Andreas Heinz ist derzeit beurlaubter stellvertretender Betriebsrat und Mitglied der FAU-Betriebsgruppe des Kinos Babylon in Berlin-Mitte. Die FAU führte dort 2009 einen Arbeitskampf, dem der Geschäftsführer des Kinos, Timothy Grossman, sich entzog, indem er mit Verdi einen Haustarifvertrag zu für ihn günstigeren Bedingungen schloss.
Was ist der Anlass des aktuellen Babylon-Streiks?
Fünf Jahre nach Abschluss des Dumping-Tarifvertrages wurden Anpassungen nach und nach zugesagt. Doch davon ist nicht viel eingehalten worden. Die Arbeitsbedingungen sind eher schlechter geworden, und die Zahl der Kündigungen hat groteske Ausmaße angenommen. Die letzten vom damaligen Arbeitskampf verbliebenen Mitarbeiter wandten sich an Verdi. Die Gewerkschaft reagierte mit der Aufforderung, doch erst einmal sieben Mitglieder zu organisieren. Wir waren alle erstaunt, dass es gelang. Im September 2014 wurde der Haustarifvertrag zum Jahresende gekündigt. Erste Verhandlungen gab es erst im April 2015.
Wie geht es dem Kino wirtschaftlich?
Dem Kino müsste es nicht schlecht gehen. Es ist oft rappelvoll, Zuschauerzahlen, Eintrittspreise und Mietpreise für Einmietungen sind gestiegen. Doch es herrscht die alte Misswirtschaft: verschleppte Wartung und Instandsetzung, hohe Folgekosten, hohe Anwalts- und Gerichtskosten sowie hohe Personalausgaben in der Chefetage.
Vor einigen Jahren sorgte ein Streik der FAU beim Kino Babylon für große Aufmerksamkeit. Warum ruft jetzt Verdi zum Streik auf?
Verdi hätte von sich aus nie zum Streik aufgerufen, wurde aber von den Mitarbeitern dazu gedrängt. Verdi scheint sich seiner unrühmlichen Rolle beim damaligen Arbeitskampf der FAU schmerzhaft bewusst zu sein und zu versuchen, diesmal alles richtig zu machen. Aber die Zeit drängt. Mehrere Mitarbeiter sind von Kündigung bedroht, andere sind bereits gekündigt.
Die FAU hat kürzlich eine Broschüre zum ersten Arbeitskampf vorgelegt. Wie kommt sie beim aktuellen Streik an?
Die Unterstützung durch die FAU Berlin, die einen öffentlichen Aufruf zur Unterstützung des Streiks verfasste, weckt Hoffnungen. Die Broschüre erinnert an den von heute aus gesehen sehr organisierten und professionellen Arbeitskampf. Einzelne FAU-Mitglieder sind sicher bereit zu helfen, aber ein organisiertes Eingreifen ist ohne Strategie und klaren Kurs von Verdi zurzeit nicht möglich.
Sven Giegold, Sprecher der Eurogruppe Grüne, über das griechische Nein und die Frage einer neuen europäischen Linken
Nach dem Nein zur Troika-Politik haben Sie getwittert, dass die Wiederaufnahme der Verhandlungen ein Gebot der Stunde ist. Das fordert auch die griechische Regierung. Müsste nicht jetzt ein Schuldenschnitt auf der Tagesordnung stehen?
Sven Giegold: Nach dem „OXI“ drohte eine Eskalationsspirale, die Griechenland schnell aus dem Euro drängen kann. Ein Grexit ist und bleibt unvernünftig. Denn die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands ist bereits weitgehend wiederhergestellt, unter enormen sozialen und wirtschaftlichen Kosten. Mit einem Grexit müssten die Menschen noch ein zweites Mal bezahlen: durch den Verlust einer stabilen Währung und mit einer schweren Währungsumstellungskrise.
Ökonomisch ist das auch für die Gläubiger unsinnig, denn je ärmer Griechenland wird, desto weniger kann es seine Schulden zurückbezahlen. Allerdings scheint es, dass etliche Entscheidungsträger in den Mitgliedsländern der EU nicht die Vernunft, sondern eine wirtschaftspolitische Ideologie durchsetzen wollen. Trotzdem sind die politischen Kosten einer drohenden Kosovoisierung Griechenlands für Europa und für das Ansehen in der Welt so hoch, dass ich immer noch Hoffnung habe, dass Merkel, Hollande und Renzi doch noch ihrer Verantwortung gerecht werden und nach einer fairen Einigung mit Tsipras suchen. Dazu muss sich Griechenland zu jenen Reformen verpflichten, auf die es wirklich ankommt: eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung, Korruptionsbekämpfung, ein gerechtes und effizientes Steuerwesen.
Was der griechischen Wirtschaft dagegen schadet, sind neue pro-zyklische – also krisenverschärfende – Sparprogramme oder Steuererhöhungen. Das schreckt Investoren ab. Vertrauen für Investitionen kann nur geschaffen werden, wenn die Überschuldung gelöst wird. Das muss kein Schuldenschnitt sein. Auch eine Umschuldung mit einer Begrenzung der Zinszahlungen und Tilgungen gemäß der wirtschaftlichen Entwicklung, können helfen.
Sie hatten in einen Kommentar EU-Parlamentspräsident Martin Schulz dafür kritisiert[1], dass er im Vorfeld des Referendums eine Ablösung von Ministerpräsident Tsipras forderte. Sie schreiben dort, dass eine solche Einmischung nur dem Nein-Lager in Griechenland nützt. Aber war das nicht ein ungewollter positiver Nebeneffekt gewesen. Schließlich hat die griechische Regierung betont, dass ein Nein keine Absage an die EU und den Euro ist, sondern die Position derer stärkt, die eine Alternative zur Austeritätspolitik im EU-Raum haben wollen. Wäre das nicht ein guter Grund für Sie gewesen, ein Nein beim Referendum mit zu unterstützten?
Sven Giegold: Die europäischen Grünen haben sich aus Respekt vor der Entscheidung der griechischen Bürger mit Empfehlungen zurückgehalten. Ich halte nichts davon, wenn man aus Deutschland den Bürgern in Griechenland schlaue Ratschläge gibt, wie sie bei einer so schwierigen Entscheidung abstimmen sollen. Zurückhaltung hätte auch der Rolle eines zur Neutralität verpflichteten Präsidenten des Europaparlaments gut gestanden. Es ist leider nicht das erste Mal, dass Martin Schulz demokratische Haltung vermissen lässt.
Aber zum vermeintlich glorreichen „Oxi“: Ich bin mir sehr unsicher, ob das Nein die Verhandlungsposition der Griechen wirklich gestärkt hat, weil es die Entscheidungsträger in Europa nur noch stärker zusammenschweißt. Zudem ist die Stimmungslage in der europäischen Bevölkerung bereits sehr kritisch gegenüber Tsipras. Die Absage an die weitere Sparpolitik kann in der europäischen Realpolitik als Absage zur weiteren Mitgliedschaft im Euro gewertet werden. Diese Interpretation ist aber nicht von der Mehrheit in Griechenland gewollt und könnte im Ergebnis zu einer Katastrophe führen. Wir müssen uns bewusst machen: Das „Oxi“ ist kein Nein zum Euro oder Europa.
„Eine wirtschaftlich-soziale Katastrophe in Griechenland würde allen wieder einmal demonstrieren: Linke Regierungen können es nicht“
Jakob Augstein schrieb[2] vor einigen Tagen auf Spiegel Online: „Das griechische Scheitern ist Merkels Scheitern.“ Wäre das nicht ein weiterer Grund gewesen für ein Nein gewesen?
Sven Giegold: Wenn man nüchtern analysiert, so sieht aber die Welt auch etwas anders aus: Die Situation ist für Angela Merkel mit dem Nein viel bequemer. Sie hat nun eine Ausrede, die eigene CDU/CSU-Fraktion nicht von einer fairen Vereinbarung überzeugen zu müssen. Mit einem Ja in Griechenland wäre das ungleich unbequemer gewesen. Diese Analyse ändert nichts daran, dass ich weiterhin hoffe und auch erwarte, dass sie sich letztlich trotzdem für einen fairen Kompromiss entscheidet. Den Griechen den Euro vor die Füße zu werfen, ist aber für sie jetzt einfacher geworden.
Gesine Schwan, bisher nicht als Linke bekannt, hat kürzlich in einem Interview[3] erklärt, die deutsche Regierung wolle Tsipras scheitern sehen, „damit es keine Ansteckungsgefahr in Spanien und Portugal gibt“. Wäre es noch ein guter Grund für ein Nein gewesen, damit es endlich ernst zu nehmende Alternativen innerhalb Europas zur Austeritätspolitik gibt? Schließlich betonen auch die Podemos-Politiker ihre proeuropäische Haltung.
Sven Giegold: Gesine Schwan ist im Verhältnis zum gesamten politischen Spektrum natürlich links der Mitte. Leider bin ich auch hier nicht so optimistisch wie sie. Wenn Merkel, Hollande und Co. sich gegen faire Verhandlungen entscheiden, wird das OXI zum Pyrrhus-Sieg. Denn eine wirtschaftlich-soziale Katastrophe in Griechenland würde allen wieder einmal demonstrieren: Linke Regierungen können es nicht. Dass das zu einem großen Teil das Verschulden der europäischen Institutionen ist: geschenkt. Denn bei den eigenen politischen Strategien muss man die gegebenen Kräfteverhältnisse und die Strategien des Gegenübers immer einbeziehen, sonst schießt man sich nur selbst ins Knie und verliert die Unterstützung.
Wäre es nicht jetzt an der Zeit auch in Spanien und anderen Ländern der europäischen Peripherie Referenden zu fordern. Schließlich gab es auch dort einen starken Widerstand gegen die Austeritätspolitik, die von den dortigen Regierungen rücksichtslos durchgesetzt wurde?
Sven Giegold: Grundsätzlich bin ich immer für die Stärkung der direkten Demokratie, solange dabei die Grundrechte nicht zur Disposition gestellt werden. Allerdings sind Volksabstimmungen nur dann emanzipatorisch, wenn klar ist, worüber abgestimmt wird und eine faire und breite öffentliche Debatte stattgefunden hat.
In Griechenland jedoch war das nicht der Fall. Es wurde gleichzeitig über verschiedene Fragen abgestimmt: Über die Austeritätspolitik und die Demütigung der griechischen Regierung in der letzten Verhandlungswoche sowie über das Verhältnis zwischen Griechenland und Europa bzw. dem Euro. In Spanien wie auch in Portugal und Irland waren zwar die Troika-Programme genauso ungerecht wie in Griechenland, aber sie wurden in Wahlen mehrfach bestätigt. Die dortigen Wahlen waren im Grunde mehrfach Volksabstimmungen über den Kurs in der Finanzkrise. Der Kurs gefällt mir zwar nicht, aber es wäre arrogant, diese Wahlen nicht zu respektieren.
„Es kann keine pauschale Unterstützung für Tsipras geben
Ist es nicht überhaupt ein Versäumnis der Grünen in Europa, Kräfte wie Syriza nicht viel stärker zu unterstützen? Schließlich handelt es sich um eine Bewegungen, die mit den autoritären Konzepten der traditionalistischen Linken gebrochen haben, starke Elemente von Basisdemokratie praktizieren und damit auch Themen aufgreifen, die am Anfang vieler grüner und ökologischer Bewegungen gestanden haben.
Sven Giegold: Syriza selbst ist ein breites Bündnis. Da gibt es Sozialdemokraten und moderne Marxisten. In Syriza gibt es auch Teile, die sich in Deutschland oder Frankreich bei den Grünen politisch zuhause fühlen würden. Die griechischen Grünen sind ein Teil, wenn auch ein sehr kleiner, der Syriza-Regierung.
Allerdings finde ich Basisdemokratie nicht die richtige Beschreibung für eine Regierung, die ausschließlich aus Männern besteht, deren wichtige Entscheidungen wiederum in einem sehr kleinen Kreis von Männern getroffen werden und die ihre Koalitionsmehrheit mit Rechtspopulisten und Rassisten findet. Es gibt zudem in Syriza einen starken altlinken Flügel, der derzeit in Braunkohle und Goldabbau unter Menschenrechtsverletzungen und Naturzerstörung die wirtschaftliche Zukunft sieht. Der macht derzeit unserem grünen Umweltminister das Leben zur Hölle. Hinzu kommt eine relevante Gruppe von Trotzkistinnen und Trotzkisten, mit denen – Ausnahmen bestätigen die Regel – nur schwer auszukommen ist.
In dieser Situation kann es keine pauschale Unterstützung für Tsipras geben. Es kann daher nur um kritische Solidarität gehen. Wir Grüne waren Syriza gerade am Anfang durchaus wohlgesonnen, weil wir ihren Einsatz gegen die Austeritätspolitik richtig finden und unterstützen. Wir waren auch mehrfach vor Ort zu Gesprächen, auch um dazu beizutragen, einer Isolierung der Regierung zu verhindern. Aber wir müssen auch sehen, dass Tsipras‘ Leute gerade aus linker Sicht vieles nicht erreicht haben. Wie die deutsche Linkspartei den Claqueur der Tsipras-Regierung in Deutschland macht, finde ich deshalb peinlich.
Könnte ein Erfolg von Syriza, Podemos und vielleicht bald ähnlichen Bewegungen in anderen Ländern nicht günstige Bedingungen für die Herausbildung einer modernen emanzipatorischen Linken unter Einschluss von Teilen der Grünen in Europa bieten?
Sven Giegold: Wir Grünen sind eine pro-europäische Partei, die in den Institutionen durch breite gesellschaftliche Bündnisse viele Veränderungen durchgesetzt hat und noch viele erstreiten wird. Mir gefällt der europapolitische Diskurs von Podemos und Syriza in der Mehrheit nicht. Von ihnen höre ich nie, dass sie in Europa weitere Macht teilen wollen und dazu die Europäische Demokratie stärken wollen. Zudem: Wer die demokratischen Institutionen wie Podemos als „Kaste“ verächtlich macht, vereinfacht populistisch und wird die demokratischen Institutionen irgendwann verlieren.
„Deutschland ist dabei, sich in Europa als selbstsüchtiger Hegemon aufzustellen“
Der Ökonom Thomas Piketty erklärte[4] kürzlich in einem Interview, dass Deutschland historisch gesehen seine Schulden sowohl im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg nicht bezahlt hat. Warum machen die Grünen solche historischen Fakten nicht mehr bekannt?
Sven Giegold: Das haben wir im Bundestag gemacht. Allerdings bezweifle ich, dass man damit politisch weit kommt. Entscheidend bleibt vielmehr: Deutschland ist dabei, sich in Europa als selbstsüchtiger Hegemon aufzustellen. Durch die Folgen der Finanzkrise in Frankreich und die Selbstschwächung Großbritanniens ist Deutschland jetzt eindeutig das wirtschaftlich und politisch mächtigste Land in Europa.
Bislang ist daraus aber nicht das Verständnis gewachsen, diese Macht im Interesse aller in Europa zu nutzen. Vielmehr setzt Deutschland eine einseitige Wirtschaftspolitik durch, die die Anpassungslast in der Krise einseitig bei den anderen Ländern abwälzt. Symbolisch dafür sind das Festhalten an den hohen Exportüberschüssen, die letztlich Instabilität in der Eurozone und darüber hinaus schaffen, und die Verweigerung einer solidarisch finanzierten Investitionspolitik in Europa. Deutsche Hegemoniepolitik in Europa ist nicht nur egoistisch, sondern sie funktioniert auch nicht.
Die europäische Einigung bleibt die größte Chance, die wir haben, Demokratie, Menschenrechte und Ökologie auch unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Globalisierung zu stärken. Trotz aller Widersprüche des realen Handelns der EU – durch eine Schwächung der europäischen Einigung wird nichts besser. Die Chancen, dem Kapitalismus und im Besonderen dem Finanzmarktkapitalismus mit demokratisch erstrittenen Regeln menschliche Grenzen zu setzen, werden durch die Schwächung Europas ungleich schlechter. Somit ist die europäische Einigung im Interesse der Mehrheit und praktisch aller progressiven Bewegungen in Europa.
Vertiefte Europäische Demokratie ist schwer zu erreichen und die Fehler Europas sind schwer zu korrigieren. Aber das europäische Projekt von links aufzugeben, wäre ein unverzeihlicherFehler, denn eine bessere Wette haben wir nicht. Der Nationalstaat wird sicher nicht die Ebene sein, auf der wir der ökonomischen Globalisierung demokratisch begegnen können.
„Mangel an Erfolgen“
Hätte nicht gerade ein Ja in Griechenland die Kräfte auch in der Linken, die die EU für nicht reformfähig halten und einen Austritt und damit eine Renationalisierung von links fordern, gestärkt?
Sven Giegold: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Tsipras wurde durch das Nein in den Verhandlungen in Brüssel geschwächt. Damit ist es noch wahrscheinlicher geworden, dass er einen schlechten Deal nach Hause bringt oder das Land in das Chaos eines Grexit stürzt. Leider!
Sie haben die Politik der griechischen Regierung in letzter Zeit häufiger kritisiert. Wo sehen Sie deren Hauptfehler?
Sven Giegold: Bis heute sehe ich in der Syriza-Regierung eine Chance, Griechenland grundlegend zu verändern. Allerdings hat sich gezeigt, dass sie es auch nicht alleine schaffen. In den ersten fünf Monaten ist bei den zentralen Problemen – Leistungsfähigkeit der Verwaltung, Klientelismus und Steuerverwaltung – nichts vorangegangen. Anders als versprochen, wurde die Lagarde-Liste mit 1063 reichen griechischen Kontoinhabern in der Schweiz nicht abgearbeitet. Stattdessen wurden Steuerzahlern mit Millionenausständen gegenüber dem Fiskus, Rabatte gewährt, wenn sie ihre Steuern doch begleichen. Der Vorschlag, die Namen von Steuersäumigen mit mehr als z.B. 500.000 Euro Rückstand ins Internet zu stellen, wurde nicht umgesetzt. Bei der Kürzung der Militärausgaben ist es unter Syriza nicht weiter vorangegangen. Es ist eine wenig überzeugende Ausrede, dass die Erfolge nur wegen der Troika ausgeblieben sind. Im Gegenteil, es gibt viele negative Zeugnisse: Auch die Syriza-Regierung pflegt ihre mächtigen Klientelismen.
Dieser Mangel an Erfolgen ist leider fatal. Sie war ein Hauptgrund, warum es so leicht war, die griechische Regierung in der Eurogruppe zu isolieren. Bei sichtbaren Erfolgen hätten Tsipras und Varoufakis mit einer ganz anderen Glaubwürdigkeit auftreten können. Es ist einfach nur bitter, dass sie es Schäuble und anderen Scharfmachern gegenüber Griechenland so leicht gemacht haben.
Eine häufige Kritik an Syriza lautete, dass sie die Vermögen der Reichen in Griechenland bisher nicht angetastet hat. Aber ist diese Kritik bei den Grünen nicht verwunderlich, die darüber streiten, ob sie reiche Erben stärker besteuern soll?
Sven Giegold: In der Politik ist manches verwunderlich. Ich finde es auch nicht akzeptabel, dass manche Grünen und Sozialdemokraten bei der Reform der Erbschaftssteuer hinter Schäuble zurückfallen. Allerdings erleben die Verantwortlichen in den Landesregierungen jeden Tag, wie schwer es ist, sich gegen die Wirtschaftsverbände durchzusetzen. Aus dieser Erfahrung folgen Konsequenzen für die Rolle mächtiger Lobbys in der Demokratie.
Jenseits dessen ist es für emanzipatorische Realpolitik entscheidend, auch solche politischen Strategien zu formulieren, die die Wirtschaft inhaltlich spalten, statt gemeinsam gegen sich zu positionieren. So ist es gerade bei der Erbschaftssteuer doch so: Der Mangel an Besteuerung verfälscht den Wettbewerb. Reiche Erben haben einen unverdienten Vorteil gegenüber allen anderen. Für eine angemessene Vermögensbesteuerung spricht eben nicht nur die Verteilungsgerechtigkeit und der demokratische Zusammenhalt einer Gesellschaft, sondern auch die Leistungsgerechtigkeit. Solche Argumente glaubwürdig zu formulieren, ist nicht reaktionär, sondern notwendig für erfolgreiche Veränderung im Hier und Jetzt. Das ist letztlich auch der Kern unseres Green New Deals.
Sven Giegold[5] ist Mitglied des Europäischen Parlaments[6] und Sprecher der Eurogruppe Grüne[7]. Er hat im Streit der griechischen Regierung mit den EU-Institutionen beide Seiten kritisiert.
Auch die griechischen Grünen sind Teil der Bündnispartei Syriza. Dennoch betrachten die europäischen Schwesterparteien die Regierung unter Alexis Tsipras eher kritisch. Sven Giegold ist Mitglied der deutschen Grünen, Mitbegründer von Attac Deutschland und Abgeordneter im Europäischen Parlament. Jungle World sprach mit ihm über die Folgen des Referendums für Griechenland und die Rolle des Hegemons Deutschland.
Nach Bekanntgabe des Ergebnisses des griechischen Referendums haben Sie getwittert, dass die Wiederaufnahme der Verhandlungen ein Gebot der Stunde sei. Das fordert auch die griechische Regierung. Müsste jetzt nicht ein Schuldenschnitt auf der Tagesordnung stehen?
Nach dem Sieg des »Nein« droht eine Eskalationsspirale, die Griechenland schnell aus dem Euro drängen kann. Ein Grexit ist und bleibt unvernünftig. Denn die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands ist bereits weitgehend wiederhergestellt, unter enormen sozialen und wirtschaftlichen Kosten. Mit einem Grexit müssten die Menschen noch ein zweites Mal bezahlen: Durch den Verlust einer stabilen Währung und mit einer schweren Währungsumstellungskrise. Ökonomisch ist das auch für die Gläubiger unsinnig, denn je ärmer Griechenland wird, desto weniger kann es seine Schulden zurückbezahlen. Allerdings scheint es, dass etliche Entscheidungsträger in den Mitgliedsländern der EU nicht die Vernunft, sondern eine wirtschaftspolitische Ideologie durchsetzen wollen. Trotzdem sind die politischen Kosten einer drohenden Kosovoisierung Griechenlands für Europa und für dessen Ansehen in der Welt so hoch, dass ich immer noch Hoffnung habe, dass Angela Merkel, François Hollande und Matteo Renzi doch noch ihrer Verantwortung gerecht werden und nach einer fairen Einigung mit Alexis Tsipras suchen. Dazu müsste sich Griechenland zu jenen Reformen verpflichten, auf die es wirklich ankommt: eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung, Korruptionsbekämpfung, ein gerechtes und effizientes Steuerwesen. Was der griechischen Wirtschaft dagegen schadet, sind neue prozyklische – also krisenverschärfende – Sparprogramme oder Steuererhöhungen. Das schreckt Investoren ab. Vertrauen für Investitionen kann nur geschaffen werden, wenn das Problem der Überschuldung gelöst wird. Das muss kein Schuldenschnitt sein. Auch eine Umschuldung mit einer Begrenzung der Zinszahlungen und Tilgungen gemäß der wirtschaftlichen Entwicklung können helfen.
Sie haben in einen Kommentar den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD) dafür kritisiert, dass er vor dem Referendum die Ablösung von Ministerpräsident Alexis Tsipras gefordert hatte. Schließlich hatte die griechische Regierung betont, dass ein »Nein« keine Absage an die EU und den Euro sei, sondern die Position derer stärke, die eine Alternative zur Austeritätspolitik wollen. Wäre das nicht ein guter Grund für Sie gewesen, ein »Nein« beim Referendum zu unterstützten?
Die Europäischen Grünen haben sich aus Respekt vor der Entscheidung der griechischen Bürger mit Empfehlungen zurückgehalten. Ich halte nichts davon, wenn man aus Deutschland den Bürgern in Griechenland schlaue Ratschläge gibt, wie sie bei einer so schwierigen Entscheidung abstimmen sollen. Zurückhaltung hätte auch der Rolle eines zur Neutralität verpflichteten Präsidenten des Europaparlaments gut gestanden. Es ist leider nicht das erste Mal, dass Martin Schulz eine demokratische Haltung vermissen lässt. Aber zum vermeintlich glorreichen »Nein«: Ich bin mir sehr unsicher, ob das die Verhandlungsposition der Griechen wirklich stärkt, weil es die Entscheidungsträger in Europa nur noch stärker zusammenschweißt. Zudem ist die Stimmung in der europäischen Bevölkerung bereits sehr kritisch gegenüber Tsipras. Die Absage an die weitere Sparpolitik kann in der europäischen Realpolitik als Absage an eine weitere Mitgliedschaft im Euro gewertet werden. Diese Interpretation ist aber von der Mehrheit in Griechenland nicht gewollt und könnte im Ergebnis zu einer Katastrophe führen. Wir müssen uns bewusst machen: Das »Oxi« ist kein Nein zum Euro oder Europa.
Ist es nicht überhaupt ein Versäumnis der Grünen in Europa, Kräfte wie Syriza nicht viel stärker zu unterstützen? Schließlich handelt es sich um Bewegungen, die mit den autoritären Konzepten der traditionalistischen Linken gebrochen haben, starke Elemente von Basisdemokratie praktizieren und damit auch Themen aufgreifen, die am Anfang vieler grüner und ökologischer Bewegungen gestanden haben.
Syriza selbst ist ein breites Bündnis. Da gibt es Sozialdemokraten und moderne Marxisten. In Syriza gibt es auch Teile, die sich in Deutschland oder Frankreich bei den Grünen politisch zu Hause fühlen würden. Die griechischen Grünen sind ein Teil, wenn auch ein sehr kleiner, der Syriza-Regierung. Allerdings finde ich Basisdemokratie nicht die richtige Beschreibung für eine Regierung, die ausschließlich aus Männern besteht, deren wichtige Entscheidungen wiederum in einem sehr kleinen Kreis von Männern getroffen werden und die ihre Koalitionsmehrheit mit Rechtspopulisten und Rassisten findet. Es gibt zudem in Syriza einen starken altlinken Flügel, der derzeit in Braunkohle und Goldabbau mit Menschenrechtsverletzungen und Naturzerstörung eine wirtschaftliche Zukunft sieht. Der macht derzeit unserem grünen Umweltminister das Leben zur Hölle. Hinzu kommt eine relevante Gruppe von Trotzkisten, mit denen – Ausnahmen bestätigen die Regel – nur schwer auszukommen ist. In dieser Situation kann es keine pauschale Unterstützung für Tsipras geben. Es kann daher nur um kritische Solidarität gehen. Wir Grüne waren Syriza gerade am Anfang äußerst wohlgesinnt, weil wir ihren Einsatz gegen die Austeritätspolitik richtig finden und unterstützen. Wir waren auch mehrfach vor Ort zu Gesprächen. Aber wir müssen auch sehen, dass Tsipras’ Leute gerade aus linker Sicht vieles nicht erreicht haben. Wie die deutsche Linkspartei den Claqueur der Tsipras-Regierung in Deutschland macht, finde ich deshalb peinlich.
Wäre es nicht jetzt an der Zeit, auch in Spanien und anderen Ländern Referenden zu fordern? Schließlich gab es auch dort einen starken Widerstand gegen die Austeritätspolitik, die von den Regierungen rücksichtslos durchgesetzt wurde.
Grundsätzlich bin ich immer für die Stärkung der direkten Demokratie, solange dabei die Grundrechte nicht zur Disposition gestellt werden. Allerdings sind Volksabstimmungen nur dann emanzipatorisch, wenn klar ist, worüber abgestimmt wird, und eine faire und breite öffentliche Debatte stattgefunden hat. In Griechenland war das jedoch nicht der Fall. Es wurde gleichzeitig über mehrere verschiedene Fragen abgestimmt: Über die Austeritätspolitik und die Demütigung der griechischen Regierung in der letzten Verhandlungswoche sowie über das Verhältnis zwischen Griechenland und Europa beziehungsweise dem Euro. In Spanien wie auch in Portugal und Irland waren zwar die Troika-Programme genauso ungerecht wie in Griechenland, aber sie wurden in Wahlen mehrfach bestätigt. Die dortigen Wahlen waren im Grunde mehrfach Volksabstimmungen über den Kurs in der Finanzkrise. Der Kurs gefällt mir zwar nicht, aber es wäre arrogant, diese Wahlen nicht zu respektieren.
Der Ökonom Thomas Piketty erklärte kürzlich in der Zeit, dass Deutschland, historisch gesehen, seine Schulden sowohl nach dem Ersten wie auch dem Zweiten Weltkrieg nicht bezahlt hat. Warum machen die Grünen solche historischen Fakten nicht bekannter?
Das haben wir im Bundestag gemacht. Allerdings bezweifle ich, dass man damit politisch weit kommt. Entscheidend bleibt vielmehr: Deutschland ist dabei, sich in Europa als selbstsüchtiger Hegemon aufzustellen. Durch die Folgen der Finanzkrise in Frankreich und die Selbstschwächung Großbritanniens ist Deutschland jetzt eindeutig das wirtschaftlich und politisch mächtigste Land in Europa. Bislang ist daraus aber nicht das Verständnis gewachsen, diese Macht im Interesse aller in Europa zu nutzen. Vielmehr setzt Deutschland eine Wirtschaftspolitik durch, die die Anpassungslast in der Krise einseitig auf die anderen Länder abwälzt. Symbolisch dafür ist das Festhalten an den hohen Exportüberschüssen, die letztlich Instabilität in der Eurozone und darüber hinaus schaffen, und die Verweigerung einer solidarisch finanzierten Investitionspolitik in Europa. Deutsche Hegemoniepolitik in Europa ist nicht nur egoistisch, sie funktioniert auch nicht. Die europäische Einigung bleibt die größte Chance, die wir haben, Demokratie, Menschenrechte und Ökologie auch unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Globalisierung zu stärken. Trotz aller Widersprüche des realen Handelns der EU – durch eine Schwächung der europäischen Einigung wird nichts besser. Die Chancen, dem Kapitalismus und insbesondere dem Finanzmarktkapitalismus mit demokratisch erstrittenen Regeln menschliche Grenzen zu setzen, werden durch die Schwächung Europas ungleich schlechter. Somit ist die europäische Einigung im Interesse der Mehrheit und praktisch aller progressiven Bewegungen in Europa. Vertiefte europäische Demokratie ist schwer zu erreichen, und die Fehler Europas sind schwer zu korrigieren. Aber das europäische Projekt von links aufzugeben, wäre ein unverzeihlicher Fehler, denn eine bessere Wettoption haben wir nicht. Der Nationalstaat wird sicher nicht die Ebene sein, auf der wir der ökonomischen Globalisierung demokratisch begegnen können.
Sie haben die Politik der griechischen Regierung häufiger kritisiert. Wo sehen Sie deren Hauptfehler?
Bis heute sehe ich in der Syriza-Regierung eine Chance, Griechenland grundlegend zu verändern. Allerdings hat sich gezeigt, dass sie es nicht alleine schafft. In den ersten fünf Monaten ist bei den zentralen Problemen – Leistungsfähigkeit der Verwaltung, Klientelismus und Steuerverwaltung – nichts Relevantes vorangegangen. Anders als versprochen, wurde die Lagarde-Liste mit 1063 reichen griechischen Kontoinhabern in der Schweiz nicht abgearbeitet. Stattdessen wurden Steuerzahlern mit Millionenausständen gegenüber dem Fiskus Rabatte gewährt, wenn sie ihre Steuern doch begleichen. Der Vorschlag, die Namen von Steuersäumigen mit mehr als 500 000 Euro Rückstand ins Internet zu stellen, wurde nicht umgesetzt. Bei der Kürzung der Militärausgaben ist es unter Syriza nicht weiter vorangegangen. Es ist eine wenig überzeugende Ausrede, dass die Erfolge nur wegen der Troika ausgeblieben sind. Im Gegenteil, es gibt viele negative Zeugnisse, auch die Syriza-Regierung pflegt ihren mächtigen Klientelismus.
Dieser Mangel an Erfolgen ist leider fatal. Er war ein Hauptgrund, warum es so leicht war, die griechische Regierung in der Euro-Gruppe zu isolieren. Bei sichtbaren Erfolgen hätten Tsipras und Varoufakis mit einer ganz anderen Glaubwürdigkeit auftreten können. Es ist einfach bitter, dass sie es Schäuble und anderen Scharfmachern gegenüber Griechenland so leicht gemacht haben.
Aus der Perspektive der Krise der sozialen Reproduktion betrachten! Interview mit Gabriele Winker*
Die jahrelange Vernachlässigung von Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge zugunsten der Profitsteigerung mündet in einen nicht mehr tragbaren Raubbau an den Kräften der dort Beschäftigten. Die meisten Streiks drehen sich derzeit um Probleme der Arbeitsüberlastung und die auch finanziell zu geringe Anerkennung der Berufe im «Dienst am Menschen». Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker sieht darin eine Krise der sozialen Reproduktion überhaupt und ordnet sie ein in die umfassende, aktuelle Krise des Kapitalismus.
Was verstehen Sie unter Care Revolution?
Das Konzept Care Revolution nimmt einen grundlegenden Perspektivwechsel vor. Das ökonomische und politische Handeln darf nicht weiter an Profitmaximierung, sondern es muss an menschlichen Bedürfnissen, primär der Sorge umeinander, ausgerichtet sein. Eine Gesellschaft muss sich also daran messen lassen, inwieweit sie grundlegende Bedürfnisse gut und für alle Menschen realisieren kann. Dazu gehört eine hervorragende soziale Infrastruktur. Nicht zuletzt um dieses hohe Gut für alle streiken die Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter derzeit.
Was hat der aktuelle Kita-Streik mit Care Revolution zu tun?
Die Streikenden in Kitas und weiteren sozialen Einrichtungen haben nicht nur unsere grundlegende Solidarität verdient, sondern wir sollten sie auch in unserem ureigensten Interesse tatkräftig unterstützen. Erzieherinnen gehören zu den Care-Beschäftigten: Sie kümmern sich um unsere Kinder. Dies beinhaltet vielfältige anspruchsvolle Tätigkeiten, die stereotyp Frauen zugeordnet werden. Da in Familien vor allem Frauen unentlohnt für die Kindererziehung zuständig sind, wird in der Konsequenz auch der Beruf der Erzieherin schlecht entlohnt. Dies ändert sich auch derzeit nicht, obwohl es einen zunehmenden Fachkräftemangel gibt.
Nach wie vor ist der Umgang mit Technik, der männlich konnotiert ist, deutlich höher entlohnt als der mit Menschen. Das hat auch viel damit zu tun, dass Technik in der Güterproduktion und der produktionsnahen Dienstleistung profitabel eingesetzt werden kann, während aus kapitalistischer Perspektive Erziehungsarbeit nur mit Kosten verbunden ist. Dabei sind die Löhne der Beschäftigten ein wichtiger Kostenfaktor ebenso wie die Personalausstattung, die es deswegen zu reduzieren gilt.
Auf welche theoretischen Prämissen stützen Sie sich beim Konzept «Care Revolution»?
Einerseits bin ich beeinflusst von der zweiten Frauenbewegung [die der 70er und 80er Jahre]. Bereits in den 70er Jahren wurde in diesem Rahmen auch in der BRD dafür gekämpft, die nicht entlohnte Hausarbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit anzuerkennen. Dies führten bspw. Gisela Bock und Barbara Duden in ihrem Beitrag zur Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977 aus. In den 90er Jahren begannen dann im US-amerikanischen Kontext Debatten um die Care-Arbeit.
Mit diesem Begriff verweist bspw. Joan Tronto sehr früh darauf, dass Menschen in ihrem ganzen Leben immer Sorge von anderen benötigen und somit nicht völlig autonom leben können, sondern ihr Leben vielmehr in interdependenten Beziehungen gestalten. Davon habe ich gelernt, dass Menschen als grundlegend aufeinander Angewiesene zu begreifen sind. Meine Vorstellung von einer solidarischen Gesellschaft, die ich als Ziel einer Care Revolution entwickele, baut deswegen auf menschliche Solidarität und Zusammenarbeit.
Wer ist Träger der neuen Care-Revolution-Bewegung?
Auffallend ist, dass es im entlohnten Care-Bereich in Bildung und Erziehung sowie Gesundheit und Pflege, aber auch im unentlohnten Care-Bereich ausgehend von Sorgearbeit in Familien viele kleine Initiativen gibt, bspw. Elterninitiativen, Organisationen von pflegenden Angehörigen, Gruppen von Menschen mit und ohne Behinderungen, Initiativen von und für Flüchtlinge, aber auch aktive Ver.di- und GEW-Gruppen sowie queer-feministische und linksradikale Gruppen, die das Thema Care aufnehmen.
Viele engagieren sich für bessere politisch-ökonomische Rahmenbedingungen, damit sie für sich und andere besser sorgen können. Alleine und vereinzelt sind sie allerdings bisher zu schwach, um im politischen Raum wahrgenommen zu werden und eine grundlegende Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erreichen. Deswegen steht hinter dem Begriff Care Revolution die Idee, diese Gruppen nicht nur über den Begriff zu verbinden, sondern darüberhinaus auch gegenseitig aufeinander zu verweisen und darüber eine sichtbare Care-Bewegung zu entwickeln.
Können Sie Beispiele nennen?
In Treffen und Aktionen kommen bspw. Care-Beschäftigte in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen mit pflegenden Angehörigen und Menschen zusammen, die aufgrund von körperlichen Einschränkungen oder Krankheiten zeitlich aufwändig für sich sorgen müssen. Wir alle können morgen von Krankheit betroffen sein und sind dann auf gute Pflege angewiesen. Und die staatliche Kostensenkungspolitik trifft nicht nur die Care-Beschäftigten in allen Bereichen gleichermaßen, sondern in der Folge auch Familien, Wohngemeinschaften und andere Lebensformen – etwa wenn Patienten «blutig» entlassen werden oder notwendige Gesundheitsleistungen für Kassenpatienten gestrichen werden.
Diese Zusammenhänge sind auch in linken politischen Zusammenhängen noch viel zu wenig präsent. Nur wenn sich etwa Erzieherinnen und Eltern oder beruflich und familiär Pflegende als gesellschaftlich Arbeitende begreifen, können sie sich auf Augenhöhe in ihren Kämpfen um ausreichende Ressourcen und gute Arbeitsbedingungen unterstützen. Dies gilt unter dem Aspekt der Selbstsorge auch für Assistenzgebende und Assistenznehmende.
Warum sind Sie der Meinung, dass das Problem der Sorgearbeit im Kapitalismus nicht gelöst werden kann?
Das Ziel kapitalistischen Wirtschaftens ist Profitmaximierung. Dies ist nur durch den Einsatz von Arbeitskraft zu erreichen, die allerdings tagtäglich und auch über Generationen hinweg immer wieder neu reproduziert werden muss. Der sich daraus ergebende Widerspruch, dass einerseits die Reproduktionskosten der Arbeitskraft möglichst gering gehalten werden sollen, um die Rendite nicht allzu sehr einzuschränken, gleichzeitig aber diese Arbeitskraft benötigt wird, ist dem Kapitalismus immanent. Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung dieses widerspruchsvollen Systems ist, dass ein großer Teil der Reproduktion unentlohnt abgewickelt wird.
Mit der technologischen Entwicklung lassen sich nun zwar Güter und produktionsnahe Dienstleistungen schneller herstellen, nicht aber Care-Arbeit, zumindest nicht, ohne dass es zu einer massiven Verschlechterung der Qualität kommt. Denn Care-Arbeit ist kommunikationsorientiert und auf konkrete, einzelne Menschen bezogen und damit sehr zeitintensiv. Dies hat die Auswirkung, dass in diesem Bereich Produktivitätssteigerungen, die nicht gleichzeitig die Qualität der Care-Arbeit verschlechtern, nur begrenzt möglich sind. Es kommt zu einer Krise der sozialen Reproduktion, die ich als Teil der Überakkumulationskrise sehe.
Wie kann verhindert werden, dass viele sich doch wieder nur mit kleinen Verbesserungen begnügen?
Die sozialen Auseinandersetzungen um all die kleinen Reformschritte gilt es permanent zu verbinden mit dem Eintreten für eine Gesellschaft, in der alle – solidarisch und gemeinschaftlich organisiert – die jeweils eigenen Fähigkeiten entwickeln können.
Dies bedeutet bspw., dass bei Auseinandersetzungen um verbesserte Bildungsfinanzierung gleichzeitig die kollektive Selbstorganisation des Bildungssystems ohne Zugangsbeschränkungen eingefordert wird. Bei Aktionen von streikenden Ärzten und Pflegekräften muss darauf hingewiesen werden, dass es auch bei einer besseren Personalausstattung noch viele Menschen gibt, die grundsätzlich von der Krankenversorgung ausgeschlossen sind. Auch lassen sich all diesen politischen Auseinandersetzungen im Care-Bereich mit Forderungen nach gesellschaftlicher Teilhabe verbinden.
Wird diese Verknüpfung bei allen politischen Aktionen konsequent durchgeführt, ist Care Revolution eine Strategie, die Reformen nutzt, damit möglichst viele Menschen bereits heute sinnvoller arbeiten und besser leben können, gleichzeitig aber in diesen Auseinandersetzungen erkennen, dass letztlich darüber hinausgehende, gesellschaftliche Veränderungen erforderlich sind.
Wichtig ist also, in sozialen Auseinandersetzungen um Reformen die Perspektive anderer in den Blick zu nehmen, für die Inklusion aller Menschen einzutreten sowie eine grundlegende gesellschaftliche Teilhabe durch demokratische Strukturen einzufordern.
Diese Ziele sind ohne Rücksicht auf die Frage zu verfolgen, ob sie im Rahmen des derzeitigen politisch-ökonomischen Systems realisierbar sind. Eine solche Strategie nannte Rosa Luxemburg 1903 «revolutionäre Realpolitik».
* Gabriele Winker lehrt und forscht an der TU Hamburg-Harburg und ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg sowie des bundesweiten «Netzwerks Care Revolution». Im vergangenen Jahr war sie Mitorganisatorin der Aktionskonferenz «Care Revolution» in Berlin, bei der verschiedene im Bereich sozialer Reproduktion tätige Gruppen und Personen zusammenkamen (siehe SoZ 5/2014). Im März 2015 erschien im Transcript-Verlag ihr Buch Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft.
Der 1944 geborene Publizist und Soziologe Joachim Bischoff ist Mitherausgeber der Zeitschrift Sozialismus und Autor im VSA- Verlag. Die Jungle World sprach mit ihm über die griechische Finanzkrise und das Szenario des sogenannten Grexit, eines Ausstiegs Griechenlands aus der Euro-Zone.
Mittlerweile sorgt die Griechenland-Pleite für Satire. Hat das Thema durch die ständigen Drohungen seine Gefahr verloren?
Die Medien haben einen großen Anteil daran, dass in der Berliner Republik eine Mischung aus Ressentiments gegenüber dem griechischen Volk und erheblichem Desinteresse an den Folgen einer möglichen Insolvenz des griechischen Staates existiert. Gleichwohl hat selbst die Kampagne der Bild-Zeitung gegen weitere Zahlungen man Griechenland keinen durchschlagenden Erfolg gehabt. In der letzten Emnid-Umfrage – kurz vor der finalen Entscheidung im griechischen Drama – sprechen sich 67 Prozent für einen weiteren Verbleib Griechenlands in der Eurozone aus. Nur 27 Prozent der Deutschen sind dagegen und wollen lieber einen »Grexit«. Allerdings: Über den Kurs zur Euro-Rettung herrscht große Unsicherheit. So bestehen 41 Prozent der Deutschen darauf, dass Griechenland sämtliche vereinbarten Forderungen erfüllt. Immerhin 33 Prozent der Befragten können sich aber auch vorstellen, den Wünschen Athens ein Stück weit entgegenzukommen. Einen weiteren Schuldenschnitt befürworten nur 19 Prozent der Deutschen.
Wie sind diese widersprüchlichen Zahlen zu erklären?
Die Unsicherheit geht meines Erachtens entscheidend darauf zurück, dass trotz häufiger Berichterstattung die Zusammenhänge und Hintergründe nicht aufklärend präsentiert worden sind. Die griechische Ökonomie ist seit der großen Krise von 2008 um 26 Prozent geschrumpft. Es ist absurd, für die derzeitige Rezession die linke Koalitionsregierung von Syriza verantwortlich zu machen. Seit dem letzten Quartal 2014 schrumpft die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erneut. Bekanntlich fand der Wechsel zu einer Anti-Troika-Politik erst Ende Januar 2015 statt. Die mögliche Pleite des griechischen Staates hat für die europäischen und politischen Eliten ihren Schrecken verloren, weil die Verflechtung der griechischen Ökonomie in die europäische Wirtschaft gering ist. Mittlerweile haben die privaten Investoren und Banken ihr Engagement in Griechenland stark zurückgefahren. Die Wertverluste einer möglichen Insolvenz tragen im Wesentlichen öffentliche Gläubiger. Die Verluste von rund 80 Miliarden Euro für Deutschland gehen zu Lasten der Steuerzahler.
Über den »Grexit« diskutieren nicht nur Neoliberale, sondern auch Linke kontrovers. Wäre der Ausstieg aus dem Euro für die griechische Regierung ein Befreiungsschlag?
Die griechische Regierung und eine große Mehrheit der Wahlbevölkerung sieht in einem Hinausdrängen des Landes aus der Euro- Zone eine schwere politische Niederlage mit gefährlichen Folgewirkungen. Eine repräsentative Befragung von Anfang Juni besagt, dass sich 74 Prozent der Befragten für den Verbleib in der Euro- Zone aussprechen, nur 18 Prozent würden lieber zur griechischen Drachme zurückkehren. Für die Griechen würde mit einem Hinausdrängen aus der Euro- Zone eine erneute schwere sozio-ökonomische Anpassungsphase einsetzen. Mit Sicherheit würde sich der wirtschaftliche Schrumpfungsprozess verschärfen. Der Zusammenbruch des Gesundheitssystems zeigt, dass die Rückwirkungen der gebeutelten Wirtschaft auf andere Bereiche der Gesellschaft erhebliche negative Folgen hätten. Außerdem werden die Probleme der Bewältigung der Fluchtbewegung für Griechenland noch drückender. Und die geopolitische Konstellation des Nato-Mitglieds Griechenland gegenüber der Türkei und den gescheiterten Staaten in Nahost wirft weitere Probleme auf.
Die Wirtschaftskolumnistin Ulrike Herrmann stellte in der Taz die These auf, dass es Griechenland mit der Drachme nach anfänglichen Schwierigkeiten sogar besser gehen könnte als jetzt. Teilen Sie diese Einschätzung?
Die Argumente für eine ökonomisch-politische Rekonstruktion Griechenlands nach einer erneuten Durststrecke sind nicht überzeugend. Alle Befürworter einer Rückkehr Griechenlands zu einer eigenen Währung und einem nationalstaatlich geprägten Wirtschaftsraum gehen davon aus, dass zunächst eine deutliche Abwertung der Drachme von 20 bis 30 Prozent zu verarbeiten wäre. Auch abgesehen von den komplizierten Umschuldungsprozeduren müssten viele Wirtschaftsabkommen neu justiert werden. Ein möglicher Vorteil ist die zügige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Tourismus. Griechenland könnte einen noch größeren Anteil im Bereich touristischer Dienstleistungen zu Lasten der Türkei, Spaniens und Italiens gewinnen. Aber da kaum mehr ein relevanter Exportsektor in der griechischen Wirtschaft existiert, wären die Folgen einer Abwertung auf längere Zeit negativ. Im Grundsatz sehen auch viele Befürworter eines Grexit die eintretende Notlage; da sich die humanitäre Krise zuspitzen würde, müsste Griechenland auf längere Zeit aus dem europäischen Raum unterstützt werden, ohne, dass diese Hilfe zu einer wirtschaftlichen Rekonstruktion und einer selbsttragenden Ökonomie führte.
Zu den Vorschlägen, wie ein Grexit verhindert werden könnte, zählt auch die Einführung eines digitalen Euro. Sehen Sie hierin eine Alternative?
Das Kernproblem in Griechenland ist nicht die Verbesserung des Geld- und Kreditsystems, sondern wie der Schrumpfungsprozess in der Realökonomie beendet werden kann und wie über die Erneuerung des öffentlichen und privatkapitalistischen Kapitalstocks eine Erholung eines sozialökologisch geprägten Wachstums eingeleitet werden kann.
Der linke Flügel von Syriza schlägt eine härtere Haltung gegenüber der Gläubigerländern und Institutionen und die Verstaatlichung der Banken vor. Die Kommunistische Partei Griechenlands will gar einen totalen Bruch mit EU und den Troika-Institutionen aus EZB, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF). Wären solche Vorschläge praktikabel?
Keine Frage, ein Bruch mit dem europäischen Binnenmarkt, ein Austritt aus der Euro -Zone und mindestens eine Aussetzung der Mitgliedschaft in der Nato könnten durch verschiedene Maßnahmen eingeleitet werden. Seit der Regierungsübernahme Ende Januar 2015 wird der Wirtschaftskreislauf in Griechenland wesentlich durch Notkredite seitens der europäischen Zentralbank EZB gewährleistet. Das Volumen dieser Kredite beträgt aktuell über 80 Milliarden Euro. Im selben Zeitraum musste das griechische Bankensystem einen Abzug von Einlagen in der Größenordnung von 30 bis 40 Milliarden Euro hinnehmen. Die häufig geforderte Gegenmaßnahme ist die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen wie zuletzt in Zypern. Mit Kapitalverkehrskontrollen, deren Ausgestaltung und Durchführung die EZB nicht zustimmt, wäre der Ausstieg aus dem Währungs- und Kreditsystem eröffnet. Die Mehrheitsströmung in Syriza will eine solche Politikentwicklung nicht. Die Chance von Griechenland besteht in einer Investitionsoffensive und einer wirtschaftlichen Rekonstruktion im europäischen Verbund. Ein solcher Politikwechsel eröffnete auch für andere Krisenländer entsprechende Alternativen und könnte für den europäischen Verbund insgesamt eine andere Entwicklung einleiten.
In Island hatte eine bürgerliche Regierung auf Druck der Bevölkerung die Rückzahlung von immensen Schulden eingestellt, das Land wurde nicht isoliert. Warum klappte dort ein Schuldenschnitt und in Griechenland bisher nicht?
In der Tat hat Island eine bemerkenswert andere und positive Entwicklung zur Bewältigung der Folgen der großen Finanz- und Wirtschaftskrise eingeleitet. Das Verhältnis von Realökonomie und privatem sowie öffentlichem Finanzüberbau in Island ist nicht mit der Konstellation in Griechenland zu vergleichen. Griechenland schultert eine große Schuldenlast, aber der seit Jahren anhaltende Abwärtstrend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit liegt nicht an etwaigen unerträglichen Zinslasten oder Schuldentilgungen. Hätte Griechenland im Jahr 2014, wie von der konservativ-sozialdemokratischen Regierung und den Troika-Institutionen erhofft und prognostiziert, endlich ein positives Wirtschaftswachstum erreicht, wären sämtliche Tilgungen und Zinszahlungen problemlos möglich geworden. Griechenland muss aus dem Schrumpfungsmodus heraus. Für 2015 droht erneut bestenfalls eine Stagnation des Wachstums. Bei einem grundsätzlich möglichen Wachstum von zweieinhalb Prozent – nach einer Periode der Schrumpfung um 26 Prozent – ist, da stimme ich dem griechischen Finanzminister Varoufakis zu, die Schuldentragfähigkeit ein sekundäres Problem.
Zeigt die monatelange Hängepartie um Griechenland nicht auch, dass selbst eine moderat reformerische Politik, wie sie die jetzige Regierung vorschlägt, zurzeit keine Chance auf Umsetzung in der EU hat?
Die Macht der neoliberalen Eliten in Wirtschaft und Politik wird uns durch den Kampf um die wirtschaftlich-finanzielle Strangulation Griechenlands vor Augen geführt. Die griechische Linksregierung verdeutlicht, wie schwer ein Politikwechsel – ein Bruch mit der neoliberalen Konzeption – umzusetzen ist. Aber auch die Krisenländer Portugal und Spanien leiden sehr unter der Austeritätspolitik. Frankreich und Italien hatten ebenfalls versucht, einen Freiraum für verstärkte gesellschaftliche Investitionen zu erhalten. Man streitet also in nationalstaatlich unterschiedlichen Konstellationen für einen Bruch mit der neoliberalen Sanierungspolitik, die bestenfalls eine säkulare Stagnation mit mehr oder minder regelmäßigen Krisenprozessen von Vermögenspreisblasen beschert.
Ist die Forderung nach der Schuldenbefreiung eines Landes nicht genauso illusorisch wie eine Forderung nach Sozialismus?
Die Überschuldung vieler kapitalistischer Länder ist eine Tatsache. Die schwächelnde, teils krisenhafte Akkumulation des Kapitals ist in den letzten Jahrzehnten durch eine Expansion des Kredits überlagert worden. Es geht nicht vorrangig um Schuldenbefreiung. Schulden sind akkumulierte Ansprüche auf künftig erst noch zu produzierenden gesellschaftlichen Reichtum. Die Verteilungsverhältnisse sind stark verzerrt. Selbst die OECD und der IWF sowie andere Organisationen der kapitalistischen Länder sehen heute, dass wachsende soziale Spaltungen zu einer Blockade oder einem Hindernis für die Kapitalakkumulation und das gesellschaftliche Wachstum geworden sind. Die Auseinandersetzung dreht sich also um die gesellschaftliche Ökonomie und deren Verteilungsverhältnis.
Gabriele Winker über die "Care Revolution" und warum die Sorge-Arbeit im Kapitalismus zunehmend ein Problem darstellt
Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker[1] lehrt und forscht an der TU Hamburg-Harburg und ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg[2] sowie des bundesweiten „Netzwerks Care Revolution“. Im vergangenen Jahr war sie Mitorganisatorin der Aktionskonferenz Care Revolution[3] in Berlin, bei dem verschiedene im Bereich sozialer Reproduktion tätige Gruppen und Personen zusammenkamen. Im März ist im Transcript-Verlag ihr Buch „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“[4] erschienen.
Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker lehrt und forscht an der TU Hamburg-Harburg und ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg sowie des bundesweiten »Netzwerks Care Revolution«. Im vergangenen Jahr war sie Mitorganisatorin der Aktionskonferenz »Care Revolution« in Berlin, bei dem verschiedene im Bereich sozialer Reproduktion tätige Gruppen und Personen zusammenkamen. Im März ist im Transcript-Verlag ihr Buch »Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft« erschienen. Mit Winker sprach die Jungle World über die Krise sozialer Reproduktion und die entstehende Care-Bewegung.
Im März 2014 fand in Berlin die erste Konferenz zur »Care Revolution« statt. Was ist seither geschehen?
Die Care Revolution nimmt einen grundlegenden Perspektivwechsel vor. Das ökonomische und politische Handeln soll nicht weiter an Profitmaximierung, sondern an menschlichen Bedürfnissen, primär der Sorge umeinander ausgerichtet sein. Eine Gesellschaft muss sich also daran messen lassen, inwieweit sie grundlegende Bedürfnisse gut und für alle Menschen realisieren kann.
70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs müssen viele Opfer von NS-Verbrechen beziehungsweise deren Angehörige immer noch um Entschädigungen kämpfen. In Deutschland werden derzeit die Reparationsforderungen Griechenlands erneut diskutiert. Der Hamburger Rechtsanwalt Martin Klingner engagiert sich seit Jahren im AK Distomo dafür, dass Deutschland endlich zahlt. Im griechischen Distomo verübte die SS 1944 ein Massaker an der Dorfbevölkerung als Vergeltungsaktion für Partisanenangriffe. Mit Klingner sprach die Jungle World über die Debatte um Reparationen an Griechenland.
Wann hat sich der AK Distomo gegründet und was war der Anlass?
Der AK hat sich 2001 gegründet. Im Jahr 2000 gab es ein Urteil des Areopag, des obersten Gerichtshofs Griechenlands. Daraufhin wurden deutsche Liegenschaften in Athen und Thessaloniki gepfändet, unter anderem das Goethe-Institut. Damals haben wir vom Massaker in Distomo erfahren. Es hat uns deutlich gemacht, dass das Thema Entschädigung für NS-Opfer auch nach der Debatte um NS-Zwangsarbeit und der Gründung der Stiftung EVZ (»Erinnerung, Verantwortung, Zukunft«, Anm. d. Red.) nicht beendet ist. Wir haben uns seither intensiv mit den Entschädigungsforderungen aus Griechenland und deren Hintergründen befasst, Kontakte zu Überlebenden, Opferverbänden und Anwälten geknüpft und begonnen, Solidaritätsarbeit zu diesem Thema in Deutschland zu leisten.
Seither fahren wir regelmäßig nach Griechenland und nehmen unter anderem an den Gedenkfeiern in Distomo teil. Mit Argyris Sfoutouris verbindet uns eine intensive Freundschaft. Er ist Überlebender des Massakers von Distomo und einer der Kläger in den Entschädigungsprozessen gegen Deutschland. Wir unterstützen auch Entschädigungsforderungen von NS-Opfern aus anderen Ländern, wie Italien und Slowenien. Ein weiteres Anliegen von uns ist die Strafverfolgung der Täter.
Seit einigen Wochen wird die Diskussion um die Reparationszahlungen an Griechenland öffentlich geführt. Sieht Ihr Arbeitskreis darin einen Erfolg seiner Arbeit?
Der Anlass für das derzeit sehr große Interesse ist sicher die Wahl der neuen griechischen Regierung und deren Thematisierung der Reparationsforderungen. Wir sind durch unsere kontinuierliche Arbeit quasi Experten für das Thema Entschädigung geworden und finden in der jetzigen Situation viel mehr Gehör als zu früheren Zeiten. Dass die Medien mehr und besser über das Thema berichten, sehen wir insoweit auch als Erfolg des AK und aller anderen Menschen in Deutschland an, die für die Interessen der NS-Opfer eintreten. Ich möchte noch einmal betonen, dass für uns die Frage der individuellen Entschädigung der Überlebenden und der Angehörigen der Opfer im Zentrum unserer Arbeit steht.
Wie sehen Sie das Agieren der aktuellen griechischen Regierung in der Debatte? Ist der Vorwurf der Instrumentalisierung in Ihren Augen berechtigt?
Nein, aus unserer Sicht instrumentalisiert in erster Linie Deutschland das Thema, indem zur Abwehr von Reparations- und Entschädigungsforderungen immer wieder auf die aktuellen ökonomischen Probleme Griechenlands verwiesen wird. Die griechische Regierung greift endlich ein Thema mit Nachdruck auf, das eigentlich spätestens seit 1990 auf die Agenda jeder griechischen Regierung gehört hätte. Zwar wurden immer wieder Ansprüche geltend gemacht, aber letztlich hatte bisher noch keine griechische Regierung den Mut und den Willen, sich der deutschen Forderung, einen Schlussstrich zu ziehen, entgegenzustellen.
Wir hoffen sehr, dass die jetzige griechische Regierung nicht auch irgendwann klein beigibt. Problematisch fänden wir es nur, wenn die griechische Regierung die individuellen Entschädigungsforderungen der NS-Opfer mit aktuellen Schulden verrechnen würde. Das darf nicht sein.
Wie sehen Sie die Verknüpfung von Reparationszahlungen und Wirtschaftskrise?
Die BRD hätte kein Wirtschaftswunder erlebt ohne die Stundung der Reparationsforderungen im Londoner Schuldenabkommen. Griechenland hätte sich anders entwickeln können, hätte es Reparationszahlungen erhalten. Die aktuelle Krise hat jedenfalls auch etwas mit der Zerstörung Griechenlands durch die deutschen Besatzer und der dadurch verzögerten ökonomischen Entwicklung zu tun. Griechenland hat zumindest allen Grund zu sagen: Jetzt ist es höchste Zeit, dass Deutschland seine Schulden begleicht.
Manche Beobachter meinen, da Deutschland im NS in so vielen Ländern Verbrechen beging, hätte es nicht genug Geld für Reparationen. Können Sie dieser Logik folgen?
Die Verbrechen Nazideutschlands waren in der Tat so gewaltig, dass der Rechtsnachfolgestaat BRD erhebliche Schulden geerbt hat. Deutschland ist der größte Schuldner Europas. Dies ist kein Grund, die Schulden nicht zu bezahlen, und schon gar kein Grund, noch nicht einmal in Verhandlungen mit den Gläubigern zu treten. Die deutsche Regierung sagt wie alle Vorgänger schlicht Nein zu allem und damit darf sie nicht durchkommen. Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit und der Prävention. Verbrechen dürfen sich nicht lohnen.
Der Hamburger Historiker Karl Heinz Roth hat kürzlich vorgeschlagen, die Goldreserven Deutschlands für die Reparationszahlungen an Griechenland zu verwenden. Halten Sie das für einen sinnvollen Vorschlag?
Wir sehen das nicht als unser Problem an, wie Deutschland das Geld zusammen bekommt. Von uns aus könnte auch die Bundeswehr abgeschafft werden. Das löst dann gleich noch ein Problem.
Sehen Sie denn noch Möglichkeiten, Deutschland auch mit juristischen Mitteln zur Zahlung von Reparationen zu zwingen?
Ja, es gibt verschiedene Möglichkeiten. Der griechische Staat könnte Deutschland auf Zahlung verklagen. Es gibt für die Reparationsforderung selbst eine klare vertragliche Grundlage, nämlich die Regelungen des Pariser Reparationsabkommens. Dort wurden die Ansprüche Griechenlands gegenüber Deutschland auf mindestens 7,1 Milliarden US-Dollar festgelegt. Deutschland hat diese Schulden nicht bezahlt. Daher ist jedenfalls der festgelegte Betrag auf den heutigen Wert umzurechnen und zu verzinsen. Relevante rechtliche Einwände gegenüber dieser Forderung gibt es nicht. Sie ist nicht verjährt. Griechenland hat auf diese Forderungen nicht verzichtet. Sie sind auch nicht durch andere Vereinbarungen erledigt, insbesondere nicht durch den deutsch-griechischen Vertrag von 1960, da dieser nur »Wiedergutmachungsansprüche« wegen spezifisch nationalsozialistischer Verfolgung zum Gegenstand hatte, nicht aber Reparationen. Die Forderung ist fällig, denn mit dem 2+4-Vertrag endete die Stundungswirkung des Londoner Schuldenabkommens.
Zahlt Deutschland auch weiterhin nicht, müsste Griechenland ein zuständiges Gericht anrufen. Ein Prozess wäre denkbar vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Diese Möglichkeit halte ich aber für wenig aussichtsreich, da Deutschland diesem Verfahren zustimmen müsste, was es kaum machen wird. Die andere Möglichkeit wäre die Anrufung eines Schiedsgerichts gemäß dem Londoner Schuldenabkommen. Letzteres sieht in Art. 28ff vor, dass über alle Streitfälle aus diesem Abkommen ein Schiedsgericht mit Sitz in Koblenz entscheidet. Griechenland könnte fordern, dass dieses einberufen wird. Dies wäre meines Erachtens der erfolgversprechendste Rechtsweg.
Was halten Sie juristisch von dem Argument, da es keinen Friedensvertrag gegeben hat, sei eine juristische Entscheidung gegen Deutschland nicht mehr möglich?
Das ist kein Argument, sondern ausschließlich Ausdruck der europäischen Großmacht Deutschland, die glaubt, angesichts ihrer Führungsrolle in Europa das Definitionsmonopol für völkerrechtliche Fragen zu besitzen. Der Trick des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher bestand darin, dass die bloße Vermeidung eines Wortes schon ausreichen sollte, um Ansprüche zum Erlöschen zu bringen. Das ist eine Farce. Bereits mehrfach haben bundesdeutsche Gerichte entschieden, dass der 2+4-Vertrag die Stundungswirkung des Londoner Schuldenabkommens beendet hat, so der Bundesgerichtshof im Distomo-Urteil vom 26. Juni 2003: 2+4 sei zwar kein Friedensvertrag im herkömmlichen Sinne, er habe aber das Ziel, eine abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland zu treffen. Also sind alle Reparationsansprüche seither fällig.
Was würde juristisch passieren, wenn die griechische Regierung ihre Drohungen umsetzt und tatsächlich deutsches Eigentum in Griechenland beschlagnahmt?
Das ginge erst, wenn Griechenland ein Urteil gegen Deutschland erstreiten würde. Da wird in der öffentlichen Wahrnehmung etwas verwechselt. Die Vollstreckung im Fall Distomo wäre möglich durch Pfändung deutschen Eigentums in Griechenland. Denn in diesem Fall gibt es einen Titel zugunsten der Klägerinnen und Kläger über etwa 28 Millionen Euro, der vollstreckbar ist. Dies ist aber bislang der einzige Rechtstitel in Griechenland, der vollstreckbar ist. Wenn die griechische Regierung die Vollstreckung erlauben würde, dann könnten deutsche Liegenschaften versteigert werden. Dies würde vermutlich einen neuen Rechtsstreit auslösen, denn die Bundesregierung würde sicherlich vor den griechischen Gerichten klagen und versuchen, die Maßnahmen zu stoppen.
Sehen Sie in der Frage der Rückzahlung des Kredits, der während der NS-Zeit aufgenommen wurde, bessere Chancen, dass Deutschland zahlen muss?
In rechtlicher Hinsicht eher nicht, denn diese Forderung besteht neben den Reparationsforderungen. Beide Forderungen sind in rechtlicher Hinsicht nicht bezweifelbar. Politisch könnte die Rückzahlung der Zwangsanleihe leichter durchsetzbar sein, weil sich eventuell das Wort »Reparationen« vermeiden ließe und damit die nachfolgenden Forderungen. Das ist aber nur die deutsche Perspektive, aus griechischer Sicht spielt es letztlich keine Rolle.
Forderungen nach Entschädigung waren in der außerparlamentarischen und antifaschistischen Linken weitverbreitet. Unterstützt diese derzeit die Forderung nach Entschädigungszahlungen an Griechenland?
Die Debatte um die Entschädigung für NS-Zwangsarbeit war jedenfalls wesentlich breiter und intensiver als die jetzige Auseinandersetzung. Sicher gibt es Unterstützung für das Thema, aber es ist nicht das große Thema der antifaschistischen Linken.
Hat also auch ein großer Teil der außerparlamentarischen Linken einen Schlussstrich unter die deutsche NS-Vergangenheit gezogen?
Das würde ich so nicht unterschreiben. Die große Zahl der Anfragen nach Informationen und Veranstaltungen gerade in der letzten Zeit zeigt uns, dass Interesse da ist. Es hat allerdings bislang nicht gereicht, um eine Kampagne zu initiieren, die auch ausreichend politischen Druck auf die deutsche Regierung entwickeln könnte.
Im Tarifkonflikt mit dem Online-Versandhändler Amazon versuchte die Gewerkschaft Verdi im Ostergeschäft den Druck zu erhöhen und rief an mehreren Standorten zum Streik auf. Die Jungle World sprach mit Roberto Luzzi. Er ist Aktivist der italienischen Basisgewerkschaft SI Cobas, die Arbeitskämpfe in der Logistikbranche organisiert. Mit einer SI-Cobas-Delegation besuchte er am 31. März die streikenden Amazon-Arbeiter in Leipzig.
Wie war Ihr Eindruck vom Arbeitskampf?
Es ist sehr positiv, dass in Deutschland die Organisierung der Amazon-Mitarbeiter gelungen ist und sie mehrmals in den Streik getreten sind. In Italien ist uns das bisher nicht gelungen.
Was sind dort die Probleme?
Die meisten Amazon-Beschäftigten in Italien haben extrem befristete Verträge, was eine Organisierung sehr schwer macht. Zudem ist das größte italienische Amazon-Werk in Piacenza wie eine Festung ausgebaut, so dass wir nicht mit den Beschäftigten sprechen können.
Haben Sie in Leipzig auch kritische Eindrücke gesammelt?
Mir ist negativ aufgefallen, dass bei der Streikversammlung nur Gewerkschaftsfunktionäre und nicht die Beschäftigten zu Wort kamen. Zudem gab es keine Versuche, die Beschäftigten, die sich nicht am Streik beteiligten, am Betreten des Werkes zu hindern. Auch LKW konnten während des Streiks ungehindert auf das Gelände fahren und es verlassen. Es gab weder Blockaden noch Versuche, mit Flugblättern für den Streik zu werben.
Konnten Sie Kontakte mit den Kollegen knüpfen?
Wir haben auf der Streikversammlung über die Basisgewerkschaft SI Cobas und die Arbeitskämpfe in der italienischen Logistikbranche informiert und eine mit viel Applaus bedachte Solidaritätserklärung verlesen.
Könnten sich die transnationalen Kontakte verstetigen?
Bei konkreten Streikaktionen ist es einfach, Solidarität auszudrücken und mit den Kollegen in Kontakt zu kommen. Viel schwieriger sind offizielle Verbindungen zwischen den Gewerkschaften. Das liegt daran, dass die DGB-Gewerkschaften nur Kontakte zu den großen offiziellen Gewerkschaftsbünden in Italien unterhalten. Mit denen ist eine Zusammenarbeit bei der Firma DHL möglich. Doch in der Regel bekämpfen sie die Basisgewerkschaft SI Cobas in der Logistikbranche und haben sich sogar in einem Brief an die Logistikunternehmen beschwert, dass sie mit uns einen besseren Tarifvertrag als mit ihnen abgeschlossen haben. Dabei ist dieser Erfolg das Ergebnis unserer kämpferischen Gewerkschaftspolitik
ZWANGSRÄUMUNG Margit Englert beschreibt in ihrem Buch das Schicksal von Rosemarie F., die aus ihrer Wohnung zwangsgeräumt wurde und danach starb
taz: Frau Englert, wo lernten Sie Rosemarie F. kennen?
Margit Englert: Ich habe in den Jahren 2012/13 einige Monate im Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ mitgearbeitet. Rosemarie ist zu einer Demonstration des Bündnisses gekommen, als sie den Brief von der Gerichtsvollzieherin bekommen hatte. Rosemarie war sehr verzweifelt und krank, am Ende ihrer Kräfte, aber sie wollte kämpfen.
Was war Ihre Motivation, zwei Jahre nach dem Tod von Rosemarie F. dieses Buch über ihren Fall zu schreiben?
Ich wollte die Unmenschlichkeit der neoliberalen Stadtentwicklung aufzeigen. Denn Rosemarie ist ja nicht die Einzige, es findet in Berlin ein Austausch eines großen Teils der Bevölkerung statt. Was das für die Menschen bedeutet, die aus ihren Wohnungen geschmissen werden, wird in der öffentlichen Diskussion weitgehend tabuisiert.
Warum wurde der Tod von Rosemarie F. nach einer Zwangsräumung kein Skandal?
Wenn so ein Fall wie Rosemaries Tod öffentlich als Skandal wahrgenommen wird, geht man in der Regel schnell wieder zur Tagesordnung über. Und auf der Tagesordnung steht halt, Gewinne mit Immobilien zu machen oder sich mit gutem Einkommen in Berlin eine der frei werdenden Wohnungen zu nehmen oder sich vorbildlich um die eigene Altersversorgung zu kümmern -durch Investition in Immobilien.
Im Untertitel werden „Einblicke in den sozialstaatlich-immobilienwirtschaftlichen Komplex“ versprochen. Was meinen Sie damit?
Mieterhöhung durch Neuvermietung ist eine der wichtigsten Renditestrategien auf dem Immobilienmarkt. Rosemarie ist zwangsgeräumt worden, weil das Grundsicherungsamt ihre Miete aus unterschiedlichen Gründen nicht überwiesen hatte. Die Räumung ermöglichte es der Vermieterin, die Wohnung von Rosemarie zu einer deutlich höheren Miete wieder zu vermieten. Sozialbehörden generieren also Gewinne für die Immobilienwirtschaft. Eine aktuelle Studie, die von StadtforscherInnen an der Humboldt-Universität erstellt wurde, kommt flächendeckend für ganz Berlin zu demselben Ergebnis.
Was kritisieren Sie an den Medienreaktionen nach dem Tod von Rosemarie F.?
Die bürgerliche Presse hat Rosemarie in vielfacher Weise diffamiert, ist über ihre persönlichen Grenzen gegangen und hat so die politisch-ökonomischen Verhältnisse und auch das Handeln der Behörden aus dem Fokus genommen. Nach einem der schlimmsten Artikel sagte sie: „Das überlebe ich nicht.“
Frau Englert, aus welchem Grund stellen Sie das Buch zwei Jahre nach dem Tod von Rosemarie F. in der Nähe ihres ehemaligen Wohnorts im Café am Schäfersee vor?
Weil Rosemarie in diesem Café gemeinsam mit ihren UnterstützerInnen aus dem Bündnis einige Tage vor ihrem Tod dort eine Nachbarschaftsversammlung abgehalten hat. Viele Menschen auch in diesem Teil Berlins stehen unter immensem Druck, weil sie ihre Mieten kaum noch bezahlen können oder schon keine eigenen Wohnungen mehr haben und die Behörden oft alles andere tun, als ihnen zu helfen, genauso wie bei Rosemarie. Ich fänd’s schön, auch mit dieser Initiative wieder praktisch-politisch zu arbeiten.
INTERVIEW: PETER NOWAK
Margit Englert: „Rosemarie F. Kein Skandal“. Edition Assemblage, 2015, 128 Seiten
Dass ein EU-Mitglied auch außenpolitisch auf Linie sein soll, bekommt aktuell der griechische Ministerpräsident zu spüren
Der tschechische Präsident Milos Zeman gehört zu den Politikern, die es noch für politisch richtig finden, die Soldaten zu ehren, die Europa 1945 von dem NS-Terror befreiten. Deswegen will er am 9. Mai auf der Siegesfeier in Moskau teilnehmen und riskierte einen Eklat.
Der US-Botschafter in Prag nannte diesen Besuch „ziemlich heikel“ [1] und wurde dafür von dem tschechischen Präsidenten wiederum heftig angegriffen [2]. Er wurde dafür allerdings auf der Prager Burg, dem Sitz des tschechischen Präsidenten, zur unerwünschten Person erklärt.
Der Streit hat auch eine innenpolitische Komponente in Tschechien. Zeman war der Kandidat der eher EU-kritischen Wähler und steht seit seinem Amtsantritt heftig in der Kritik des prowestlichen
Flügels, deren Wunschkandidat Karel Schwarzenberg als prononciert prowestlich gilt und bestimmt nicht am 9. Mai ohne Rückendeckung der EU nach Moskau gefahren wäre. Doch die Mehrheit der tschechischen Wahlbevölkerung wollte einen Kandidaten, der schon wie Zemans Vorgänger Vaclav Klaus auf Distanz auch zum Westen bleibt.
Wird der deutsche Stammtisch den Griechen die Besetzung nie verzeihen?
Dass heute ein EU-Mitglied auch außenpolitisch auf Linie sein soll, bekommt aktuell der griechische Ministerpräsident Tsipras zu spüren. Sein Moskau-Besuch war bereits seit Wochen angekündigt, doch EU- Politiker und Mitglieder der Bundesregierung tönen so, als würde da ein Politiker die EU-Politik verraten.
Besonders arrogant äußerte sich der CSU-Politiker Max Straubinger im Interview [3]mit dem Deutschlandfunk. Dabei wurde er von dem Redakteur Gerd Breker tatkräftig sekundiert, der dem Politiker die rechtskonservativen Stichworte gab und die Reparationsforderungen der griechischen Regierung und den Russlandbesuch von Tsipras als Provokation Deutschlands auffasst. Die erste Frage lautete: „Herr Straubinger, ist die Geduld mit Griechenland unendlich? Was müssen wir uns eigentlich alles noch zumuten?“ Dass ein Land, das von Deutschen während des NS-Zeit ausgeplündert wurde und noch heute auf eine Rückzahlung eines damals aufgenommen Zwangskredits warten muss, ist nicht die Zumutung, sondern eine griechische Regierung, die die Rückzahlung verlangt und an die nicht gezahlten Reparationen erinnert.
Angesichts der Wortwahl gegen Griechenland beim Deutschlandfunk und nicht etwa bei einem
Privatsender der Jungen Freiheit, kann man schon feststellen, dass der deutsche Stammtisch den Griechen die Besetzung nie verzeihen wird. Auch dass die Außenpolitik Griechenlands seit 1945 nicht mehr von Berlin diktiert wird, scheint Herrn Breker unerträglich. So lautete auch seine nächste Frage an Max Straubinger: „Morgen wird der griechische Ministerpräsident Tsipras nach Moskau reisen, und diese Moskaureise wird von Athen bewusst zum Spiel mit der gemeinsamen europäischen Außenpolitik. Das ist doch für den Rest Europas eine Provokation, Herr Straubing.“
Der Politiker musste wohl im Stillen bedauernd einräumen, dass seit 1945 auch Griechenland kein deutsches Protektorat mehr ist. „Also gut, jeder Ministerpräsident und jeder Staat kann eigens handeln in der Außenpolitik und dementsprechend natürlich auch einen Besuch der griechischen
Regierung beziehungsweise des Ministerpräsidenten hier auch in Moskau absolvieren. Dagegen ist nichts einzuwenden.“
Wenn aber Breker und viele andere in Deutschland in der aktuellen griechischen Politik, wenn sie deutsche NS-Schulden einfordert oder einen Moskau-Besuch plant, eine Provokation Deutschlands und der EU sehen, lässt das tief blicken. Das EU-Europa hofft eben tatsächlich wieder, nicht nur die Wirtschafts-, sondern auch die Außenpolitik seiner Mitglieder kontrollieren zu kennen. Athen hat dem weniger entgegenzusetzen als Prag. Aber auch Zeman war keineswegs der Wunschkandidat von Berlin, sondern Schwarzenberg. Genau deswegen ging die Wahl in Tschechien so aus.
ARBEITSKAMPF Die Auseinandersetzung mit BMW vor 30 Jahren sieht der damalige Betriebsrat Rainer Knirsch auch als Übung für heute
taz: Herr Knirsch, Mitte der achtziger Jahre standen Sie als BMW-Betriebsrat im Mittelpunkt heftiger Auseinandersetzungen, die jetzt in dem Buch „Macht und Recht im Betrieb“ dokumentiert sind. Warum wollte das BMW-Management Sie und Ihre beiden Betriebsratskollegen loswerden?
Rainer Knirsch: Weil wir unser Amt als Betriebsräte ernst nahmen: für höheres Urlaubsgeld, für Lohngruppenerhöhungen, gegen Krankheitskündigungen. Eine Rationalisierungsstudie haben wir abgelehnt und damit etwa 50 Arbeitsplätze gesichert. Wir waren Gewerkschafter, die auch als Betriebsräte ihr Recht auf Organisierung der Belegschaft und auf Teilnahme an Streiks ausübten.
Was hat Sie motiviert, den Kampf gegen die Entlassung über drei Jahre zu führen?
Unsere gewerkschaftliche Einstellung lautet: Wir wollen „Recht, Gerechtigkeit und Demokratie, die nicht am Werkstor endet!“ Die IG-Metall-Schulung für Betriebsräte haben wir umgesetzt, in der gewarnt wird vor Korrumpierbarkeit und Verrat an den abhängig Beschäftigten. Außerdem waren wir verbunden mit den Beschäftigten im Betrieb und unterstützt durch ein Solidaritätskomitee von zuletzt über 2.000 Menschen.
Welche Rolle spielte dieses Solidaritätskomitee bei Ihrem Erfolg, der Wiedereinstellung?
Es schuf Öffentlichkeit, verbreitete die Informationen an Medien, Einzelpersonen und die Leute im Werk. Es organisierte politische und finanzielle Solidarität außerhalb des Betriebes. Das war maßgeblich für unseren Erfolg.
Was ist nach 30 Jahren an Ihrem Fall noch interessant?
Das „Union Busting“ der achtziger Jahre war der Anfang: Die systematische Bekämpfung von uns aktiven Gewerkschaftern durch insgesamt 20 kettenartige Kündigungen; durch Inszenierung einer hetzerischen Betriebsversammlung zur Amtsenthebung, zuletzt durch Einsatz einer Detektei und Rufmord über Presse und Rundfunk. Ähnliche Methoden der Arbeitgeber erleben wir heute ständig, etwa gegen Betriebsräte bei Neupack oder Enercon.
Gibt es Parallelen zu dem Solidaritätskomitee, das die Entlassung der Kassiererin Emmely wegen angeblich nicht abgerechneter Kassenbons erfolgreich bekämpfte?
Auch diese Solidaritätsarbeit war beispielhaft, gerade für die Kollegin, die bestraft wurde, weil sie bis zuletzt an den Streiks ihrer Gewerkschaft teilgenommen hatte: Solidarität hilft siegen!
Rainer Knirsch
69, begann 1975 als Montagearbeiter im BMW-Motorradwerk und war seit 1978 Betriebsrat, von 1994 bis 2002 Betriebsratsvorsitzender. Heute ist er ehrenamtlicher Bildungsreferent der IG Metall.
Der „Fall BMW-Berlin“
Das Buch „Macht und Recht im Betrieb. Der Fall BMW-Berlin“ ist eine Dokumentation einer dreijährigen Auseinandersetzung um die Kündigung von drei unliebsamen IG-Metall-Betriebsräten des BMW-Motorradwerks in Spandau. Von 1984 bis 1987 kämpften die drei gegen ihre Entlassung – bis sie vor Gericht siegten und wieder eingestellt werden mussten.
Das im Verlag Die Buchmacherei erschienene Buch stellt den Fall auch als ein frühes Beispiel des „Union Busting“ vor, also der systematischen Bekämpfung, Unterdrückung und Sabotage von Arbeitnehmervertretungen. Heute am Montag präsentiert es Rainer Knirsch, einer der drei damaligen Betriebsräte, um 19 Uhr im Café Commune, Reichenbergerstr. 157.
Mayte Marin ist Mitglied der ›Grupo de Acción Sindical‹, die bessere Arbeitsbedingungen für ausländisches Pflegepersonal in Deutschland erreichen möchte. Anfang Februar hat die Gruppe ihre neue Kampagne »Die Vertragsstrafe bringt mich um« begonnen.
Um was geht es bei Ihrer neuen Kampagne?
Grundsätzlich möchten wir mit dieser Kampagne die ungerechten Arbeitsbedingungen des ausländischen Krankenpflegepersonals in Deutschland an die Öffentlichkeit bringen. Wir haben herausgefunden, dass den spanischen und deutschen Institutionen, die diese Vereinbarungen abschließen, die Ungerechtigkeiten gar nicht bewusst sind.
Wie sehen die Arbeitsbedingungen aus?
Die Krankenpflegerinnen und -pfleger müssen zwölf bis 14 Tage lang ohne Pause arbeiten und bekommen bis zu 40 Prozent weniger Lohn als die deutschen Kollegen. Manche arbeiten ohne Vertrag, bis sie das Deutsch-Niveau B2 erreichen. Manchmal müssen sie Tätigkeiten verrichten, die nicht in den Bereich der Krankenpflege fallen. Und wenn sie den Job kündigen wollen, bekommen sie eine Konventionalstrafe, die in einigen Fällen bis zu 12 000 Euro beträgt.
Warum betrifft das vor allem ausländisches Pflegepersonal?
Ich nehme an, weil diese Menschen einfach nicht dagegen kämpfen können. Einerseits beherrschen sie manchmal die Sprache nicht gut genug, andererseits kommen sie aus einem Land mit einer hohen Arbeitslosigkeit und sehen sich deswegen nicht in der Position, Beschwerden vorzubringen.
Wie ließe sich die Situation verbessern?
Wir fordern, dass das ausländische Krankenpflegepersonal hier in Deutschland Unterstützung von den verschiedenen Institutionen erhält, die in diesem Bereich eine Rolle spielen. Wir möchten, dass alle Krankenpflegerinnen und -pfleger in Deutschland die gleichen Arbeitsbedingungen haben, da sie die gleiche Arbeit machen. Darüber hinaus möchten wir natürlich auch Schluss mit dieser Strafe machen, da sie am Rande der Legalität ist. Des Weiteren fordern wir Personen in der Krankenpflege in ganz Deutschland zur aktiven Teilnahme an der Kampagne auf, indem sie Berichte, Fotos und Dokumente über diese Missstände veröffentlichen.
Arbeiten Sie mit deutschen Gewerkschaften zusammen?
Ja, wir setzen uns ab und zu in Verbindung mit Verdi oder mit der FAU, je nachdem, wie sie uns im einzelnen Fall unterstützen und helfen können.
Im österreichischen Graz ist der Wohnungsmarkt zu teuer für viele Menschen
Elke Kahr ist seit 2005 Stadträtin für Wohnungsangelegenheiten in Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs. Sie ist Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), die bei den letzten Grazer Gemeinderatswahlen im Jahr 2012 mit rund 20 Prozent zweitstärkste Kraft wurde. Am Donnerstag berichtete sie im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Wohnen in der Krise« https://www.youtube.com/user/WohneninderKrise der Berliner Mietergemeinschaft über ihre Arbeit. Mit ihr sprach Peter Nowak.
nd: Warum ist bei der KPÖ gerade die Wohnungsfrage so zentral?
Kahr: Weil viele Menschen mit niedrigen Einkommen Probleme haben, ihre Wohnungen sowie Strom und Heizung bezahlen zu können. Auch staatliche Zulagen helfen da kaum. Vielen Politikern war lange Zeit völlig egal, wie die Menschen mit wenig Einkommen lebten. Sie setzten auf den Markt, der alles regeln sollte.
Was setzt Ihre Partei gegen dieses Marktvertrauen?
Als Wohnungsstadträtin war es mein zentrales Ziel, die Zahl der Gemeindewohnungen zu erhöhen. Wer seinen Hauptwohnsitz oder seinen Arbeitsplatz in Graz hat, kann ein Gesuch stellen, das dann nach Kriterien wie Einkommen, gesundheitlicher oder familiärer Situation bewertet wird. Damit haben die Menschen mit wenig Einkommen eine Alternative zu den teuren Marktpreisen. Bei den Neubauprojekten der letzten Jahre liegen die Mieten der Gemeindewohnungen mit Betriebskosten und Heizung bei sechs Euro pro Quadratmeter. Für 50 Quadratmeter sind das 300 Euro im Monat. Auf dem privaten Wohnungsmarkt muss man dagegen mit 540 bis 700 Euro rechnen.
Ist mit den Gemeindewohnungen das Wohnungsproblem in Graz gelöst?
Nein, denn sie machen derzeit nur acht bis zehn Prozent des gesamten Wohnungsbestands aus.
Was sind die Hürden einer sozialen Wohnungspolitik?
Dem globalen Druck des Neoliberalismus sind wir natürlich auch ausgesetzt. Auf Bundes- und Landesebene gibt es in Österreich fast nur vermieterfreundliche Gesetze. Zudem kommt Druck aus den europäischen Institutionen in Brüssel, die Stabilitätskriterien einzuhalten.
Sehen Sie eine Gefahr, als Stadträtin Teil der Macht zu werden?
Nein, denn die KPÖ ist keine Koalition eingegangen und stimmt keinen Gesetzen und Maßnahmen zu, die die soziale Situation der Menschen verschlechtert.
Dennoch hat ihre Partei im vergangenen Jahr dem Doppelhaushalt der Stadt Graz zugestimmt.
Ja. Wir konnten mit den anderen Parteien Vereinbarungen erzielen, die die Lebensbedingungen vieler Menschen verbessern. Dazu gehören der Bau von 500 neuen Gemeindewohnungen, die Verhinderung von Streichungen im Sozial- und Kulturbereich und von Privatisierungen.
Kooperieren Sie auch mit den sozialen Bewegungen?
Ja, immer wenn wir an die parlamentarische Grenzen stoßen, wenden wir uns an die Bevölkerung und soziale Bewegungen. So konnten wir 2005 mit einem Volksbegehren verhindern, dass der Bestand an Gemeindewohnungen weiter verringert wird. Auch im Kampf gegen Sozialkürzungen arbeiten wir mit außerparlamentarischen Bewegungen zusammen.
Über die möglichen Perspektiven von Hausbesetzungen heute - ein Gespräch mit Armin Kuhn
In den letzten Wochen wird in Berlin wieder über Hausbesetzungen[1] als Aktionsform zur Verhinderung von Vertreibungen von Mietern diskutiert[2]. Allerdings wird es ein Revival der alten Berliner Besetzerbewegung kaum geben, meint Armin Kuhn[3].
Der Politologe hat kürzlich im Dampfbootverlag das Buch…