskussion zu einer Debatte um die deutsche Souveränität geworden. Ex-Kanzler Schröder, dessen Handy angeblich ebenfalls abgehört wurde, brachte es in einem Interview mit der Bild-Zeitung auf den Punkt: „Die USA haben keinen Respekt vor der Souveränität unseres Landes.“
Doch bei einem einfachen Lamento soll es nach dem Willen mancher SPD-Politiker nicht bleiben. Der SPD-Innenexperte Michael Hartmann will zurück spionieren (vgl. Spionageproblem gelöst: Wettrüsten!). In der Rheinischen Post sagte er: „Wer uns ausspäht, muss damit rechnen, dass er seinerseits ebenfalls Zielobjekt wird.“
Diese Offenheit kam nicht überall gut an. Schließlich plaudert man nicht aus, was man so alles an Geheimen plant. Zumal er mit seiner Forderung, US-Firmen künftig von Aufträgen des Bundes, der Länder und der Kommunen über Kommunikationstechniken auszuschließen, sicher große Zustimmung auch in den anderen Parteien erfährt. Schließlich ist die Forderung nach einem deutschen bzw. einem deutsch-europäischen Internet seit der NSA-Debatte ständig zu hören.
„Von allen Seiten kommen Vorschläge, das Internet zu nationalisieren. Es klingt sinnvoll, das Safe-Harbor-Abkommen zu kündigen, das besagt, dass dem deutschen Datenschutz Genüge getan ist, wenn Daten in vermeintlich ’sichere Drittstaaten‘ wandern wie die USA. … Das würde zum Beispiel die heimische Internetwirtschaft stärken – am Ende bekommen wir aber ein Wettrüsten der Informationstechnologie wie zu Kaisers Zeiten. Die Hubschrauber, die die Bundesregierung im Tiefflug über die US-Botschaft schickte, erinnern fatal an die Kanonenbootpolitik eines Wilhelms II. Wenn wir erst Firewalls zu unseren Nachbarstaaten errichtet haben und das Netz voller Zensurfilter steckt, während deutsche Behörden und Konzerne unser Verhalten im Netz trotzdem überwachen – dann ist das Internet wirklich kaputt“, kommentiert der Internetexperte Enno Park diesen Hype um das deutsche Internet.
Statt gegen Überwachung nur gegen ausländische Überwachung
Durch das deutschnationale Narrativ in der NSA-Debatte wird gerade verhindert, dass generell über Überwachung diskutiert wird und sich vielleicht eine globale Bewegung dagegen organisiert, wobei das Internet eine gute Hilfestellung leisten könnte. Weltweit organisierte Aktionen wie der International Privacy Day aber finden in Deutschland gerade deswegen so wenig Beachtung, weil die Debatte nationalistisch geführt wird.
Es geht dabei nicht um Überwachung generell, sondern gegen ausländische Überwachung. Die Bespitzelung deutscher Geheimdienste wird von Prantl und Co. ganz souverän ignoriert. Sonst müsste Prantl bei seiner Lobeshymne auf die deutsche Grundordnung anerkennen, dass die nicht von den USA, sondern von deutschen Geheimdiensten mit viel NS-Personal seit Jahrzehnten unterminiert wird.
Bereits in den fünfziger Jahren gab es in der BRD die flächendeckende Kommunistenverfolgung, in die alle einbezogen wurden, die in Opposition zum Adenauerstaat standen. In den 1960er Jahren kam die Bespitzelung der neuen Linken hinzu. In den 1970er Jahren kam mit dem Radikalenerlass, von Kritikern im In- und Ausland als „Berufsverbot“ bezeichnet, eine neuer Überwachungsanlass hinzu.
Den heutigen Kritikern der ausländischen Überwachung sind solche historische Details nicht der Rede wert. Wie die deutsche Überwachung ignoriert wird, zeigt sich an den Umgang mit dem Buch „Überwachtes Deutschland“ von Joseph Foschepoth. Während der Teil der die Beziehungen zu den USA thematisiert, ausgiebig zitiert und als Beweis für die Souveränitätsdefizite angeführt wird, werden viele Kapitel des Buches in der Debatte ausgeblendet. Dort geht es um die flächendeckende Überwachung und Vernichtung der Post aus der DDR durch deutsche Geheimdienste in den 1950er und 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Während viele die Piraten schon abgeschrieben haben, streiten sich bei den Grünen Alt- und Jungpolitiker um die besten Plätze und bei den Linken geht es um eine Richtungsentscheidung
Bald beginnt ein Wahlkampf, der die politischen Koordinaten in Deutschland vielleicht mehr verändern könnte als die Bundestagswahl. Am 25.Mai werden in Deutschland nicht nur die Abgeordneten für das EU-Parlament bestimmt, sondern auch ein Stimmungsbild darüber geliefert, wie EU-müde die Wähler in Deutschland sind. Da zudem bei dieser Wahl die Drei-Prozent-Hürde gilt, können sich auch Parteien Chancen ausrechnen, die in Deutschland Schwierigkeiten haben, die nötigen Wählerstimmen zu sammeln.
Die Angst der Piraten vor der 3-Prozent-Hürde
Doch selbst diese Hürde ist manchen Parteien noch zu hoch. Besonders die Piraten scheinen wenig Vertrauen in ihre Attraktivität bei den Wählern zu haben. Sie gehören wie andere Kleinparteien zu den Klägern, die gegen die 3-Prozent-Hürde vor dem Bundesverfassungsgericht klagenl. Die Furcht vor dem Scheitern scheint nicht unberechtigt.
Schließlich spielt die Piratenpartei in der öffentlichen Debatte keine große Rolle mehr, seit die Partei bei den Bundestagswahlen gescheitert ist. Danach gelang es der Partei weder neue Themen zu setzen noch medientaugliches Spitzenpersonal aufzubauen. Für viele gilt die Piratenpartei bereits ein gescheiteres Projekt, das man möglichst schnell verlässt.
Sollte sie es nicht ins Europaparlament schaffen, dürfte sie politisch endgültig gescheitert sein. Dann werden sich in den Bundesländern, in denen die Piraten ins Parlament gewählt wurden, manche nach einer neuen politischen Karriereplattform umsehen. Bei der programmatischen Beliebigkeit der Piraten dürften dafür alle anderen Parteien in Frage kommen.
Green Primary als Flop
Ob die Grünen sich als Karriereplattform für gestrandete Piraten gut eignen, ist eine andere Frage. Die Partei wird weder an der 3- noch an der 5-Prozent-Hürde scheitern. Allerdings hat sie natürlich auch ganz andere Erwartungen geweckt. Beim Europaparteitag an diesem Wochenende in Dresden steht erst einmal ein Kampf um die begehrten Spitzenpositionen an.
Dabei geht es allerdings kaum um größere politische Unterschiede. Vielmehr wollen jüngere Grüne den Parteiveteranen das Recht streitig machen, sich in der ersten Reihe zu platzieren. Die Jung-Politikerin Ska Keller will beim Kampf um den ersten Platz gegen die schon als gesetzt geltende Rebecca Harms antreten, der wegen ihrer Herkunft aus dem Wendland das Adjektiv links anklebt.
In den letzten Wochen hat Harms aber vor allem dadurch Schlagzeilen gemacht, dass sie nach einem Besuch in der Ukraine Sanktionen gegen die dortige Regierung androhte, sich aber nicht von offen rechten und nationalistischen Fraktionen der Opposition distanzierte. Ob bei den Grünen allerdings noch so viel politisches Bewusstsein vorhanden ist, dass ein solches Verhalten auf dem Europaparteitag angesprochen und womöglich gar Folgen bei den Wahlen hat, muss bezweifelt werden.
Ska Keller zumindest beruft sich bei ihrer Kandidatur gegen Harms mit keinem Wort auf deren Ignoranz gegenüber den rechten Fraktionen in der Ukraine, sondern auf die Ergebnisse der Green Primaries. Bei den ersten europäischen Internetvorwahlen waren Keller und der französische Umweltaktivist Jose Bove auf die vorderen Plätze gewählt worden. Da sich an Green Primaries allerdings europaweit gerade einmal 22.000 Menschen beteiligen, wird Keller die Spitzenkandidatur parteiintern streitig gemacht.
Keller macht aber schon deutlich, dass sie in typischem Politik-Sprech noch jeden Flop schönreden kann. So erklärte sie gegenüber der Frankfurter Rundschau:
„Es ist klar, dass wir uns alle eine höhere Beteiligung gewünscht hätten. Aber wir haben als relativ kleine europäische Partei als erste dieses Experiment gewagt, eine paneuropäische Debatte zu starten. Wir hatten lebhafte Debatten in zehn Mitgliedstaaten, wir waren bei den Menschen vor Ort. 22.000 Beteiligte sind keine Weltrevolution, aber es war ein Anfang mit grüner Basisdemokratie in Europa.“
Die grünen-nahe Taz ist da ehrlicher und bezeichnet die Green Primaries wegen der geringen Teilnahme als gescheitert. Das könnte Auswirkungen für einen weiteren grünen Veteranen haben, der auf der Liste zum Europaparlament auf den vordersten Plätzen aufgestellt werden möchte.
Gegen Reinhard Bütikofer könnte mit Sven Giegold, ein weiterer Grüner Nachwuchspolitiker kandidieren, der über die Zwischenstation bei Attac seinen Karriereanker bei den Grünen gefunden hat. Auch er will mit seiner möglichen Kandidatur keineswegs eine politische Kritik an den Realo Bütikofer, sondern nur als „ein Angebot der Erneuerung“ verstanden wissen.
Zudem betonte Giegold, dass er nur dann für einen Spitzenplatz kandiert, wenn sich Harms auf Platz 1 durchsetzt. Denn Giegold betont, dass „die Gründungsgeneration, die die Grünen stark gemacht hat, auch ganz vorne vertreten bleibt“. Da sowohl Bütikofer, Giegold, Harms und Keller bereits Mitglieder des EU-Parlaments sind und auch bleiben werden und der Streit keine politischen Differenzen markiert, hat die Wahl am Wochenende höchstens parteiinterne Relevanz.
Steht die Linke vor ihrem Godesberg?
Anders sieht es bei der Linkspartei aus. Dort sorgt ein Satz im Leitantrag für Aufregung. Es geht vor allem um diese Passage:
„Spätestens seit dem Vertrag von Maastricht wurde die EU zu einer neoliberalen, militaristischen und weithin undemokratischen Macht, die nach 2008 eineder größten Krisen der letzten 100 Jahre mit verursachte.“
Dieser Satz war für viele Medien der Beweis, dass man mit dieser Linken keinen Staat machen kann. Aber da ist ja noch Gregor Gysi und seine junge Truppe, die die Partei in absehbarer Zeit (mit)regierungsfähig machen wollen. Auf einem Treffen in Berlin machte er mit Anleihen an den Patriotismus schon mal die Vorgaben.
„Wenn man sein eigenes Land nicht mag, kann man in ihm auch keine Verantwortung übernehmen.“
Da SPD und Grüne immer betonen, dass für sie die Linke als Mehrheitsbeschaffer in Frage kommt, wenn die sich in der Europa-, Militär- und Außenpolitik anpasst, setzt der Parteiflügel, der die Linke regierungsfähig machen will, hier an. Dass Gysi mit Realos aus der alten PDS eine Kandidatenliste für die Europawahlen vereinbart haben soll, in denen die Realos in der Mehrheit wären, schürt die Vermutungen, dass hier ein Bad Godesberg der Linkspartei vorbereitet wird.
In dem Badeort bei Bonn akzeptierte 1959 die SPD die Nato und die außenpolitische Orientierung der Adenauer-BRD und schuf so die Voraussetzungen zum Mitregieren. Damit entfremdete sich die SPD allerdings auch von den letzten Linken in der Partei. In der Linkspartei aber geben diese den Kampf noch nicht auf. Sie sehen im Europa-Parteitag am 14. und 15. Februar in Hamburg eine wichtige Vorentscheidung.
Personell wird die Auseinandersetzung an den westdeutschen Antimilitaristen Tobias Pflüger festgemacht, der bereits in der vorletzten Legislaturperiode Mitglied des EU-Parlaments war. Mittlerweile setzen sich Antimilitaristen aus Deutschland und Europa dafür ein, dass er erneut auf einen aussichtsreichen Platz auf der Kandidatenliste für das Europäische Parlament aufgestellt wird.
Er ist vielen ostdeutschen Realos besonders ein Dorn im Auge, weil er nicht auf Regierungskurs ist und als langjähriger Aktivist der außerparlamentarischen Bewegung für einen Politikstil steht, den die braven ostdeutschen Realos schon ablehnten, als sie noch in der DDR ihren etatistischen „Modernen Sozialismus“ als Antwort auf die Krise des autoritären Systems ausarbeiteten. Sie sind die theoretischen Stichwortgeber der ostdeutschen Realofraktion.
Beim Europaparteitag der Linkspartei haben sie einen Vorteil. Der Delegiertenschlüssel, der den Westen bevorteilte, gilt dort erstmals nicht mehr. So werden 312 der insgesamt 500 Delegierten aus den Ost-Landesverbänden und 188 aus dem Westen kommen. Da es aber falsch wäre, alle Delegierten aus der ehemaligen DDR den Realos und alle Westlinken ihren Gegnern zuzurechnen, hat Pflüger durchaus noch Chancen.
Während konservative Publizisten Gaucks klare Worte lobten und die deutsche Politik zu noch mehr Einsatz aufforderten, äußerten sich liberale und linke Kommentatoren kritisch. Martin Reeh erinnert in der Taz daran, dass seit nun mehr 2 Jahrzehnten eine größere Verantwortung Deutschlands eingefordert wird:
„Seit das verstärkte militärische Engagement der Deutschen nach 1990 begann, hat es nicht an Reden gefehlt, die eine veränderte Außenpolitik einforderten.“
Rühes Weckruf
Doch es wäre falsch, die Rede von Gauck nur als die Wiederholung der immer gleichen Platte zu interpretieren. Sie reiht sich vielmehr in Äußerungen von Politikern aus Union und SPD ein, die immer deutlicher den Anspruch erheben, in der ersten Liga der Weltpolitik mitspielen zu wollen. Am deutlichsten hat den Anspruch ein Verteidigungsminister aus der Ära Kohl formuliert: Volker Rühe schrieb am 21. Januar in der FAZ unter der Überschrift „Deutschland muss führen“:
„Ende des Monats, wenn die Münchner Sicherheitskonferenz zum 50. Mal tagt, ist Deutschland wieder einmal das Zentrum der internationalen Politik. Dies allerdings nur für 48 Stunden, denn in der Praxis hat sich unser Land in eine sicherheitspolitische Passivität begeben, die seiner Rolle als bevölkerungsreichster Staat Europas und als eine global führende Wirtschaftsmacht nicht entspricht. In Afghanistan haben wir unseren Einsatz frühzeitig auf den Norden sowie die Hauptstadt Kabul beschränkt und die wirklich gefährlichen Regionen dauerhaft unseren Verbündeten überlassen.“
Hier wird auch ganz deutlich, was hinter den zunehmenden Rufen nach dem Ende der Passivität und des Wegguckens steckt. Es geht um Deutschlands neue Rolle in der Weltpolitik. Dabei sollen die Interessen wenn möglich im Verbund mit den USA durchgesetzt werden. Es wird auch Situationen geben, wo Deutschlands Interessen nur gegen den einstmals engsten Verbündeten durchsetzbar sind.
Dass sich Union und SPD in dieser Frage einig sind, zeigte sich am Wochenende. Nach Ursula von der Leyen, die vage davon sprach, dass Gleichgültigkeit weder aus sicherheitspolitischer noch aus humanitärer Perspektive eine Lösung sei, und damit fast wortwörtlich die Merksätze wiederholte, mit denen vor 15 Jahren die Grünen „kriegsbereit“ wurden, übersetzte Bundesaußenminister Steinmeier diese Prosa in konkrete politische Zielvorstellungen:
„Deutschland muss bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substantieller einzubringen.“
Das Bündnis aus Union und SPD hat in der kurzen Zeit der neuen Zusammenarbeit schon deutlich gemacht, dass die Regierungsparteien die gewohnten Zügel der Zurückhaltung, die es in der Militärpolitik noch gab, fallen lassen wollen.
Hat die NSA-Debatte selbstbewusstes Deutschlands befördert?
Es wäre zu fragen, ob nicht die NSA-Debatte, wie sie in den letzten Monaten mehrheitlich geführt wurde, dieses neue deutsche Selbstbewusstsein befördert hat. Denn die hat sich schnell auf die Frage der deutschen Souveränität konzentriert, die angeblich durch die USA verletzt würde. So wurde aus dem Buch „Überwachtes Deutschland“ von Josef Foschepoth fast ausschließlich der Teil zitiert, der die Beziehungen zu den USA thematisiert.
Dass in dem Buch akribisch beschrieben wurde, wie deutsche Behörden Post aus der DDR in den fünfziger und frühen sechziger Jahren überwacht und teilweise sogar vernichtet haben, wird hingegen kaum erwähnt. Bei soviel Betonung von deutscher Souveränität ist es nicht verwunderlich, wenn die Politik diesen Grundsatz nun auch in der Außen- und Militärpolitik aufgreift.
Es wäre nicht das erste Mal, dass außerparlamentarische Bewegungen Stichwortgeber für eine selbstbewusste deutsche Nation wurden. Auch Teile der westdeutschen Friedensbewegung spielte vor über 30 Jahren eine ähnliche Rolle, wenn sie Deutschland als Opfer der ehemaligen Alliierten der Anti-Hitler-Koalition darstellte.
Saudische Außenminister für Menschenreche in Syrien
Natürlich spielten auf der Sicherheitskonferenz auch alle aktuellen weltpolitischen Themen eine Rolle. Der russische Außenminister stellte die berechtigte Frage, warum die Beteiligung rechter Gruppen an der Opposition in der Ukraine kaum erwähnt wird. Diese Frage richtet sich besonders an deutsche Politiker. Schließlich hat Merkel bei ihrer Regierungserklärung ausdrücklich die ukrainische Opposition ohne Differenzierungen gewürdigt.
Auch die grüne Europaabgeordnete Rebecca Harms hat bei ihren Besuch in der Ukraine Sanktionen gegen Regierungsmitglieder in Aussicht gestellt, aber zu dem rechten Flügel der Opposition kein kritisches Wort verloren. Auf der Sicherheitskonferenz rief Wladimir Klitschko denn auch zu noch mehr Unterstützung für die Opposition auf und forderte mehr Druck auf die Regierung. Auch von ihm hörte man keine Distanzierung von den Rechten.
Am letzten Tag bestimmten der Syrien-Konflikt und der Streit mit dem Iran in München die Agenda. Ausgerechnet der Außerministier Saudi Arabiens, eines besonders repressiven Regimes, spielte sich als Verteidiger der Menschenrechte auf. Dabei wurde einmal mehr deutlich, wie Menschenrechte im politischen Streit instrumentalisiert werden. Saudi Arabien gehört im Nahen Osten zu den schärfsten Antipoden des Irans und Syriens.
Dabei geht es um politische Vorherrschaft. Menschenrechte und Demokratie ist in all diesen Ländern ein Fremdwort. Mit dem US Republikaner McCain ergriff auch ein Kritiker des Kurses der gegenwärtigen US-Administration das Wort.
Proteste wurden kaum erwähnt
Kaum erwähnt wurde in den Medien, dass sich am Samstag auch wieder ca. 3000 Antimilitaristen an Protesten gegen die Sicherheitskonferenz beteiligten. Die Teilnehmerzahl für eine bundesweite Protestaktion ist natürlich sehr bescheiden, gerade wenn man sie mit den Zahlen der deutschen Friedensbewegung in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts vergleicht.
Damit bestätigte sich die Erkenntnis, dass in dem Maße, wie Deutschland kriegsfähig wurde, die Proteste geschrumpft sind. Eine Antikriegsbewegung, die über die Anklagen gegen Nato, USA und alle Schlechtigkeiten der Welt, die Spezifika der Politik Deutschland in den Mittelpunkt der Kritik stellt, gibt es erst in Ansätzen.
Die deutsche Wirtschaft drängt auf Ausweitung der unsozialen Politik auf alle EU-Mitgliedstaaten
Wenige Monate vor der Europawahl wird nicht nur in der Linkspartei heftig über die EU debattiert. Auch Wissenschaftler beteiligen sich, etwa bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die deutschen Eliten haben den Blick von Europa längst abgewandt, lautet eine Erkenntnis des Politologen Ingo Stützle, der zusammen mit dem Wirtschaftswissenschaftler Stephan Kaufmann die Veranstaltungsreihe »Das neue Europa, die deutschen Pläne und die linken Kritiker« in Berlin leitet. Die Europäische Union werde in erster Linie als Sprungbrett für den Weltmarkt verstanden, weiß Stützle an Grafiken zu belegen. Aus denen geht hervor, dass die deutschen Exporte in den EU-Raum an Bedeutung verloren, die Wirtschaftskontakte nach China oder Indien hingegen gewachsen sind.
In der EU-Politik seien die Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Kapitalfraktionen und dem Bankensektor in Deutschland gering, betonten Kaufmann und Stützle. Sie stützen sich dabei auf eine Studie des Politologen Frederic Heine und des Referenten für politische Ökonomie der Globalisierung bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Thomas Sablowski, in der sie die Haltung der deutschen Wirtschaftsverbände zur EU-Krise untersuchen.
Der Erhalt der gegenwärtigen Eurozone ist in der deutschen Wirtschaft weitgehend Konsens. Allerdings ist dort die Opposition gegen die Rettungspolitik der Europäischen Zentralbank groß. Stattdessen wird eine Kreditvergabepraxis mit stärkeren Sanktionsmöglichkeiten gegen Schuldnerländer gefordert. Eine Sonderrolle spielen die Verbände der Familienunternehmen, die sich gegen die europäische Rettungspolitik stellen und für einen dauerhaften Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone aussprechen.
Heine und Sablowski sehen die Gründe für die große Einigkeit der Wirtschaftsverbände beim Umgang mit der EU-Krise in gemeinsamen Interessen. »Die einheitliche Befürwortung radikaler Disziplinar- und Sparmaßnahmen, wie im Fiskalpakt vereinbart, verweist darauf, dass sich das deutsche Kapital international in einer Gläubigerposition befindet«, schreiben die beiden Autoren. Mit der Austeritätspolitik werde der Euro als Hartwährung in der internationalen Wirtschaftskonkurrenz verteidigt.
Trotz des weitgehenden Konsenses in Sachen Austeritätspolitik unterscheidet die Studie zwischen einer stabilitätsorientierten und einer global-expansiven Gruppierung der deutschen Wirtschaft. Letztere sei in der Mehrheit. »Die europapolitische Vision dieser Gruppierung besteht in der Erhöhung der Ausbeutungsrate der Lohnabhängigen.« Im Kern gehe es um die Ausweitung der Agenda-2010-Politik auf die gesamte Europäische Union. Grund genug für eine Linke, sich auch theoretisch intensiver mit der herrschenden EU-Politik zu befassen.
Am 4. Februar um 19 Uhr wird die Veranstaltungsreihe mit dem Thema »Die Last der Linken mit Europa« am Franz-Mehring-Platz 1 fortgesetzt. Der Eintritt ist frei.
In ihrer Regierungserklärung stellt sich Kanzlerin Merkel bedingungslos auf die Seite der ukrainischen Opposition
Die Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel wurde im Großteil der Medien als langweilig sowie ohne Ziel und Vision beschrieben. Ein solches Urteil ist nicht schwer bei einer Regierungserklärung, die die Floskel „im Zweifel für die Menschen“ in den Mittelpunkt stellt. Allerdings sollte die scheinbare Belanglosigkeit und Banalität der Erklärung nicht darüber hinwegtäuschen, dass in ihr klare politische Stellungnahmen enthalten waren, die den deutschen Machtanspruch deutlich machen.
Solidarisierung mit einer Protestbewegung ohne jegliche Einschränkungen
So hat sich Merkel ganz eindeutig hinter die ukrainische Opposition gestellt.
„Viele Menschen in der Ukraine haben seit dem EU-Gipfel zur Östlichen Partnerschaft Ende November in Vilnius in mutigen Demonstrationen gezeigt, dass sie nicht gewillt sind, sich von Europa abzukehren. Im Gegenteil: Sie setzen sich für die gleichen Werte ein, die auch uns in der Europäischen Union leiten und deshalb müssen sie Gehör finden.“
Bemerkenswert ist hier die Solidarisierung mit einer Protestbewegung ohne jegliche Einschränkungen. Dabei konnte in den letzten Tagen beobachtet werden, wie diese Demonstrationen mit teilweise großer Gewalt vorgegangen sind, Barrikaden gebaut und Regierungsgebäude angegriffen haben. In den Medien waren in den letzten Tagen Fotos von blutig geschlagenen Regierungsanhängern zu sehen, die von den Oppositionellen durch die Straßen geführt worden sind.
Doch Merkel erwähnte diese Militanz mit keinem Wort. Indem sie allgemein von den mutigen Demonstranten in der Ukraine sprach, die die europäischen Werte teilen würden, gibt sie das Signal, dass eine Differenzierung gar nicht angestrebt ist. Das ist besonders unter dem Aspekt fatal, dass die Ultranationalisten und Faschisten als organisierte Kräfte innerhalb der ukrainischen Opposition nach Ansicht verschiedener Beobachter des Geschehens in den letzten Monaten zugelegt haben („Ukraine über Alles!“).
Aufruf der Jüdischen Konföderation der Ukraine ignoriert
„Die Leute haben echte Angst, in die Synagoge zu gehen. Das hat mir auch Oberrabbiner Yaakov Bleich bestätigt“, erklärte der Präsident der Jüdischen Konföderation in der Ukraine Ayala Goldman im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Er berichtete dort über zahlreiche antisemitische Angriffe durch die oppositionellen Nationalisten. Die Jüdische Konföderation in der Ukraine hatte einen offenen Brief an die westlichen Botschaften in Kiew gerichtet, in dem auf das Anwachsen der ultrarechten Kräfte in dem Land aufmerksam gemacht wird.
Zudem werden die Vertreter der westlichen Staaten aufgefordert, sich nicht mit der ultranationalistischen Swoboda-Partei an einen Tisch zu setzen. Sie spielt in der Oppositionsbemerkung eine starke Rolle und beruft sich auf Nazikollaborateure, die mit der deutschen Wehrmacht gemeinsam Juden und Kommunisten gejagt hatte.
Deren Anführer Stefan Bandera genießt bei großen Teilen der Opposition großes Ansehen. Wenn Merkel nun den ukrainischen Oppositionellen allgemein und undifferenziert bescheinigt, „unsere Werte“ zu vertreten, muss man schon fragen, welche Werte da wohl gemeint sind.
Wenn dann in Merkels Stellungnahme nicht einmal mit einem Halbsatz eine Distanzierung von den ultrarechten Kräften eingebaut und damit auch die Angst der Angehörigen der jüdischen Gemeinde in der Ukraine ignoriert wird, kann man schon sagen, dass hier eine deutsche Regierungschefin eine in großen Teilen gewalttätige Bewegung, in der Antisemiten und Nachfolger von NS-Kollaborateuren eine wichtige Rolle spielen, unkritisch ihre Unterstützung erklärt hat. Dabei spielte das Anwachsen der ultranationalistischen Bewegungen in Osteuropa und speziell in der Ukraine und ihre Unterstützung durch deutsche Ultrarechte im deutschen Bundestag durchaus eine Rolle.
Auslandseinsätze werden nicht nur fortgesetzt sondern erweitert
Während Merkels Passagen zur Solidarität mit der ukrainischen Opposition scheinbar auch keiner der beiden Bundestags-Oppositionsparteien aufgefallen ist, gab es zu ihren Ausführungen zur Militär- und Außenpolitik zumindest ansatzweise Kritik. Der Bundesausschuss Friedensratschlag befürchtet unter der großen Koalition noch mehr Kriege unter Beteiligung der Bundeswehr. In einer Pressemitteilung zur Regierungserklärung von Merkel heißt es:
„Die Große Koalition möchte die Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht nur fortsetzen, sondern entsprechend des Koalitionsvertrags erweitern. Die Ausbildung der malischen Armee soll ausgebaut und der Einsatz in der Zentralafrikanischen Politik soll ‚gegebenenfalls‘ durch Verwundetenbehandlung neu aufgenommen werden. Wir warnen davor, dass damit ein weiterer Schritt in ein militärisches Abenteuer in der afrikanischen Wüste mit nicht absehbaren Folgen getan wird.“
Der Friedensratschlag bemängelt auch, dass Merkel zu dem Thema der steigenden deutschen Rüstungsexporte kein Wort gesagt hat. Es ist auffällig, dass in den meisten Kommentaren zur Merkel-Rede diese politischen Aspekte nicht einmal erwähnt wurden. Die beiden Oppositionsparteien Grüne und Linke machten ihren Job und kritisierten die Regierung.
Dabei echauffierte sich Gregor Gysi darüber, dass die Regierung gegenüber den USA in Bezug auf die NSA-Affäre zu unterwürfig sei. Da wollte also wieder einmal jemand in den Wettbewerb mit der Regierung treten, wer gegen die USA die deutschen Interessen selbstbewusster durchsetzt.
Über das deutsche Selbstbewusstsein, das sich beim Umgang mit der Ukraine ausdrückt, verlor Gysi dagegen kein Wort, und auch die Redner aus den Reihen der Grünen schienen nichts dagegen einzuwenden haben, wenn sich die Bundesregierung mit einer in großen Teilen ultrarechten Bewegung gemein macht.
Krise, welche Krise? Wenn man das Davoser Weltwirtschaftsforum zum Maßstab nimmt, überwiegt bei den Eliten der Wirtschaft und Politik Optimismus
„Die existenzielle Bedrohung des Euro sei abgewendet und der Prozess der Erholung habe begonnen, wird EU-Währungskommissar Olli Rehn in der FAZ zitiert. Ähnlich haben sich in den letzten Tagen beim World Economic Forum (WEF) viele der Elitenvertreter geäußert.
Für die Wirtschaftsvertreter gab und gibt es auch keine Krise. Sie können auch dank der von ihnen durchgesetzten Austeritätspolitik wieder auf kräftige Gewinne hoffen. Bundesfinanzminister Schäuble kündigte schon mal weitere Belastungen an. „Wir müssen die Probleme durch finanzielle Disziplin bei gleichzeitigen Strukturreformen lösen“, erklärte er. Als Thermometer der Weltwirtschaft bezeichnete ein Taz-Kommentator das WEF mit einen Rückblick auf die letzten fünf Jahre: „Die Stimmung beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos war deutlich besser als in den Vorjahren. 2009 und 2010 stand die akute Finanzkrise im Mittelpunkt, danach ging es um die Reparaturmaßnahmen. 2013 dann herrschte eine Stimmung von Verschnaufen und Durchatmen. Nun lautete die zentrale Botschaft: Manches liegt im Argen, aber vieles wird auch besser.“ Auch er vergisst natürlich zu erwähnen, dass hier die Stimmung der Eliten und nicht der von der Krisenpolitik Betroffenen beschrieben wird.
Vor einer Annäherung des Iran an den Westen
In den meisten Medien wurde das WEF in diesem Jahr als ereignisarm dargestellt. Lediglich die Rede des iranischen Präsidenten Rohani sorgte weltweit für größere Aufmerksamkeit. Er hat sein Land als Wirtschaftspartner für den Westen angeboten. Relevante Teile der Eliten in diesen Ländern würde das Angebot gerne annehmen.
Das WEF hat schon immer mit dabei zu beigetragen, in der Schweizer Bergwelt Kooperationen anzubahnen, die in manchen Ländern politisch noch nicht durchzusetzen sind. Vor allem in den USA wird die Frage des Umgangs mit dem Iran noch länger Gegenstand größerer innenpolitischer Debatten bleiben.
Erstmals war auch die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff Teilnehmerin des WEF. Die Protagonistin der gemäßigten lateinamerikanischen Linken wurde dort mit offenen Armen aufgenommen. Zwischen dem WEF und Brasilien gab es immer eine besondere Beziehung. Schließlich ging vom brasilianischen Porto Alegre mit dem Weltsozialforum eine Gegenbewegung zum WEF aus, die vom ehemaligen brasilianischen Präsidenten Lula protegiert wurde. Der aber reiste nach seiner Eröffnungsrede beim Weltsozialforum nach Davos und verkündete dort vor den versammelten Eliten, dass er Brücken bauen wolle.
Mit dem Niedergang der Anti-WEF-Bewegung änderte sich auch der mediale Diskurs
Seit Anfang den 1990er Jahren gab es neben den Sozialforen auch große, medial beachtete Proteste gegen das WEF. Die Schweizer Polizei reagierte darauf mit massiver Repression und wurde von Deutschland unterstützt. 2014 sind die Proteste gegen das WEF nicht ganz verschwunden, aber fast nicht mehr wahrnehmbar.
An Aufstieg und Niedergang des Widerstands gegen das WEF wird auch deutlich, wie sich dadurch Diskurse verändert wurden. Während der Hochzeit der Anti-WEF-Proteste wurde auch in einem Großteil der Medien zunehmend kritischer über das WEF berichtet. Von einem Elitentreffen mit esoterischem Einschlag war die Rede. Es wurde offen darüber diskutiert, ob für ein solches Stelldichein ein solch großer und teurer Polizeieinsatz nötig ist.
2002 fand erstmals kein WEF in Davos statt. Die offizielle Begründung lautete, es sei aus Solidarität mit den USA nach den Anschlägen vom 11. September nach New York verlegt worden. Damals wurde in vielen Medien spekuliert, ob mit dem Ortswechsel ein Abschied von Davos eingeleitet wurde. Das Szenario trat nie ein. Denn der Niedergang der Anti-WEF-Bewegung setzte damals ein. An der von den Davoser Grünen organisierten NoWEF-Rally und anderen Aktionen nahmen lediglich 30-50 Personen teil, dafür gab es ein Großaufgebot der Polizei. Die Veranstalter sprechen von 100 Teilnehmern.
Die Mini-Proteste werden höchstens noch in den lokalen Medien erwähnt. Auch die grünennahe Taz erwähnt sie nicht mehr. „Beim Weltwirtschaftsforum treffen sich die mächtigsten Konzerneliten und neuerdings auch junge Kreative, die eine bessere Welt wollen“ schreibt etwa der Taz- Wirtschaftsredakteur Hannes Koch. Dabei könnte man den Sachverhalt ganz anders beschreiben. Die globalen Eliten betätigen sich neben hier als Mäzene, die einige findige Subalterne aus dem globalen Süden in ihre Festung Davos einladen, auszeichnen und damit ihre scheinbar grenzenlose Macht demonstrieren. Dass dieses klassische Mäzenatentum dann selbst in der Taz zum Beitrag für eine bessere Welt veredelt wird, macht eines deutlich. Wenn es wahrnehmbaren Proteste gibt, gewinnen die alten Eliten ihre Hegemonie in der öffentlichen Meinung zurück und selbst die Berichterstattung in linksliberalen Medien liest sich so, als wäre sie vom WEF-Pressesprecher verfasst.
Bunker-Parties und Skaten auf den Ruinen des Realsozialismus: In der albanischen Hauptstadt Tirana entwickelt sich postsozialistisches metropolitanes Flair nach bestem Ostberliner Vorbild. Doch trotz des pulsierenden Stadtlebens träumen viele junge Albaner nur davon, ihr Land zu verlassen
Auf den ersten Blick macht das kegelförmige Gebäude den Eindruck einer Ruine, die aus irgendwelchen Gründen bisher nicht abgerissen wurde. Die Wände sind vollständig mit Graffiti besprüht. Der Putz bröckelt, die Stufen zum Eingang sind mit Moos und Gräsern überwuchert. An manchen Stellen weist die Fassade große Löcher auf. Sämtliche Fenster des Eingangstors sind zerschlagen. Kartons, Wellblech und Holzplatten können die Lücken nicht verdecken. Große Löcher geben den Blick in den riesigen, fast leergeräumten Innenraum frei. Schutt, zerschlagenes Mobiliar und eine Menge Glasscherben erinnern daran, dass dieses Gebäude bessere Zeiten gesehen hat.
Verlässt man das Universitätsviertel und die Innenstadt von Tirana, ändert sich das Straßenbild schnell. EU-Fahnen findet man dort nicht, dafür enge Straßen, in denen Handwerker an alten Maschinen sitzen. Pferdefuhrwerke fahren über die Straßen und ein junger Mann sucht am Straßenrand nach Gegenständen, die sich verwerten lassen. An einer Straßenecke haben Kinder einige Utensilien ausgepackt, die sie verkaufen wollen. Auch einige alte Taschenlampen und Batterien sind darunter. Nach Einbruch der Dunkelheit bringen sich an vielen Straßenecken Sexarbeiterinnen in Position.
Viele Menschen versuchen ihr Glück aber im europäischen Ausland. Auf Plakaten, die an verschiedenen Stellen in den albanischen Städten zu sehen sind, werden Busreisen von Tirana nach Mailand oder in andere italienische Städte angeboten. Viele Albaner versuchen, mit Jobs in Italien sich und ihre Familien über die Runden zu bringen. Mittlerweile arbeiten Hunderttausende Albaner in allen Branchen in Italien. Im Putzgewerbe sind sie ebenso zu finden wie bei der Erntehilfe, in der Pflege oder auf dem Bau. Nur wenige Arbeitsmigranten kommen in den Genuss geregelter Arbeitsverhältnisse, die meisten sind auf einige Monate befristet. Andere arbeiten ohne gültige Papiere. Ihnen droht stets Abschiebung und ihr Reiseweg ist immer noch abenteuerlich. Die Passagen mit Schlauchbooten über das Meer aber gehören heute in Albanien der Vergangenheit an. Noch vor zehn Jahren gab es von der albanischen Küste Bilder, wie wir sie heute von den nordafrikanischen Staaten kennen. Junge Albaner versuchten immer wieder, mit Schlauchbooten die italienische Küste zu erreichen, dabei kamen viele Menschen ums Leben. Die größte Tragödie ereignete sich am 9. Januar 2004, als mindestens 20 Jugendliche auf dem Weg von Nordalbanien nach Italien starben.
Neben Italien war Griechenland lange Jahre ein begehrtes Ziel für albanische Arbeitsmigranten. Doch mit der Verschärfung der Schulden- und Wirtschaftskrise gab es dort auch für viele ausländische Arbeitskräfte kein Auskommen mehr. Noch immer versuchen albanische Jobber am Hafen von Piräus und anderen Arbeitsstellen in Griechenland ihr Glück. Die Arbeitsbedingungen der albanischen Migranten sind auch im Ausland nicht ideal. Oft arbeiten sie zu wesentlich geringeren Löhne als die einheimische Bevölkerung. Der größte Teil des Lohnes geht nach Albanien und soll das Überleben der Familien sichern. Mittlerweile sind viele Albaner, die jahrelang im europäischen Ausland gearbeitet haben, wieder in ihr Herkunftsland zurückgekehrt. Besonders der Boom in der Baubranche hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen, aber auch Menschen aus ihren Wohnungen verdrängt.
Am Rande der Küstenstadt Durres reißt ein Bagger mit Abrissbirne gerade mehrere Häuser ein. Das Gelände wird von Mitarbeitern der Abrissfirma und Polizisten bewacht, die jeden Zutritt verhindern. »Hier musste ein Wohnpark einem Hotel weichen«, erklären zwei junge Männer, die am Zaun stehen. Mehrere ehemalige Bewohner, die gegen den Abriss protestierten, seien vor wenigen Tagen von der Polizei festgenommen worden, berichten sie. Selbst das albanische Fernsehen hatte in den Nachrichten über die Mieterproteste berichtet.
Für knapp drei Jahre gehörte es zu den Vorzeigeprojekten der sozialistischen Gedenk- und Erinnerungskultur. Hier wurde dem verstorbenen Gründer der Sozialistischen Republik Albanien, Enver Hoxha, nach seinen Tod ein High-Tech-Mausoleum errichtet, das bald nur noch »die Pyramide« genannt wurde. Kaum etwas an der Ruine erinnert heute noch an den futuristischen Bau, der hier einmal gestanden hat.
Ivo Shtrepi kann sich noch gut an das Gebäude mit den zahlreichen Spiegelfenstern erinnern, das nachts angestrahlt wurde. Er hat als Verwaltungsangestellter in den späten Jahren das Museum zweimal besucht. Als Rentner beobachtet er heute die Touristen, die ratlos vor der Ruine stehen und nach Informationen suchen.
Die »Pyramide« im Zentrum von Tirana barg keine Gold- und Silberschätze, sondern zahlreiche Videoprojektoren. Dort wurden in Kurzfilmen Szenen aus Hoxhas Leben nachgestellt. Besonders als Tierfreund sei er in Filmen häufig gezeigt worden, erinnert sich Shtrepi. Er kann sich an Filme erinnern, in denen der stalinistische Diktator mit Hunden zu sehen ist, in anderen habe er Schafe und Kühe gestreichelt. Daneben hingen im Museum Fotos, die Hoxha beim Händeschütteln mit zahlreichen Staatspräsidenten, vornehmlich aus dem realsozialistischen Lager, zeigen. Doch die albanische Pharaonenverehrung währte nur kurze Zeit. Der Pyramide, die 1988 mit einem großen Staatsakt eingeweiht worden war, wurden nach dem Umsturz 1991 zunächst sämtliche Mittel entzogen. In der Folge wurde das Gebäude mehrmals von der wütenden Menge gestürmt und die Inneneinrichtung zerstört. In den neunziger Jahren wurde auf Demonstrationen ihr baldiger Abriss gefordert.
Dass sie noch immer vor sich hin verrottet, hat nach Ansicht vieler hier politische Gründe. Direkt gegenüber wurde eine Kapelle errichtet. Eine Jesusfigur an ihrem Eingang weist mit der Hand auf das ehemalige Mausoleum. Eine Geste, die den Triumph der Kirche über den untergegangenen Sozialismus albanischer Prägung symbolisieren soll. Zudem wurde die Straße an der Rückseite des ehemaligen Mausoleums nach dem aus Polen stammenden Papst Johannes Paul II. benannt, dem seine Anhänger bescheinigen, zum Ende des Nominalsozialismus in Europa beigetragen zu haben. Dabei hatte der Sturz dessen albanischer Variante eine besondere Bedeutung, weil dort eine strikt antiklerikale Politik verfolgt wurde. Viele ehemalige Kirchen waren in Albanien zu Kindergärten und Krankenhäusern umfunktioniert worden. Vor dem Eingang des Mausoleums soll eine Freiheitsglocke an den Sieg über den Sozialismus albanischer Prägung erinnern. Während die meisten albanischen Passanten achtlos vorbeigehen, lassen sich Touristen oft beim Anstoßen der Glocke fotografieren.
Unter den vielen Menschen, die sich bei schönem Wetter an der Pyramide treffen, erinnern sich die wenigsten an die Zeit, als dort Enver Hoxhas gedacht wurde. Mittlerweile ist der Platz um die Mausoleumsruine zum angesagten Treffpunkt junger Menschen geworden. Denn anders als der unbelebte Platz mit dem monumentalen Skanderbeg-Denkmal, das im Zentrum Tiranas den albanischen Diktator glorifiziert, ist der Platz um die Pyramide ein Ort verschiedener Freizeitaktivitäten geworden. Skater und Sprayer haben auf den Wänden der Ruine unübersehbar ihre Spuren hinterlassen, Fassadenkletterer erproben ihre Künste an den steilen Mauern. Verblichene Poster erinnern an eine Plakatausstellung, die einige Künstler im Sommer vergangenen Jahres an den Wänden der Mausoleumsruine organisierten und die auch international beachtet wurde.
So wie die Pyramide hat ein weiteres Symbol der Hoxha-Ära eine Zweitverwertung erfahren. Es handelt sich um die berühmten Bunker, die in der sozialistischen Zeit überall in Albanien gebaut wurden. Über 750 000 dieser Schutzräume soll es Mitte der achtziger Jahre gegeben haben. In den überwiegend sehr kleinen Bunkern sollten sich Soldaten im Fall einer Invasion verschanzen. Allzuviel Schutz hätten sie nicht geboten. Während des Kosovo-Krieges, als einige Nato-Bomben irrtümlich über albanischem Territorium abgeworfen wurden, wurde auch ein Bunker getroffen und stürzte ein. Ob sozialistischer Pfusch die Ursache war, blieb allerdings unklar. Denn bereits in der frühen Nachwendezeit wurden zahlreiche Bunker zerstört, weil sich der Stahl unter dem Beton verwerten ließ. Hofften viele Menschen nach der Wende, dass über die Bunker schnell Gras wachsen würde, haben in den vergangenen Jahren junge Menschen die Unterstände als Party-Location entdeckt. Im Universitätsviertel von Tirana laden Flyer zur Bunker-Party ein. Auch die ersten Bunker-Hostels, in denen vor allem Individualtouristen während ihres Aufenthalts in Tirana sozialistischen Flair genießen können, haben mittlerweile geöffnet. Ein Bunker, der im Zentrum von Tirana nachgebaut wurde, soll dort neben einem Stück der Berliner Mauer die Befreiung vom Sozialismus symbolisieren und bietet Fototermine für Touristen. Schließlich war der Bunker ein weltweit bekanntes Symbol des Hoxha-Sozialimus.
Ein Besuch im albanischen Nationalmuseum kann tiefere Einblicke in diese Epoche liefern. In den großen Räumen des Gebäudes im Zentrum Tiranas wird nicht nur Kunst aus der Hoxha-Ära gezeigt. Auf Tafeln gibt es zu vielen Werken kurze Erklärungen in albanischer und englischer Sprache, die die Einordnung der Arbeiten erleichtern sollen. In einer Halle finden sich Bilder, die wohl Enver Hoxha, seine Frau und hohe Parteifunktionäre im Umgang mit der Bevölkerung zeigen. Solche Herrschaftsmalerei macht allerdings nur einen kleinen Teil der präsentierten Werke aus. Daneben finden sich Bilder, deren Malweise als modern, sogar als avantgardistisch bezeichnet werden kann. Auffallend häufig sind auf den Bildern Frauen in zentralen Funktionen im Betrieb, der Universität oder im Forschungslabor zu sehen. Sie sind entweder den Männern gleichgestellt oder haben sogar eine herausragende Position. In den Begleittexten wird erläutert, dass die von der Kommunistischen Partei propagierte Gleichstellung der Frau sich auch in der Kunst ausdrücken sollte.
Eine besondere Rolle spielten Frauen auch in der albanischen »Kulturrevolution«, für die ab 1967 nach dem chinesischen Vorbild gegen die »kleinbürgerliche Ideologie« mobilisiert wurde. Vor allem in ländlichen Regionen engagierten sich Frauen, unterstützt von der Kommunistischen Partei, gegen den Einfluss von Religion und Kirche. Wie sich die »Kulturrevolution« auf die Kunst auswirkte, wird im Nationalmuseum an der Geschichte einzelner Bilder erläutert. So wurden nach 1967 Kunstwerke, die nackte Frauen darstellten, aus den Museen und dem Stadtbild verbannt, weil sie nicht zum neuen Frauenbild passten. In dieser Zeit wurde gezielt versucht, die Kunst mit der Arbeitswelt in Kontakt zu bringen. So haben Arbeiterdelegationen unter Anleitung der Partei Ausstellungen besucht und es wurde über die präsentierten Werke diskutiert, oft in Anwesenheit der Künstler. In der Ausstellung sind mehrere Bilder zu sehen, die aus den Museen entfernt wurden, nachdem sie von den organisierten Arbeiterdelegationen kritisiert worden waren, weil sie angeblich nicht das reale Leben darstellten. Künstler, deren Werke häufiger Gegenstand der Kritik waren, sollten in der Produktion die Probleme der arbeitenden Bevölkerung besser kennenlernen.
Im Hof des Nationalmuseums kann man noch eine unfreiwillige Kunstaktion der besonderen Art bestaunen: drei Statuen, fast vollständig von hellen Planen verdeckt, nur ihre Füße sind zu erkennen. An den Umrissen kann man erkennen, dass es sich um die Denkmäler von Lenin, Stalin und Enver Hoxha handelt, die bis 1990 an verschiedenen Stellen in Tirana aufgestellt waren. Danach wurden sie abgebaut und sind seitdem im Hof der Nationalgalerie zwischengelagert. Dort findet der Besucher auch unverhüllte Statuten aus der realsozialistischen Ära, die geschichtliche Ereignisse wie den Kampf gegen die italienischen Faschisten darstellen. Das Interesse an der Kunst im Sozialismus und am heutigen Umgang damit kann so groß nicht sein, zumindest ist die Zahl der Museumsbesucher gering.
Will man auf junge Menschen in Tirana treffen, braucht man nur die am Nationalmuseum angrenzenden Straßen entlangzugehen. In Bloku, in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt von Tirana, wohnen viele Studenten. Überall in den vielen kleinen Cafés und Imbissstuben sitzen junge Leute mit ihren Smartphones, wie in jeder anderen europäischen Großstadt. An vielen Häuserwänden erinnern die langsam verblassenden bunten Streifen an die Ära von Edi Rama, der als Bürgermeister von Tirana etwas Farbe in das graue Häusermeer brachte. Heute ist der Sozialdemokrat albanischer Ministerpräsident und strebt eine EU-Mitgliedschaft für das Land an. Zumindest in Bloku scheint diese Forderung populär zu sein. An manchen Häuserwänden sieht man die blauen Fahnen mit den EU-Sternen. Ein EU-Infocenter nur wenige Straßen vom Hauptgebäude der Universität entfernt wird vor allem von jungen Leuten besucht, die in einem EU-Land studieren wollen. Ein Auslandsstudium ist auch deshalb so beliebt, weil es für albanische Hochschulabsolventen viel schwieriger als für andere ist, nach dem Studienabschluss im Ausland Arbeit zu finden. Das nämlich ist der Traum vieler junger Albaner. Schließlich kann das pulsierende Stadtleben von Tirana nicht über den niedrigen Lebensstandard großer Teile der Bevölkerung hinwegtäuschen.
Verlässt man das Universitätsviertel und die Innenstadt von Tirana, ändert sich das Straßenbild schnell. EU-Fahnen findet man dort nicht, dafür enge Straßen, in denen Handwerker an alten Maschinen sitzen. Pferdefuhrwerke fahren über die Straßen und ein junger Mann sucht am Straßenrand nach Gegenständen, die sich verwerten lassen. An einer Straßenecke haben Kinder einige Utensilien ausgepackt, die sie verkaufen wollen. Auch einige alte Taschenlampen und Batterien sind darunter. Nach Einbruch der Dunkelheit bringen sich an vielen Straßenecken Sexarbeiterinnen in Position.
Viele Menschen versuchen ihr Glück aber im europäischen Ausland. Auf Plakaten, die an verschiedenen Stellen in den albanischen Städten zu sehen sind, werden Busreisen von Tirana nach Mailand oder in andere italienische Städte angeboten. Viele Albaner versuchen, mit Jobs in Italien sich und ihre Familien über die Runden zu bringen. Mittlerweile arbeiten Hunderttausende Albaner in allen Branchen in Italien. Im Putzgewerbe sind sie ebenso zu finden wie bei der Erntehilfe, in der Pflege oder auf dem Bau. Nur wenige Arbeitsmigranten kommen in den Genuss geregelter Arbeitsverhältnisse, die meisten sind auf einige Monate befristet. Andere arbeiten ohne gültige Papiere. Ihnen droht stets Abschiebung und ihr Reiseweg ist immer noch abenteuerlich. Die Passagen mit Schlauchbooten über das Meer aber gehören heute in Albanien der Vergangenheit an. Noch vor zehn Jahren gab es von der albanischen Küste Bilder, wie wir sie heute von den nordafrikanischen Staaten kennen. Junge Albaner versuchten immer wieder, mit Schlauchbooten die italienische Küste zu erreichen, dabei kamen viele Menschen ums Leben. Die größte Tragödie ereignete sich am 9. Januar 2004, als mindestens 20 Jugendliche auf dem Weg von Nordalbanien nach Italien starben.
Neben Italien war Griechenland lange Jahre ein begehrtes Ziel für albanische Arbeitsmigranten. Doch mit der Verschärfung der Schulden- und Wirtschaftskrise gab es dort auch für viele ausländische Arbeitskräfte kein Auskommen mehr. Noch immer versuchen albanische Jobber am Hafen von Piräus und anderen Arbeitsstellen in Griechenland ihr Glück. Die Arbeitsbedingungen der albanischen Migranten sind auch im Ausland nicht ideal. Oft arbeiten sie zu wesentlich geringeren Löhne als die einheimische Bevölkerung. Der größte Teil des Lohnes geht nach Albanien und soll das Überleben der Familien sichern. Mittlerweile sind viele Albaner, die jahrelang im europäischen Ausland gearbeitet haben, wieder in ihr Herkunftsland zurückgekehrt. Besonders der Boom in der Baubranche hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen, aber auch Menschen aus ihren Wohnungen verdrängt.
Am Rande der Küstenstadt Durres reißt ein Bagger mit Abrissbirne gerade mehrere Häuser ein. Das Gelände wird von Mitarbeitern der Abrissfirma und Polizisten bewacht, die jeden Zutritt verhindern. »Hier musste ein Wohnpark einem Hotel weichen«, erklären zwei junge Männer, die am Zaun stehen. Mehrere ehemalige Bewohner, die gegen den Abriss protestierten, seien vor wenigen Tagen von der Polizei festgenommen worden, berichten sie. Selbst das albanische Fernsehen hatte in den Nachrichten über die Mieterproteste berichtet.
Das Dossier über Folter in Syrien dokumentiert nur, was seit Jahren bekannt war. Trotzdem sollten noch 2009 Tausende syrische Oppositionelle ausgewiesen werden
Allgemeine und geheime Wahlen seien die Lösung aus der syrischen Krise. Dieser Vorschlag kommt von einer Seite, die an der Syrienkonferenz gar nicht beteiligt ist. Der iranische Präsident Rohani äußerte sie auf dem World-Economic-Forum im schweizerischen Davos. Dass er dort hofiert, zeigt, wie sich der Einfluss des Iran auf die Weltpolitik in der letzten Zeit verändert hat. Führenden Wirtschafts- und Kapitalkreisen der verschiedenen Länder kann es nicht schnell genug gehen, mit dem Iran wieder Handel zu treiben.
Die hätten das Land auch gerne als Teilnehmer bei der Syrienkonferenz gesehen. Doch die Spannungen mit den an Saudi-Arabien orientierten Kräften erzwangen eine Ausladung in letzter Minute. Welche Position das Land dort vertreten hätte, hat nun Rohani in Davos verkündet. Dabei merkt man auch, wie man mit gefälligen Positionen Nebelwände ziehen kann.
Denn die Wahlen solle nach Rohanis Vorstellung erst dann stattfinden, wenn die Terrorgruppen zerschlagen sind. Damit aber sind im Zweifel nicht nur die islamistischen Gruppen, sondern alle Oppositionellen gemeint. Mit der Bekämpfung werden auch die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen gerechtfertigt, die kurz vor der Konferenz wieder einmal weltweit für Empörung sorgen.
Welche Alternative gibt es zu den Verhandlungen?
Ein Überläufer aus dem Polizeiapparat hat einen Rapport veröffentlicht, der systematische Folterung und Tötung von Tausenden Menschen in syrischen Gefängnissen berichtet. Sofort setzte eine Diskussion darüber ein, ob man sich mit Vertretern eines solchen Regimes überhaupt an den Verhandlungstisch setzen kann. Dabei drückte man sich gerne um die Alternative herum, die in einen militärischen Angriff auf Syrien bestehen würde. Oder wie soll sonst die Unterstellung der syrischen Gefängnisse unter internationale Aufsicht bewerkstelligt werden, die der Taz-Kommentator Dominic Johnson in seinen Kommentar forderte?
Wenn er dort schreibt: „Das Verbrecherregime in Damaskus hat nicht erst durch seine Kriegstaktik der verbrannten Erde und der systematischen Vernichtung oppositioneller Bevölkerungsteile seine Legitimität verspielt, sondern schon vorher durch seinen brutalen Umgang mit jeder inneren Infragestellung. 2013 führten Chemiewaffenangriffe bei Damaskus dazu, dass Syriens Chemiewaffenarsenale unter internationale Aufsicht gestellt und zwecks Vernichtung ins Ausland gebracht werden“, unterschlägt er souverän, dass über die Urheber des Giftgaseinsatzes keine Klarheit besteht.
Die US-Forscher Richard Lloyd, ein früherer UN-Waffeninspekteur, und Theodore Postol, ein Professor am Massachusetts Institute of Technology kamen in einer in der letzten Woche veröffentlichten Studie zu dem Schluss, dass sie eher vom Rebellengebiet aus als von dem unter Regierungskontrolle stehenden Areal abgefeuert wurden. Damit ist nun keineswegs geklärt, wer für den Giftgaseinsatz verantwortlich ist. Allerdings wird deutlich, wie schwierig eine Klärung ist.
War Folterdossier Störung des Friedensprozesses?
Auch das Folterdossier wurde von „antiimperialistischen Medien“ umgehend als Störfeuer gegen den Friedensprozess bezeichnet. Dabei hat auch die Taz, die das Dossier zum Anlass für eine umfangreiche Berichterstattung nahm, die Zweifel nicht verschwiegen, die vor alle mit dem Datum der Veröffentlichung unmittelbar vor Beginn der Syrien-Konferenz zusammenhängt.
„Es ist gewiss kein Zufall, dass der Bericht über die systematische Tötung syrischer Gefangener am Dienstag bekannt geworden ist: Am Mittwoch beginnt im schweizerischen Montreux die UNO-Syrienkonferenz. Alle Protagonisten und ihre Unterstützer haben ein vehementes Interesse daran, den Gegner in ein möglichst schlechtes Licht zu setzen. Der Report über die Gefangenenmorde wurde von einer bekannten Londoner Kanzlei als Rechtsgutachten im Auftrag des Emirats Katar erstellt. Katar unterstützt syrische Rebellen. Es handelt sich also um einen interessengeleiteten Auftrag, und die Informationen wurden mit Bedacht zunächst dem US-Sender CNN und dem britischen Guardian zugeleitet,“ heißt es in der Anmerkung unter der Überschrift „Folter und Verantwortung für die Medien“. Doch auch die Schlussfolgerung, die der Autor zog, ist logisch:
„Ist der Report also in Wirklichkeit Propaganda? Der Tag der Veröffentlichung und der Auftraggeber der Studie könnten darauf schließen lassen. Jedoch: Nur weil der Zeitpunkt der Veröffentlichung im Interesse einer der Konfliktparteien liegt, muss die darin enthaltene Information nicht falsch sein.“
Diese Erklärung überzeugt. Nur weil Informationen zu strategisch und taktisch günstigen Terminen veröffentlicht werden, müssen sie nicht falsch sein.
Islamisten wurden nach Syrien zum Foltern überstellt
Zumal niemand dieses Dossier brauchte, um über die Folterpraktiken des syrischen Regimes zu wissen. Menschenrechtsorganisationen stießen in der deutschen Politik und Öffentlichkeit jahrelang auf Desinteresse, als sie über die Folterpraktiken und die ständigen Menschenrechtsverletzungen des syrischen Regimes informierten.
Im Jahr 2009 versuchten sich syrische Oppositionelle in Berlin verzweifelt gegen ihre Abschiebung nach Syrien zu wehren. Darunter befand sich der syrisch-kurdische Schriftsteller Abdellhamid Osman.
Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen befand er sich seit dem 24. Februar 2009 mehrere Wochen in einem Hungerstreik und campierte in Protestzelten gegenüber dem Bundesinnenministerium. Sie wurden von den Ordnungsbehörden schikaniert, durften sich nicht einmal mit Regenschirmen gegen das feuchte Winterwetter schützen. Auch die Medienöffentlichkeit ignorierte das Anliegen der Protestierenden zum größten Teil. Sie machten darauf aufmerksam, dass Anfang 2009 über 50.000 Ausweisungs- oder Abschiebungsforderungen gegen in Deutschland lebende syrische Staatsbürger ergangen ist.
Die Öffentlichkeit interessierte kaum, dass ihnen genau diese Folter drohte, die nun für große Empörung sorgt. Wahrscheinlich hat die Eskalation in Syrien die meisten der Flüchtlinge vor diesem Schicksal bewahrt. Eine wahrnehmbare zivilgesellschaftliche Bewegung für ihre Anliegen aber gab es nicht. 2009 galt schließlich Syrien als heimlicher Verbündeter.
In das Land wurden schon mal gefangene Islamisten wie Mohammed Zammar überstellt, wenn es galt, von ihnen Aussagen zu erfoltern. Schließlich konnten sich die syrischen Ermittler einiges leisten, das in anderen Staaten nicht möglich gewesen wäre. Genau diese Fakten sorgen nun für die Empörung, wenn sie auf Fotos dokumentiert werden.
Vielleicht soll die rituelle Empörung von der Frage ablenken, was denn Deutschland davon wusste, als man Flüchtlinge, die in dem Land Schutz suchten, zur Ausreise aufforderte. Wenn man nun auch nicht mehr mit dem Folterstaat Syrien paktieren will, sollte das nicht als Hinwendung zu einer menschenrechtlichen Position missverstanden werden. Schließlich sind die Beziehungen zu Saudi-Arabien, das in Sachen Folter und Verfolgung von Oppositionellen Syrien noch einiges voraus hat, weiterhin hervorragend. Von dort werden auch einige der Islamisten unterstützt, die in Syrien auf Seiten der Opposition für Verfolgung und Terror sorgen.
Weder Assad noch Islamisten
Derweil befindet sich die zivilgesellschaftliche Opposition, die weder den Terror des Assad-Regimes noch der oppositionellen Islamisten erdulden will, in einen Zweifrontenkrieg. Die Initiative hat einen Blog eingerichtet, in dem Stimmen dieser Zivilgesellschaft zu Wort kommen.
Neben den dort vertretenen oppositionellen Gruppen und Einzelpersonen, gibt es noch eine weitere moderate Opposition zum syrischen Regime, die sich ebenfalls auf der Genfer Konferenz nicht vertreten fühlt. Dazu gehören auch syrische Frauengruppen. Ihre Forderungen nach einer angemessenen Beteiligung von Frauen an der Konferenz werden auch von deutschen Frauengruppen unterstützt.
In den deutschen Medien wird viel Verständnis für rechte ukrainische Organisationen gezeigt, selbst wenn sie äußert gewalttätig auftreten
Es ist erst ein paar Wochen her, da war in Deutschlands Medienlandschaft die Aufregung groß: Weil eine Demonstration der außerparlamentarischen Linken unfriedlich endete, sah man schon die Demokratie in Gefahr. Von Chaoten und Straftätern war die Rede, die kein Recht haben, sich auf das Demonstrationsrecht zu berufen.
Wenn dann gar einige parlamentarische Linke und Liberale fragten, ob denn die Polizei mit ihrem wenig deeskalierenden Verhalten nicht auch eine Mitverantwortung an der Gewalt trage, gerieten diese schnell in Verdacht, womöglich Sympathisanten der Gewalttäter zu sein. Vor einigen Tagen nun flimmerten Bilder über Straßenschlachten in Kiew über die Bildschirme, gegen welche die Hamburger Auseinandersetzungen kleine Scharmützel waren. All das, was manche Politiker und Boulevardmedien in die Hamburger Ereignisse hineininterpretierten, in Kiew konnte man es sehen.
Die Bilder zeigen, dass es nicht übertrieben ist, von bürgerkriegsähnlichen Zuständen zu reden. Demonstranten waren am Sonntag mit Holzknüppeln, Brandsätzen und Feuerwerkskörpern gegen die Miliz vorgegangen. Sie warfen auch mit Steinen. Zahlreiche Einsatzfahrzeuge der Sicherheitskräfte gerieten in Brand.
„Regierung holt Schläger nach Kiew“
Doch viele der Medien, die nach dem unfriedlichen Ende einer Demo in Hamburg eine harte Reaktion des Staates forderten, zeigten sich im Fall Ukraine sehr viel verständiger für den als gemäßigt konservativ geltenden Oppositionspolitiker Klitschko, dem gute Beziehungen zur CDU/CSU nachgesagt werden. Er machte im Wesentlichen die ukrainische Regierung für die Auseinandersetzung verantwortlich.
Klitschko beschuldigte die Regierung, Schläger nach Kiew mit der Anweisung zu randalieren gebracht zu haben; er lieferte allerdings dafür keinerlei Belege. Dafür haben Regierungsmitglieder zumindest in der Öffentlichkeit eher auf Deeskalation gesetzt und versucht, mit Teilen der Opposition ins Gespräch zu kommen. Die Taktik scheint aufzugehen.
Am gestrigen Dienstag blieb die Lage in Kiew gespannt, aber ruhig. Doch Klitschko beschuldigte die Regierung nicht nur, die Auseinandersetzungen angezettelt zu haben. Er warf ihr auch vor, durch ihre Politik eine Situation erzeugt zu haben, in der sich junge Ukrainer zur Gewalt provoziert gefühlt hätten – eine Distanzierung sieht anders aus.
Toleranz für militante Nationalisten
In deutschen Medien wird selten auf den politischen Kontext aufmerksam gemacht, in dem die Randalierer von Kiew stehen. Bei den jungen Männern, „die sich zur Gewalt provoziert fühlen“, handelt es sich überwiegend um Angehörige der extremen ukrainischen Rechten. Manche bewegen sich im Umfeld der Swoboda-Bewegung, die sich offen in die Tradition der NS-Kollaborateure und Antisemiten stellen, die sich gemeinsam mit der deutschen Wehrmacht am Überfall auf die Sowjetunion beteiligten.
Mittlerweile wird die Swoboda-Bewegung auch als Teil einer neuen, extrem rechten Fraktion für das EU-Parlament umworben. Gespräche mit den belgischen Vlaams Belang und dem Front National hat es schon gegeben. Dabei muss die Partei ihre Propaganda etwas vom allzu offenen Nazismus reinigen. Das geht manchen Rechten zu weit; sie organisieren sich in Konkurrenz zu Swoboda in offenen Neonazigruppen.
Sie sind in den letzten Wochen öffentlich in Erscheinung getreten, in dem sie Lenin-Statuen umgestürzt oder Linke und Gewerkschaftler bei Demonstrationen angegriffen haben. So wurde der Gewerkschaftler Denis Lewin beim Verteilen von Flugblättern im Dezember in Kiew von Rechten attackiert.
Lange Zeit wurde in der deutschen Öffentlichkeit die massive rechte Präsenz in der ukrainischen Oppositionsbewegung weitgehend ignoriert. Als sich in den letzten Wochen deutsche Politiker wie der vormalige Bundesaußenminister Westerwelle in Kiew medienwirksam mit der ukrainischen Opposition solidarisierten, wurde nicht erwähnt, dass mindestens ein Drittel der extremen Rechten angehört, die natürlich auf die altbewährte deutsch-ukrainische Zusammenarbeit anstoßen können (Hass auf Moskauer, Juden und „andere Unreine“).
Die Kritik an dem geplanten Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU wächst
Nachdem bereits die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di eine Argumentationshilfeerstellt hat, in der allerdings die Arbeitnehmerrechte eher am Rande vorkamen, wurde nun ein Aufruf gestartet, der die TTIP aus Arbeitnehmersicht kritisiert.
Zudem wird in dem Aufruf auf die transatlantischen Sonderzonen in 25 US-Staaten verwiesen, in denen Right- to-Work-Gesetze gelten, die Gewerkschafts- und Arbeiterrechte einschränken. Europäische Unternehmen lagern seit zwei Jahrzehnten häufig Produktionsstätten in diese Right-to-Work-States aus, um von der Tarif- und Gewerkschaftsfreiheit zu profitieren. Wer jetzt meint, der Aufruf bediene die virulenten Anti-USA-Reflexe, um sich die EU dafür umso schöner zu malen, täuscht sich. Denn im Aufruf wird auch sehr klar vor allem die Krisenpolitik der EU kritisiert. So heißt es in dem oben genannten Aufruf, unterzeichnet von Gewerkschaftern, Fachjuristen, Politikern und Sozialwissenschaftlern:
„Die Staaten der EU haben zwar die meisten Normen der ILO ratifiziert, halten sich aber in abnehmendem Maße daran. Bei den ‚Rettungsmaßnahmen‘ der EU für Griechenland, Spanien, Italien und Portugal setzt die EU zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) Menschenrechtsnormen außer Kraft, etwa wenn Tarifverträge aufgelöst, Lohnsenkungen verordnet und Streiks erschwert werden.
Nach unserer Einschätzung sind es auf beiden Seiten des Atlantiks genau diese Staaten mit verschärften Arbeitsbedingungen und schwacher Verhandlungsposition der Arbeitnehmerschaft, die für Produktionsverlagerungen interessant sind.“
Dass es in den USA mit den Arbeiterrechten schlechter bestellt ist, liegt einmal an der traditionellen Schwäche der Gewerkschaften, von einigen Ausnahmen abgesehen, und an der Dominanz einer Ideologie, die jeden Organisationsversuch als Anschlag auf einen Freiheitsbegriff versteht, der die totale Individualisierung abfeiert und damit die Grundlagen für fast schrankenlose Ausbeutung legt.
Es gab und gibt in den USA immer wieder beachtliche Anstrengungen, sich gegen die Anhänger dieses Freiheitsbegriffs zu wehren. Vor zwei Jahren hat eine wochenlange Mobilisierung im US-Bundesstaat Wisconsin weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt. Hier haben Gewerkschaften, soziale Bewegungen und durch die Occupy-Bewegung politisierte Aktivisten für einige Wochen gemeinsam agiert. Letztlich hat sich der durch die Teaparty-Bewegung unterstützte Gouverneur mit Hilfe von Gewalt, Manipulation und Demagogie durchgesetzt.
Wer nun die Arbeitsgesetze in den USA angreift, unterstützt damit auch in den USA die Menschen, die sich gegen die Einschränkung ihrer Rechte wehren. Auch in Europa ist es in den vergangenen Jahren immer schwierig gewesen, erkämpfte Gewerkschafts- und Arbeiterrechte zu erhalten. Die Krise ist stets ein probates Mittel, um sie zu streichen.
Daher wird der Aufruf auch nur dazu dienen können, eine öffentliche Debatte zu führen. Sollten die Forderungen eine Chance haben, umgesetzt zu werden, müsste sich schon eine Massenbewegung etablieren. Letztlich dienen die Freiheithandelsabkommen nur dazu, die Konzerne noch einflussreicher zu machen.
RWE – oder die Macht der Konzerne
Wenn die Konzerne wegen entgangener Gewinne klagen können, wenn eine Regierung die Umweltbestimmungen, den Arbeits- oder Gesundheitsschutz zu ernst nimmt, wird eigentlich sehr deutlich, welche Interessen hier bedient werden. Dazu braucht es nicht unbedingt ein Freihandelsabkommen.
Schon heute sind die Bestimmungen konzernfreundlich. Das zeigte eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig, die dem RWE-Konzern eine Entschädigung in dreistelliger Millionenhöhe zusprach, weil die hessische Landesregierung nach der Atomkatastrophe von Fukushima die Reaktorblöcke des AKW Biblis abschalten ließ.
Dadurch war dem Konzern eine Gewinneinbuße entstanden. Damit wurde noch einmal deutlich, dass weder ein Mehrheitswille, den es bei der AKW-Abschaltung gab, noch die Sicherung der Gesundheit der Bevölkerung zählt, wenn der Gewinn eines Unternehmens eingeschränkt werden könnte. Dabei gehört RWE zu den Konzernen, die hohe Gewinne auch mit der Atomkraft gemacht haben und die Folgekosten für Transport, Lagerung etc. gerne der Gesellschaft überlassen. Und es sind Gesetze, die dieses Verhalten für rechtmäßig erklären.
Mit einer moderaten EU-Kritik wollen die Reformer die Regierungsfähigkeit der Linkspartei vorbereiten
Die Linke zog auf ihrer ersten Pressekonferenz im neuen Jahr eine positive Bilanz. Schließlich ist sie trotz Stimmenverluste noch vor den Grünen drittstärkste Partei geworden und beansprucht die Oppositionsführung für sich. Davon wollen die Grünen natürlich nichts wissen. Auch die Wahlen der nächsten Monate machen der Linkspartei zumindest offiziell keine Sorge. Man macht sich sogar Hoffnung, mit Bodo Ramelow in Thüringen den ersten Ministerpräsidenten stellen zu können.
Dabei dürften allen Politikern der Linken die Konsequenzen sehr bewusst sein. Eine Partei, die einen Ministerpräsidenten stellt, wird Teil des parlamentarischen Spiels und wird eher früher als später ihren linken Flügel abstoßen. Denn grundsätzliche Kritiker von Staat und Nation können wohl kaum in einer Partei mit Machtpolitikern koexistieren, die sich auf den Posten des Ministerpräsidenten bewerben.
Doch die Frage, ob grundsätzliche Opposition oder das Aufrücken in den Kreis der Regierungsparteien die Perspektive der Linkspartei sein soll, bestimmt auch die Auseinandersetzung zu den Europawahlen. Hier zeichnet sich ein tiefgreifender Richtungsstreit ab, der wahrscheinlich weiterhin durch Formelkompromisse zugekleistert wird.
EU eine „neoliberale, militaristische und weithin undemokratischen Macht“
Die aktuelle Diskussion entzündet sich einem Satz in der Einleitung des Leitantrags zum Programm der Linkspartei zur Europawahl:
„Spätestens seit dem Vertrag von Maastricht wurde die EU zu einer neoliberalen, militaristischen und weithin undemokratischen Macht, die nach 2008 eine der größten Krisen der letzten 100 Jahre mit verursachte.“
Nachdem der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi sich von diesen Satz distanzierte, diskutiert die Linke nicht nur über ihre Europaperspektive. Dabei geht es auch darum, ob sie eine grundsätzliche Oppositionskraft bleiben will oder sich als Teil der Regierungsparteien versteht. Der Flügel, der auf das Mitregieren setzt, will mit einer moderaten EU-Kritik die Chancen dafür verbessern.
Denn es ist natürlich klar, dass eine mögliche Regierungspartei in spe sich keine Unklarheiten bei der Positionierung zur EU leisten kann. Das machte der Taz-Kommentator Stefan Reinecke deutlich, der sich schon lange darum bemüht, die Linkspartei auf den Pfad von SPD und Grünen zu bringen:
„Wenn die Linkspartei nicht mal bei der Haltung zur EU kristallklar für eine aktive Reformpolitik Position beziehen kann – wo soll sie es dann können?“
Nicht nur für ihn ist klar, dass über ein positives EU-Bekenntnis die Chancen für die Linke wachsen, in einigen Jahren auch auf Regierungsbänken sitzen zu können.
Wann ist EU-Kritik nationalistisch?
Natürlich werden diese Zusammenhänge oft nicht offen ausgesprochen. Dafür wird darüber diskutiert, ob eine grundsätzliche EU-Politik nationalistisch sei. Mit dieser Begründung verzichtete der Europaabgeordnete der Linken Jürgen Klute auf eine erneute Kandidatur. Diese Begründung fiel ihm erst ein, als er bei der Kandidatenaufstellung keinen sicheren Listenplatz für das Europaparlament begonnen hatte. Der Vorwurf des Nationalismus dürfte der Linken vor der Europawahl noch öfter entgegenschallen.
Tatsächlich muss die Linke auch in ihrer Argumentation deutlich machen, dass ihre Europakritik sich diametral von der Alternative für Deutschland und andren rechten Eurokritikern unterscheidet. Die Gelegenheit hat sie, wenn sie in der Diskussion um die europäische Zuwanderung die Position der Zuwanderer einnimmt.
Nicht eine positive Haltung zu den EU-Institutionen, sondern zu den Menschen, die innerhalb und außerhalb Europas für ihre unmittelbaren Rechte kämpfen, entscheidet, ob es sich um eine rechte oder linke EU-Kritik gehandelt hat. Wer die Abschottung der europäischen Grenzen verteidigt, mag proeuropäisch sein, stellt sich aber klar gegen die Geflüchteten, die an verschiedenen Grenzen Europas ihr Glück versuchen.
Wer hingegen dieses Grenzregime kritisiert, mag gegen die EU-Institutionen agieren, handelt damit aber im besten Sinne internationalistisch und steht damit in der Tradition einer heute beinahe vergessenen EU-Kritik, wie sie Ende der 1990er Jahre in der außerparlamentarischen Linken formuliert wurde.
Der Streit um die Auslieferung von Josip Perkovic macht deutlich, dass es in der EU Staaten gibt, die bestimmen und andere, die zu folgen haben
Ein mysteriöser Todesfall in einer bayerischen Garage vor über 30 Jahren sorgt zwischen der EU und deren Neumitglied Kroatien seit einigen Wochen für Auseinandersetzungen. Denn Stjepan Djurekovic, so hieß der Tote, gehörte zu der regen jugoslawischen Exilopposition in Bayern. Ihre Wurzeln reichen zurück bis in die Zeit des NS-Regimes.
Zahlreiche kroatische Kollaborateure des NS fanden in Bayern Exil und wurden in Zeiten des Kalten Krieges gehätschelt. Der Balkan-Korrespondent Norbert Mappes-Niedick beschreibt die Rolle des Toten in der Garage so:
„Das Opfer, Stjepan Djurekovic, war ein INA-Direktor, der sich nach Bayern abgesetzt hatte. Der Konzern mit seinen Ölfeldern war die wichtigste Devisenquelle Jugoslawiens – und eine Brutstätte der Korruption. Djurekovic sollte gegen einstige Kollegen aussagen. Doch bevor es dazu kam, starb Djurekovic. Sieben Pistolenkugeln trafen ihn, dann schlugen ihm die Täter den Schädel ein. 25 Jahre später verurteilte das Oberlandesgericht München den jugoslawischen Spion, der Djurekovics Aufenthaltsort verraten hatte, zu lebenslanger Haft….. Zudem sei Djurekovic nicht aus wirtschaftlichen Motiven ermordet worden, sondern weil er dem liberalen Chef der Organisation politischer Emigranten aus Kroatien von rechts Konkurrenz machen wollte.“
Seine Mörder wurden daher schnell in jugoslawischen Geheimdienstkreisen vermutet. Schließlich unterhielt Jugoslawien eine „Abteilung zur Bekämpfung der feindlichen Emigration“. Deren Chef Josip Perkovic stand schon lange auf den Fahndungslisten der deutschen Justiz. Daher hat sie gleich, nachdem die Republik Kroatien EU-Mitglied geworden ist, einen Auslieferungsantrag gestellt und sich auf entsprechende europäische Verträge berufen.
Druck von EU und Deutschland auf Kroatien
Seitdem sorgt der Fall für Verstimmung zwischen Deutschland und Kroatien. Im letzten Sommer verzichtete Kanzlerin Merkel sogar auf einen Besuch bei der Feier zum kroatischen EU-Beitritt. Denn das Land hatte ein Gesetz erlassen, nachdem der europäische Haftbefehl nicht rückwirkend gelten sollte. Dann wäre auch Perkovic vor der deutschen Justiz sicher gewesen. Doch damit hatte Kroatien die Rechnung ohne die EU gemacht, die einen solchen Druck auf Kroatien ausübte, dass Kroatien nun doch Perkovics Auslieferung vorbereitet.
Das Vorgehen macht einmal mehr deutlich, welch großen Einfluss Deutschland in der EU hat und wie rücksichtslos es seine Interessen verfolgt. Dabei gehört Kroatien eigentlich zu den traditionell deutschfreundlichen Ländern in Ex-Jugoslawien. Schließlich war Deutschland auch unter den ersten Ländern, die Kroatien anerkannten und damit den Zerfall Jugoslawiens beschleunigten.
Doch im Fall Perkovic, der in der unabhängigen kroatischen Republik weiter im Amt geblieben ist, nahmen sogar die traditionell deutsch-kroatischen Beziehungen Schaden. Dabei war das kroatische Ansinnen, die Auslieferung auf die Zeit der EU-Mitgliedschaft zu begrenzen, sowohl politisch als auch juristisch durchaus nachzuvollziehen. Deutschland verbietet per Verfassung die Auslieferung.
Dass ausgerechnet Deutschland Druck auf Kroatien ausübt, um den exjugoslawischen Geheimdienstler auszuliefern, enthält eine pikante Note, weil es per Verfassung selbst jede Auslieferung der eigenen Staatsbürger ausschließt. Von dieser Regelung profitieren selbst NS-Sympathisanten aus den Nachbarländern, die im Nationalsozialismus zu deutschen Staatsbürgern erklärt wurden.
So verweigerte Deutschland die Auslieferung des niederländischen SS-Mannes Siert Bruins, der in Holland als „Bestie von Appingedam“ bekannt ist. Ihm wurden Morde an Juden und Widerstandskämpfern angelastet. Weil Bruins 1943 deutscher Staatsbürger wurde, konnte er nicht an sein Heimatland ausgeliefert werden.
Einer der letzten Kriegsverbrecherprozesse gegen ihn ist kürzlich ohne Urteil eingestellt worden. Wegen des großen zeitlichen Abstands konnte ihm die Verantwortung für den Mord an einem Widerstandskämpfer nicht mehr zweifelsfrei nachgewiesen werden, lautete die Begründung.
Die Verantwortung der deutschen Justiz für die Verzögerung wurde nicht thematisiert. Die unterschiedliche Gewichtung der Fälle Bruins und Perkovic zeigen an, welche Macht Deutschland in Europa hat. Schließlich ist nicht bekannt, dass es im EU-Raum einen großen Druck auf Deutschland gibt, seine Staatsbürger ebenfalls innerhalb der EU auszuliefern.
Eine solche Forderung wäre nur konsequent gegenüber einem Land, das mit massiven Druck auf Kroatien eine Auslieferung durchsetzen will. Kroatien wurde innerhalb der EU stark kritisiert, weil es keine rückwirkenden Auslieferungen zulassen wollte. Deutschland hingegen schließt jede Auslieferung aus. Dass zeigt, wie die Machtverhältnisse im EU-Raum sind.
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat eine Argumentationshilfe gegen das EU-USA-Freihandelsabkommen erarbeitet
Der Widerstand gegen das geplante EU-Freihandelsabkommen mit den USA wächst. Nachdem sich in den vergangenen Monaten 25 deutsche Nichtregierungsorganisationen, darunter ATTAC, BUND und der Deutsche Naturschutzring zu einem Bündnis gegen das TTIP zusammenschlossen, kritisiert jetzt auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di dieses Abkommen scharf.
In der 15seitigen Stellungnahme, die als Argumentationshilfe für die Gewerkschaftsmitglieder dient, wird das TTIP als „Angriff auf Löhne, Soziales und Umwelt“ bewertet.
Die Illusion vom freien Welthandel
Der Glaube, durch den freien Welthandel Wachstum und Wohlstand für alle Menschen zu fördern, sei so alt wie der Kapitalismus, heißt es im ersten Kapitel, das sich mit der Ideologie des freien Handels beschäftigt. In einem weiteren Kapitel wird noch einmal auf die großen Versprechungen des Freihandels eingegangen. So würden prognostizierte Wachstumserhöhungen zu einem großen gigantischen Konjunkturprogramm hochgejubelt, das mit der Hoffnung auf neue Arbeitsplätze verbunden ist.
Solche Illusionen werden durchaus auch von Gewerkschaftsmitgliedern geteilt. Mittlerweile werden sie von Kritikern des Abkommens fachgerecht zerlegt. Jens Berger hat auf den Nachdenkseiten einer Studie der Bertelsmann-Stiftung, die das hohe Lied vom Jobwunder durch das TTIP angestimmt hatte, zahlreiche methodische Mängel nachgewiesen.
Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hatte auf jede kritische Aussage zu der Studie verzichtet und ihre Kernaussage zum Titel gemacht. In Zeiten, wo auch in vielen Gewerkschaften noch immer die Devise „Hauptsache Arbeit“ lautet, ist es schon bemerkenswert, dass ver.di dagegen hält.
„Wie Nomaden auf der Suche nach Arbeitsplätzen und Einkommen“
Es bestehe die Gefahr, dass die Beschäftigten „zu Nomaden immer auf der Suche nach Arbeitsplätzen und Einkommen“ werden, erklärten die Gewerkschafter. Während der vor zwei Jahren verstorbene Chansonnier und Schriftsteller Franz Josef Degenhardt vor mehren Jahrzehnten in seinem Song „Umdenken Mister“ noch textete: „Für eine gute ARBEIT zieht er meilenweit“, hat die Realität diese Dystrophie längst überholt. Heute müssen Millionen Menschen für miese Jobs durch die Kontinente ziehen.
Ver.di benennt auch die Profiteure des Freihandelsabkommens: „Die wirtschaftlich Mächtigeren ziehen in der Regel den größten Vorteil aus einem weitgehend einregulierten Handel. Deshalb unterstützen auch vor allem große Unternehmen und ihre Verbände den Abbau sogenannter Handelsschranken.“
Erstaunlicherweise geht das ver.di-Papier auf ein urgewerkschaftliches Thema, die drohende Unterminierung der Arbeiterrechte durch das TTIP, nur kurz ein. Immerhin wird in dem ver.di-Papier auf die in vielen Bereichen völlig unterschiedlichen Regulierungsinstrumente in der EU und den USA eingegangen. Beispielsweise wurden von den USA bisher nur zwei der acht wichtigsten Arbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) unterzeichnet. Deshalb sei die Vereinigungsfreiheit massiv eingeschränkt. Als aktuelles Beispiel wird der Konzern T-Mobile USA genannt, der gewerkschaftliche Interessenvertretung verhindern will.
Kommt noch die Stunde der Zivilgesellschaft?
Kritisiert wird von ver.di auch, dass die TTIP-Verhandlungen in enger Kooperation mit Wirtschaftslobbyisten abgeschottet von der Öffentlichkeit stattfinden. Die Zielsetzung zeige sich schon an den Teilnehmern der Verhandlungen.
Die Kritik, derzufolge die Gewerkschaften bei diesen Runden nicht ebenfalls vertreten sind, lässt natürlich den Verdacht aufkommen, dass die Kritik an dem Abkommen wesentlich moderater gewesen wäre, wenn ver.di hätte teilnehmen können. Das Beispiel zeigt einmal mehr, dass Organisatoren wie das WEF u. ä. in ihre eigene Zukunft investieren, wenn sie einer Phalanx leicht kritischer Nichtregierungsorganisationen die Chance geben, sich bei ihrem Treffen zu artikulieren.
Es kann durchaus sein, dass auch bei den TTIP-Vorbereitungen noch die Stunde der Zivilgesellschaft schlägt, wenn der gesellschaftliche Gegenwind zu groß wird. Dann würde das Abkommen nicht grundlegend anders sein, doch es würde anders verpackt.
Es gibt allerdings noch ein mögliches anderes Szenario: Dass sich die Situation von Ende der 1990er Jahre wiederholt. Damals wurde das Multilaterale Investitionsabkommen durch einen weltweiten Widerstand verhindert. Er stand am Beginn des kurzen Zyklus der globalisierungskritischen Proteste.
Der Rechtswissenschaftler Fischer-Lescano kritisiert, dass die von Deutschland vorangetriebene Austeritätspolitik dem europäischen Rechtssystem zuwiderlaufe. Die Fokussierung auf den Rechtsweg könnte allerdings zu Illusionen führen
Der Rechtswissenschaftler Andreas Fischer-Lescano hat vor drei Jahren für innenpolitische Furore gesorgt, weil er das Plagiatsverfahren gegen den damaligen Verteidigungsminister Guttenberg ins Rollen brachte. Sein aktuelles Projekt würde, wäre es erfolgreich, sogar für Wirbel in ganz Europa sorgen.
In einem Gutachten, das der zur Zeit am Zentrum für Europäische Rechtspolitik lehrende Fischer-Lescano für den Europäischen Gewerkschaftsbund und die österreichische Arbeitskammer erstellt, kommt er zu dem Fazit, dass die wesentlich von Deutschland vorangetriebene Austeritätspolitik dem europäischen Rechtssystem zuwiderläuft. Da das Thema natürlich von allgemeinen Interesse ist, hat der Wissenschaftler eine Zusammenfassung seiner Thesen ins Netz gestellt. Das Fazit des 68-seitigen juristischen Gutachtens fasst Fischer-Lescano so zusammen:
1. Auch in der Finanzkrise sind die europäischen Organe und Institutionen zur Beachtung des Unionsrechts verpflichtet. Es gibt keinen Ausnahmezustand, der das Unionsrecht suspendiert. Die europäischen Institutionen müssen in ihrem institutionellen Eigeninteresse die existenziellen sozialen Fragen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger ernst nehmen.
2. Die Europäische Kommission und die EZB sind an Grundrechte gebunden. Das bezieht sich auf die Grundrechtscharta, aber auch auf völkervertragliche Menschenrechtskodifikationen und Völkergewohnheitsrecht.
3. Durch ihre Beteiligung am Abschluss der Memoranda of Unterstanding beeinträchtigen EZB und Europäische Kommission zahlreiche der nach diesen Normen geschützten Rechte.
4. Durch ihre Beteiligung an der Aushandlung, dem Abschluss und der Durchsetzung der Memoranda of Unterstanding verletzen die Unionsorgane das Primärrecht. Sie handeln rechtswidrig.
5. Die Verletzung der genannten Menschenrechte kann zum einen vor europäischen Gerichten und Ausschüssen geltend gemacht werden. Aber auch Verfahren auf internationaler Ebene stehen zur Verfügung.
Zurück auf den Boden des Rechts?
In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau konstatiert Fischer-Lescano die bekannten Folgen der Austeritätspolitik:
„Die Tarifautonomien werden ausgehöhlt, Mindestlöhne gesenkt, Gesundheitskosten auf Patienten abgewälzt. Ähnliches gilt für den Bereich Bildung. Die Folgen dieser Politik sind von der Internationalen Arbeitsorganisation bis zum Europäischen Sozialausschuss, der die Einhaltung der Europäischen Sozialcharta überwacht, als menschenrechtswidrig kritisiert worden, weil sie gerade die besonders verletzbaren Gruppen – Kinder, Frauen, Migrantinnen und Migranten, Behinderte – benachteiligt; aber auch weil sie zu einer Verarmung geführt haben, die ganze Generationen in die Hoffnungslosigkeit treibt.“
Nun will der Rechtswissenschaftler „die Sparpolitik juristisch diskutieren“. Diesen vagen Begriff hat der Jurist sicher bewusst gewählt. Zumindest in der FR wollte er den populistischen Eindruck vermeiden, dass man die Troika-Politik wegklagen kann.
„Wenn einzelne Auflagen rechtswidrig sind, fällt nicht automatisch der gesamte Kreditvertrag, es werden nur einzelne Klauseln unwirksam. Es ist rechtlich ein alltäglicher Vorgang, dass ein Vertrag in Kraft bleibt, auch wenn einzelne Klauseln des Vertrages unwirksam sind.“
Im Taz-Interview will sich Fischer-Lescano auch nicht festlegen, hält aber erfolgreiche Klagen gegen die Folgen der Troika-Politik für möglich. Auf die Frage, ob ein griechischer Krebspatient, der seine Medikamente nicht mehr bezahlen kann, gegen die Kreditauflagen klagen könnte, antwortete der Wissenschaftler:
„Unter bestimmten Umständen: Ja. Es gibt ja bereits Klagen, aber sie richten sich meist direkt gegen die nationalen Umsetzungsakte, also etwa die griechische Regierung. Bislang werden die Handlungen der EU-Organe selbst nicht deutlich genug problematisiert. Dabei werden auf Unionsebene die menschenrechtswidrigen Weichen gestellt.“
Dass eine Klage griechischer Beamter gegen die Streichung des 13. Monatsgehalts vom Europäischen Gerichtshof nicht zugelassen wurde, begründete Fischer-Lescano damit, dass man hier einen falschen Präzedenzfall ausgesucht hat.
Nach dem Katheder- ein Juristensozialismus?
Dabei wird bei der Diskussion um den Rechtsweg nicht einmal die Frage gestellt, warum denn die Auftraggeber nicht koordinierte europäische Streiks als Konsequenz dieser Studie vorbereiten. Schließlich handelt es um die österreichische Arbeiterkammer und europäische Gewerkschaften, deren schärfstes Kampfmittel nun mal nicht der Gang vor das Gericht sein sollte. Zumal die in der Studie an zentraler Stelle kritisierte EZB noch in diesem Jahr im Osten von Frankfurt/Main ihre neue Zentrale eröffnet.
Dazu plant ein europäisches Bündnis bereits Proteste nach dem Vorbild der Blockupy-Aktionstage vom letzten und vorletzten Jahr. Würden die Aktionen von europaweiten gewerkschaftlichen Arbeitsniederlegungen begleitet, wie es sie in Ansätzen am 14. November 2012 gegeben hat, wäre die Zukunft der Troika-Politik tatsächlich wieder offen.
Es gibt bereits ein kleines europaweites Netzwerk mit dieser Orientierung. Doch dabei ist gerade die Fokussierung auf den Rechtsweg ein Problem. Die Vorstellung, ein schönes Leben ohne Diskriminierung, Ausbeutung, Ausgrenzung etc. auf dem Rechtsweg herbeiführen zu können, ist genau so illusionär wie das Bestreben der von Marx verspotteten Kathedersozialisten vor mehr als 150 Jahren, die soziale Gerechtigkeit durch kluge Staatspolitik herbeisehnten.
Dabei zeigt das Beispiel Portugal, dass sich juristische, soziale und gewerkschaftliche Kämpfe ergänzen können. Dort hat das höchste Gericht des Landes zwei Mal Teile der von der Troika diktierten Austeritätspolitik als unvereinbar mit der nach der Nelkenrevolution entstandenen Verfassung des Landes erklärt. Die sozialen Bewegungen und Gewerkschaften des Landes nutzen solche Entscheidungen, um ihre Anstrengungen zu erhöhen, mit Streiks und Demonstrationen diese Politik infrage zu stellen. Bisher ist es auch deshalb nicht gelungen, weil diese Auseinandersetzungen nationalstaatlich begrenzt waren und nicht europaweit koordiniert wurden.