»Wer krank ist, wird entlassen«

Bärbel Schönafinger ist Redakteurin bei ­labournet.tv, einer Internet-Plattform für Filme aus der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung. Die Gruppe ist auf der Suche nach Fördermitgliedern.

Seit mehreren Jahren beschäftigen Sie sich mit den Arbeitskämpfen im norditalienischen Logistikbereich. Im vergangenen Jahr haben Sie einen Film mit dem Titel »Die Angst wegschmeißen« gedreht. Was interessiert Sie an diesen Arbeitskämpfen?

Ich war im März 2014 bei einem Netzwerktreffen der europäischen Basisgewerkschaften und während eines nicht ganz so interessanten Beitrags zupfte mich einer aus der italienischen Delegation am Ärmel und zeigte mir Bilder, auf denen zu sehen ist, wie die italienische Polizei auf Streikende einprügelte. »Das passiert jede Woche«, sagte er mir und erzählte von einem Arbeitskampf bei Granarolo, einem großen Milchlieferanten bei Bologna, der seine Lagerarbeiter zwingen wolle, »wegen der Krise« auf 30 Prozent ihres Lohns zu verzichten. Und dass er dort gerade in seinem Auto vor dem Werkstor schlafe und tagsüber an den Blockaden teilnehme, um seine Kollegen zu unterstützen. Bei seinem Arbeitsgeber, dem Speditionsunternehmen Bartolini, hätten sie schon gekämpft, gewonnen und die Machtverhältnisse im Betrieb geändert.

Die Kämpfe hatten 2011 bei TNT in Piacenza angefangen und seitdem hat sich die Bewegung unter den migrantischen Lagerarbeiterinnen und -arbeitern immer mehr ausgebreitet. Der Kollege war wirklich begeistert und das war sehr ansteckend. Da es in der Bundesrepublik keinerlei Berichterstattung über diese Streikwelle gab, beschloss ich mit einer Kollegin, diese Lücke zu füllen und einen Film darüber zu machen.

Was faszinierte Sie an dieser Streikwelle?

Wir waren fasziniert, weil es ausgerechnet die überausgebeuteten, erpress­baren Migrantinnen und Migranten waren, die sich zur Wehr setzten; und natürlich, weil sie so erfolgreich waren. Sie wurden von einer sehr kämpferischen und klassenbewussten kleinen Basisgewerkschaft, S.I. Cobas, unterstützt, aber der Impuls für die Streikwelle ging von den Beschäftigten und ihrer eigenen Organisation in den Warenlagern aus. S.I. Cobas unterstützte sie bei der Blockade ihrer Warenlager und den Verhandlungen. Außerdem stellten sie die ersten Kontakte zu linken Gruppen in der Umgebung her, die dann ebenfalls zu den Blockaden kamen.

Was sind die Forderungen der Beschäftigten?

Die Beschäftigten in der italienischen Logistikbranche sind zu 95 Prozent Migrantinnen und Migranten. Sie werden von Vorarbeitern rassistisch diskriminiert, Frauen sind sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Sie werden mit gefälschten Lohnabrechnungen um Teile ihres Lohns betrogen, haben oft keine geregelten Arbeitszeiten und müssen teilweise stundenlang vor den Toren warten, ohne zu wissen, ob sie arbeiten können oder nicht. Wenn sie aufmucken oder sich gewerkschaftlich organisieren, werden sie beim nächsten nominellen Wechsel des Subunternehmens nicht mehr eingestellt. Sie gehen teilweise mit Bandscheibenvorfällen zur Arbeit. Wer krank ist, wird entlassen. Und so weiter. Sie fordern gewöhnlich die Einhaltung des CCNL, des Nationalen Tarifvertrags für die Logistikbranche. Der sieht Mindeststandards vor wie eine garantierte Mindestarbeitszeit von 168 Stunden im Monat, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, korrekte Lohnabrechnungen. Außerdem setzen die Streikenden die Entlassung von bestimmten Vorarbeitern durch. Für manche Kollegen verdreifachte sich ihr effektiver Nettolohn, nachdem sie in ihrem Warenlager erfolgreich gekämpft hatten. Oft geht es zudem um unbefristete Verträge.

Die Kämpfe werden größtenteils von Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Norditalien getragen, die als schwer organisierbar gelten. Wie ist das zu erklären?

Ich weiß nicht, wieso migrantische Beschäftigte als schwer organisierbar gelten. In der Bundesrepublik ist es ja so, dass sie von den DGB-Gewerkschaften viel zu wenig adressiert werden. Die Gewerkschaften könnten viel erreichen, wenn sie gut ausgestattete Anlaufstellen für migrantische und illegalisierte Beschäftigte schaffen und ihnen helfen würden, sich gegen Lohnraub oder die neue Asylgesetzgebung zur Wehr zu setzen. Sobald es Anlaufstellen gäbe und eine minimale Struktur, um die Selbstorganisation zu unterstützen, sowie erste Erfolge, die sich dann, wie in Italien, in den migrantischen Communities herumsprächen, gäbe es auch hierzulande migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich zur Wehr setzen. Zumindest legt die Streikwelle in Italien das nahe, wo die Leute streikten, obwohl sie wegen des berüchtigten Bossi-Fini-Gesetzes neben dem Verlust des Arbeitsplatzes auch ihre Aufenthaltsgenehmigung riskierten.

In dem Film gehen Sie auch auf die Rolle der Frauen im Arbeitskampf ein. Welchen Anteil haben sie dabei?

In den allermeisten Warenlagern arbeiten nur Männer, abgesehen von den Putzfrauen. Aber im Warenlager des Modeversands Yoox und seit diesem Sommer bei H & M, wo vor allem Frauen beschäftigt sind, sind es natürlich die Frauen, die kämpfen. Die sogenannte Arbeiterbewegung war und ist immer schon eine Arbeiterinnenbewegung. So auch in dieser Streikwelle und auch was die Unterstützung angeht. Es wird Zeit für einen unverstellten Blick und auch für einen angemessenen Sprachgebrauch, wenn es um Arbeiterinnen und Arbeiter und ihre Kämpfe geht.

Welche Rolle spielen die Gewerkschaften?

In Italien gibt es drei große Gewerkschaftsdachverbände. Sie haben den Logistikbeschäftigten, die mit gefälschten Lohnabrechungen zu ihnen kamen und dem Wunsch, sich zur Wehr zu setzen, gesagt, dass man nichts machen könne und dass sie sich einen anderen Job suchen sollten. Ein Arbeiter, den wir bei der Blockade eines GLS-Lagers in Bergamo getroffen haben, hat es so formuliert: »Das einzige, was sie machen, ist, Mitgliedsbeiträge zu kassieren und unter dem Tisch Geld anzunehmen.« Die kampfwilligen Beschäftigten mussten also Gewerkschaften finden, die bereit waren, sie zu unterstützen. Im Bereich der Logistik haben sie bei S.I. Cobas Mitstreiter gefunden, denen es nicht darum ging, ihre Gewerkschaft als Organisation voranzubringen, sondern die die Streiks als Klassenkämpfe begriffen und sie aus genau diesem Grund mit schier unbegrenztem Elan unterstützten. S.I. Cobas wurde erst 2010 gegründet, damals war das ein Dutzend älterer Herren mit Jahrzehnten Erfahrung auf dem Buckel. Jetzt hat die Gewerkschaft über 10 000 Mitglieder, ist aber weit davon entfernt, als Apparat wirklich zu funk­tionieren, in dem Sinne, dass sie in der Lage wäre, alle Mitgliedsbeiträge einzusammeln oder ihre Aktiven zu bezahlen. Es sind vor allem Pensionierte, junge Arbeitslose oder Delegierte in den Warenlagern, die den Laden schmeißen.

Haben die Beschäftigten im modernen Logistiksektor nicht eine besondere Macht, weil sie schnell alles lahmlegen können?

Es ist sicher von entscheidender Bedeutung, dass die Beschäftigten in der Logistikbranche sehr großen finanziellen Schaden anrichten können, wenn sie die Tore für ein paar Stunden blockieren. Damit zwingen sie die Arbeitgeber an den Verhandlungstisch. Solange es also genug Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich beteiligen, beziehungsweise Solidarität von Beschäftigten aus anderen Warenlagern und Unterstützung aus der linken Szene, können sie sich in der Regel durchsetzen. Die Tatsache, dass sie großen Schaden anrichten können, reicht also nicht aus, um sich gegen die Kapitalseite durchzusetzen, sie macht es aber leichter.

Mitte September wurde Abd al-Salam Ahmed Eldanf in Piacenza bei der Blockade eines bestreikten GLS-Warenlagers von einem Firmenwagen überfahren und war sofort tot. In den deutschen Medien war darüber kaum etwas zu lesen. Dabei gab es in Deutschland in den vergangenen Jahren auch einige Versuche, Solidarität mit den Logistikarbeitern in Italien zu organisieren. Wie war das Ergebnis?

Ernüchternd. Zu den Aktionen kamen nur eine Handvoll Leute. Die Italiener haben sich aber trotzdem darüber gefreut.

Auch auf einer internationalen Konferenz zum transnationalen Streik, die Ende Oktober in Paris stattfand, wurde über Arbeitskämpfe im Logistiksektor diskutiert. Könnte hier eine transnationale Koordination entstehen?

Das ist vielleicht ein bisschen zu viel erwartet. Ich denke, es geht einfach immer wieder darum, dass sich mobilisierte Beschäftigte aus verschiedenen Standorten und Ländern treffen und austauschen. Das ist auch in Paris passiert.

http://jungle-world.com/artikel/2016/45/55163.html

Interview: Peter Nowak

»350 Stunden im Monat«

An einem Gericht in der polnischen Stadt Gorzów findet demnächst ein Prozess statt, der für die Arbeitsverhältnisse im gesamten Gesundheitswesen des Landes von Bedeutung ist. Norbert Kollenda war bei Attac für die Kontakte zu den sozialen Bewegungen in Polen zuständig und beteiligt sich an der Kooperation von Basisgewerkschaften.

Sie rufen zur solidarischen Begleitung des Arbeitsgerichtsprozesses von  am 24. November auf. Um was geht es?

Barbara Rosołowska will erreichen, dass die Klinik die Form ihrer Anstellung von einem Vertrag als Selbst­ändige zu einem regulären Arbeitsvertrag ändert. Weil ihre bisherigen Bemühungen nicht fruchteten, hat sie sich an das Arbeitsgericht gewandt. Hier geht es darum zu zeigen, dass sie nicht die einzige ist, die als Scheinselbständige arbeitet und die gleiche Arbeit verrichtet wie die anderen. Eine Zeugin wurde von der Richterin gefragt, warum sie denn diese Anstellung gewählt habe, wenn sie der Meinung sei, dass dies ungünstig sei. Daraufhin sagte die Zeugin unter Tränen: »Was hätte ich denn machen sollen? Nach 23 Jahren wurde ich entlassen und das war die einzige Bedingung, unter der ich eingestellt wurde!« Die Richterin erwiderte darauf: »Sie sind hier vor Gericht, halten sie ihre Emotionen im Zaum!«

Sind das Einzelfälle oder ist das Alltag in polnischen Kliniken?

Es scheint so zu sein, dass die Kliniken mit der Scheinselbständigkeit den großen Mangel an Beschäftigten ausgleichen wollen. Denn in vergleichbaren Fällen können diese bis zu 300 oder sogar 350 Stunden im Monat arbeiten. Es gibt Schwestern und Hebammen, die Zwölf-Stunden-Schichten schieben und kaum einmal frei machen. Damit gefährden sie nicht nur ihre Gesundheit.

Rosołowska gehört zur anarchosyndikalistischen »Arbeiterinitiative«. Wird sie auch von anderen Gewerkschaften unterstützt?

An der Basis gibt es auch aus den anderen Gewerkschaften Unterstützung. Bei der Verhandlung am 24. November wird als Zeuge der Vorsitzende der Gewerkschaftsgruppe von Solidarność in der Klinik vernommen. Wir können gespannt sein, was er zu den Arbeitsbedingungen zu sagen hat.

Vor einigen Jahren haben in Warschau Krankenschwestern gestreikt. Gibt es im polnischen Care-Sektor gewerkschaftlichen Widerstand?

Leider ist die Gründung einer einheitlichen Gewerkschaft für die Beschäftigten im Gesundheitswesen in Polen bisher gescheitert. Die größte ist die Gewerkschaft der Krankenschwestern und Hebammen, die dem Dachverband »Forum der Gewerkschaften« angehört. Sie hatten eine äußerst aktive Vorsitzende, die zusammen mit der Gewerkschaft »Sierpień 80« ein europäisches Netzwerk aufbauen wollte. Aber sie wurde nicht wiedergewählt.

Zahlreiche Care-Beschäftigte aus Polen arbeiten in Deutschland. Welche Auswirkungen hat das auf das Gesundheitswesen in Polen?

Barbara Rosołowska verdient mit ihren 14 Diensten á zwölf Stunden brutto 4 200 Zloty, es bleiben netto 2 000 Zloty, das sind ungefähr 500 Euro. Nach Gorzów hat sie in nur unregelmäßigen Abständen eine Verbindung mit dem Zug. Stündlich fährt ein Zug nach Berlin, wo sie mindestens das Dreifache verdienen würde. Aber als aktive Gewerkschafterin denkt sie nicht nur an sich. In Deutschland kommen etwas mehr als elf und in Polen vier Krankenpfleger auf 1 000 Einwohner. Es fehlen 100 000 Pflegekräfte und von den 250 000 Beschäftigten sind zwei Drittel zwischen 40 und 60 Jahre alt. Das ist schon lange bekannt, aber bisher hat keine Regierung etwas unternommen. Es gibt keine einheitlichen Löhne, fast jede Klinik verhandelt über die Tarife selbst. Vermittler aus Westeuropa warten schon auf die jährlich 5 000 Absolventen der Krankenpflegeschulen, von denen zwei Drittel den Beruf nicht in Polen aufnehmen.

http://jungle-world.com/artikel/2016/44/55125.html

Small Talk von Peter Nowak

——————————————————————————————————————————————————-

Wer kommt am 24. 11. mit auf die andere Oderseite?

Klage für eine Festeinstellung

Die Kliniken in Polen haben eine Form gefunden, um dem Mangel am mittleren medizinischen Personal Herr zu werden. Zunehmend werden die Kräfte auf zivilrechtlicher Basis – also Scheinselbstständige – eingestellt, denn sie dürfen sogar bis zu 350 Stunden im Monat arbeiten. Bei der Arbeitslosigkeit in vielen Gegenden sind die Frauen dankbar, haben doch oft die Männer keine Arbeit. Und die Kolleginnen und Patienten haben es mit Gestressten zu tun.

Dies hat auch Barbara Rosolowska von der Gewerkschaft „Arbeiter Initiative“ erfahren müssen. Bis 2007 hat sie in der Klinik in Kostrzyn (Küstrin auf der polnischen Oderseite) gearbeitet, aber dann kam der Gerichtsvollzieher wegen der enormen Schulden der Klinik und sperrte die Konten.  Worauf Löhne nicht ausgezahlt wurden – die Klinik wurde privatisiert auch Barbara wurde entlassen – erst nach vielen Aktionen und Protesten nach 7 Jahren gab es die ausstehenden Löhne. Nun ist Barbara der Meinung es wäre uns zu verdanken, dass sie ihr Geld endlich bekommen hätten. Die Bürgermeisterin wurde nämlich bei einem Treffen mit KollegenInnen im Brandenburgischen danach gefragt, worauf sie wütend nach Warschau um das Geld gefahren sei. Wir hatten bei einer Kundgebung teilgenommen und ich hatte darüber berichtet. Wenn es denn so gewesen ist…

Nach zwei Jahren ließ sie sich darauf ein im Regionalkrankenhaus als Scheinselbstständige zu arbeiten – arbeitslos wollte sie nicht bleiben. Bei ihren 14 Diensten zu 12 Stunden im Monat bleiben ihr bei 4200 Brutto 2000 Zloty – ca. 500 Euro.

Sie hätte es sich auch einfach machen können. Von Kostrzyn an der Oder fahren unregelmäßig  Züge nach Gorzow, um in die Klinik zu kommen, aber stündlich fahren Züge  nach Berlin, die Fahrzeit ist zwar doppelt solang, aber  sicherlich hätte sie dort den dreifachen Lohn!

Jedoch als Mitglied der Basisgewerkschaft Arbeiter Initiative will sie auch ein Zeichen setzen und die Kolleginnen und Kollegen dazu anregen auch gegen diese Scheinselbstständigkeit vorzugehen. Sie reichte Klage gegen ihren Arbeitgeber ein um eine Festeinstellung nach dem Arbeitskodex zu erreichen.

Die nächste Verhandlung ist in Gorzow WLKP am

24. November um 12.30 Uhr

Es wäre schön, wenn ich nicht allein fahren müsste, ausländische Gäste machen immer Eindruck und kommen eher in die Medien!

Züge fahren von Lichtenberg ab 09.37 Uhr mit Anschluss in Kostrzyn (Küstrin) an 11.42 in Gorzow – Fahrpreis 24,60 € Tageskarte, 8,20 € Anschluss-Tageskarte  für Inhaber von 65+u.ä.

Wer mitfahren will kann sich gern mit mir in Verbindung setzen, da würde ich noch ein Gespräch mit Barbara Rosolowska und ihrem Anwalt organisieren

Mit solidarischen Grüßen!

Norbert Kollenda
Berlin-Pankow
+4930-47370845
mobil:0176/93 60 99 79

Den Streik als Kampfmittel wiederentdecken

Dietmar Lange über die transnationale Streikkonferenz in Paris und was man von Frankreich lernen kann

Das Motto der Konferenz »Von Frankreich nach Europa« spielte auf die Streik- und Protestbewegung der letzten Monate an. Was ist davon zu spüren gewesen?

Organisiert wurde die Konferenz von der französischen Basisgewerkschaft SUD-Solidaire und Teilen der »nuit debout«-Bewegung sowie der »Koordination der Prekären und der Intermittens«, die sowohl in der Streik- als auch der Platzbesetzungsbewegung sehr aktiv waren. Sie berichteten aber durchaus kritisch über die Bewegung und hoben neben den Besonderheiten, die zu der eindrucksvollen Konvergenz verschiedener Akteure in den Protesten geführt haben, auch ihre Grenzen hervor. Die Konferenz sollte dazu beitragen, die Erfahrungen über Frankreich hinaus zu verallgemeinern.

Ist das gelungen?

Das ist insofern gelungen als man mit den Aktivisten vor Ort in Kontakt treten konnte. Dabei wurde aber auch deutlich, dass die Bewegung in Frankreich vorerst vorbei ist. Dennoch sind organisierte Kerne und Zusammenhänge in den Kämpfen entstanden, die nun die transnationale Vernetzung suchen.

Spielte die aktuelle Debatte um das Freihandelsabkommen CETA auf der Konferenz eine Rolle?

Es waren Vertreter der belgischen Basisgewerkschaft CNE anwesend, die deutlich machten, dass es die Bewegung gegen die dortige Arbeitsmarktreform ist, die auch erfolgreich Druck auf die Regionalregierung der Wallonie ausübt, das Handelsabkommen abzulehnen. Dabei zeigten sie sich überzeugt, dass diese an ihrer Ablehnung festhalten wird, obwohl sie unter massivem politischen Druck von Seiten der EU-Kommission steht. Teilweise erhalten deren Vertreter sogar persönliche Drohungen.

Gab es einen roten Faden auf der Konferenz?

Das war zum einen die Unterstützung von Migrantenkämpfen als wichtiger Teil der sozialen Kämpfe. So ist Anfang Februar 2017 in Großbritannien ein 24-stündiger Migrantenstreik geplant. Schon Ende Januar soll es in London eine größere Versammlung mit internationaler Beteiligung geben. Ein weiterer Schwerpunkt ist der Kampf gegen die neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen, die auf Initiative der Europäischen Kommission nicht nur in Frankreich, sondern auch in vielen anderen Ländern wie Belgien, Italien und Litauen vorangetrieben werden. Diese Reformen gehen sogar noch über die Agenda 2010 hinaus und bedeuten für die Lohnabhängigen massive Verschlechterungen. So bieten sie die Möglichkeit zur 60-Stunden-Woche und Null-Stunden-Verträgen, also völlig unsicherer Arbeit auf Abruf.

Die erste transnationale Streikkonferenz fand 2015 im polnischen Poznan statt. Waren osteuropäische Delegierte auch in Paris anwesend?

Die osteuropäische Präsenz in der Plattform unterscheidet sich positiv von vielen anderen europäischen Zusammenhängen. Es waren auf der Konferenz vor allem Vertreter aus Polen und Slowenien anwesend, die das große Lohngefälle in der EU thematisierten, aber auch zeigten, dass in diesen Ländern wichtige Kämpfe stattfinden.

Waren Teilnehmer anwesend, die in der letzten Zeit Streiks geführt haben?

Es waren vor allem Beschäftigte aus dem Logistik- und Caresektor anwesend, die an Arbeitskämpfen in ihren Ländern beteiligt sind. So hatten sich bereits im Vorfeld Amazon-Beschäftigte in Deutschland, Frankreich und Polen getroffen. Aus Großbritannien waren Teilnehmer des Streiks der Juniordoctors gegen Kürzungen im Gesundheitssystem und des Streiks bei dem Essensauslieferer Deliveroo dabei. Aus Slowenien waren Unterstützer der erfolgreichen Arbeitskämpfe in der  Logistik.

Was bedeutet der Begriff »social strike«, auf den sich die transnationale Konferenz bezieht?

Es geht darum, wie Arbeitskämpfe außerhalb der klassischen Bereiche und der klassischen gewerkschaftlichen Formen geführt werden können. Und es geht darum, den Streik als politisches Kampfmittel für unterschiedliche Akteure wiederzuentdecken. Dafür ist Frankreich, wo die Streiks durch Blockaden von Prekären, Studierenden, Arbeitslosen unterstützt wurden, ein gutes Beispiel. In Zukunft soll die Plattform stärker zur transnationalen Vernetzung von Arbeitskämpfen, insbesondere im Logistiksektor, wie bei Amazon, genutzt werden.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1029956.den-streik-als-kampfmittel-wiederentdecken.html

Interview Peter Nowak

Rojava beweist, dass es Alternativen gibt

Anja Flach im Gespräch über radikaldemokratische Projekte in Kurdistan und die Rolle der Solidaritätsbewegung

Welche Rolle spielt die Solidaritätsbewegung in Rojava?
Die Befreiung von Kobane wurde zum Symbol auch der internationalen Solidarität. Zwischen September 2014 und Januar 2015 waren die Stadt und der Kanton durch den Angriff von Daesh (dieser Begriff wird in kurdischen Gebieten für die Terrormiliz IS – Islamischer Staat verwendet) fast von der Landkarte gewischt worden. Die KämpferInnen von YPJ und YPG (»Volksverteidigungseinheiten«) hatten kaum schwere Waffen und hätten die Stadt trotz aufopferungsvollem Widerstand nur noch wenige Tage halten können. In Kobane waren viele Fraueneinheiten an der Front, im Kampf gegen Daesh hatten sie die Sympathie auf ihrer Seite. Wäre Cobane nicht gehalten worden, wäre der Traum von der Revolution in Rojava ausgeträumt gewesen. Es fanden daher weltweit Aktionen statt, die letztlich die USA dazu bewegten einzugreifen und die YPJ/YPG gegen den IS mit Luftschlägen zu unterstützen. Das brachte die Wende. Letztendlich hat die internationale Solidarität viel dazu beigetragen, dass Kobane und damit Rojava nicht Daesh in die Hände fielen.

Hat Rojava in Deutschland einen neuen Aufschwung der internationalen Solidarität gebracht?
Ja, eine Vielzahl von Initiativen ist entstanden, Hunderte Internationalistinnen gingen nach Rojava. Kevin Jochim, Ivana Hoffmann und andere sind dort gefallen. Viele junge Menschen beteiligen sich seither an Aktionen der kurdischen Bewegung wie der Freien Frauenstiftung WJAR, Initiativen sind entstanden wie Hannover für Kobane und Şengal und die Kampagne »Eine Feuerwehr für Rojava«.

In Öcalans Theorien spielen feministische Konzepte eine große Rolle. Werden sie in der hiesigen feministischen Debatte aufgegriffen?
Die kurdische Frauenbewegung hat sich intensiv mit westlichen feministischen Theorien von Autorinnen wie Maria Mies oder Judith Butler beschäftigt. Seit 2011 wurde das Projekt Jineoloji entwickelt, eine Wissenschaft der Frauen, in der es keine von der Praxis losgelöste Theorie gibt. Von ihren Erfahrungen könnten auch die Frauenbewegungen hier sehr profitieren. Eine Gruppe von westlichen Feministinnen hat einige Zeit in den Bergen verbracht und in der Folge das Buch »Widerstand und gelebte Utopie« herausgebracht. Dies hat schon zu intensiven Diskussionen in Teilen der radikalen Frauenbewegung geführt.

In den letzten Jahren hat die Kurdistan-Solidaritätsbewegung ausgehend von den Theorien Öcalans Kongresse mit politisch sehr unterschiedlichen Intellektuellen organisiert. Welches Ziel haben sie und sind weitere Kongresse geplant?
Diese Konferenzen gingen von der kurdischen Bewegung selbst aus mit Unterstützung von Solidaritätsnetzwerken wie dem Tatort Kurdistan. Es gab bisher zwei Konferenzen unter dem Titel »Network for an alternative quest« in Hamburg sowie eine Konferenz zu Jineoloji in Köln. Ziel der kurdischen Bewegung ist es, sich mit AktivistInnen und VertreterInnen von Basisbewegungen und WissenschaftlerInnen aus vielen Ländern auszutauschen – über Themen wie alternative Sozialwissenschaften, Frauenbefreiung oder Kommunalismus. Eine weitere Konferenz wird Ostern 2017 in Hamburg stattfinden.

Sie haben nach mehreren Kurdistanaufhalten noch immer enge Kontakte in die Region. Bedroht der erneute Krieg der türkischen Armee die demokratischen Errungenschaften in Kurdistan?
Es wird ihr nicht gelingen, sie zu vernichten. In Bakur, also dem türkisch besetzten Teil von Kurdistan, haben die Menschen schon Jahrzehnte Erfahrung mit Volks- oder Jugendräten, mit Frauenhäusern und selbstverwalteten Schulen unter dem Dach der demokratischen Autonomie. Dort fällt dem türkischen Staat nichts anderes mehr ein als rohe Gewalt. Das wird mit Sicherheit nicht dazu führen, dass das herrschende System Anerkennung findet.

Was bedeutet das Konzept der demokratischen Autonomie?
Es ist die Idee eines gleichberechtigten Zusammenlebens verschiedener Bevölkerungsgruppen. Die Menschen, egal welcher Herkunft, erfahren, dass sie keinen Staat brauchen, um die eigenen Belange selbst zu regeln und eine Selbstverwaltung jenseits von staatlicher Macht und Gewalt aufzubauen.

Ist der Einmarsch der türkischen Armee in Syrien eine Gefahr für das politische Modell in Rojava?
Nein, der Einmarsch findet nur in einem von Daesh besetzten Korridor zwischen dem Kanton Kobane und Afrin statt. Die türkische Armee und ihre Söldner wollen eine Vereinigung der beiden befreiten Kantone verhindern. Sie vertreiben rücksichtslos die überwiegend kurdische Bevölkerung aus der Region Shahba. Etwa 10 000 Menschen sind von dort nach Afrin geflohen. Würde die Stadt Al Bab von der türkischen Armee besetzt, wäre die Verbindung der beiden Kantone bedroht. Zurzeit sind sowohl die Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF), eine Allianz aller dort ansässigen Bevölkerungsgruppen, als auch die von der türkischen Armee unterstützten Islamisten jeweils 20 Kilometer von Al Bab entfernt. Die Bundesregierung unterstützt die türkische Besatzungszone in Rojava. Sie ist beteiligt an der Lüge, es gebe keine sichere Zone für Flüchtende in Rojava, und daher müsse eine »Pufferzone«, die von der Türkei kontrolliert wird, geschaffen werden. Das ist Teil des »Flüchtlingsdeals.«

Während der Belagerung von Kobane durch den IS verglichen Intellektuelle wie der anarchistische Ethnologe David Graeber von der London School of Economics die Stadt mit dem belagerten Madrid 1936. Ist dieser Vergleich berechtigt?
In Spanien kämpften 40 000 InterbrigadistInnen, Graebers Vater war einer von ihnen. In Rojava geht es wie damals um eine sozialistische Alternative. Viele Menschen suchen nach einer Alternative zum herrschenden System, das uns glauben machen will, es gäbe keine Alternative gibt. Rojava ist der Beweis, dass es sie gibt. Dort wird radikale Demokratie, kooperative Ökonomie und Frauenbefreiung umgesetzt.

Zur Person

Ethnologin Anja Flach

Die Ethnologin Anja Flach ist Mitglied im kurdischen Frauenrat Rojbîn in Hamburg. Zur kurdischen Guerilla hat sie mehrere Bücher veröffentlicht. Sie ist Mitherausgeberin des Bandes »Revolution in Rojava« über die kurdische Frauenbewegung. Er wird Ende Oktober in dritter überarbeiteter Auflage erscheinen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1028347.rojava-beweist-dass-es-alternativen-gibt.html

Interview: Peter Nowak

Tausende demonstrierten für den Frieden

Großdemo der Kriegsgegner in Berlin war nicht frei von inhaltlichen Kontroversen

»Wir haben viel Zeit für internen Streit verplempert. Schön, dass wir wieder zusammen auf die Straße gehen«, erklärte der Musiker und Politikaktivist Prinz Chaos II am Samstagabend zum Abschluss der bundesweiten Friedensdemonstration auf der Bühne am Brandenburger Tor. Zuvor hatten nach Polizeiangaben 5200, nach Veranstalterangaben rund 8000 Menschen mit einem Zug durch die Berliner Mitte vor einem Rückfall in einen Kalten Krieg gewarnt.

Viele waren mit Bussen oder Zügen aus der gesamten Republik angereist. »Die Waffen nieder«, das Motto der der Pazifistin Bertha von Suttner, war der zentrale Slogan der Demo, zu der zahlreiche Initiativen aufgerufen haben. Vor rund einem Jahr hatte ein Streit um den Umgang mit den Friedensmahnwachen für Streit in der Friedensbewegung gesorgt. Während ein Teil der Friedensbewegung die Kooperation als Erweiterung des eigenen Spektrums begrüßt hatte, warnten andere vor der Zusammenarbeit. Den Friedensmahnwachen, die sich zu Beginn des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine gegründet hatten, warfen sie keine oder nur eine oberflächliche Abgrenzung nach Rechts vor.

Zu den entschiedenen Gegnern der Zusammenarbeit mit den Mahnwachen gehörte die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten» (VVN-BdA), die älteste antifaschistische Organisation in Deutschland. «Wir haben diese Demonstration unterstützt, weil der Friedenswinter, wie die Kooperation mit den Mahnwachen genannt wurde, beendet ist.» Zudem hätten die Organisatoren unmissverständlich erklärt, dass auf der Demonstration kein Platz für völkische Ideologien, Rassismus und Rechtspopulismus sei. Gestört hat sich ein Berliner VVN-BdA-Mitglied allerdings daran, dass am Samstag trotz allem mehrere Hundert Menschen aus dem Umfeld der Friedensmahnwachen mitdemonstriert hatten. «Frieden mit Russland» lautete eine ihrer zentralen Parolen.

«Für einen eurasischen Kontinent statt Na(h)to(d)» hatte sich zum Beispiel ein junges Paar auf ein Schild geschrieben. Dass der Begriff Eurasien von Rechten in Russland und Europa häufig verwendet wurde, sei ihnen nicht bekannt, interessiere sie aber auch nicht, erklärte das Pärchen. Die Forderung nach besseren Kontakten zu Russland war auf der Demonstration in unterschiedlichen Spektren – unter anderem auch bei den Anhängern der Partei DKP – vertreten.

Kritik an Russland wurde von einer Gruppe junger Antifaschisten formuliert, die sich ausdrücklich nicht als Teil der Demonstration verstanden. «Dies ist ein Flugblatt von solchen, die nicht glauben, dass die Nato einen alten Feind wiederbelebt hat, sondern dass Putins Russland selbst eine gefährliche Kraft auf der internationale Bühne ist», schreibt die Gruppe, die sich selbst als «Freundeskreis» versteht. Viel Resonanz fanden die Kritiker allerdings nicht.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1028107.tausende-demonstrierten-fuer-den-frieden.html

„Nicht bunt, sondern schwarz und rot sind unsere Fahnen“

KAMPF Jahrelang war Bernd Langer in der autonomen Antifa. Jetzt hat er ein Buch geschrieben

taz: Herr Langer, warum veröffentlichen Sie Ihre eigene Geschichte der autonomen Antifa-Bewegung?
Bernd Langer: Ich möchte die Entstehung der heutigen Antifa authentisch erzählen. Dies kann ich am ehrlichsten anhand meiner Entwicklung. Ich war seit Ende der 70er Jahre, also von Beginn an, beteiligt. Das Buch geht aber weit über Biografisches hinaus, thematisiert die politischen und gesellschaftlichen
Entwicklungen jener Zeit.


Sie schreiben über Ihre Bemühungen Ende der 1980er, die autonome Antifa für andere politische Kräfte bündnisfähig  zu machen. Wo lagen die Probleme?
Vor allem im Dogmatismus pseudoradikaler Szene-Apologeten. In den 80er Jahren war die autonome Antifabewegung nur ein kleiner, militanter Haufen mit einer gut organisierten,  aber sehr abgeschotteten Struktur. Das führte in die Sackgasse. 1988 war ich maßgeblich an der  Organisierung einer Antifa-Demonstration im niedersächsischen Mackenrode beteiligt, welche durch ein Bündnis von Autonomen bis hin zu Teilen des DGB und der Sozialdemokratie zustande kam. Diese Kooperation traf allerdings bei vielen Autonomen auf Widerstand, man versuchte mich durch politische Machtspiele kaltzustellen,
die Bündnispolitik wurde zunächst nicht aufgegriffen.

Welchen Zweck verfolgten Sie Ende der 1980er Jahre mit der Initiative Kunst und Kampf, die mit Agitprop-Aktionen und Plakaten für Aufsehen sorgte?
Dabei ging es um Kulturfähigkeit, das heißt, aus den Kämpfen entstehen eine neue Kunst und Kultur. Nicht individuelle Urheberschaft, sondern das politische Kollektiv ist entscheidend. So war es auch wichtig, eigene
Symbole zu kreieren und zu verbreiten, wie das Logo der Antifaschistischen Aktion. Das traf damals bei großen Teilen der autonomen Szene auf Ablehnung.


Die heutige autonome Antifaist bündnis- und kulturfähig. Ein später Erfolg für Sie?

Kulturfähig? Na ja. Bündnispolitik wird heute allerdings von und mit großen Teilen der Antifa betrieben. Doch oft droht die eigene politische Kontur in einem diffusen bunten Allerlei aufzugehen. Nicht bunt, sondern schwarz und rot sind unsere Fahnen!

INTERVIEW PETER NOWAK


■■„Kunst und Kampf“. Unrast-Verlag, 256 Seiten, 19,80 Euro
■■Buchvorstellung, heute Abendab 20.30 Uhr im Stadtteilladen Zielona Gora, Grünberger Str. 73

■■ Bernd Langer geb. 1960 in Bad Lautenberg, lebt in Berlin. Er war in der autonomen Antifa aktiv und gründete die Initiative Kunst und Kampf.

»Wir waren die ersten Mitstreiter«

Bild (11)-001

Der Umsetzer, Westberlin 1976, 75 Min.

Antonia Lerch und Benno Trautmann drehten vor 40 Jahren den Film »Der Umsetzer«. Er behandelt die Vertreibung von Mietern aus den Westberliner Stadtteilen Wedding und Kreuzberg. 1976 hatte er Premiere, erregte einiges Aufsehen und gewann diverse Preise. 40 Jahre später wurde er wiederentdeckt.

Sie haben 1976 mit Ihrem Film »Der Umsetzer« Furore gemacht. Was war der Gegenstand des Films?

Lerch: Es ging um die Stadtzerstörung in Westberlin, um die Zerstörung von Stadtvierteln und alten Häusern, die man nur hätte renovieren müssen. Diese Zerstörung hat dann auch die alten Nachbarschaften, das ganze soziale Gefüge kaputtgemacht.

In vielen Filmrezensionen wird erwähnt, dass Sie den Film ohne finanzielle Förderung gedreht haben. Wie haben Sie ihn finanziert?

Lerch: Wir haben Mama, Papa, Bruder, Schwester, den Onkel und die Tante angepumpt. Außerdem haben wir Film­aktien für 100 Mark an Verwandte und Freunde verkauft. Es war aber eine Lachnummer, weil unsere Reisekosten und die Kosten für den Druck ungefähr so hoch waren wie die Einnahmen aus dem Verkauf der Filmaktie. Die Schauspieler haben umsonst gearbeitet, weil sie das Thema wichtig fanden. Alle Leute hinter der Kamera haben auf einen Teil ihrer Gage verzichtet.

Antonia Lerch und Benno Trautmann

Antonia Lerch und Benno Trautmann (Foto: privat)

Trautmann: Das Kopierwerk, der Kameraverleih und andere Firmen haben uns unterstützt. Am Ende hatten wir aber trotzdem 100 000 Mark Schulden. Diese Schulden konnten wir ein Jahr später durch den Verkauf des Films wieder zurückzahlen.

Wie haben die Wohnungsbaugesellschaften und die Politik auf den Film reagiert?

Lerch: Der Berliner Wohnungsbausenator und die Wohnungsbaugesellschaften haben mit einstweiligen Verfügungen reagiert. Sie wollten die Ausstrahlung des Films im ZDF verbieten. Aber der Intendant des ZDF war so mutig, die einstweiligen Verfügungen zurückzuweisen und den Film zu zeigen.

Im Märkischen Viertel, wohin viele Mieter aus dem Wedding umgesiedelt wurden, hat sich in den siebziger Jahren ein über Jahre währender Mieterwiderstand entwickelt. Hatten Sie Kontakt zu rebellischen Mietern?

Lerch: Ja, von Anfang an bis zum Ende der Dreharbeiten. Die Pointe des Films: Ein alter Nachtwächter rebellierte gegen seine Umsetzung, solange es ging. Schlussendlich wurde das Haus doch abgerissen. Er war der letzte Mieter im Haus. Alle anderen hatten schon aufgegeben. Er hielt durch, obwohl Gas und Strom abgestellt wurden. Er wurde schließlich von Polizei und Feuerwehr aus seiner Wohnung geholt. Auch in Kreuzberg gab es Mieter, die rebellierten. Aber auch sie wurden letztlich exmittiert und die Häuser wurden gesprengt.

Im Film stehen die Ohnmacht und die Resignation der Mieter vor der Allmacht der Wohnungsbaugesellschaften und ihres Umsetzers im Mittelpunkt. Erst ganz am Ende zeigt sich widerspenstiges Verhalten von Mietern. Wollten Sie damit deutlich machen, dass Mieterprotest vor 40 Jahren eher die Ausnahme war?

Lerch: Es gab sehr viel Widerstand. Wir waren Teil dieses Widerstands und wir haben zusammen mit anderen Aktionen und mit diesem Film politisch etwas erreicht. »Der Umsetzer«, der erfolgreich wochenlang in zwei Kinos in Berlin und auch in anderen Städten gezeigt wurde, hat sogar die ganze Politik der sogenannten Stadtsanierung, die wir Zerstörung nennen, verändert. Aber leider war es fast schon zu spät, zu viele Häuser waren ja schon zerstört. Immerhin haben wir, zusammen mit anderen Aktionen, den Abriss von drei Häusern in der Kohlfurter Straße in Kreuzberg verhindert. Das wurde damals groß gefeiert.

Ihr Film gewann zahlreiche Preise und wurde in vielen Zeitungen besprochen. Gab es auch Interesse von Mieterinitiativen und sozialen Bewegungen?

Lerch: Ja. Das Interesse besteht ja bis heute.

Die Jury der Evangelischen Filmarbeit schrieb bei ihrer Preisverleihung, dass der Film eine Kritik an der Verplanung von Menschen und einer wachsenden Bürokratie leiste. Ist das auch eine Kritik am sozialen Wohnungsbau, der mit dem Anspruch antrat, moderne gesunde Wohnungen für alle zu bauen, während manche Menschen lieber in ihren unsanierten Altbauwohnungen mit Außenklo bleiben wollten?

Lerch: Das ist eine Kritik an den Wohnungsbaugesellschaften. Sie haben Propaganda gemacht. Es war reine Lügenpropaganda. Die Wohnungsbaugesellschaften haben nur die Interessen der Bauindustrie vertreten, niemals die Interessen der Mieter. Man hat ihnen Badezimmer und größere Wohnungen versprochen, bekommen haben sie aber viel kleinere und teurere Wohnungen. Ein Kind bekam ein sieben Quadratmeter großes Kinderzimmer. So viel ist auch für einen Hund vorgeschrieben. Und dazu hat man die Menschen aus ihrem sozialem Umfeld, ihrem Kiez, an den Stadtrand vertrieben. Das war besonders für alte Menschen ein Desaster.

Aber war das Leben in den Altbauten die Alternative?

Lerch: Ihre Wohnungen hätten nur saniert werden müssen, dann hätten sie auch ein Badezimmer mit Klo bekommen, und sie hätten ihr soziales Umfeld behalten. Aber sie wurden, wie es auch heute wieder passiert, an den Stadtrand vertrieben.

Vier Jahrzehnte nach der Premiere wird »Der Umsetzer« auf Mieterveranstaltungen und in Programmkinos wiederentdeckt. Verwundert Sie diese Wiederentdeckung?

Lerch: Wir sind nicht verwundert. Es freut uns, das ist ein Revival des Films. Er weckt auch das Interesse der Mieter, die jetzt ähnliche Probleme haben. Sie fliegen auch aus ihren Wohnungen, nur aus anderen Gründen. Sie fliegen aus ihren Wohnungen, weil sie zu Eigentumswohnungen gemacht werden, was damals nicht der Fall war. Unser Haus ist saniert worden mit Geldern der Stadt, wir sagten: kaputtsaniert. Nach Ablauf von zehn Jahren hat der Eigentümer das Recht, die sanierten Wohnungen in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Der Film trifft den Nerv der Zeit. Es ist auch eine Wiederholung der Desaster von 1975. Jetzt geht es um Kapitalvermehrung und Privatinteressen von Eigentümern: Investoren aus China, Dänemark, Italien, Griechenland, Großbritannien, den USA, aber auch Deutschland wollen Wohnungen kaufen und die Miete erhöhen.

In den vergangenen beiden Jahren wurden Filme wie »Mietrebellen« und »Verdrängung hat viele Gesichter« vor einem großen Publikum gezeigt. Sehen Sie sich da nicht in der Rolle der Pioniere des Mieterfilms in Berlin?

Lerch: Wir waren die ersten Mitstreiter, ganz am Anfang der Geschichte. Wir haben unsere Wohnung verteidigt. Wir wohnen in Kreuzberg, damals wie heute. Damals wurde in unserer Nachbarschaft ein Haus nach dem anderen gesprengt. Tag für Tag.

Wie haben Sie das Material für den Film zusammengetragen?

Trautmann: Wir lebten mittendrin. So ist unser Erstlingsfilm entstanden. Wir waren Studenten. Rechts und links fielen die Häuser. Wir haben uns plötzlich konfrontiert gesehen mit dieser Geschichte. Wir haben Soziologen, Stadtplaner, Architekten und Mieter bei den Mieterversammlungen kennengelernt. Sie haben uns ihre Geschichten erzählt und wir haben uns engagiert. Wir sind 1974 in unsere Wohnung eingezogen, jeden Tag wurden Häuser gesprengt. Wir sind Filmemacher, und wenn man über diese Geschichte keinen Film macht, muss man schon saublöd sein. Ich schrieb dann ein Drehbuch. Wir haben bei verschiedenen Wohnungsbaugesellschaften recherchiert, wir haben mit den sogenannten Umsetzern geredet, um herauszufinden, wie sie arbeiten. Irgendwann rief irgendeine Wohnungsbaugesellschaft an und machte uns ein Angebot, das wir ablehnen mussten: Sie wollten uns für 10 000 Mark kaufen.

Könnten Sie sich vorstellen, einen aktuellen Mieterfilm zu drehen?

Lerch: Ja.

Interview: Peter Nowak

Im Rahmen der Filmreihe »Wohnraum Berlin – Mieterkämpfe, Spekulation, Verdrängung« ist der Film »Der Umsetzer« am Montag, dem 26. September, und Mittwoch, dem 28. September, jeweils um 17 Uhr in Berlin im Lichtblickkino in der Kastanienallee 77 zu sehen. Am 14. September wird er um 20 Uhr in der Kollekivbar in der Pflügerstraße 52 in Neukölln gezeigt.

http://jungle-world.com/artikel/2016/36/54819.htm

Interview: Peter Nowak

„Wir haben uns immer als MieterInnen verstanden“

Nach zweiwöchiger Polizeibelagerung der BewohnerInnen der Rigaer Straße 94  wurde die  Räumung von mehreren Räumen in dem Haus vom Gericht für rechtswidrig erklärt. Darauf wurde die Polizeibelagerung beendet. Peter Nowak sprach mit einem Hausbewohner, der nicht namentlich genannt werden will:

Frage: Haben Sie mit dem juristischen Erfolg gerechnet?
B.: Nein, wir waren alle überrascht. Wir dachten, dass die Politik die Aktionen gegen uns weiter durchzieht.

Frage. Man könnte also von einem Erfolg des Rechtsstaates sprechen?
B.: Es war vor allem ein Erfolg der HausbewohnerInnen und der vielen NachbarInnen, die vehement ein Ende der Absperrungen und einen Rückzug der Polizei gefordert haben. Noch einen Tag vor dem Gerichtsbeschluss haben sie diese Forderungen auf einer Pressekonferenz vertreten. Mit der Gerichtsentscheidung wurde auf diese Stimmung reagiert. Die Politik und besonders Innensenator Henkel waren dazu nicht in der Lage.

Frage: Oft wird auch von UnterstützerInnen der Rigaer Straße 94 von einen besetzten Haus gesprochen. Warum definieren Sie sich nicht als MieterInnen, die sich gegen Vertreibungsversuche durch die Eigentümer wehren?
B.: Tatsächlich  ist die überwiegende Mehrheit der BewohnerInnen im Besitz von  Mietverträgen  Sie haben sich auch immer als MieterInnen verstanden. Das zeigt sich auch daran, dass mehrere BewohnerInnen Mitglieder der Berliner  Mietergemeinschaft sind. Wir haben mit unserer erfolgreichen Klage gegen die Teilräumung auch deutlich gemacht, dass wir unsere Rechte verteidigen, ohne uns deshalb auf die Justiz zu verlassen.

Frage: Könnte ein solches Verständnis als rebellische MieterInnen auch die Zusammenarbeit mit den NachbarInnen fördern, die in Häusern wohnten, die nie besetzt waren?

B.: Wir haben uns seit Jahren bemüht, mit den  NacbbarInnen gemeinsam für einen solidarischen Kiez zu kämpfen. Dabei haben wir nie einen Unterschied zwischen BewohnerInnen von besetzten und nicht besetzten Häusern gemacht. Es ging uns darum, mit allen Menschen zusammen zu arbeiten, die sich solidarisch wehren.  Deswegen gab es auch de große Solidarität sowohl bei der Belagerung des Hauses im Januar 2016 als auch jetzt. Auch die von uns mit organisierten Kieztreffen haben noch einmal deutlich  gemacht, dass wir hier im Stadtteil nicht isoliert sind. Das ist unser größter Erfolg.

Frage: Wie soll es nach dem juristischen Erfolg jetzt mit der Nachharschaftsarbeit weitergehen?
B,; Nein, wie bisher natürlich nicht. Die Proteste gegen das Carré Sama Riga  wurden von den BewohnerInnen gemeinsam organisiert. Die Bewohner/innen haben sich in den letzten Monaten besser kennen gelernt und akzeptieren, dass es unterschiedliche politische Erfahrungen gibt.

http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/riager-str-interview.html

MieterEcho online 18.07.2016

Interview: Peter Nowak

»Unser Kampf war nicht erfolglos«


»Gewerkschaftsfreiheit statt Klassenjustiz« lautete das Motto einer Demonstration der Basisgewerkschaft Freie Arbeiterinnen- und Arbeiterunion (FAU) am Samstag. Die Kundgebung begann vor einem Restaurant am Hackeschen Markt, bei dem ein Beschäftigter ausstehenden Lohn einfordert. Auch ein von Abschiebung bedrohter Rom hielt bei der Demonstration eine Rede. Hendrik Lackus hat mit der Jungle World gesprochen. Er ist Mitglied in der Arbeitsgruppe der FAU, die Bauarbeiter unterstützt. Diese sehen sich um ihren Lohn beim Bau des Einkaufszentrums »Mall of Berlin« am Leipziger Platz geprellt. Vor der Shopping Mall endete die Demonstration.

Zwei Jahre Arbeitskampf und noch immer kein Lohn, hieß es in einer Rede vor dem Eingang der »Mall of Berlin«. Was ist der aktuelle Stand?

Sieben rumänische Bauarbeiter hatten Klagen eingereicht. Zwei Verfahren gingen verloren, eines ist noch offen, in den übrigen gewannen die Beschäftigten.

Warum haben die Arbeiter trotz des juristischen Erfolgs keinen Lohn bekommen?

In einem Fall meldete das Subunternehmen Insolvenz an, nachdem es zur Zahlung des Lohns verurteilt wurde. Ein anderer Subunternehmer wird per Haftbefehl gesucht, weil er eine Vermögensangabe verweigerte. Am 10. Juni findet um elf Uhr im Raum 247 des Berliner Arbeitsgerichts ein weiteres Berufungsverfahren statt. Dann wird sich zeigen, ob das für den Beschäftigten negative Urteil aufgehoben wird.

Warum gingen zwei Prozesse verloren, obwohl die Sachlage gleich war?

Die zuständigen Richter hielten die Einlassungen des Subunternehmens für glaubwürdig, dass die Bauarbeiter nicht dort beschäftigt waren. Die Aussagen der Kollegen, die bezeugten, dass es sehr wohl so war, wurden ignoriert.

Wie bewerten Sie nach zwei Jahren den juristischen Weg zur Durchsetzung der Lohnansprüche?

Uns war von Anfang klar, dass die gesetzlichen Mittel für die Beschäftigten völlig unzureichend sind. Dass die Bauarbeiter seit zwei Jahren auf ihren Lohn warten, macht das noch einmal deutlich. Trotzdem war unser Kampf nicht erfolglos. Die rumänischen Bauarbeiter haben erfahren, dass sie sich wehren können und nicht einfach hinnehmen müssen, dass sie um ihren Lohn geprellt werden. Sie haben immer betont, dass es dabei auch um ihre Würde geht. Die Betreiber der »Mall of Berlin« haben die Erfahrung gemacht, dass die nichtgezahlten Löhne seit zwei Jahren öffentlich thematisiert werden. Sie werden sich vielleicht das nächste Mal genauer überlegen, ob sie erneut ohnehin schon niedrige Löhne schuldig bleiben wollen.

Wie wollen Sie nun vorgehen, damit die Beschäftigten ihr Geld noch bekommen?

Da die Subunternehmen und auch der Generalunternehmer FCL Fettchenhauer insolvent sind und wir von ihnen kein Geld sehen werden, haben wir den Investor Harald Huth aufgefordert, die Löhne zu zahlen. Wir stützen uns dabei auf die Generalübernahmehaftung, nach der der Investor verpflichtet ist, für nicht bezahlte Löhne der Subunternehmen aufzukommen. Kommt er der Forderung nicht nach, werden wir gegen Huth klagen.

Ist das Thema außerhalb der FAU nicht in Vergessenheit geraten?

Unsere Erfahrungen sind andere. Es gab in Deutschland und auch in Rumänien sehr wohl Interesse in den Medien. Wir hatten nicht erwartet, dass die außerparlamentarische Linke jeden Monat Proteste vor der »Mall of Berlin« organisiert. Dass am Samstag mehr als 200 Demonstrationsteilnehmer kamen, zeigt, dass es auch außerhalb der FAU weiterhin Solidarität gibt.

http://jungle-world.com/artikel/2016/23/54163.html

Small Talk von Peter Nowak

Pappschachteln voller linker Geschichte

Papiertiger, Umbruch, Spinnboden, Conne Island – viele Archive der sozialen Bewegungen kämpfen ums Überleben

Ende Mai trafen sich in Berlin über 50 ArchivarInnen aus Deutschland. Im Mittelpunkt stand der Weiterbetrieb der »Freien Archive«, die meist mit wenig Personal und geringem Budget arbeiten.

Ende Mai trafen sich in Berlin über 50 ArchivarInnen aus Deutschland. Im Mittelpunkt stand der Weiterbetrieb der »Freien Archive«, die meist mit wenig Personal und geringem Budget arbeiten.
Cornelia Wenzel ist beim »Archiv der Deutschen Frauenbewegung« in Kassel tätig. Zusammen haben sie 2013 das Buch »Bewegung bewahren – Freie Archive und die Geschichte von unten« herausgegeben. Mit ihnen sprach Peter Nowak.
Foto: Regine Vogl

Was ist das Besondere eines Freien Archivs?
Jürgen Bacia: Es ist für uns ein kurzer und prägnanter Arbeitsbegriff für die Archive der sozialen und politischen Bewegungen. Das sind die Sammelstellen für die papiergewordenen Relikte der autonomen, antifaschistischen, feministischen und anderen außerparlamentarischen Bewegungen. Wir orientieren uns hier im Sprachgebrauch an Begriffen wie Freie Kulturszene oder auch Freie Journalisten. Damit wollen wir aber keineswegs sagen, dass die etablierten Archive unfrei wären.

Werden diese Archive nicht überflüssig, wenn die sozialen Bewegungen an Bedeutung verlieren?
Cornelia Wenzel: Die sozialen Bewegungen gibt es noch, sie verändern sich aber ständig. Die Vorstellung, dass es irgendwann nichts mehr zu archivieren gibt, hat sich längst als falsch erwiesen. Gerade aus den sozialen Bewegungen der 1970er Jahre bekommen wir aktuell viel Material.

Wie verändert die Digitalisierung Ihre Arbeit?
C.W.: Sicher werden wir um die Digitalisierung eines Teils unserer Dokumente in vielen Fällen nicht herumkommen. Allerdings werden wir auch in Zukunft mit papiernen Dokumenten arbeiten. Wir machen in unserer täglichen Arbeit immer wieder die Erfahrung, dass selbst bei jungen Menschen, die mit dem Computer aufgewachsen sind, das Interesse an gedruckten Dokumenten wie beispielsweise Fanzines weiterhin besteht.

Wie ist die finanzielle Situation der Freien Archive?
J.B. Einerseits arbeiten die Freien Archive möglichst hierarchiefrei, zumeist kollektiv und erliegen weniger den Zwängen großer Institutionen. Andererseits sind die Menschen, die dort arbeiten, häufig frei von regelmäßigen Einkünften und arbeiten unter ökonomischen Bedingungen, die keine Gewerkschaft akzeptieren würde. Wir regeln das mit viel Selbstausbeutung. Dabei gibt es allerdings große Unterschiede. Viele Freien Archive werden ohne staatliche Förderung auf Dauer ihre Arbeit nicht mehr leisten können. Daneben gibt es Archive, die aus ihrem politischen Selbstverständnis von Autonomie heraus bewusst auf jegliche Staatsknete verzichten.

Ist es nicht problematisch, wenn im Umfeld der sozialen Bewegungen entstandene Archive jetzt nach Unterstützung des Staates rufen, den sie kritisiert haben?
J.B.: Während die Archive der DDR-Oppositionsbewegung mittlerweile großzügig gefördert werden, fühlt sich für die Zeugnisse der westdeutschen Alternativ- und Protestbewegung bisher niemand zuständig. Dabei gehört sie zur Geschichte der BRD. Daher erheben wir die Forderung nach einer staatlichen Förderung bei vollständiger Wahrung unserer Unabhängigkeit.

Warum haben viele Archive der Frauenbewegung mehr Erfolg bei der Förderung?
C.W.: Ein Grund waren sicher die Netzwerke, die es seit Jahrzehnten gibt. Zudem sind viele heute aktive Politikerinnen, mal mit der Frauenbewegung in Kontakt gekommen. An den Erfolgen der ostdeutschen Oppositionsarchive und der Archive der Frauenbewegung können wir mit unseren Forderungen anknüpfen.

Gibt es Kontakte zu den offiziellen Archiven?
J.B. Ja. Im Verein deutscher Archivarinnen und Archivare (VdA) wurde 2009 der »Arbeitskreis Überlieferungen der Neuen Sozialen Bewegungen« gegründet, der die Freien Archive durch Lobbyarbeit unterstützt. Vor Kurzem veröffentlichte der VdA ein Positionspapier, in dem er die Bedeutung der Sammlungen in Freien Archiven betont und hervorhebt, dass die traditionellen Archive genau die Überlieferung dieses Teils der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gewährleisten können. Er fordert deshalb die Förderung dieser Archive durch Bund, Länder und Kommunen. Das ist eine ernstzunehmende fachpolitische Aussage.

tps://www.neues-deutschland.de/artikel/1014520.pappschachteln-voller-linker-geschichte.html

Peter Nowak

»Alle sollen aufstehen«

Willi Hayek über die Dynamik der »Nuit debout«-Versammlungen.Willi Hayek ist Autor und in der basisgewerkschaftlichen Bildungsarbeit in Deutschland und Frankreich tätig. Er lebt und arbeitet in Marseille und Berlin.

Wieso gab und gibt es »Nuit debout«-Versammlungen in den vergangenen Wochen in so vielen Städten Frankreichs?

Diese Versammlungen gibt es seit dem 9. März, seit der ersten landesweiten Demonstration gegen das neue Arbeitsgesetz. Initiiert wurden sie von einer kleinen Gruppe von Filmemachern, Theaterleuten, Jugendlichen und Basisgewerkschaftern. Inzwischen haben sich die Besetzungen von öffentlichen Plätzen auf eine Reihe von Städten ausgeweitet. In den Regionen und Orten kommen die Initiatoren aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen. In den etablierten Medien wird zumeist nur von Paris und dem Platz der Republik gesprochen, wenn von der »Nuit debout«-Bewegung die Rede ist. Die Zusammensetzung der Versammlungen wie auch deren Themen sind aber sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist die Debatte über das neue Arbeitsgesetz und eine Welt der immer weiter entregelten Lohnarbeit in allen Bereichen, wobei sich das Kräfteverhältnis immer mehr zugunsten des Kapitals verschiebt. Deshalb wird dieses Gesetz auch oft als loi du capital, als das Gesetz des Kapitals, bezeichnet. Aber bei »Nuit debout« treffen Akteure aus lokalen Kämpfen mit Akteuren aus der Region und landesweiten Bewegungen zusammen. Man lernt sich kennen und berichtet über die unterschiedlichen Kämpfe. Es gibt auch Inititativen wie »Psychiatrie debout« und »Hôpital debout«. Das ist ein Aufruf an alle, die in der Psychiatrie und in Krankenhäusern leben oder ihre Lohnarbeit dort verrichten.

Gibt es nach mehr als einen Monat nicht Ermüdungserscheinungen bei der Bewegung?

Alle diese Versammlungen sind Teil einer gemeinsamen politischen Bewegung, die das Ziel hat, die Regierung zur Rücknahme des geplanten neuen Arbeitsgesetzes zu zwingen. Daher können sich die Dynamik und das Potential von »Nuit debout« noch verstärken und ausweiten. Ob das geschieht, hängt von der Entschlossenheit der nächsten großen Streik- und Straßenaktionen am 28. April und in den folgenden Tagen ab. Ziel ist natürlich tous debout partout – alle sollen aufstehen, überall – und nicht nur nachts.

Welche Rolle spielt Militanz in der Bewegung?

Debatten über die Militanz des Widerstands und die unterschiedlichsten Aktionsformen finden auf den Versammlungen statt, aber die von den Medien und der Regierungen erwünschte Spaltung der Bewegungen sind für mich nicht sichtbar. Die Debatten haben eher dazu geführt, dass die Brutalität und die Gewalt der Polizeieinsätze gegen die Bewegung bekannt werden. Hier sind es gerade auch die militanten und kämpferischen Teile der Gewerkschaften, Sud-Solidaires, GGT sowie unabhängige bekannte Persönlichkeiten, die mit Aufrufen und Plakaten die Gewalt der CRS (ein kasernierter Verband der französischen Polizei, Anm. d. Red.) und anderer Teile der polizeilichen Einsatztruppen anprangern und kritisieren.

Nach der Räumung des Flüchtlingscamps in Calais spielte auch das Thema Rassismus eine größere Rolle. Ist es bei »Nuit debout« Thema?

Sans papiers, Aktive aus der Flüchtlingsbewegung und dem Camp in Calais berichten auf den Versammlungen über die Zustände. Hinzu kommt aber eine wichtige Debatte über den Generalstreik in Mayotte, dem 101. französichen Überseedepartement. Er hat bisher zwei Wochen gedauert, ist seit Freitag vorübergehend ausgesetzt und hat als Streikforderung die reale Gleichheit der Inselbewohner mit den Bewohnern im europäischen Frankreich. Der Streik wurde sehr militant mit Straßen- und Hafenblockaden auf der ganzen Insel geführt. In den etablierten Medien wird dieser Arbeitskampf kaum beachtet, obwohl er in seiner Entschlossenheit sehr stark an den 44tägigen Generalstreik auf Guadeloupe vor einigen Jahren erinnert.

Wie reagierten die Gewerkschaften auf die neue Bewegung?

CGT und Sud versuchen natürlich, in ihren betrieblichen Zusammenhängen und zu agieren, vor allem die geplanten Streikaktionen vorzubereiten und zu stärken. Aber auch Treffen und Versammlungen vor Ort wie bei Renault in Billancourt werden zusammen mit Studenten und Jugendlichen initiiert. Eine wichtige Aufgabe haben die Eisenbahner, die in Vorbereitung des nächsten Streiktags am 28. April schon am Dienstag mit einem Streik beginnen. Eine weitere agile Gruppe in der Bewegung sind die prekären Kulturarbeiter, die intermittents, die durch Besetzungen von Theatern wie in Montpellier und Bordeaux ein sehr dynamisches und mutiges Element in dieser sozialen Bewegung verkörpern.

Haben die Proteste überhaupt einen emanzipatorischen Charakter oder ist es eher ein Ritual, wie es in einigen Erklärungen libertärer Gruppen heißt?

Seit Beginn der Aktionen im März durchzieht das Land ein rebellischer Geist, genau der wird auch spürbar auf all den Versammlungen, Aktionen und Debatten, die ich in den letzten Wochen an unterschiedlichen Orten und in sehr verschiedenen Zusammenhängen erlebt habe. Bei diesen Debatten kommt es natürlich auch zu Konflikten, aber das gehört zu einer lebendigen, demokratischen Kultur dazu.

Sind diese Proteste ein Neuaufguss der »Occupy«-Bewegung in Frankreich?

Gemeinsam ist das Aneignen der öffentlichen Räume, der Ausbruch aus der alltäglichen Ordnung, die vielfältigen Initiativen, das Erleben einer solidarischen Gesellschaft. Eine übergreifende, gemeinsame gesellschaftliche Bewegung gegen ein Arbeitsgesetz, die die unterschiedlichsten Teile der Lohnarbeit, der Erwerbslosen, der Migranten, der rebellischen Gesellschaft zusammenbringt, unterscheidet die Proteste in Frankreich von der Occupy-Bewegung.

Es gibt Versuche, »Nuit debout« auf verschiedene europäische Länder auszuweiten. Warum zündet der Funke nicht?

Die jetzige Bewegung in Frankreich hat eine Vorgeschichte. Es haben in den vergangenen Monaten an vielen Orten in den unterschiedlichsten Bereichen lokale Streiks und Aktionen stattgefunden, so bei der Post-Telekom, Air France und der französischen Bahn. Aber zu einer landesweiten Bewegung war es nicht gekommen. Alle warteten auf den auslösenden Funken. Jetzt ist er da. Das verändert das gesellschaftliche Klima und das ist nicht nur in den großen Städten spürbar. Eine solche Bewegung lässt sich nicht einfach in andere Länder übertragen, aber das Lernen voneinander ist wichtig.

So wurde mit großen Interesse verfolgt, wie die linke Stadtregierung in Barcelona mit einem Streik der Busfahrer in der Stadt umgegangen ist. Auch die Berichte über die internen Widersprüche und Machtkämpfe innerhalb der Podemos-Bewegung in Spanien stoßen auf großes Interesse.

Könnte aus der aktuellen Bewegung eine Art französische Podemos entstehen?

In der Bewegung gibt es eine starke Abneigung gegen Vereinnahmungsversuche durch politische Parteien, Gewerkschaften und repräsentative Persönlichkeiten, die diese Bewegung für ihre politischen Projekte nutzen wollen. Es gibt ein starkes Bedürfnis, sich vor Ort gesellschaftlich zu verankern, handlungsfähig zu werden, das soziale Klima und das Kräfteverhältnis zu verändern. Man will sich nicht repräsentieren lassen.

In dieser Situation haben Aktive aus dem Umfeld der Gewerkschaften Sud und CGT die Initiative zur Gründung einer neuen Tageszeitung ergriffen, die Le progrès social heißt.

http://jungle-world.com/artikel/2016/17/53904.html

Interview: Peter Nowak

„Der Kapitalismus muss weg“

Athanasios Karathanassis ist Lehrbeauftragter an der Universität Hannover. Im Jahr 2015 hat er im VSA-Verlag das Buch „Kapitalistische Naturverhältnisse. Ursachen von Naturzerstörungen – Begründungen einer Postwachstumsökonomie“ herausgegeben. Der vorwärts sprach mit dem Soziologen über den Pariser Klimagipfel, Naturzerstörung und den Kapitalismus.

vorwärts: Der Pariser Klimagipfel ist Geschichte und hinterher gaben sich fast alle zufrieden. Wie würden Sie im zeitlichen Abstand einiger Wochen die Ergebnisse beschreiben?
Athanasios Karathanassis: Angesichts des nicht mehr zu leugnenden Klimawandels musste es nach all den gescheiterten Verhandlungen das vordringlichste Ziel sein, Erfolge zu präsentieren. So wird ein Minimalkonsens auf Basis einer „freiwilligen Verbindlichkeit“
ohne Sanktionsmöglichkeiten als historischer Durchbruch interpretiert. Die Ergebnisse des Gipfels haben so den Charakter eines moralischen Imperativs. In der Praxis wird die Moral aufgrund mächtiger ökonomischer und politischer Interessen, die ihr entgegenstehen, aber in ihre Schranken verwiesen. Erfolg misst sich letztlich nicht daran, was ausgehandelt wird, sondern an konkreten praktischen Massnahmen. Und es sollte auch nicht – wie auf der COP 21 beschlossen – erst nach fünf Jahren überprüft werden, ob diese auch wirklich umgesetzt wurden. Wäre man vom Erfolg der Verhandlungen so überzeugt, wie es nach aussen scheint, wären Rücktrittsankündigungen verantwortlicher Politikerinnen und Unternehmensschliessungen nur konsequent, falls es in bestimmter Zeit nicht gelingt, klimarelevante Gase signifikant zu senken.
vorwärts: Was wäre für Sie der Massstab für einen Gipfelerfolg gewesen?
Athanasios Karathanassis: Eine wirklich historische Wende hin zu einer „Dekarbonisierung“ wäre etwas anderes gewesen: Das verbindliche Abschalten von Kohlekraftwerken, das sofortige Bereitstellen der erforderlichen finanziellen Mittel für den Aufbau regenerativer
Energiequellen, die ersetzend und nicht ergänzend zu fossilen eingesetzt werden und vieles mehr. Würden Dekarbonisierungsmassnahmen nicht umgesetzt, müssten spürbare und schnellstmögliche ökonomische Sanktionen folgen. Ein Grossteil der fossilen Energieträger musste also in der Erde bleiben; das bedeutete aber entgangene Profite. All das geschieht nicht oder nicht ausreichend, so dass sich auch hier mal wieder zeigt, wie mit zweierlei Mass gemessen wird. Im Zuge der globalen Wirtschaftskrise von 2008 war es äusserst schnell und unbürokratisch möglich, „Rettungsschirme“ in Milliardenhöhe für systemrelevante
Banken auf Kosten von Millionen von Menschen bereitzustellen. Die Menschen und die äussere Natur, die von der Klimakrise betroffen sind, scheinen nicht als systemrelevant zu gelten. Das System der Kapitalakkumulation hat also Priorität. Es scheint so, als müsse
man sich einer versachlichten, gottähnlichen Macht – der Macht der Kapitale – alternativlos beugen. Doch zumindest eines ist klar: Es gibt keine Alternativen zur Natur; es gibt auch keine Alternativen zur Ökonomie, aber es gibt Alternativen zur kapitalistischen Form der
Ökonomie.


vorwärts: In den Reihen der Klimabewegten wird auch der Kapitalismus kritisiert, zum Beispiel in dem Buch „Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima“ von Naomi Klein. Wie tief geht deren Kapitalismuskritik?

Athanasios Karathanassis: Die Qualität von „Kapitalismus vs. Klima“ liegt darin, ein Türöffner für einen kritischen Blick auf kapitalistische Naturverhältnisse sein zu können. Es weist also in die richtige Richtung, bleibt aber zumeist bei einer Kritik am Neoliberalismus,
was eine Verkürzung ist, die nur eine Variante des Kapitalismus in den Vordergrund stellt. Fragen nach den gesellschaftlich-ökonomischen Ursachen des Klimawandels und weiteren krisenhaften Naturveränderungen lassen sich aber nur durch tiefer gehende Kritik an kapitalistischen Grundprinzipien, die in allen kapitalistischen Phasen existieren und in verschiedenen historischen Varianten ihrer Umsetzung ihre praktische Wirkkraft entfalten, beantworten. Hierzu gehört zuallererst die allen Kapitalismen innewohnende Masslosigkeit in einer begrenzten Welt.


vorwärts: Sie haben im VSA-Verlag ein Buch mit dem Titel „Kapitalistische Naturverhältnisse“ veröffentlicht. Was verstehen Sie darunter und welche Rolle spielt die marxsche Ökonomiektitik dabei?

Athanasios Karathanassis: Zunächst einmal sollte man betonen, dass Marx mehr als einen Blick für den kapitalistischen Umgang mit der Natur hatte. Das liesse sich mit einer Reihe von Zitaten belegen. Aber insbesondere seine Kritik der Politischen Ökonomie ist geeignet,
über die Analyse ökonomischer Gesetzmässigkeiten Verhältnisse von Kapital und Natur zu entschlüsseln. Diese Kritik ist zwar nicht ausreichend aber unerlässlich. In „kapitalistische Naturverhältnisse“ geht es, verkürzt gesagt um die Fragen, wie der Kapitalismus
mit der Natur umgeht, was die Gründe dafür sind, welche Folgen das hat und welche Bedeutung das letztlich für die Entwicklung gesellschaftlich-ökonomischer Alternativen hat. Eine Abgrenzung vom marxschen Fortschrittsglauben, wie zum Beispiel im „Kommunistischen Manifest“ beschrieben, ist hierbei insbesondere für die Skizzierung dieser Alternativen wichtig, da – anknüpfend an Walter Benjamins kritischen Verweis auf das marxsche Revolutions- und Fortschrittsverständnis – nicht nur die Geschwindigkeit der Entwicklung, sondern vor allem die Richtung des Fortschritts in Frage gestellt werden muss.


vorwärts: Ein Kapitel Ihres Buches befasst sich mit postfordistischen Naturverhältnissen. Was sind deren besondere Kennzeichen?

Athanasios Karathanassis: Postfordistische Naturverhältnisse sind zunächst nicht dadurch gekennzeichnet, dass mit wesentlichen fordistischen Wachstumstreibern, wie zum Beispiel der Steigerung der Produktivkräfte oder des Massenkonsums, gebrochen wird. Im
Gegenteil: Sie werden auf entwickelterer Stufe, etwa durch Mikroprozessoren gesteuerte Produktionssysteme und elektronische Massenwaren, weitergeführt, so dass Märkte durch Informations- und Kommunikationstechnologien erweitert und vertieft werden. Der Einzug von „Biotechnologien“ in Produktionsprozesse und die Zunahme gentechnisch veränderter Waren kennzeichnen ebenfalls eine neue Qualität im Umgang mit der Natur. Diese wird nicht mehr nur von aussen, sondern nun auch von innen nach renditeorientierten Kriterien verändert. Kriterien der Kapitalverwertung werden so der Natur innerlich. Ähnlich wie es zunehmend von Lohnarbeitenden gefordert wird, die Interessen des Unternehmens zu verinnerlichen, sich mit diesem bis zur Unkenntlichkeit ihres Selbst zu identifizieren,
werden der Natur ihr fremde „Gesetze“ aufgezwungen. Diese globalen Überformungen sind nur einige neue Schritte der Gestaltung von Gesellschaften und Natur nach den Massgaben der Kapitalrentabilität. So sind wir auf dem Weg zu einer globalen „Kapitalgesellschaft“, in der sowohl die Menschen als auch die äussere Natur zunehmend als Mittel zum Zweck der Profitmaximierung instrumentalisiert werden.


vorwärts: In den letzten Kapiteln sprechen Sie von einer Postwachstumsökonomie. Was verstehen Sie darunter?

Athanasios Karathanassis: Um nur einige Schlagworte zu nennen: Ökonomische Prozesse würden nicht mehr auf maximalen Output abzielen, sondern müssten nach Kriterien der Bedarfsdeckungslogik umgestaltet werden. Das heisst, dass die Ökonomie nicht überall
schrumpft, sondern nur das Übermass an Produktion, Verkehr und Konsum verschwindet. Das hätte auch ein gänzlich anderes Krisenverständnis zur Folge. Möglich wäre das nur, wenn an Stelle von Kapitallogiken Logiken der Bedarfsdeckung zur Praxis werden. Problematisch ist hierbei aber nicht nur die Bedarfsbestimmung; was Mensch wirklich braucht, ist nur eine von vielen Fragen einer damit verbundenen Konsumkritik. Entscheidend ist in einer Postwachstumsökonomie, dass weniger stoffgebundene ökonomische
Prozesse stattfinden, denn die Entkopplung von Wachstum und Naturverbrauch und -Zerstörung ist trotz Fortschritten in der Energie- und Materialeffizienz nicht möglich. Man braucht also eine umfassende Wende, sozusagen eine positive Krise, die nicht nur einen
Wertewandel anstrebt und politische Machtverhältnisse in Frage stellt; es ist insbesondere  eine andere Ökonomie notwendig, die nicht mehr auf massloses Wachstum abzielt und vortäuscht, Massenkonsum sei für das Wohl der Menschheit unumgänglich. Das reicht selbstverständlich nicht aus, eine Postwachstumsökonomie zu umreissen. Es kann nur die Richtung andeuten, vieles ist noch unklar, muss beforscht und praktisch entwickelt werden.
vorwärts: In ihren 16 Thesen zur Leipziger Degrowth-Konferenz im Jahr 2014 schreibt die Interessengemeinschaft Roboterkommunismus: „Der Kardinalfehler der gesamten Bewegung besteht in ihrer Überhöhung des Wachstums zum Inbegriff aller Übel, zum scheinbar letzten Grund gesellschaftlicher Prozesse und somit auch zum Hebelpunkt einer qualitativen politischen Veränderung.“ Würden Sie dieser These zustimmen?
Athanasios Karathanassis: Ein Defizit des „Degrowth-Mainstreams“ ist die nicht ausreichende Verknüpfung von Wachstums- und Kapitalismuskritik. Gäbe es diese, wäre es klarer, dass Kapitalismus ohne Wachstum und somit auch ohne wachsenden Ressourcenverbrauch und Schadstoffemissionen nicht möglich ist. Bisherige Effizienzfortschritte oder naturschonende Lebensweisen reichen nicht aus und werden von den kapitalistischen Wachstumsausmassen bei weitem überkompensiert. Eine Wachstumskritik, die auf halbem Weg verharrt, kann bestenfalls zur Entschleunigung aber nicht zur Verhinderung von Katastrophen beitragen.


vorwärts: Nach der Lektüre Ihres Buches muss man zu dem Fazit kommen: Im Kapitalismus ist ein Ende der Naturzerstörung nicht möglich. Wäre da eine Revolution nicht der beste Beitrag für den Umweltschutz?

Athanasios Karathanassis: Wenn Probleme letztlich nur dann gelöst werden können, wenn ihre Ursachen beseitigt werden, dann bedeutet das, dass gesellschaftliche Grosskrisen, wie die Ausmasse der Naturzerstörung oder Massenarmut nur dann gelöst werden können, wenn wesentliche Ursachen dieser beseitigt werden. Und damit ist klar: Der Kapitalismus muss weg und emanzipatorischer Widerstand ist im wahrsten Wortsinn notwendig. Offen ist jedoch, auf welchen Wegen das möglich sein wird, so dass die Postkapitalismen auch wirklich emanzipatorisch sein werden. Die Frage, inwieweit das realistisch ist, möchte ich mit Herbert Marcuse beantworten, der sagte: „Der unrealistische Klang dieser Behauptung deutet nicht auf ihren utopischen Charakter hin, sondern auf die Gewalt der Kräfte, die ihrer Verwirklichung im Wege stehen.“

Interview: Peter Nowak
Quelle:
vorwärts – die sozialistische Zeitung.
Nr. 05/06 – 72. Jahrgang – 12. Februar 2016, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch

Internet: www.vorwaerts.ch

Was wir erreichen können!

Filmemacher Moritz Springer über die alte Idee des Anarchismus, die für ihn äußerst lebendig ist

Der Filmemacher

Filmemacher Moritz Springer wurde 1979 in Starnberg geboren. Nach der Schule zog es ihn nach Afrika. Heute lebt er zusammen mit Freunden und Familie auf einem eigenen Hof in der Nähe von Berlin. Mit dem Dokumentarfilmer sprach für »nd« Peter Nowak.
»Projekt A« nimmt mit auf eine Reise zu anarchistischen Projekten in Europa. Er zeichnet ein Bild jenseits des Klischees vom Chaos stiftenden, Steine werfenden Punk. Brennende Autos kommen trotzdem darin vor.

Für ihren Dokumentarfilm »Projekt A« haben die Filmemacher Marcel Seehuber und Moritz Springer eine Reise zu anarchistischen Projekten in Europa unternommen. So besuchten sie das »Internationale Anarchistische Treffen« mit 3000 Teilnehmern in der Schweiz (Foto: Projekt A), die deutsche Anti-Atom-Aktivistin Hanna Poddig, die anarchosyndikalistische Gewerkschaft »Confederación General del Trabajo« in Barcelona, den zum öffentlichen Park umfunktionierten Parkplatz »Parko Narvarinou« in Athen oder auch das »Kartoffelkombinat« von München, das solidarische Landwirtschaft betreibt. Beim Münchner Filmfest 2015 gewann der Streifen den Publikumspreis. Seit Februar ist er in Programmkinos verschiedener Städte zu sehen.
Welchen Bezug zu Anarchismus hatten Sie vor dem Dreh von »Projekt A«? Was hat Sie dazu motiviert?
Den Ausschlag für den Film gab eine Begegnung mit Horst Stowasser, den ich bei einem Vortrag kennenlernte. Stowasser und seine Art über den Anarchismus zu sprechen hat mich so beeindruckt, dass ich Lust bekommen habe, mich mehr mit Anarchismus auseinanderzusetzen.

Horst Stowasser war nicht nur Autor diverser Bücher über Anarchismus, sondern auch an einem praktischen Versuch beteiligt, libertäre Strukturen in den Alltag zu integrieren. Bezieht sich der Titel Ihres Films auf dieses »Projekt A«?
Der Titel unseres Films ist dem entliehen. 1985 brachte Stowasser mit Mitstreitern ein Büchlein in Umlauf, das für die Idee warb, Anarchismus ganz konkret in einer Kleinstadt umzusetzen. Vier Jahre später ging es in drei Orten tatsächlich an die Realisierung, wobei Neustadt an der Weinstraße das wohl erfolgversprechendste und größte Projekt war. Die am Projekt A beteiligten Menschen gründeten dort Kneipen, kleine Läden und Handwerksbetriebe. Das war ein spannender Versuch, der leider im Großen gescheitert ist, von dem aber viele selbstverwaltete Strukturen übrig geblieben sind. Als wir Stowasser kennenlernten, war er gerade dabei, an einer Wiederbelebung von Projekt A zu arbeiten. Leider starb er 2009 ganz überraschend.

Was bedeutete das für den Film?
Es war ein großer Rückschlag. Wir waren damals noch in der Planungsphase. Eigentlich sollte Stowasser eine große Rolle in dem Film spielen. Nach seinem Tod fragten wir uns, ob wir den Film überhaupt machen sollten. Es war uns dann aber schnell klar, dass in dem Thema soviel Potenzial steckt, dass wir auch ohne ihn den Film machen wollten.

Nach welchen Kriterien haben Sie entschieden, welche Projekte Sie besuchen?
Wir verfolgen zwei Ansätze mit dem Film: Auf der einen Seite wollen wir eine Einführung in die Theorie des Anarchismus geben und einen Eindruck vermitteln, was Anarchisten wollen und wie sie sich organisieren. Und zwar in einer Sprache, die auch für die Leute von nebenan funktioniert. Auf der anderen Seite wollten wir zeigen, wie Menschen ihre Vision einer anderen Welt im Hier und Jetzt versuchen zu leben. Wir haben dann Themenblöcke gesucht, die wir mit Anarchismus verbinden, und die auf bestimmte Länder aufgeteilt. So stellen wir zum Beispiel für Anarchosyndikalismus die Gewerkschaft CGT vor, die mit ca. 60 000 Mitgliedern in Spanien eine wichtige Rolle spielt.

Der Film will ein Bild von Anarchie jenseits der Klischees vom Chaos stiftenden, Steine werfenden Punk zeichnen. Dennoch zeigen Sie auch brennende Autos in Athen. Wird da nicht das Klischee wieder bedient?
Die Szene war nicht gestellt, sondern während eines Generalstreiks passiert. Wir sind Filmemacher und zeigen die Realität. Gerade im Athener Stadtteil Exarchia werden die unterschiedlichen Facetten anarchistischer Aktivitäten deutlich. Da sind die Leute, die einen ehemaligen Parkplatz besetzt und dort einen selbstverwalteten Nachbarschaftsgarten gestaltet haben. Dort kracht es aber auch häufig und es gibt Straßenschlachten mit der Polizei. Im Film kommentiert eine der Protagonistinnen die Szene und sagt, dass sie die Diskussion über Gewalt müßig findet. Man müsse über die Ursachen der Gewalt sprechen und über die wirklich wichtigen Probleme. Die Gewalt ist real, sie ist ein Teil des Alltags in Exarchia, sie auszublenden wäre nicht ehrlich.

Der Film endet mit dem Münchner Kartoffelkombinat, das sich selbst gar nicht als anarchistisch versteht. Haben Sie das bewusst an den Schluss gesetzt, um gesellschaftlich breiter anschlussfähig zu sein?
Uns geht es um einen Brückenschlag. Es hilft nichts, wenn wir in unseren abgeschlossenen Zirkeln bleiben. Wir wollen mit dem Film auch Menschen ansprechen, die sich noch nicht mit Anarchismus auseinander gesetzt haben. Wir müssen uns möglichst viele Bereiche des Lebens zurückerobern. Das Kartoffelkombinat produziert Lebensmittel und zahlt faire Löhne. Es arbeitet an der Transformation von Eigentum zu Gemeingütern und wirtschaftet nicht profit-, sondern bedürfnisorientiert – wohl gemerkt orientiert an den Bedürfnissen der Genossenschaftsmitglieder und nicht von Shareholdern. Dieser Charakter ist entscheidend und nicht, ob sie sich selbst Anarchismus auf die Fahne schreiben.

Welchen Eindruck haben Sie nach dem Besuch der unterschiedlichen Projekte von der anarchistischen Bewegung?
Ich war sehr beeindruckt von der Vielfalt. Jedes Projekt beinhaltet einen Erkenntnisgewinn für mich. Jedes einzelne macht deutlich, was wir erreichen können, wenn wir uns organisieren. Interessant wird es allerdings dann, wenn wir uns fragen, wie wir die verschiedenen Projekte miteinander vernetzten und wie größere gesellschaftliche Strukturen aussehen könnten. Die CGT, aber auch die CIC in Katalonien sind interessante Beispiele. Ich bin gespannt, wie sich das in den nächsten Jahren entwickelt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/1002784.was-wir-erreichen-koennen.html

Interview: Peter Nowak

»Die Konflikte polarisierten zum Teil über Jahre«

Der Historiker David Templin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Kürzlich hat er im Wallstein-Verlag unter dem Titel »Freizeit ohne Kontrollen« ein Buch herausgeben, das die Geschichte der Jugendzentrumsbewegung in den siebziger Jahren der Bundesrepublik beleuchtet. Mit Templin sprach die »Jungle World« über den Kampf um und die Bedeutung von Jugendzentren damals und deren Wandel bis heute.

Sie haben sich in Ihrem Buch »Freizeit ohne Kontrollen« der Geschichte der westdeutschen Jugendzentrumsbewegung gewidmet. Warum ist diese von Historikern bisher weitgehend ignoriert worden?

„»Die Konflikte polarisierten zum Teil über Jahre«“ weiterlesen

»Man braucht eine positive Krise«

Der Politik- und Sozialwissenschaftler Athanasios Karathanassis lehrt an den Universitäten von Hannover und Hildesheim. Im vergangenen Jahr erschien im VSA-Verlag sein Buch »Kapitalistische Naturverhältnisse. Ursachen von Naturzerstörungen – Begründungen einer Postwachstumsökonomie«. Die Jungle World sprach mit Karathanassis über seine ­Kritik am Kapitalismus, an marxistischen Wachstumsfetischisten sowie an der ­Umweltbewegung.

Nach dem Pariser Klimagipfel (COP 21) Ende vergangenen Jahres gaben sich hinterher fast alle Teilnehmer zufrieden. Wie würden Sie, mit einigen Wochen zeitlichem Abstand die Ergebnisse beschreiben?

Angesichts des nicht mehr zu leugnenden Klimawandels musste es nach all den gescheiterten Verhandlungen das vordringlichste Ziel sein, Erfolge zu präsentieren. So wird ein Minimalkonsens auf der Basis einer »freiwilligen Verbindlichkeit« ohne Sanktionsmöglichkeiten als historischer Durchbruch interpretiert. Die Ergebnisse des Gipfels haben den Charakter eines moralischen Imperativs. In der Praxis wird die Moral aufgrund mächtiger ökonomischer und politischer Interessen, die ihr entgegenstehen, aber in ihre Schranken verwiesen.

Erfolg misst sich letztlich nicht daran, was ausgehandelt wird, sondern an konkreten praktischen Maßnahmen. Und es sollte auch nicht – wie auf der COP 21 beschlossen – erst nach fünf Jahren überprüft werden, ob diese auch wirklich umgesetzt wurden. Wäre man vom Erfolg der Verhandlungen so überzeugt, wie es nach außen scheint, wären Rücktrittsankündigungen verantwortlicher Politiker und Unternehmensschließungen nur konsequent, falls es in einer bestimmten Zeit nicht gelingt, den Ausstoß klima-relevanter Gase signifikant zu senken. Diese blieben bisher aus und der notwendige grundlegende Wandel wurde auch nicht beschlossen.

Was wäre für Sie der Maßstab für einen Gipfelerfolg gewesen?

Eine wirklich historische Wende hin zu einer »Dekarbonisierung« wäre etwas anderes gewesen: das verbindliche Abschalten von Kohlekraftwerken, das sofortige Bereitstellen der erforderlichen finanziellen Mittel für den Aufbau regenerativer Energiequellen, die ersetzend und nicht ergänzend zu fossilen eingesetzt werden, und vieles mehr. Würden Dekarbonisierungsmaßnahmen nicht umgesetzt, müssten spürbar und schnellstmöglich ökonomische Sanktionen folgen. Ein Großteil der fossilen Energieträger müsste also in der Erde bleiben; das würde aber entgangene Profite bedeuten. All das geschieht nicht oder nicht ausreichend, so dass sich auch hier wieder einmal zeigt, wie mit zweierlei Maß gemessen wird. Im Zuge der globalen Wirtschaftskrise von 2008 war es äußerst schnell und unbürokratisch möglich, »Rettungsschirme« in Milliardenhöhe für systemrelevante Banken auf Kosten von Millionen von Menschen bereitzustellen. Die Menschen und die äußere Natur, die von der Klimakrise betroffen sind, scheinen nicht als systemrelevant zu gelten. Das System der Kapitalakkumulation hat also Priorität. Es scheint so, als müsse man sich einer versachlichten, gottähnlichen Macht – der Macht der Kapitale – alternativlos beugen. Doch zumindest eines ist klar: Es gibt keine Alternativen zur Natur; es gibt auch keine Alternativen zur Ökonomie, aber es gibt Alternativen zur kapitalistischen Form der Ökonomie.

Sie haben im VSA-Verlag ein Buch mit dem Titel »Kapitalistische Naturverhältnisse« veröffentlicht. Was verstehen Sie darunter und welche Rolle spielt die Marxsche Ökonomiekritik dabei? Insbesondere da in der Umweltbewegung Marx vorgeworfen wird, ein Anhänger des kapitalistischen Fortschrittsdenkens gewesen zu sein und keinen Blick für die Probleme der Umwelt gehabt zu haben.

Zunächst einmal sollte man betonen, dass Marx mehr als einen Blick für den kapitalistischen Umgang mit der Natur hatte. Das ließe sich mit einer Reihe von Zitaten belegen. Aber insbesondere seine Kritik der politischen Ökonomie ist geeignet, über die Analyse ökonomischer Gesetzmäßigkeiten das Verhältnis von Kapital und Natur zu entschlüsseln. Diese Kritik ist zwar nicht ausreichend, aber unerlässlich.

In »Kapitalistische Naturverhältnisse« geht es verkürzt gesagt um die Frage, wie der Kapitalismus mit der Natur umgeht, was die Gründe dafür sind, welche Folgen das hat und welche Bedeutung das letztlich für die Entwicklung gesellschaftlich-ökonomischer Alternativen hat.

Eine Abgrenzung vom Marxschen Fortschrittsglauben, wie beispielsweise im »Kommunistischen Manifest« beschrieben, ist insbesondere für die Skizzierung dieser Alternativen wichtig, da – anknüpfend an Walter Benjamins kritischen Verweis auf das Marxsche Revolutions- und Fortschrittsverständnis – nicht nur die Geschwindigkeit der Entwicklung, sondern vor allem die Richtung des Fortschritts in Frage gestellt werden muss.

Ein Kapitel Ihres Buches befasst sich mit postfordistischen Naturverhältnissen. Was kennzeichnet diese?

Postfordistische Naturverhältnisse sind zunächst nicht dadurch gekennzeichnet, dass mit wesentlichen fordistischen Wachstumstreibern gebrochen wird, zum Beispiel der Steigerung der Produktivkräfte oder dem Massenkonsum. Im Gegenteil, sie werden auf höherentwickelter Stufe weitergeführt, etwa durch von Mikroprozessoren gesteuerte Produktionssysteme und elektronische Massenwaren, so dass Märkte durch Informations- und Kommunikationstechnologien erweitert werden. Der Einzug von »Biotechnologien« in Produktionsprozesse und die Zunahme gentechnisch veränderter Waren kennzeichnen ebenfalls eine neue Qualität im Umgang mit der Natur. Diese wird nicht mehr nur von außen, sondern nun auch von innen nach renditeorientierten Kriterien verändert. Kriterien der Kapitalverwertung werden so der Natur innerlich. Ähnlich wie es zunehmend von Lohnarbeitenden gefordert wird, die Interessen des Unternehmens zu verinnerlichen, sich mit diesem bis zur Unkenntlichkeit ihres Selbst zu identifizieren, werden der Natur ihr fremde »Gesetze« aufgezwungen.

Diese globalen Überformungen sind nur einige neue Schritte der Gestaltung von Gesellschaften und Natur nach Maßgabe der Kapitalrentabilität. So sind wir auf dem Weg zu einer globalen »Kapitalgesellschaft«, in der sowohl Menschen als auch die äußere Natur immer mehr als Mittel zum Zweck der Profitmaximierung instrumentalisiert werden, was eine Verkehrung von Verhältnissen ist, in denen sich immer mehr den Interessen der Kapitale unterordnen soll und nicht die Ökonomie primär den Interessen der Menschen dient.

In den letzten Kapiteln sprechen Sie von einer Postwachstumsökonomie. Was verstehen Sie darunter?

Um nur einige Schlagworte zu nennen: Ökonomische Prozesse würden nicht mehr auf maximalen Output abzielen, sondern müssten nach Kriterien der Bedarfsdeckung umgestaltet werden. Das heißt, dass die Ökonomie nicht überall schrumpft, sondern nur das Übermaß an Produktion, Verkehr und Konsum verschwindet. Das hätte auch ein gänzlich anderes Krisenverständnis zur Folge. Möglich wäre das nur, wenn an Stelle der Kapitallogik die Logik der Bedarfsdeckung zur Praxis wird. Problematisch ist hierbei aber nicht nur die Bedarfsbestimmung; was Menschen wirklich brauchen, ist nur eine von vielen Fragen einer damit verbundenen Konsumkritik.

Entscheidend ist in einer Postwachstumsökonomie, dass weniger stoffgebundene ökonomische Prozesse stattfinden, denn die Entkopplung von Wachstum und Naturverbrauch und -zerstörung ist trotz Fortschritten in der Energie- und Materialeffizienz nicht möglich. Man braucht also eine umfassende Wende, sozusagen eine positive Krise, die nicht nur einen Wertewandel anstrebt und politische Machtverhältnisse in Frage stellt; es ist insbesondere eine andere Ökonomie notwendig, die nicht mehr auf maßloses Wachstum abzielt und vortäuscht, Massenkonsum sei für das Wohl der Menschheit unumgänglich. Das reicht selbstverständlich nicht aus, eine Postwachstumsökonomie zu umreißen. Es kann nur die Richtung andeuten, vieles ist noch unklar, muss erforscht und praktisch entwickelt werden.

Die Interessensgemeinschaft Roboterkommunismus in ihren 16 Thesen zur Leipziger Degrowth-Konferenz im Jahr 2014: »Der Kardinalfehler der gesamten Bewegung besteht in ihrer Überhöhung des ›Wachstums‹ zum Inbegriff aller Übel, zum scheinbar letzten Grund gesellschaftlicher Prozesse und somit auch zum Hebelpunkt einer qualitativen politischen Veränderung.« Stimmen Sie dieser These zu?

Ein Defizit des »Degrowth-Mainstream« ist die nicht ausreichende Verknüpfung von Wachstums- und Kapitalismuskritik. Gäbe es diese, wäre es klarer, dass Kapitalismus ohne Wachstum und somit auch ohne wachsenden Ressourcenverbrauch und Schadstoffemissionen nicht möglich ist. Bisherige Effizienzfortschritte und die Natur schonende Lebensweisen reichen nicht aus und werden von den kapitalistischen Wachstumsausmaßen mehr als nur kompensiert. Eine Wachstumskritik, die auf halbem Weg verharrt, kann bestenfalls zur Entschleunigung, aber nicht zur Verhinderung von Katastrophen beitragen.

Nach der Lektüre Ihres Buches muss man zu dem Fazit kommen, im Kapitalismus sei ein Ende der Naturzerstörung nicht möglich. Wäre da eine Revolution nicht der beste Beitrag zum Umweltschutz?

Wenn Probleme letztlich nur gelöst werden können, wenn ihre Ursachen beseitigt werden, dann bedeutet das, dass gesellschaftliche Großkrisen, wie die Ausmaße der Naturzerstörung oder Massenarmut, nur gelöst werden können, wenn wesentliche Ursachen dieser Krisen beseitigt werden. Und damit ist klar: Der Kapitalismus muss weg und emanzipatorischer Widerstand ist im wahrsten Wortsinn notwendig. Offen ist jedoch, wie »gewährleistet« werden kann, dass die Postkapitalismen auch wirklich emanzipatorisch sein werden. Die Frage, inwieweit das realistisch ist, möchte ich mit Herbert Marcuse beantworten, der sagte: »Der unrealistische Klang dieser Behauptung deutet nicht auf ihren utopischen Charakter hin, sondern auf die Gewalt der Kräfte, die ihrer Verwirklichung im Wege stehen.«

http://jungle-world.com/artikel/2016/04/53406.html

Interview: Peter Nowak