Keinen Datenschutz für Stasi-Mitarbeiter?

Der Leiter der Stasi-Gedenkstätte in Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, hat persönlich dafür gesorgt, dass Journalisten über einen Link Einsicht in die Akte von Andrej Holm erhielten

Fünf Wochen war Andrej Holm Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Mieten und Stadtentwicklung in Berlin. Schon nach seiner Ernennung begannen verschiedene Kreise, an seinen Stuhl zu sägen. Dass nun ein Mann in die Politik gegangen war, der die Investoren zumindest zwingen könnte, sich an die Gesetze zu halten, beunruhigte manche. Da war es klar, dass die Vita von Holm mit Akribie durchleuchtet wurde.

Holms angebliche Nähe zu der außerparlamentarischen Linken und zu Hausbesetzern wurde sofort in den Fokus gerückt. Schließlich war der parteilose Holm seit Jahren in vielen mieten- und stadtpolitischen Initiativen aktiv. Doch dann rückte die MfS-Vergangenheit von Holm in den Vordergrund, die er schon vor 10 Jahren mit Stasi-Opfern öffentlich gemacht hatte. Schnell stellten sich Widersprüche zwischen Holms Darstellung und der MfS-Akte[1] heraus, die plötzlich in der Öffentlichkeit zirkulierte.

Nun wurde bekannt, dass der Leiter der Stasi-Gedenkstätte in Hohenschönhausen[2], Hubertus Knabe[3], persönlich dafür gesorgt hat, dass Holms Akte ausgewählten Journalisten bekannt gemacht wurde. Nach Mitteilung[4] des Tagesspiegels könnte In der Weitergabe ein Verstoß[5] gegen das Stasi-Unterlagen-Gesetz[6] (StUG) vorliegen. Dies sieht eine Herausgabe von Unterlagen an Medien nur in engen Grenzen vor. Grund dafür ist der strenge Datenschutz angesichts der sensiblen persönlichkeitsbezogenen Informationen.

Der für die Aufsicht über die Gedenkstätten-Stiftung zuständige Kultursenator Klaus Lederer (Linke) sieht eine eigenmächtige Aktenweiterleitung kritisch: „Mitarbeiter der Stiftung sind gemäß Gesetz grundsätzlich nicht befugt, Unterlagen von Einzelpersonen ohne besondere Genehmigung an Dritte weiterzureichen“, sagte ein Sprecher Lederers.

In einer Stellungnahme[7] bestätigte die Gedenkstätte die Datenweitergabe, sieht dabei aber Hubertus Knabe vollkommen im Recht. Er habe die Daten zu Holms Akte nicht als Leiter der Stasi-Gedenkstätte, sondern als Privatmann, dazu noch im Urlaub, weitergegeben.

Hubertus Knabe auch im Urlaub als Stasijäger immer im Dienst, könnte man dazu sagen. Ob diese Trennung in Privatmann und Urlauber einer Überprüfung standhält, muss sich zeigen. Die Frage ist, ob Knabe hier nicht berufliche und private Interessen vermischt hat. Zudem liefert die Gedenkstätte eine bedenkliche rechtliche Bewertung, wenn schon in der Unterüberschrift der Pressemitteilung steht: „Unterlagen über „Ex-Stasi-Mitarbeiter können frei veröffentlicht werden.“ In einem eigenen Passus wird diese Auffassung in der Pressemitteilung noch einmal präzisiert:

Die Veröffentlichung von Unterlagen über ehemalige Stasi-Mitarbeiter wurde vom Gesetzgeber ausdrücklich gewünscht. Er verpflichtete deshalb den Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen , derartige Unterlagen zum Zweck der politischen und historischen Aufarbeitung auf Antrag an jedermann herauszugeben. Der Versuch, die öffentliche Diskussion über die Stasi-Tätigkeit von Herrn Holm als nicht rechtskonform erscheinen zu lassen, ist von Unkenntnis der Gesetzeslage geprägt. Nur die personenbezogenen Informationen über Stasi-Opfer und Dritte sind aus Datenschutzgründen geschützt.

Stellungnahme der Gedenkstätte

Das Fazit dieses Abschnittes lautet, für ehemalige Mitarbeiter des MfS gibt es keinen Datenschutz. Dabei spielt auch keine Rolle, wie lange die Person beim MfS war, wie alt sie war und ob sie Menschen konkret geschadet hat. Sollte diese Auffassung der bisherigen Praxis entsprechen, wäre jedem Betroffenen zu raten, dagegen mit allen juristischen Mitteln vorzugehen. Denn selbstverständlich gelten Datenschutzregeln für alle und können nicht für eine bestimmte Gruppe außer Kraft gesetzt werden.

Es ist bekannt, dass wegen rechten Straftaten Verurteilte schon erfolgreich dagegen geklagt haben, dass ihr Name mit mehr als ein Jahrzehnt zurückliegenden Delikten in Verbindung gebracht wird. Sie klagen ein, dass ihre Namen im Internet nicht mehr genannt werden dürfen. Es gibt ein Recht auf Vergessen auch dann, wenn sie vor einigen Jahren als Straftäter berechtigt Thema der Zeitgeschichte waren. Andrej Holm wurde nie einer Straftat überführt oder auch nur beschuldigt. Warum sollte für ihn kein Recht auf Vergessen gelten?

Sollte sich die Version der Gedenkstätte Hohenschönhausen durchsetzen, wäre das die Aberkennung von Grundrechten für eine ganze Personengruppe, unabhängig von ihren konkreten Handlungen und Taten. Das sollte auch für die Holmbleibt-Bewegung[8] stärker in den Fokus rücken, die seit der Entlassung des Stadtsoziologen durch die Humboldtuniversität das sozialwissenschaftliche Institut besetzt[9] halten und am 28.Januar gemeinsam mit Mieterinitiativen demonstrieren[10] wollen.

https://www.heise.de/tp/features/Keinen-Datenschutz-fuer-Stasi-Mitarbeiter-3609569.html

Peter Nowak


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[1] http://www.bz-berlin.de/berlin/die-stasi-akte-andrej-holm
[2] http://www.stiftung-hsh.de/
[3] http://www.stiftung-hsh.de/assets/Dokumente-pdf-Dateien/Lebenslauf-Hubertus-Knabe.pdf
[4] http://www.tagesspiegel.de/berlin/leiter-der-gedenkstaette-hohenschoenhausen-hubertus-knabe-verteilte-holms-stasi-akte-an-journalisten/19305134.html
[5] http://www.tagesspiegel.de/meinung/novellierung-stasi-mitarbeit-verjaehrt-offenbar-nie-/4674264.html
[6] http://www.bstu.bund.de/DE/BundesbeauftragterUndBehoerde/Rechtsgrundlagen/StUG/stug_node.html
[7] http://www.stiftung-hsh.de/presse/pressemitteilungen/2017/gedenkstaette-weist-bericht-zu-holm-akte-zurueck/
[8] http://iswbesetzt.blogsport.eu/
[9] http://wirbleibenalle.org/?p=3426
[10] http://wirbleibenalle.org/?p=3426

Sozialdemokratisches Kaltland

Ein Berliner SPD-Landespolitiker will Obdachlose aus seinem Wahlkreis vertreiben.

»Eine engelsgleiche Frau bedeckt Obdachlosen mit einer Decke.« Mit solchen paternalistischen Bildern wirbt die Berliner Stadtmission der evan­gelischen Kirche für Spenden für Wohnungslose. Auf der Website der Ber­liner Obdachlosenhilfe hingegen kommt man ohne himmlische Hilfe aus. Dort wirbt man mit dem Spruch: »Wir können die Welt nicht verändern. Doch wir können aktiv sein und helfen.« Seit September 2013 versucht der von sozial engagierten Menschen getragene Verein Berliner Wohnungslosen das Leben etwas erträglicher zu machen. An verschiedenen Plätzen in Berlin, an denen sich Obdachlose bevorzugt aufhalten, bieten die ehrenamtlich arbeitenden Helfer ein gesundes Essen, einen warmen Tee und saubere Kleidung an.

Bis Ende des vergangenen Jahres ­gehörte auch der Hansaplatz im Stadtteil Moabit zu diesen Orten. Doch die dortige Filiale der Supermarktkette Rewe hat der Obdachlosenhilfe seit dem ersten Januar untersagt, weiterhin ­ihren Parkplatz für die Essensausgabe zu nutzen. Falko Stein von der Obdachlosenhilfe sieht das Problem nicht beim Filialleiter, sondern bei Thomas Isenberg (SPD). Das Mitglied des Ber­liner Abgeordnetenhauses hat rund um das Hansaviertel seinen Wahlkreis. Mitte Dezember moderierte Isenberg eine Veranstaltung unter dem Motto »Sicherheit und Sauberkeit im Hansaviertel«. Dort inszenierte sich der Sozialdemokrat als Sprachrohr von Anwohnern, die die Wohnungslosen als Bedrohung empfinden. Der Polizeikommissar Mario Kanisch hielt dieser Wahrnehmung entgegen, dass die Kriminalität in der Gegend in den vergangenen Jahren zurückgegangen sei. Daher hatte das Verwaltungsgericht den Hansaplatz aus der Liste der kriminalitätsbelasten Orte (KBO) heraus­genommen, was die polizeilichen Eingriffsmöglichkeiten reduziert.

Isenberg forderte die Anwohner auf, es zu melden, wenn Wohnungslose in eine Hecke pinkeln oder im Vorraum einer Bankfiliale schlafen. Die Gewerbetreibenden rund am Hansaplatz rief er dazu auf, Wohnungslosen nichts zu verkaufen und von ihnen keine Pfandflaschen anzunehmen. Die Berliner Obdachlosenhilfe beschuldigte er, Wohnungslose in den Stadtteil zu locken. Der Hansaplatz solle in einem Jahr sauber sein und dazu sei er auch bereit, die Wohnungslosen zu verdrängen, drohte Isenberg.

Erst vor zwei Wochen wies die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslose auf Gewalt als alltägliches Problem für Obdachlose hin. Allein 2016 starben demnach 17 Wohnungslose eines un­natürlichen Todes. In den vergangenen 26 Jahren seien es insgesamt sogar 289 wohnungslose Menschen gewesen, so der Verein. »Sie erfroren im Freien, unter Brücken, auf Parkbänken, in Hauseingängen, in Abrisshäusern, in scheinbar sicheren Gartenlauben und in sonstigen Unterständen«, heißt es in der Pressemeldung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslose.

http://jungle-world.com/artikel/2017/04/55634.html

Peter Nowak

Ditib als Bauernopfer

Während die deutsch-türkische Partnerschaft bei der Flüchtlingsabwehr und gegen Linke reibungslos läuft, streitet man sich über einen Moscheeverein

Seit Monaten fordern Flüchtlings- und Menschenrechtsgruppen, dass die Bundesregierung das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei aussetzen soll. Es entspricht schon im Allgemeinen nicht den menschenrechtlichen Standards und droht das Asylrecht auszuhebeln. Dass nun in der Türkei der Weg in eine islamistische Präsidialdemokratur fortgesetzt wird, ist ein weiterer Grund für die Forderung, das Abkommen, das nie hätte geschlossen werden dürfen, aufzukündigen.

Doch in der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien stoßen diese Forderungen auf taube Ohren. Dort ist Flüchtlingsabwehr gerade im Wahljahr oberster Grundsatz und dafür taugt auch ein Erdogan noch genug. Dafür werden Ersatzdiskussionen geführt. Dazu gehört die wochenlange Auseinandersetzung über den türkischen Moscheeverband Ditib[1].

Keine Frage, für Anhänger einer säkularen Gesellschaft ist ein solcher Verband ein Anachronismus und es wäre eigentlich begrüßenswert, wenn sein Einfluss reduziert würde. Besser noch, es würden gesellschaftliche Verhältnisse entstehen, in denen ein solcher Verband wie alle religiösen Institutionen mangels Nachfrage absterben würden. Das wäre ein Zustand, in dem die Menschen nicht mehr Religion als „Opium des Volkes“ benötigten, wie es Karl Marx mal ausdrückte.

Doch wir leben heute in Zeiten, in denen die Subalternen mehr Betäubungsmittel denn je brauchen und der Islam ist nur eines davon. Das liegt auch daran, dass emanzipatorische Auswege aus den herrschenden Verhältnissen scheinbar nicht bestehen. Dann betäuben sich die Menschen besonders oft mit allen möglichen Opiaten, die nicht immer religiöser Natur sein müssen. Wenn die Diskussion um die Ditib in einem solchen Kontext stehen würde, würde sie in eine emanzipatorische Richtung laufen.

Aber die aktuelle Dauerdebatte ist in Wirklichkeit ein Ablenkungsmanöver. Auf die Ditib wird eingeprügelt, weil man so den konservativen Wählern suggerieren kann, dass man starke Worte gegen die Türkei findet. Als Hauptsache bleibt, dass der Flüchtlingsdeal mit der Türkei weitergeht. Auch viele der schärfsten Türkei-Kritiker finden es ganz in Ordnung, dass die Türkei mit dafür sorgt, dass Migranten gar nicht erst in den EU-Raum gelangen.

Aktuell regt man sich darüber auf, dass Ditib-Mitglieder angeblich Informationen über Gülen-Mitglieder an die türkischen Behörden geschickt haben. Hat Ditib diese Informationsweitergabe zugegeben, wie es deutsche Medien berichteten,[2] oder hat ein Ditib-Vertreter die Vorwürfe nur ernst genommen, wie es der Moscheeverein selber behauptet[3]?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Vorwürfe stimmen. Nach dem Putschversuch in der Türkei galt Gülen als Staatsfeind Nummer eins. Da es lange Zeit eine Kooperation mit den herrschenden Islamisten gab, ist auch sehr wahrscheinlich, dass die Moscheen die Orte waren, an denen sich die nun verfeindeten Glaubensbrüder noch regelmäßig trafen. Es wäre da nur logisch im Sinne der türkischen Staatsraison, dass dort nach Gülen-Mitgliedern gefahndet wurde.

Es ist aber unverständlich, warum das so auf besonders große Aufregung stößt. Bis heute ist unklar, wie groß die Rolle der Gülen-Bewegung beim gescheiterten Putschversuch war. Selbst erklärte Erdogan-Gegner betonen in der Regel, dass die Gülen-Bewegung einen wichtigen Anteil daran hatte. Natürlich wird diese Bewegung jetzt vom Erdogan-Regime zum omnipräsenten Hauptfeind aufgeblasen.

Damit soll auch vergessen gemacht werden, dass die Gülenbewegung und die Islamisten um Erdogan jahrelang gemeinsam Oppositionelle verfolgt und mit Kampagnen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt haben. Die Massenprozesse im letzten Jahrzehnt, als Oppositionelle beschuldigt wurden, einem tiefen Staat anzugehören und für Jahre in Gefängnissen verschwanden, wären ohne die Kooperation zwischen der Gülen-Bewegung und den erdogantreuen Islamisten nicht möglich gewesen.

Nun haben die sich die brothers in crime verkracht und die Gülenbewegung ist unterlegen. Das ist doch eigentlich kein Grund, sich darüber besonders aufzuregen.

Wenn nun die CDU-Vorstandsmitglieder Julia Klöckner und Jens Spahn erklären, dass Ditib kein Partner mehr sein kann und erst ihre Kooperation mit der Türkei lösen müssen, dann wird hier die eigene konservative Agenda bedient. Wie schon bei der Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft wird auch bei der Ditib-Diskussion vorausgesetzt, man könne nur einem Staat gegenüber loyal sein.

Wer noch politisch, kulturell oder religiös mit der Türkei verbunden ist, macht sich da schon mal verdächtig. Hier wird gegen einen islamistischen Nationalismus ein eigener Nationalismus in Anschlag gebracht. Das soll der Union, aber auch der SPD konservative Wähler bringen.

Auch Linkspolitiker wie Sevim Dagdelen[4] bedienen hier Klischees, wenn in verschiedenen Presseerklärungen der Eindruck erweckt wird[5], als stünde Erdogan via Ditib schon in den deutschen Klassenzimmern. Statt den notwendigen Kampf gegen reaktionäre Organisationen wie Ditib in den Kontext einer emanzipatorischen Islamkritik einzuordnen, wird hier das Klischee vom Türken bedient, der diesmal nicht mehr nur vor Wien, sondern schon in deutschen Klassenzimmern steht.

Dabei läuft auf anderem Gebiet die Kooperation zwischen der türkischen und der deutschen Justiz reibungslos. Gegen türkische und kurdische Linke, die oft bereits in ihrer Heimat gefoltert wurden und Jahre in Gefängnissen verbrachten, werden regelmäßig auch Erkenntnisse der türkischen Justiz verwendet.

Aktuelles Beispiel ist der vor einigen Wochen verhaftete Musa Aşoğlu[6], dem sogar die Auslieferung in die Türkei droht. In den Medien wird er zum Terrorfürsten[7] aufgebaut, weil er Mitglied einer linken Organisation ist, die bereits vom türkischen Faschismus gesprochen hat, als viele in Erdogan noch den Garanten einer islamischen Demokratie wähnten.

Die regimenahen türkischen Medien feierten die Verhaftung des Mannes in Hamburg als gelungene Kooperation. Auch die Prozesse gegen vermeintliche Mitglieder einer kleinen türkischen kommunistischen Partei[8] wären ohne die reibungslose deutsch-türkische Kooperation nicht möglich gewesen. Diese deutsch-türkische Partnerschaft will die Bundesregierung genau sowenig beenden wie den Flüchtlingsdeal. Ditib ist da nur ein Bauernopfer.

https://www.heise.de/tp/features/Ditib-als-Bauernopfer-3604641.html

Peter Nowak


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[1] http://www.ditib.de
[2] http://www.tagesspiegel.de/politik/tuerkei-moscheeverband-ditib-bestaetigt-spitzelei-fuer-tuerkischen-staat/19242942.html
[3] http://www.ditib.de/detail1.php?id=560&lang=de
[4] https://www.sevimdagdelen.de/tag/erdogan/
[5] https://www.sevimdagdelen.de/erdogans-ditib-agenten-ausweisen/
[6] http://political-prisoners.net/item/4786-woechentliche-kundgebung-vor-dem-untersuchungsgefaengnis-ug-in-hamburg-fuer-musa-aolun.html
[7] http://www.mopo.de/hamburg/polizei/musa-asoglu-verhaftet-was-wird-jetzt-aus-dem-terror-fuersten–25249036
[8] https://www.tkpml-prozess-129b.de/de/

»Der klassische McKinsey-Kurs«

Die »Aktion Arbeitsunrecht« veranstaltet an jedem Freitag, dem 13., Proteste gegen Unternehmen, die durch einen besonders ausbeuterischen Umgang mit ihren Beschäftigten auffallen. Am 13. Januar traf es Median, eine Firma für medizinische Rehabilitation. Elmar Wigand gehört zu den Gründern der »Aktion Arbeitsunrecht« und hat sich zum vierten Mal am »Schwarzen Freitag« beteiligt.

Small Talk mit Elmar Wigand von der »Aktion Arbeitsunrecht« von Peter Nowak

Am 13, Januar gab es bundesweit Proteste gegen Lohndumping und union busting vor den Kliniken des Konzerns Median. Warum wurde das Unternehmen ausgewählt?

Wir brandmarken immer an einem Freitag, dem 13., Betriebe, die durch ihr besonders krasses Vorgehen gegen Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschafter aufgefallen sind. Bei Median ist jede Menge Dampf im Kessel, seit die Kette 2014 von dem niederländischen Hedgefonds Waterland gekauft und durch Zukäufe erheblich erweitert wurde. Das Reha-Unternehmen beschäftigt inzwischen 15 000 Leute in 121 Einrichtungen. Waterland wird in Deutschland von einem McKinsey-Zögling gemanagt, Carsten Rahlfs. Ein weiterer McKinsey-Zögling, André Schmidt, wurde als CEO bei Median installiert. Hier wird der klassische McKinsey-Kurs zur »Optimierung der Wertschöpfungskette« verfolgt: Lohndumping, Gewerkschaftsbehinderung, Tarifflucht, Auslagerungen an Subunternehmer. Trauriger Höhepunkt war die Schließung einer ganzen Klinik, um eine Streikhochburg von Verdi zu schleifen. Die Weserklinik in Bad Oeynhausen war wohlgemerkt profitabel.

Wie war bundesweit die Resonanz an diesem »Schwarzen Freitag«?

Gut. Es gab Kundgebungen an etwa 20 Orten. Unsere Spezialität ist, das union busting anzugreifen, also nicht nur die Geschäftsführung zu kritisieren – worauf sich ML-Gruppen, Trotzkisten, aber auch konventionelle Gewerkschafter zumeist beschränken. Neben Aktionen vor und in diversen Median-Einrichtungen gab es einen Protest vor der Waterland-Zentrale in Düsseldorf, 50 Leute kamen in Frankfurt vor dem Büro einer Rechtsanwaltskanzlei zusammen, die im Auftrag von Median Leute mit Klagen fertigmacht. Andere protestierten beispielsweise in Berlin vor Büros der Deutschen Rentenversicherung. Wir haben zudem eine Online-Petition an die zuständige DRV-Referatsleiterin Nicole Wenderoth begonnen. Denn aus den Rentenkassen werden die Profite für Median bezahlt.

Ist es Ihnen gelungen, union busting in Deutschland zum Thema zu machen?

Immerhin haben wir den Begriff so weit etabliert, dass der DGB ihn offiziell verwendet. Der »Schwarze Freitag« ist nur ein Teil des Ganzen, aber ein wichtiger.

Die Aktionstage werden von wenigen Engagierten vorbereitet. Wie steht es mit der Ausweitung der Organisation?

Unser Ziel ist es, ein Netzwerk zu knüpfen, dabei aber Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Gewerkschaften, Parteien und staatlichen Geldern zu bewahren. Das ist im Entstehen, geht aber doch langsamer voran, als wir dachten. Ein Grund ist, dass die toxische ML-Sektenkultur der siebziger Jahre zum Teil noch spürbar ist: Intrigen spinnen, Macht ausbauen, spalten. Ein weiterer Grund: Das Thema ist riesig, darauf könnte man Karrieren begründen, damit kann man leider auch EU-Fördertöpfe anzapfen und Gewerkschaftspöstchen ergattern.

Wie ist die Resonanz bei den Gewerkschaften?

Mal so, mal so. Es hängt von einzelnen Sekretären an der Basis ab, im Fall der Syndikalisten von der Struktur der Ortsgruppen. Die Resonanz der DGB-Leitungsebene ist nicht unsolidarisch, aber auch nicht enthusiastisch. Es kommt auch darauf an, wie stark die Apparate noch mit der SPD verfilzt sind. Oder bei der FAU: wie stark man einer orthodoxen Auslegung der Lehren Rudolf Rockers folgt.

http://jungle-world.com/artikel/2017/03/55588.html

Interview: Peter Nowak

Humboldt-Universität Berlin: Kritische Wissenschaft unerwünscht?

Die Entlassung von Andrej Holm erinnert an den Fall Heinrich Fink. In beiden Fällen sind Menschen betroffen, die für Kritik an allen Systemen stehen

Es ist schon einige Jahre her, dass Studierende in Berlin Universitätsräume besetzt haben, um für Verbesserungen ihrer Studienbedingungen einzutreten. Seit dem 17. Januar sind in Berlin allerdings wieder Räume des Instituts für Sozialwissenschaft in Berlin besetzt[1]. Sie protestieren damit gegen die Entlassung des Stadtsoziologen Andrej Holm, der am Montag nach einer Kampagne nach wenigen Wochen als Staatssekretär zurücktreten musste[2]. Die Präsidentin der Humboldt-Universität Sabine Kunst erklärte[3], dass nicht die kurzzeitige Stasi-Mitgliedschaft von Holm der Grund für die Entlassung sei, sondern Falschangaben:

Die Kündigung beruht nicht auf der Tätigkeit von Herrn Dr. Holm für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), sondern einzig darauf, dass Herr Dr. Holm die HU hinsichtlich seiner Biographie getäuscht und auch an dem wiederholt vorgebrachten Argument der Erinnerungslücken festgehalten hat. Sabine Kunst[4]

Diese Erklärung ist aber selber ein Beispiel für bürokratische Willkür, an der die Stasi wie alle Geheimdienste dieser Welt ihre Freude hätten. Das beginnt schon mit dem Vorwurf an Holm, er habe an dem Argument der Erinnerungslücken festgehalten. Wie wurde festgestellt, dass Holm diese Erinnerungslücken nicht tatsächlich hatte. Er erklärte wiederholt, er habe erst nach den ersten Vorwürfen und nach dem die Akte öffentlich bekannt wurde, registriert, dass er bereits beim MFS angestellt war, wo er noch dachte, er sei Mitglied des Wachregiments „Feliks Dzierzynski“ gewesen.

Danach hat er gegenüber der Humboldt-Universität seine Biographie ergänzt, was ihm nun auch vorgeworfen wird. Doch welche Beweise hat die Universitätsleitung, dass Holm die Erinnerungslücken nur vorgetäuscht hat? War denn in der DDR vor 1989 der Unterschied zwischen der Wacheinheit und dem MFS so groß und ist es heute so, dass eine Mitgliedschaft in diesem Wachregiment gegenüber einer MFS-Tätigkeit etwa in der Öffentlichkeit positiver bewertet wird?

Auch dass sich Holm bereits im Jahr 2007 mit DDR-Oppositionellen, die von der Repression der Stasi betroffen waren, mit seiner Tätigkeit für die DDR-Sicherheitsorgane kritisch auseinandersetzte und das Ergebnis sogar in der Taz[5] öffentlich gemacht wurde, wird nun gegen ihn ausgelegt. So heißt es in der HU-Erklärung:

In dem vielzitierten taz-Interview vom Dezember 2007 konnte er sich wohl an Einzelheiten seiner MfS-Tätigkeit erinnern. In seinem Lebenslauf, den er bei der Wiedereinstellung 2011 der HU vorgelegt hat, verschwieg Herr Dr. Holm die Tätigkeit als Offiziersschüler des MfS weiterhin.

Humboldt-Universität[6]

Da stellt sich doch die Frage, warum 10 Jahre lang niemandem an der HU aufgefallen sein soll, dass es Unterschiede zwischen Holms Angaben im Fragebogen und in der Taz gab und er darauf nicht angesprochen wurde.

Tatsächlich wird in der Erklärung der HU deutlich, dass Holm gehen soll, weil er eben aktuell nicht zu Kreuze kriecht sondern weiterhin eine kritische Haltung bewahrt und auch äußert, auch was den Umgang mit seiner Biographie betrifft. Das wird ganz deutlich an diesem Satz:

Die gegenüber der HU abgegebene Stellungnahme und die öffentlichen Äußerungen von Herrn Dr. Holm zeigen, dass er nicht bereit ist, seine Falschangaben gegenüber der HU einzuräumen und sich von ihnen zu distanzieren. .

Humboldt-Universität[7]

Sich zu distanzieren, das ist die Forderung aller Repressionsorgane in Ost und West. Der DDR und anderen nominalsozialistischen Länder hatte man mangelnde Selbstkritik vorgeworfen. Im Deutschen Herbst wurden kritische Wissenschaftler zur Distanzierung von linker Theorie und Praxis aufgefordert. Wer sich nicht distanzierte, wie der Soziologieprofessor Peter Brückner , verlor seinen Job.

Dass sich Holm nicht von sich selbst distanziert, spricht für ihn. Dass er jetzt arbeitsrechtlich gegen seine Kündigung vorgeht, ist selbstverständlich. Es gibt juristische Stellungnahmen[8], nach denen Holm durchaus Erfolg haben könnte. Rechtsanwalt Johannes Eisenberg zeigt in einem Vergleich[9] auf, dass hierzulande eine ungenaue Angabe über eine Stasitätigkeit sogar schwerer wiegen kann als ein Mord:

Treiben wir den Fall noch auf die Spitze und nehmen an, Holm hätte am 1. September 1989 einen Mord an einem „Klassengegner“ begangen, zum Beispiel im Auftrage seiner angeblich tschekistischen Eltern. Er wäre – wenn er nicht grottenschlecht verteidigt worden wäre – nach Jugendstrafrecht verurteilt worden, zu, sagen wir, achteinhalb Jahren Jugendstrafe. Er stand unter dem Einfluss der Eltern, handelte entsprechend antrainierter Kenntnisse und ethischer Maßstäbe, war noch nicht selbstständig, wohnte noch zu Hause und so weiter. Die Richter hätten ihn reifemäßig als einem Jugendlichen gleichstehend beurteilt. Die Jugendstrafe hätte er teilweise abgesessen und deren Vollzug zur Ausbildung, Studium und Abschluss genutzt. Er wäre so etwa 1994 mustergültig „resozialisiert“ auf freien Fuß gekommen und hätte die Laufbahn, wie Holm eben, hinter sich gebracht und 2005 bei der HU beworben. Auf Nachfrage der HU hätte er angegeben, nicht bestraft zu sein. Später hätte die HU einen Bericht über die Mordtat gefunden. Sie wäre mit jedem Versuch, den Vertrag anzufechten oder zu kündigen, gescheitert. Denn: Die Jugendstrafe war nach dem Bundeszentralregistergesetz nach zehn Jahren zu tilgen, der Bewerber musste sie sich daher nicht vorhalten lassen.

Johannes Eisenberg[10]

Dieser nur auf den ersten Blick absurde Vergleich macht deutlich: Gemäß der Nach-Wende-Staatsräson sind ungenaue Angaben bei einem Stasiverfahren schlimmer als ein früherer Mord. Der Holm gegenüber sehr kritische Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk kommt zum Schluss[11]:

Da ich weder nachvollziehen noch glauben kann, dass Andrej Holm nicht genau erinnerte, dass er als Offiziersschüler hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter gewesen war, stand er bei dem Ausfüllen von Personalfragebögen vor einem schier unlösbaren Problem: die Wahrheit sagen und den Job nicht bekommen, oder den Job bekommen und dafür lügen.

Ilko-Sascha Kowalczuk

Wenn Kowalczuk die jetzigen Verhältnissen genau so kritisch betrachten würde wie die der DDR, müsste er konstatieren: Wenn ein System Menschen zu falschen Angaben zwingt, um einen Arbeitsplatz zu bekommen, dann muss man fragen, was das für ein System ist. Auch hier zeigen sich strukturelle Parallelen zwischen den Repressionsorganen.

Viele der Studierenden, die sich heute für den Verbleib von Holm einsetzen, sind zu jung, um sich daran zu erinnern, dass ein kritischer Wissenschaftler bereits vor 25 Jahren von der Humboldt-Universität entlassen wurde, weil ihm MfS-Mitarbeit vorgeworfen, was der Beschuldigte immer bestritt. Es handelt sich um den Theologen Heiner Fink[12], der nie bestritten hat, dass er für eine Verbesserung und nicht die Abschaffung der DDR eingetreten ist.

Er war Symbolfigur derjenigen DDR-nahen Kräfte, die im Herbst 1989 ebenfalls eine Demokratisierung und eine Wende wollten. Höhepunkt dieser Bestrebungen, die auch die DDR-Basis erfasst hatte, war die Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Die Einmischungen der BRD verhinderten, dass das Vorhaben gelingen konnte. Die Protagonisten für eine demokratische DDR waren später besonderen Verfolgungen ausgesetzt, weil sie eben weiterhin kritisch blieben und auch bei den neuen Verhältnissen nicht staatsnah wurden.

So wurde Heiner Fink auch zum Symbol für diese Erneuerungsversuche an der Humboldt-Universität. Daher gab es monatelange Proteste von Studierenden, die meisten hatten mit der Honecker-DDR nichts am Hut. In den führenden Medien wurde Fink dagegen heftig angegriffen[13]. Seine Erfahrungen sind in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Wie die Humboldtuniversität gewendet wurde“[14] zusammengefasst.

Es ging damals darum, die letzten Reste marxistischer Ideologie vom Campus zu vertreiben. Da waren nicht die Stasi-Leute das Problem, die sich schnell den neuen Verhältnissen anpassten. Viel gefährlicher waren die Menschen, die schon vor 1989 kritisch zu den Verhältnissen standen und sich auch nach 1989 nicht änderten. Der Publizist Otto Köhler erinnerte daran, dass einige derjenigen Wissenschaftler, die die Wende an der Humboldt-Universität durchsetzen, bereits zuvor in der BRD Studierende relegiert hatten[15].

Es sind zwischen der Entlassung von Fink und der Relegierung von Holm 25 Jahre vergangen. Doch gemeinsam ist: In beiden Fällen wurden Menschen entlassen, die für eine kritische Wissenschaft und für eine demokratische Universität stehen. Deshalb besetzen im Jahr 2017 Studierende wieder Uni-Gebäude wie zu Anfang der 1990er Jahre.

https://www.heise.de/tp/features/Humboldt-Universitaet-Berlin-Kritische-Wissenschaft-unerwuenscht-3603293.html

Peter Nowak


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[3] http://www.tagesspiegel.de/berlin/erklaerung-der-humboldt-universitaet-zu-holm-das-ist-arbeitsrechtlich-eine-arglistige-taeuschung/19269470.html
[4] http://www.tagesspiegel.de/berlin/erklaerung-der-humboldt-universitaet-zu-holm-das-ist-arbeitsrechtlich-eine-arglistige-taeuschung/19269470.html
[5] http://www.taz.de/!5189906/
[6] http://www.tagesspiegel.de/berlin/erklaerung-der-humboldt-universitaet-zu-holm-das-ist-arbeitsrechtlich-eine-arglistige-taeuschung/19269470.html
[7] http://www.tagesspiegel.de/berlin/erklaerung-der-humboldt-universitaet-zu-holm-das-ist-arbeitsrechtlich-eine-arglistige-taeuschung/19269470.html
[8] https://www.taz.de/Rechtsanwalt-Eisenberg-zur-Stasi-Affaere/!5369093/
[9] https://www.taz.de/Rechtsanwalt-Eisenberg-zur-Stasi-Affaere/!5369093
[10] https://www.taz.de/Rechtsanwalt-Eisenberg-zur-Stasi-Affaere/!5369093/
[11] https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/240047/einmal-stasi-immer-stasi
[12] https://www.die-linke.de/partei/zusammenschluesse/kommunistische-plattform-der-partei-die-linke/mitteilungen-der-kommunistischen-plattform/detail/artikel/praktizierte-solidaritaet-und-menschlichkeit/
[13] http://www.spiegel.de/thema/heinrich_fink/
[14] http://www.ossietzky.net/buecher&textfile=2211
[15] http://www.sopos.org/aufsaetze/57c28e0a17474/1.phtml

Vor anonymem Tribunal

Eine Ausstellung in Berlin widmet sich Berufsverboten in der BRD

»Ich kam in einen Raum und dort saßen sieben Männer, die sich weigerten, ihre Namen zu nennen. Einen Anwalt durfte ich nicht mit bringen.« Diese Erinnerung einer angehenden Lehrerin ist kein Einzelfall. Viele Menschen erlebten vor rund 40 Jahren in der BRD ähnliches. Sie gerieten in die Mühlen jenes Radikalenerlasses, der im Dezember 1972 auf einer Konferenz der Ministerpräsidenten der Bundesländer unter Vorsitz des Bundeskanzlers Willi Brandt (SPD) beschlossen wurde. In der französischen Presse wurde der Erlass als »Le Berufsverbot« bezeichnet. Und allein die Nutzung dieses Begriffes konnte in Deutschland dafür sorgen, dass Menschen aufgrund von Zweifeln an ihrer Verfassungstreue vor einem anonymen Tribunal zur Anhörung erscheinen mussten.

Unter dem Titel »Vergessene Geschichte: Berufsverbote – politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland« zeigt das Berliner Haus der Demokratie eine Ausstellung zu diesen Fällen. Neben einem Exkurs in die Zeiten des preußischen Obrigkeitsstaates, der Weimarer Republik und der NS-Zeit wird ausführlich dargestellt, wie bereits 1950 Berufsverbote verhängt wurden.

Zu den ersten Opfern gehörte der jüdische Kommunist Alphonse Kahn. In Frankreich wegen seiner Aktivitäten in der Resistance mehrmals ausgezeichnet, wurde er in Rheinland-Pfalz wegen seiner KPD-Mitgliedschaft als Leiter des Landesamtes für Wiedergutmachung entlassen. Der Radikalenerlass setzte diese Praxis fort. Betroffen waren vor allem Menschen, die sich nach dem gesellschaftlichen Aufbruch Ende der 1960er Jahre politisiert hatten. Gründe für ein Berufsverbot waren nicht nur Aktivitäten oder die Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei oder nahestehenden Organisation. Auch der Besuch von linken Veranstaltungen, Reisen in die DDR, kritische Darstellungen des CSU-Politikers Franz Joseph Strauß oder die Teilnahme an einen linken Chor konnten Zweifel an der Verfassungstreue wecken. Im Rahmen des Radikalenerlasses wurden 3,5 Millionen Menschen politisch überprüft. Mehr als 10 000 Berufsverbotsverfahren wurden eingeleitet, 2250 Bewerbern die Einstellung verweigert, 256 Beamte entlassen.

Die Ausstellung ist aber nicht allein von historischem Interesse: Seit 2012 vernetzen sich Betroffene von Berufsverboten und verlangen Rehabilitierung und Entschädigung für entgangenen Lohn und niedrige Renten. Die Betroffene Cornelia Boß-Ziegling bezeichnet auf der Eröffnungsveranstaltung einen Beschluss des niedersächsischen Landtags vom Dezember 2016 für beispielhaft, die Geschichte der Berufsverbote aufzuarbeiten. Bisher konnten zudem alle Versuche, die Praxis des Radikalenerlasses wieder zu beleben, verhindert werden. Am 1. Januar 2017 wurde Karem Schamberger am Institut für Kommunikationswissenschaften an der Universität München angestellt. Zuvor war das DKP-Mitglied ins Visier des Verfassungsschutzes geraten.

Auf der Eröffnungsveranstaltung gaben Besucher die Anregung, man solle mit dem linken Flügel der DDR-Opposition kooperieren, der Repressionen und Bespitzelung beklagte. Schließlich gehöre das aus der DDR-Bürgerbewegung hervorgegangene Haus der Demokratie neben dem BAOBAB-Infoladen, dem Verein Eine Welt e-V. und der Niedersächsische Initiative gegen Berufsverbote zu den Organisatoren der Ausstellung.

Die Ausstellung ist noch bis 8.2.2017 werktags zwischen 10 und 17 Uhr im Haus der Demokratie zu sehen

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1038887.vor-anonymem-tribunal.html

Peter Nowak

Anwohner und ein SPD-Mann fühlen sich gestört

OBDACHLOSENHILFE: In Moabit gibt es Streit über kostenlose Essenausgabe für Obdachlose

„Wir können die Welt nicht verändern – doch wir können aktiv sein und helfen“, lautet das Motto der Berliner Obdachlosenhilfe. Seit September 2013 versuchen die ehrenamtlich arbeitenden HelferInnen diesem Grundsatz gerecht zu werden. An verschiedenen Plätzen in Berlin, an denen sich Obdachlose aufhalten, bieten sie ein gesundes Essen, einen warmen Tee und saubere Kleidung an. „Es kommen immer viele Menschen, die froh sind, zumindest einmal die Woche satt zu werden“, berichtet Falko Stein, einer der Helfer, gegenüber der taz.. Doch es gibt nicht nur Zustimmung. Eine Rewe-Filiale am Moabiter Hansaplatz hat der Obdachlosenhilfe seit 1. Januar untersagt, ihren Parkplatz für die Essensausgabe zu nutzen. Bereits Mitte Dezember 2016 fand eine von dem Moabiter SPD-Bundestagsabgeordneten Thomas Isenberg moderierten Veranstaltung unter dem Motto „Sicherheit und Sauberkeit im Hansaviertel“ statt. Da bei hatten sich zahlreiche AnwohnerInnen über die Präsenz von Obdachlosen im Stadtteil beschwert. Der auf der Veranstaltung anwesende Polizeikommissar Mario Kanisch hielt den subjektiven Bedrohungsgefühlen einiger Anwesender entgegen, dass die Kriminalität rund um den Hansaplatz in den letzten Jahren zurückgegangen sei. Daher hatte das Verwaltungsgericht den Platz aus der Liste der kriminalitätsbelasteten Orte (KBO) herausgenommen, was die polizeilichen Eingriffsmöglichkeiten reduziert. Thomas Isenberg hingegen gab sich auf der Veranstaltung als Law-and-Order-Mann und forderte die Gewerbetreibenden auf, Wohnungslosen nichts mehr zu verkaufen und keine Pfandflaschen abzunehmen. Auch die Berliner Obdachlosenhilfe griff Isenberg scharf an und beschuldigte sie, Wohnungslose in den Stadtteil zulocken.

„Bedenkliche Mittel“

In einer Großen Anfrage wollen die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Mitte wissen, ob das Bezirksamt die Bestrebungen teilt, Obdachlose mit bedenklichen Mitteln gezielt vom Hansaplatz zu vertreiben und ob MitarbeiterInnen der Behörde an der kritisierten Veranstaltung teilgenommen haben. Dafür habe er viele wütende Mails von BewohnerInnen

des Hansaviertels bekommen, meinte der sozialpolitische Sprecher der Grünen in der BVV-Mitte, Taylan Kurt, gegenüber

der taz. Vor allem die neuen EigentumswohnungsbesitzerInnen würden die Law-and-Order-Politik des SPD-Manns unterstützen, so die Einschätzung des Politikers. Die Grünen wollen zudem mehr dezentrale Anlaufstellen für Obdachlose einrichten. Das ist ganz im Sinn der Obdachlosenhilfe. „Wir würden uns gern überflüssig machen, indem unsere Arbeit von sozialen Diensten übernommen wird“, sagte Falko Stein.

Peter Nowak

Polen: Barbara Rosolowska braucht unsere Solidarität

Gerichtsprozess gegen Scheinselbständigkeit

Die Zahl der polnischen Carebeschäftigten, also der im Gesundheitsbereich Tätigen in Deutschland wächst. Schließlich ist das Lohngefälle zwischen beiden Ländern groß.

Auch die Hebamme Barbara Rosolowska könnte mit dem Zug aus ihrem westpolnischen Wohnort in knapp 80 Minuten in Berlin sein. Doch sie nimmt eine deutlich schlechtere Zugverbindung und einen dreimal geringeren Lohn in Kauf und arbeitet weiter im polnischen Gorzów.

Dort könnte sie jetzt im Arbeitsrecht etwas bewegen. Rosolowska klagt vor dem Arbeitsgericht Gorzów gegen die Klinik, in der sie seit Jahren arbeitet. Doch wie Tausende Carebeschäftigte ist sie selbständig. Mit ihrer Klage will sie erreichen, dass die Klinik ihren Vertrag als Selbständige in einen regulären Arbeitsvertrag unwandelt. Damit will sie nicht nur ihre eigene Arbeitssituation verbessern. «Meine Klage wird von den Medien in Polen und auch von meinen Kolleginnen sehr genau verfolgt», betont die Hebamme.

Dass sie bisher als einzige klagt, begründet sie mit der Angst vieler Kolleginnen vor den Konsequenzen. Sie sind auf ihren Arbeitsplatz angewiesen, und wenn sie keine Aufträge mehr haben, bleibt ihnen, nach Deutschland oder in ein anderes EU-Land auszuweichen. Wer das nicht will, nimmt oft in Kauf, auf eigene Rechte zu verzichten.

Eine Kollegin von Rosolowska sagte unter Tränen gegenüber der Richterin des Arbeitsgerichts aus, warum sie eingewilligt hat, als Selbständige zu arbeiten, auch wenn es für sie ungünstig ist: «Was hätte ich denn machen sollen? Nach 23 Jahren wurde ich entlassen und das war die einzige Bedingung, unter der ich eingestellt wurde!» Die Richterin erwiderte darauf: «Sie sind hier vor Gericht, halten sie ihre Emotionen im Zaum!»

Das ist kein Einzelfall, weiß Rosolowska: «Es gibt Schwestern und Hebammen, die 12-Stunden-Schichten schieben und kaum einmal frei machen. Damit gefährden sie nicht nur ihre Gesundheit.» Sie will aber weder diese Arbeitsbedingungen akzeptieren noch im Ausland arbeiten. Deshalb hat sich die couragierte Frau in der kämpferischen Gewerkschaft Arbeiterkommission (IP) organisiert, die schon bei der Organisierung von Beschäftigten am Amazon-Standort Poznan für Schlagzeilen sorgte.

Gewerkschaften gespalten

Noch ist die IP klein, und die anderen Gewerkschaften sind keineswegs mit kämpferischen Beschäftigten solidarisch. So hat ein Vertreter der Gewerkschaft Solidarnosc, die gegenwärtig die rechte PiS-Regierung unterstützt, vor dem Arbeitsgericht gegen Rosolowska agiert, in dem er betonte, er habe keine Probleme mit der Selbständigkeit, die sei vom polnischen Zivilrecht gedeckt. «Leider ist die Gründung einer einheitlichen Gewerkschaft für die Beschäftigten im Gesundheitswesen in Polen bisher gescheitert», erklärt auch Norbert Kollenda, der in Attac-Berlin für die Kontakte zu den sozialen Bewegungen nach Polen zuständig ist.

In der letzten Zeit hat er sich vor allem der Kooperation mit Basisgewerkschaften gewidmet. Über die Onlineplattform Labournet rief Kollenda zur solidarischen Begleitung des Arbeitsgerichtsprozesses von Rosolowska auf. Die Resonanz war bescheiden, aber die Unterstützung wurde vom Arbeitsgericht und den polnischen Medien durchaus wahrgenommen. Mittlerweile hat sich auch die Transnational-Strike-Plattform dieser Unterstützung angeschlossen. Sie hat sich im Kontext der Blockupy-Proteste gegründet und unterstützt transnationale Arbeitskämpfe.

Anfang Dezember hat die Plattform Barbara Rosolowska und ihren ebenfalls in der IP aktiven Mann Jacek zu einer Veranstaltung nach Berlin eingeladen. Leider fehlten die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten aus dem Berliner Caresektor, die in der letzten Zeit an der Berliner Charité für bessere Arbeitsbedingungen gekämpft und auch gestreikt haben. Doch die Transnational-Strike-Plattform hat das Thema weiter auf ihrer Agenda.

Am 17.Januar wird das Arbeitsgericht in Gorzów über die Klage von Rosolowska entscheiden. Gewinnt sie den Prozess, könnten Tausende Solobeschäftigte im Carebereich feste Arbeitsverträge einfordern. Verliert sie den Prozess, will sie den Instanzenweg gehen. Es gibt also genügend Gelegenheit, auch in Deutschland die Solidarität über die Oder hinweg auszudrücken. Eine solche transnationale Solidarität ist umso notwendiger in einer Zeit, in der in Polen sich selbst links nennende Parteien Sparprogramme und Privatisierung gnadenlos durchgesetzt haben, während eine nationalkonservative Regierung mit einigen Sozialprogrammen durchaus auch unter den Beschäftigten auf Zustimmung stößt.

Polen: Barbara Rosolowska braucht unsere Solidarität

Soz Nr. 01/2017 |

von Peter Nowak

Stadtteilinitiative gedenkt der ermordeten Vorwärts-Besetzer

MieterEcho online 17.01.2017

Stadtteilinitiative gedenkt der ermordeten Vorwärts-Besetzer

„Mein Mann wurde auch als Gefangener zur Garde-Dragonerkaserne gebracht und  ist dort ein Opfer der Soldateska geworden. Der Tod durch Erschießen wäre ein milder gewesen, doch die Verletzungen meines Mannes sind derart, dass von Erschießen keine Rede sein kann“.  Diesen Brief richtete Klara Möller im Januar 1919 an die „Die Republik“, die Tagesszeitung der Arbeiterräte, die vor 98 Jahren in Deutschland für eine grundlegende Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse nach der Novemberrevolution kämpften. Klara Möller beschrieb dort, wie sich  ihr Mann mit sechs weiteren Parlamentären nach der Besetzung des Vorwärtsgebäudes Anfang Januar 1919 den auf Seiten der Ebert-Noske-Regierung kämpfenden Freikorps ergeben hatte. Es waren neben Möller der Journalist  Wolfgang Fernbach, der  Mechaniker Karl Grubusch, der  Schmied Walter Heise, der Kutscher Erich Kluge,  der Werkzeugmacher Arthur Schöttler und  der Schlosser Paul Wackermann. Die sieben unbewaffneten Männer wurden in der Dragonerkaserne in Berlin-Kreuzberg brutal misshandelt und dann erschossen. Dass ihner  98 Jahre später am Ort ihres Todes gedacht wurde,  geht auf die  Initiative der stadtpolitische Gruppe “Dragopolis” zurück. Sie setzt sich auf dem Gelände des Dragonergeländes  für ein Stadtteilprojekt mit bezahlbaren  Mieten ein.  „Wir haben uns natürlich gefragt, was auf dem Dragonergelände historisch passiert ist“, erklärt ein Mitglied der Stadtteilinitiative  gegenüber MieterEcho online.  Dabei kam ihnen ein  Aufsatz des Historikers Gerhard Engel  in der Zeitschrift für historische Studien „Arbeit Bewegung Geschichte“  zur Hilfe. Dort rekapituliert der Historiker auch das publizistische Werk des Arbeiterdichters Werner Möller. Während der Gedenkveranstaltung wurden mehrere der  Gedichte und  Artikel vorgetragen, die Möller in seinem kurzen Leben  in der Presse der sozialdemokratischen Presse veröffentlichte. Nachdem er die Politik des Burgfriedens und der Kriegskredite  der PD-Führung scharf kritisierte, konnte er nur noch in den kleinen Zeitungen der linken Opposition publizieren, was das Auffinden seiner Texte erschwert.

Zum 100 Todestag eine Ehrung im Stadtteilzentrum

Die Stadtteilinitiative will ihre Geschichtsarbeit fortsetzen.  Ihre Utopie ist, am 11. Januar 2019,  hundert Jahre nach auf dem Mord auf dem Gelände des geplanten Stadtteilzentrums einen Gedenkort für die Opfer einzurichten. Doch noch immer ist die Zukunft des Areals unklar. Erst kürzlich schrieb der Staatssekretär des Bundesfinanzministeriums Jens Spahn an die SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe, dass die Willensbildung zum weiteren Umgang mit der Liegenschaft noch nicht abgeschlossen ist“.  Bisher gehört die lukrative Immobilie dem Bund, der sie dem Höchstbietenden verkaufen und damit weiteren Luxusbauten den Weg ebnen wollte . Nachdem die Stadtteilinitiative für ihr Gegenmodell viel Zustimmung bekam,  gab sich die Berliner SPD auf einmal  rebellisch.  Im Bundesrat verweigerte sie dem Bundesfinanzministerium die Zustimmung zu dem schon getätigten Verkauf des Areals an einen Privatinvestor für 36 Millionen Euro. Doch der Käufer hat bereits Schadenersatzforderungen angekündigt. Die Bundestagsabgeordnete der Grünen Lisa Paus monierte, in dem Vertrag  fehle eine Klausel, die Schadenersatzforderungen explizit ausschließt. Das Bundesfinanzministerium widerspricht dieser Darstellung. Ungeklärt ist auch, warum der Vertrag bereits  unterschrieben wurde, bevor die zuständigen Gremien gehört wurden. Ob es dabei lediglich um handwerkliche  Fehler handelt oder ob hier weiter versucht wird, einen Privatinvestor Vorteile zu verschaffen, ist offen.

MieterEcho online 17.01.2017

http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/vorwaerts-besetzer.html
Peter Nowak

Aktionstag bei Median

Dem Klinikbetreiber wird Unionbusting vorgeworfen

Abergläubige Menschen meiden die Öffentlichkeit, wenn der Freitag auf einen 13. fällt. Seit zwei Jahren nutzt die Aktion Arbeitsunrecht diesen Termin, um Unternehmen und Anwaltskanzleien anzuprangern, die engagierte Betriebsräte mobben oder dabei helfen. Am 13. Januar hat der Verein den größten privaten Betreiber von Rehakliniken in Deutschland im Visier: Median. Unter anderem Tarifflucht, willkürliche Betriebsschließung und Behinderung von Betriebsratsarbeit werden dem Berliner Unternehmen vorgeworfen. Proteste soll es auch beim Eigentümer, dem niederländischen Investmentfonds Waterland, und vor Büros der Anwaltskanzlei Breiten Burkhardt geben. Ihr werfen Kritiker vor, juristische Unterstützung beim Unionbusting zu geben, wie das Mobben von Betriebsräten genannt wird. Aktionen sind in Berlin, Köln, Düsseldorf, Frankfurt am Main und Dresden geplant.

Am 13. März 2015 fand der erste bundesweite Aktionstag vor dem Firmensitz des Verpackungskonzerns Neupack statt. Am 13. November 2015 standen der Textildiscounter kik und die Rechtsanwaltskanzlei Schreiner und Partner im Blickpunkt. Letztere sei durch Seminare bekannt geworden, in denen Unternehmensvertretern Ratschläge vermittelt werden, wie sie engagierten Betriebsräten juristisch Grenzen setzen können. Am 13. März 2016 wiederum standen die Spielzeugkette Toys ‚R‘ Us und MCS, eine Tochter des Malteser Hilfsdienstes, im Fokus der Proteste.

Neben den vier Aktionstagen wurden mehrere Konferenzen organisiert, in denen betroffene Betriebsräte aus unterschiedlichen Branchen über Mobbing berichteten. »Wir rechnen es zu unseren Erfolgen, dass es uns gelungen ist, Unionbusting auch in Deutschland zum Thema zu machen«, erklärt Elmar Wigand von der Aktion Arbeitsunrecht gegenüber »nd«. In den USA ist der Begriff Unionbusting bei kritischen Gewerkschaftern schon lange bekannt. Der Publizist gehört zu dem kleinen Kreis von Leuten, die viel Arbeit in die Vorbereitung der Aktionstage stecken. »Wir müssen sie noch immer anschieben. Ein Selbstläufer sind sie nicht«, kritisiert Wigand. Das Engagement der Gewerkschaften könnte größer sein. Oft sei dort die Angst vor unkonventionellen Aktionen noch zu groß.

Was Wigand optimistisch macht, ist das Engagement vieler gemobbter Betriebsräte und von Belegschaften, die hinter ihnen stehen. Nur Unternehmen, für die dies zutrifft und die von dort Beschäftigen vorgeschlagen werden, stehen zur Auswahl als Kandidaten für die Aktionstage. Am Ende entscheiden Online-Nutzer: Für Median stimmten 710 von knapp 1200 Teilnehmern, nur eine Minderheit für OBI und Rossmann.

In diesem Jahr wird es am 13. Oktober einen weiteren Aktionstag geben. Danach will die Aktion Arbeitsunrecht ein Resümee ziehen und überlegen, ob und wie man weiter macht. Wiegand ist sich sicher, dass der Widerstand gegen Unionbusting stärker wird.

Peter Nowak

Lebenswichtiger Sieg für Mumia Abu Jamal

Der seit mehr als 35 Jahren inhaftierte US-Journalist Mumia Abu Jamal hat einen für ihn lebenswichtigen juristischen Erfolg errungen: Seine schwere Hepatitis-Erkrankung muss behandelt werden und er erhält ein neues Medikament. Menschenrechtsgruppen fordern eine Verstärkung der internationalen Solidarität.

Menschenrechtsaktivisten in den USA sprechen von einem bahnbrechenden juristischen Urteil, das der seit 1981 inhaftierte US-Journalist Mumia Abu Jamal kürzlich errungen hat. Der Bundesrichter Robert Mariani hat per Einstweiliger Verfügung angeordnet, dass Jamal mit einem neuen Medikament gegen seine lebensbedrohliche Hepatitis-Erkrankung behandelt werden muss. In dass Präparat setzen Hepatitis-Patient_innen große Hoffnungen, es verspricht eine Heilungschance von über 95 Prozent. Das wäre ein großer medizinischer Durchbruch, führten doch Hepatitis-Erkrankungen in der Vergangenheit oft zum Tode. Darüber hinaus gibt die aktuelle Gerichtsentscheidung auch Hoffnung für viele unbekannten Patient_innen in US-Gefängnissen.

Seit fast zwei Jahren ist bekannt, dass Mumia Abu Jamal an Hepatitis erkrankt ist. Erst als sich der Journalist bereits in lebensbedrohlichen Zustand befand, wurde er überhaupt behandelt. Doch weigerte sich die Gefängnisleitung, das neue Medikament in die Therapie einzubeziehen, weil es sehr teuer ist. Die Anwälte Robert Boyle und Bret Grote gingen vor Gericht und wurden dabei erneut von einer internationalen Solidaritätsbewegung unterstützt, die dazu beigetragen hat, dass der Gefangene noch am Leben ist. Dass der kritische Journalist zum Ehrenbürger von Paris ernannt wurde und Ehrenmitglied der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ist, sind Zeichen dieser weltweiten Solidarität.

Der Afroamerikaner war 1982 in einem Indizienprozess von einer nur mit Weißen besetzen Jury des Mordes  an den Polizisten Daniel Faulkner schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt worden. Intensive Recherchen von Jurist_innen und  Solidaritätsgruppen sorgten dafür, dass das Todesurteil aufgehoben werden musste. Doch die Forderung nach einem erneuten Gerichtsprozess, bei dem später gefundene Entlastungsbeweise vorgelegt werden könnten, wird von den US-Behörden bis heute abgelehnt. Mumia blieb in Haft.

Das jüngste Urteil wird von Menschenrechtsgruppen auch deshalb gefeiert, da es bisher zur gängigen Praxis gehörte, dass Gefangene in den USA sterben, weil ihnen aus Kostengründen lebensrettende Medikamente verweigert werden. In einem Interview mit dem Medienprojekt Prison-Radio sagte Mumia Abu Jamal selbst: „Ich denke an all die Gefangenen, die an Hepatitis C erkrankt sind und nun Hoffnung haben. Ich denke an diejenigen, die an Hepatitis C starben, weil ihnen nicht geholfen wurde“. Menschenrechtler_innen weisen darauf hin, dass die Law-and-Order-Fraktion unter einer Trump-Administration noch erstarken werde. Internationale Solidarität dürfte also noch wichtiger werden.

Lebenswichtiger Sieg für Mumia Abu Jamal

12. Januar 2017 von Peter Nowak

»Eine Verlagerung der Verantwortung vom Staat zum Individuum«

Simon Schaupp ist Soziologe und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Munich Center for Technology in Society der Technischen Universität München. Derzeit forscht er zu den Machtwirkungen digitaler Prozesssteuerungstechnologien in der »Industrie 4.0«. Im Oktober 2016 erschien sein Buch »Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus« im Verlag Graswurzelrevolution. Am Freitag, 13. Januar 2017, stellt er in Berlin ab 19 Uhr das Buch im FAU-Gewerkschaftslokal in der Grünthaler Straße 23 vor.


Warum sind immer mehr Menschen bereit, mit tragbaren digitalen Geräten ihren Lebenswandel zu überwachen und die Ergebnisse dann ins Internet zu stellen?

Die Gründe für dieses sogenannte Self-Tracking sind vielfältig. Was ich versuche zu zeigen, ist, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den permanenten Anforderungen der Selbstoptimierung im Neoliberalismus und den Self-Tracking-Praktiken. Wenn das Aufpolieren des Selbst durch Sport, Wellness, Diäten etc. in vielen Bereichen zur Voraussetzung dafür wird, die eigene Arbeitskraft erfolgreich verkaufen zu können, dann ist es naheliegend, dass über kurz oder lang Hilfsmittel dafür angeboten werden. Als solche Hilfsmittel zur Rationalisierung der Arbeit am Selbst können die Self-Tracking-Technologien verstanden werden. Ihre Funktion ist in dieser Hinsicht wesentlich eine buchhalterische. Die verschiedenen Anwendungen überwachen mittels Sensortechnik bestimmte Aktivitäten und bereiten diese anschließend in Zahlen auf. Oft wird dann »Input« und »Output« gegenübergestellt, also zum Beispiel gelaufene Schritte und verbrannte Kalorien. Dadurch soll im Gegensatz zur subjektiv verzerrten Selbstwahrnehmung eine »objektive« Darstellung geboten werden. So weiß ich immer genau, was ich »investieren« muss, um meine Werte zu steigern. Diese ökonomischen Begriffe sind übrigens nicht meine Metaphern, sondern die werden wirklich so in der Self-Tracking-Werbung, die ich analysiert habe, benutzt. Die Userinnen und User werden klar als Unternehmer ihrer selbst angesprochen. Das sind die wesentlichen strukturellen Gründe für das Self-Tracking. Die individuellen Gründe können aber natürlich auch ganz andere sein, zum Beispiel das ­Experimentieren mit dem eigenen Körper. Die Darstellung der Self-T

Ihr kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienenes Buch heißt »Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus«. Was verstehen Sie unter »kybernetischem Kapitalismus«?

Ich verstehe darunter ein Produktionsregime, das wesentlich auf der Erhebung und Verarbeitung von Daten beruht. Durch die Allgegenwärtigkeit teils miniaturisierter vernetzter Computer werden in fast allen Lebenssituationen, vor allem aber da, wo Mehrwert produziert werden soll, Daten erhoben. Diese Daten erfüllen eine Doppelfunktion. Einerseits dienen sie der Kontrolle und Optimierung des überwachten Prozesses. Das kann die industrielle Produktion von Pappkartons sein, aber eben auch der individuelle Kalorienhaushalt. Andererseits werden diese Daten selbst zur Ware. Die Daten aus der Überwachung der Pappe-Produktionsmaschinen können beispielsweise zu abstrakten Prozessoptimierungsmodellen aggregiert werden, oder die Self-Tracking-Daten werden zu detaillierten persönlichen Profilen zusammengefasst, die dann als Grundlage für individualisierte Werbung dienen können. Ich benutze den Begriff des kybernetischen Kapitalismus, um den Kontrollaspekt zu betonen, der in der Debatte um Überwachung und die Kommodifizierung von Daten oft in den Hintergrund gerät. Norbert Wiener, der Begründer der Kybernetik, hat sie als »Wissenschaft von Kommunikation und Kontrolle« definiert. In ihrem Zentrum steht die Idee der Kontrolle durch permanentes Feedback. Self-Tracking ist ein Paradebeispiel für so eine Art von Kontrolle.

Wie stehen Politik, Wirtschaft und Krankenkassen zum Self-Tracking?

Der Trend wird dort zu großen Teilen geradezu euphorisch aufgenommen. Es gibt ein Positionspapier der Europäischen Kommission zu Self-Tracking im Gesundheitsbereich. Dort wird im Self-Tracking vor allem das Potential der Kosteneinsparung in den jeweiligen Gesundheitssystemen gesehen. Die Idee ist, dass mit dem Self-Tracking eine Verlagerung der Verantwortung vom Staat zum Individuum stattfinden soll. Die Nutzerinnen und Nutzer sollen zu einem gesünderen Lebenswandel und sogar zu Selbstdiagnosen »ermächtigt« werden. Entsprechend dieser Vision hat beispielsweise das britische Gesundheitsministerium Ärzten empfohlen, ihren Patienten Self-Tracking-Technologien zu verschreiben. Das Interesse der Krankenkassen am Self-Tracking ist natürlich naheliegend. Verschiedene Versicherungen, auch in Deutschland, experimentieren mit Bonusprogrammen auf der Grundlage von Self-Tracking-Daten. Das ist eine Entwicklung, die schnell zum Selbstläufer werden kann, so dass das Verweigern des Trackens indirekt finanziell bestraft wird. Noch ist dieser Punkt aber zum Glück nicht erreicht.

Bei einer Analyse der Werbung für Self-Tracking-Technologien kommen Sie zu dem Fazit, dass Soldaten und Bergsteiger immer wiederkehrende Bilder sind. Warum gerade diese beiden Gruppen?

Der Bergsteiger ist das zentrale Bild in der Illustration von Werbung für Self-Tracking. Meist wird der Bergsteiger dabei in sehr unwirtlicher Umgebung gezeigt. Er ist gerade angeseilt auf einem schneebedeckten Gipfel angekommen und schaut nun in den Sonnenuntergang. Damit werden dann Technologien beworben, die der Überwachung von Produktivität bei der Schreibtischarbeit dienen. Diese Figur des Bergsteigers ist die idealtypische Verkörperung von Leistung und Erfolg, nach dem Motto: »Wenn du nur hart genug an dir arbeitest, wirst du alles meistern.« Hier knüpft auch der militaristische Aspekt der Werbung an: Fast in jeder Self-Tracking, App gibt es virtuelle »Orden«, die bei Rekorden und Höchstleistungen freigeschaltet werden. Die Diätfirma Weight Watchers hat sogar eine eigene Werbekampagne unter dem Slogan »lose like a man« (abnehmen wie ein Mann), in der ein Soldat dem Publikum erklärt, wie er mittels Self-Tracking zum »Vorbild für seine Männer« geworden ist. Das Bild des Soldaten steht dabei hauptsächlich für die Disziplin, die die jeweiligen Programme fördern sollen. Gleichzeitig lässt es sich auch als Ausdruck eines auf Leistung fixierten Männlichkeitskults interpretieren.

Werden solche Methoden von Unternehmen auch zur Überwachung von Beschäftigten eingesetzt, wie es bei Fahrdiensten und Callcentern schon geschieht?

Ja. Viele Self-Tracking-Programme, wie zum Beispiel die Zeitmanagement-Anwendung Rescue Time haben sogenannte Team-Funktionen. Damit kann man nicht nur die eigene »Produktivität« steigern, sondern Vorgesetzte können auch minutiös überwachen, was ihre Untergebenen tun und sich beispielsweise Screenshots von deren Bildschirmen anzeigen lassen. Wenn ihnen nicht gefällt, was sie sehen, gibt es »Nudge«-Funktionen, mit denen den Untergebenen angezeigt werden kann, dass sie effizienter arbeiten sollen. Viele setzen sich aber auch scheinbar freiwillig der Überwachung aus, um so ihre Selbstdisziplin zu steigern. So gibt es Programme, die bei jedem Fehltritt oder auch bei mangelnder Dateneingabe eine vorher bestimmte Aufsichtsperson informieren. Besonders aufschlussreich sind aber diejenigen Fälle, in denen Selbst- und Fremdüberwachung verschmelzen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Unternehmen ihren Angestellten nahelegen, sich in ihrer Freizeit zu tracken. Nicht, um dann die Daten abzugreifen, sondern in der Hoffnung, dass sie dadurch produktiver arbeiten.

Im Buch stellen Sie unter anderem die Frage, ob unter nichtkapitalistischen Verhältnissen Self-Tracking und andere Formen kybernetischer Kontrolle auch zu emanzipatorischen Zwecken nutzbar wären. Gibt Ihr nächstes Buch*, das sich unter anderem mit einem solchen Projekt in Chile unter Salvador Allende befasst, darauf eine Antwort?

Self-Tracking ist nicht die Ursache des Neoliberalismus, sondern die Konsequenz seiner Anforderungen. Gleichzeitig befördert es aber auch eine ­neoliberale Lebensführung und trägt damit zu dessen Stabilisierung bei. Insgesamt scheint mir die Kybernetik weder politisch neutral zu sein, noch produziert sie notwendigerweise eine bestimmte Form von Politik. Sie legt ­jedoch eine technikunterstützte Selbstorganisation nahe, die durchaus auch emanzipatorisch angewandt werden kann. Das von mir mitherausgegebene Buch dreht sich um die Frage, welche emanzipatorischen Perspektiven der technologische Wandel eröffnen könnte. Das angesprochene chilenische Projekt Cybersyn sollte so zum Beispiel die technische Infrastruktur für eine Art selbstorganisierte Planwirtschaft liefern. Allende ließ dafür den britischen Managementkybernetiker Stafford Beer nach Chile einfliegen, der ein Computersystem konzipieren sollte, das es ermöglicht, Produktionsentscheidungen in die jeweiligen von Arbeitern verwalteten Fabriken zu delegieren und trotzdem die Volkswirtschaft als Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren. Für die Koordination dezentraler Organisation sind kybernetische Technologien also durchaus nützlich. Dass wir für eine emanzipatorische Lebensführung allerdings Self-Tracking-Technologien brauchen, scheint mir eher zweifelhaft.

http://jungle-world.com/artikel/2017/02/55535.html

Interview: Peter Nowak

  • Paul Buckermann, Anne Koppenburger und Simon Schaupp (Hg.): »Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen. Emanzipatorische Perspektiven im technologischen Wandel«, Unrast-Verlag, ab März 2017 erhältlich

Racial Profiling ist kein Mittel, um Sexismus zu bekämpfen

Oder: Was wir von Israel lernen können

Seit der islamfaschistische Terror auch in Europa für Schrecken sorgt, wurde verstärkt die Parole „Von Israel lernen“[1] ausgegeben. Dort ist die Bevölkerung schließlich seit Jahren einem solchen Terror ausgesetzt. Seit der junge israelische Soldat Elor Azari vom israelischen Militärgericht wegen Totschlag schuldig gesprochen wurde[2], hat die Parole eine spezifische menschenrechtliche Bedeutung bekommen.

Azari erschoss einen schon verletzt am Boden liegenden islamischen Messerattentäter, der zuvor einen anderen Soldaten schwer verletzt hat. Die Aussage von Azari, er habe befürchtet, der Attentäter könne auch ihn mit dem Messer attackieren, wurde als Schutzbehauptung zurückgewiesen. Der Soldat wurde schuldig gesprochen, obwohl es in der israelischen Bevölkerung durchaus nicht nur in rechten Siedlerkreisen viel Sympathie für ihn gab und auch manche Politiker der rechtskonservativen Regierung in den Ruf nach Freispruch einstimmten.

Doch das entscheidende Beweismittel für den Schuldspruch des Soldaten war ein Video eines Palästinensers, auf dem zu sehen ist, wie Azari dem am Boden liegenden Islamisten in den Kopf schießt. Was oft nicht erwähnt wird: Die Nichtregierungsorganisation B’tselem[3], welche die Palästinensern mit Kameras versorgt, um Übergriffe israelischer Soldaten oder Siedler zu dokumentieren, gilt der israelischen Regierung und auch vielen konservativen Medien und Institutionen[4] als eine jener von Ausland nicht zuletzt von der EU und Deutschland[5] finanzierten NGO, die für eine antizionistische Agenda verantwortlich sei[6].

So ist das Urteil gegen Azari auch eine Vertrauenserklärung in eine umstrittene und häufig angegriffene NGO. Das Urteil macht noch einmal deutlich, solche kritischen NGO sind der Lackmustest für eine Demokratie und mit ihrem Video hat die so häufig kritisierte Organisation B’tselem hier eine wichtige Rolle gespielt. Ohne das Video hätte es wahrscheinlich das Urteil nicht gegeben, vom dem das Signal ausgeht, dass auch in Zeiten der „Messer-Intifada“, als in Israel die Angst und Unsicherheit besonders groß war, ein Kopfschuss ein Verbrechen ist und bleibt. Es zeigt auch, dass der Zweck nicht alle Mittel heiligt.

In der vergangenen Kölner Silvesternacht gab es keine Kopfschüsse. Niemand ist ernsthaft körperlich verletzt wurden. Doch nach Meinung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International[7] (AI) stellt das Vorgehen der Sicherheitsbehörden in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten eine Menschenrechtsverletzung da.

„Das Vorgehen der Sicherheitsbehörden in der Silvesternacht in Köln stellt einen Verstoß gegen das im deutschen Grundgesetz verankerte Diskriminierungsverbot dar. Amnesty fordert eine unabhängige Untersuchung“, heißt es in einer AI-Erklärung[8]. Dort betont der deutsche Amnesty-Referent für die Themen Polizei und Rassismus, Alexander Bosch[9], zunächst, wie wichtig es war, dass die Polizei die sexistischen Übergriffe des vergangenen Jahres verhindert hat. Doch dann kommt er zum Kritikpunkt:

Gleichzeitig ist es auch Aufgabe der Polizei, Menschen vor Diskriminierung zu schützen – und diese Aufgabe hat die Polizei Köln ignoriert. Hunderte Menschen sind allein aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten nordafrikanischen Herkunft eingekesselt und kontrolliert worden. Das wichtigste Entscheidungskriterium der Polizisten ist das Merkmal der angenommenen Herkunft gewesen: Jeder Mensch, den die Beamten für einen Nordafrikaner gehalten haben, wurde in einen separaten Bereich geführt, viele von ihnen mussten dort laut Medienberichten stundenlang ausharren. Bei dem Einsatz der Polizei Köln handelt es sich also um einen eindeutigen Fall von Racial Profiling. Damit hat die Polizei gegen völker- und europarechtliche Verträge und auch gegen das im deutschen Grundgesetz verankerte Diskriminierungsverbot verstoßen.

Alexander Bosch[10]

Tatsächlich gehört der Kampf gegen Racial Profiling seit Jahren zu den Aktivitäten von Organisationen, in denen sich schwarze Menschen in Deutschland und anderen Ländern engagieren. Sie wurden dabei zunehmend von antirassistischen Gruppen unterstützt. Es war eine zähe, aber nicht erfolglose Arbeit.

2012 wurde von Johanna Mohrfeldt und Sebastian Gerhard aufgezeigt, wie Racial Profiling zur normalen Polizeiarbeit auch in Deutschland gehörte[11]. Erst neueren Datums sind Empfehlungen von Menschenrechtsorganisationen an die Polizei[12], wie eine solche Praxis zu verhindern oder zumindest zu minimieren ist.

Daher ist es ein Rückschlag für diese Bemühungen einer möglich diskriminierungsarmen Polizeiarbeit, wenn nun offen nicht nur in Medien der Rechten einer Praxis des Racial Profiling offen das Wort geredet wird. In der Welt[13] wird auch gleich der umstrittene Begriff Nafri für unbedenklich erklärt. Das sei eben eine Abkürzung in der Polizeiarbeit. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann andere Begriffe, die viele der davon Betroffenen als diskriminierend bezeichnet haben, so wieder offiziell in die alltägliche Behördenarbeit zurückkehrt. Inoffiziell waren sie nie verschwunden.

Nun wird die berechtigte Empörung über die sexistischen Übergriffe von Köln genutzt, um hart erkämpfte Fortschritte im Bereich des Antirassismus zu schleifen. Der Shitstorm, der auf die Grünen-Vorsitzende Sabine Peters niederging, als sie es wagte, Kritik am Kölner Polizeieinsatz zu äußern, hat noch einmal deutlich gemacht, dass es in bestimmten Zeiten zumindest politisch gefährlich sein kann, wenn eine Oppositionspolitikerin ihren Job macht.

In der Taz hat Inlandsredakteur Daniel Bax noch einmal daran erinnert[14], dass Kritik an rassistischen Polizeikontrollen Bürgerpflicht sein sollte. Auch hier könnte man die Parole „Von Israel lernen“ ausgeben. So wie in Hochzeiten der Messer-Intifada das Video, das von einer durchaus umstrittenen NGO ermöglicht wurde, mithalf, Rechtsgeschichte zu schreiben, kommt auch der Kritik an Racial Profiling in dem Augenblick besondere Bedeutung zu, in dem sie massenhaft angewandt wird.


Wenn dagegen die Kritik mit dem Argument abgetan wird, es sei doch vor allem darum gegangen, dass die sexistischen Angriffe sich nicht wiederholen, hat man die Logik schon akzeptiert, dass die Zwecke die Mittel heiligen. Stattdessen gilt es Methoden zu finden, die solche Angriffe verhindern, ohne andere Menschen rassistisch zu diskriminieren.

Sehr eindrucksvoll schilderte Birgit Gärtner, was die Kölner Silvesternacht im letzten Jahr für viele Frauen bedeutete und dass für sie bestimmte Räume jetzt angstbesetzt sind – siehe: Frau Merkel, wir haben ein Problem[15]. Solche Schilderungen sind auch immer wieder von Menschen zu hören, die nicht in das deutsche Leitbild passen, egal ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht.

Es gibt Gegenden in vielen Städten, das diese Menschen schlicht meiden. Es wäre jetzt die wichtige Aufgabe von außerparlamentarischen Gruppen eine antisexistische und antirassistische Praxis zusammenzubringen. Da ist es sicher eher ein hilfloser Versuch, wenn die Silvesternacht von Köln mit sexistischen Übergriffen am Münchner Oktoberfest relativiert werden sollen. Aber die Versuche verschiedener Gruppen gerade auch in Köln deutlich zu machen, dass der Kampf gegen Sexismus keine Hautfarbe und Nation und der Kampf gegen Rassismus kein Geschlecht hat, ist dabei eine wichtige Maxime.

In der Debatte der außerparlamentarischen Linken wurden schon vor mehr als drei Jahrzenten Bausteine für eine solche Kritik bereit gelegt. Es gab schon in Zeiten, als der Begriff Multikulturalismus noch in großen Teilen des liberalen und linken Milieus positiv besetzt war, Kritik daran. Die machte sich daran fest, dass Menschen bestimmten Kulturen zugeordnet werden und die Multikulturalisten diese auch in Europa nebeneinander leben lassen wollten.

Doch gerade die Zuordnung bestimmter Menschen auf ihre angebliche Kultur ist das Problem, das Multikulturalisten auch unfähig macht, Kritik am Islamismus und dessen Unterdrückungsformen adäquat zu kritisieren. Besonders absurde Beispiele gibt es, wenn Sexismus und Frauenunterdrückung als einer bestimmten Kultur zugehörig bezeichnet wird und damit angeblich aus der Kritik genommen werden soll.

Der andere Theoriebaustein, der für ein Zusammendenken einer antirassistischen und antisexistischen Praxis nützlich sein kann, ist der Triple-Oppression-Ansatz[16], der davon ausgeht, dass Rassismus, Sexismus und kapitalistische Ausbeutung drei Unterdrückungsverhältnisse sind, die unabhängig voneinander von unterschiedlichen Gruppen ausgeübt werden und nicht einander bedingen.

Dieser Ansatz grenzte sich von traditionslinken Vorstellungen ab, wonach die kapitalistische Ausbeutung der Hauptwiderspruch und Rassismus und Patriarchat Nebenwidersprüche seien. Nach dem Triple-Opression-Ansatz können Männer, die selber rassistisch unterdrückt sind, sexistische Unterdrückung ausüben, wie in Köln und anderen Städten geschehen. Frauen, die Opfer sexistischer und patriarchaler Gewalt sind, können selber wiederum rassistische Unterdrückung ausüben und verstärken.

Die Soziologin und antirassistische Aktivistin Angela Davis zeigte[17] im Buch Rassismus und Sexismus[18] an der Geschichte der USA auf, dass das Wahlrecht für Frauen erst in dem Augenblick von der weißen, männlichen Elite akzeptiert wurde, als für sie Gefahr bestand, dass schwarze Männer zahlenmäßig an Bedeutung gewinnen könnten.

Auch am Beispiel der Kölner Silvesternacht wird versucht, den notwendigen Kampf gegen alle Formen des Sexismus gegen den antirassistischen Kampf auszuspielen. Es wird die Aufgabe einer außerparlamentarischen Bewegung sein, hier Konzepte zu entwickeln, die beide Unterdrückungsformen gleichermaßen angehen.

Die genannten theoretischen Bezugspunkte sind hier eher Steinbrüche, von denen man sich bedienen kann als wirklich systematische Theorien. Bis es zu einer fundierten Theorie und Praxis kommt, sei allerdings allen geraten, von Israel zu lernen. So wie bei der Messer-Intifada der Kopfschuss kein Mittel ist, so ist – auf einer anderen Ebene – auch beim Sexismus von Köln Racial Profiling nicht zu akzeptieren, sondern zu kritisieren.

https://www.heise.de/tp/features/Racial-Profiling-ist-kein-Mittel-um-Sexismus-zu-bekaempfen-3589318.html?view=print

Peter Nowak


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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.nzz.ch/meinung/kolumnen/europas-terror-dilemma-von-israel-lernen-ld.107710
[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/israel-soldat-elor-azaria-fuer-kopfschuss-schuldig-gesprochen-14604257.html
[3] http://www.btselem.org/
[4] http://www.ngo-monitor.org/
[5] http://www.ngo-monitor.org/ngos/b_tselem
[6] http://www.deutschlandfunk.de/antisemitismusvorwurf-umstrittenes-deutsches-ngo-engagement.886.de.html?dram:article_id=317342
[7] https://www.amnesty.de
[8] http://www.amnesty.de/2017/1/2/koelner-polizeieinsatz-ist-eindeutiger-fall-von-racial-profiling
[9] http://www.amnesty.de/bilder/alexander-bosch-amnesty-referent-fuer-die-themen-polizei-und-rassismus
[10] http://www.amnesty.de/2017/1/2/koelner-polizeieinsatz-ist-eindeutiger-fall-von-racial-profiling
[11] https://kop-berlin.de/beitrag/alltagliche-ausnahmefalle-zu-institutionellem-rassismus-bei-der-polizei-und-der-praxis-des-racial-profiling
[12] http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/Studie_Racial_Profiling_Menschenrechtswidrige_Personenkontrollen_nach_Bundespolizeigesetz.pdf
[13] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article160799587/Ja-zu-Racial-Profiling-es-kann-Leben-retten.html
[14] https://www.taz.de/Debatte-Silvester-in-Koeln/!5367432/
[15] https://www.heise.de/tp/features/Frau-Merkel-wir-haben-ein-Problem-3583164.html
[16] http://www.archivtiger.de/downloads/maennerarchiv/viehmann.pdf
[17] https://www.kritisch-lesen.de/rezension/rassismus-und-feminismus-in-den-usa
[18] https://www.eurobuch.com/buch/isbn/3885200937.html

Alles auf Leben

Sabine Hunziker über eine Kampfform, bei der die Menschen ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen und die nicht nur im Knast angewandt wird.

„Hungerstreik“ steht noch immer mit großen Lettern auf einem Laken gegenüber dem Bundesaußenministerium in Berlin-Mitte. Es erinnert an den Ein-Mann-Protest von Mustafa Mutlu. Er hatte 2012 mehrere Wochen vor dem Ministerium campiert und war in einen Hungerstreik getreten, weil er sich als Bauunternehmer von einem Geschäftspartner betrogen sah. Hunger heißt ein preisgekrönter Filmessay des Regisseurs Steve McQueen. Er erinnert an den Hungerstreik zahlreicher Gefangener der irischen Nationalbewegung IRA in den britischen Hochsicherheitsknästen in Irland im Jahr 1981. Der Kampf, bei dem mehrere Gefangene starben, darunter Bobby Sands, polarisierte das gesamte Land. Wochenlang gab es Solidaritätsaktionen, Streiks und militante Proteste. Einige der Gefangenen wurden sogar ins britische Parlament gewählt. Ob als wenig beachtete Soloprotestaktion oder als Kampfform von Gefangenen, hinter denen eine Massenbewegung steht, der Hungerstreik ist immer ein Kampf um Leben und Tod.

„Es gibt nicht viele Möglichkeiten, im Knast zu protestieren. Die Verweigerung von Nahrung – oft Hungerstreik oder Hungerfasten genannt, ist eine davon“ (S. 7), schreibt die Schweizer Journalistin Sabine Hunziker in der Einleitung ihres kürzlich im Unrast-Verlag erschienenen Buches, das den Anspruch, eine „Einführung zum Hungerstreik in Haft“ zu geben, erfüllt. Der Buchtitel „Protestrecht des Körpers“ verdeutlicht, dass Menschen, die keine andere Möglichkeit zum Widerstand haben, ihren Körper zur Waffe machen. Das betrifft neben Gefangenen zunehmend auch Geflüchtete, die in den letzten Jahren mit Hunger- und teilweise auch Durststreiks auf ihre Situation aufmerksam machten. So besetzten im Sommer 2010 Geflüchtete gemeinsam mit antirassistischen Unterstützer_innen einen Platz in der Nähe der Schweizer Bundesregierung in Bern. Um ihren Forderungen nach einem Bleiberecht Nachdruck zu verleihen, traten drei iranische Geflüchtete in einen Hungerstreik, der mehrere Wochen andauerte. Hunziker begleitete die Aktion, erlebte, wie die gesundheitliche Situation der Aktivist_innen immer kritischer wurde und wie sie noch lange nach dem Abbruch der Aktion mit den körperlichen Folgen zu kämpfen hatten. „Aus dem Spital entlassen, versuchten die Iraner in der Wohnung einer solidarischen Person eine Suppe zu essen, die sie bald wieder erbrachen“ (S. 13), schreibt Hunziker. Nach diesen Erlebnissen stellte sie sich die Frage, warum Menschen zu dieser Kampfform greifen. In dem Buch sammelt sie viele Zeugnisse von Hungerstreikenden aus den unterschiedlichsten sozialen und politischen Kontexten. Aktivist_innen aus Kurdistan, Nordirland und der Schweiz kommen ebenso zu Wort wie ehemalige Gefangene aus militanten Gruppen in der BRD. Dabei wird deutlich, dass es bei dem Kampf oft um Menschenwürde geht. „Wir machen hier einen Hungerstreik, um zu zeigen: dass wir nicht jede Schweinerei hinnehmen werden ohne zu mucken“, schrieb eine Gruppe weiblicher Gefangener aus den bewaffneten Gruppen RAF und Bewegung 2. Juni im Jahr 1973. Der Wiener Mathematiker Martin Balluch begründete seinen Hungerstreik nach seiner Verhaftung wegen seiner Aktivitäten in der Tierrechtsbewegung im Jahr 2008: „Der unmittelbare Anlass war meine Hilflosigkeit, in der ich dieser Ungerechtigkeit gegenüberstand.“ (S. 98)

Der Körper als Waffe

Auch der RAF-Gefangene Holger Meins, der nach Tagen im Hungerstreik gestorben ist, wird von Hunziker angeführt. Das Bild des toten Meins, der nur noch 39 Kilo gewogen hat, auf der Bahre brannte sich in das Gedächtnis vieler Zeitgenoss_innen ein. Zudem wurde Meins zwangsernährt und ihm wurden dabei lebensnotwendige Nährstoffe vorenthalten. „Mit seinem Tod wird deutlich, dass die Leute an der Macht über Leichen gehen würden, um ihre Ordnung durchzusetzen“ (S. 92), zitiert Hunziker das ehemalige RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo. Er wurde, wie viele andere, durch den Tod von Holger Meins in seiner Totalopposition gegen die Gesellschaft bestärkt. Als Gefangener beteiligte sich Dellwo dann selber an mehreren Hungerstreiks und begab sich dabei mehrmals in Lebensgefahr. In der Türkei und Kurdistan fordert das Todesfasten, wie die Hungerstreiks dort genannt werden, immer wieder viele Opfer. Es ist die „ultimative Aktion auf Leben und Tod“ (S. 87), wie der ehemalige sozialistische Bürgermeister von Diyarbakir, Mehdi Zana, die Aktion nannte. Er war nach dem Militärputsch von 1980 wegen „Separatismuspropaganda“ verhaftet worden und hat sich an mehreren Todesfastenaktionen beteiligt. Nur in einem kurzen Abschnitt erwähnt Hunziker das wohl längste und opferreichste Todesfasten der jüngeren Geschichte, das Ende 1999 begann und bis 2007 andauerte. Damit sollten die sogenannten F-Typ-Zellen verhindert werden, mit denen nach dem Vorbild des Hochsicherheitsgefängnisses Stammheim in Westdeutschland die Gefangenen isoliert werden sollten. Erfreulich ist, dass Hunziker mit Andrea Stauffacher, eine politische Aktivistin der linken Organisation Revolutionärer Aufbruch, die selber mehrmals an Kurzhungerstreiks teilgenommen hat, zu Wort kommen lässt. Sie betont, wie wichtig eine gute Planung der Aktion ist und dass auch die mediale Verbreitung genau vorbereitet werden muss, damit ein Hungerstreik politisch erfolgreich ist. „Wichtig ist, dass bei Beginn die politische Vermittlung sofort anläuft, man mobilisiert und sich so die Initiative politisch vermittelt“. Stauffacher ist auch überzeugt, dass diese Kampfform mit dem eigenen Körper kein Auslaufmodell ist. „Der Hungerstreik bleibt eine Kampfform, die drinnen und draußen verbindet.“ (S. 95) Doch es gibt in der politischen Linken auch andere Stimmen.

Alternativen zum Hungerstreik

Der politische Aktivist Fritz Teufel, der sich auch an mehreren Hungerstreiks beteiligte, suchte schon in den 70er Jahren nach Alternativen zu einer Kampfform, in der es schnell um Leben und Tod geht. Die 2014 gegründete Gefangenengewerkschaft könnte eine solche Alternative bieten. Nicht ihr Körper, sondern ihre Arbeitskraft, die sie hinter Gittern besonders billig verkaufen müssen, könnte so dann zur Waffe der Gefangenen werden. Hunziker hat mit ihrer kleinen Geschichte des Hungerstreiks einen guten Überblick gegeben. Es ist zu hoffen, dass andere Autor_innen daran anknüpfen. Eine Geschichte der Hungerstreiks von politischen Gefangenen in den letzten fünf Jahrzehnten in der BRD muss noch geschrieben werden. Es wäre auch ein Stück der weitgehend vergessenen Geschichte der außerparlamentarischen Linken.

Peter  Nowak

Sabine Hunziker 2016:
Protestrecht des Körpers. Einführung zum Hungerstreik in Haft.
Unrast Verlag.
ISBN: 978-3-89771-585-1.
106 Seiten. 9,80 Euro.

aus:

kritisch-lesen.de

https://www.kritisch-lesen.de/rezension/alles-auf-leben

Das Versagen der kritischen Öffentlichkeit im Fall Navid B.

Dass ein Geflüchteter aus Pakistan für zweieinhalb Tage zum Terrorverdächtigten wurde und er nach seiner Freilassung wegen erwiesener Unschuld erst einmal untertauchte, interessierte in Deutschland kaum jemand

Die politische Klasse und die meisten Medien haben sich in den letzten Tagen selber kräftig auf die Schulter geklopft für die Besonnenheit, mit der die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland auf den islamistischen Anschlag reagiert habe. Tatsächlich blieben die Stimmen derjenigen, die sich mit dem Terroristen im Krieg wähnten, in der Minderheit. Einige vorlaute CDU-Politiker aus der dritten Reihe wurden schnell auf Linie gebracht.

Dass die CSU weitere Verschärfungen von Migranten gefordert hat, ist kein Zeichen mangelnder Besonnenheit. Schließlich nutzt sie jede Gelegenheit, um die Verschärfung der Flüchtlingsrechte zu propagieren. Auch dass manche Politiker eine neue Debatte über die deutsche Leitkultur anfeuern wollten, obwohl diese Islamfaschisten bestimmt nicht von ihrem Tun abhält, ist Normalität in Vorwahlkampfzeiten – und die gibt es in Deutschland irgendwo fast immer.

Dass mit Navid B. ein Geflüchteter aus Pakistan für zweieinhalb Tage zum Terrorverdächtigten wurde, dass seine Unterkunft durchsucht wurde und er dann nach seiner Freilassung wegen erwiesener Unschuld erst einmal untertauchte, interessierte in den deutschen Medien kaum jemand. Nur seine Freunde und Leidensgenossen machten sich Sorgen, als der Mann nach seiner Freilassung für mehrere Tage nicht erreichbar war.

Auch die wenigen kritischen und liberalen Zeitungen wie die Taz hat das Schicksal des Mannes kaum thematisiert. Sie versuchten auch gar nicht zu erkunden, warum unter den vielen Menschen in der Gegend zwischen Weihnachtsmarkt und Großer Stern in Berlin ausgerechnet Navid B. festgenommen worden war und warum er ohne Beweise so lange als Hauptverdächtigter galt.

Daher ist es nur konsequent, dass nun der liberale britische Guardian Navid B. erstmals selber zu Wort kommen[1] lässt. Demnach war B. auf dem Weg zur Bahn, als er von der Polizei aufgegriffen wurde. Man habe ihm die Hände hinter dem Rücken gefesselt und ihn zur Polizeistation gebracht. Er erinnert sich, dass zwei Polizeibeamte „die Hacken ihrer Schuhe gegen meine Füße gedrückt“ hätten, ein weiterer Mann habe „großen Druck mit der Hand auf meinen Nacken ausgeübt“, so der Mann gegenüber dem Guardian. Diese Methoden dürften bei Festnahmen üblich sein. Brisanter ist was Navid B. noch über das Polizeiverhalten berichtet.

So heißt es im Guardian: „They undressed him and took photographs. ‚When I resisted, they started slapping me.'“ Ob diese Methoden, wenn sie sich denn bestätigen, gesetzlich gedeckt sind, darf bezweifelt werden. Sehr eindringlich schildert der Mann, wie er sich nach der Festnahme an die politische Situation im pakistanischen Belutschistan erinnert, wo immer wieder auch Unbewaffnete ermordet[2] werden.

Anders als im Syrienkonflikt gibt es in Deutschland kaum relevante politische Kräfte, die sich dafür interessieren. Daher ist wohl auch kaum bekannt, dass die Opposition[3] in Belutschistan nicht zu den islamfaschistischen Kräften gehört, was umgekehrt nicht heißt, dass sie in irgendeiner Weise emanzipatorisch sein muss. Das spielt im konkreten Fall auch keine Rolle.

In einer kurzen Erklärung reagierte ein Berliner Polizeisprecher auf die Aussagen des Mannes im Guardian und betonte[4]: „Der Mann ist definitiv von keinem Mitarbeiter misshandelt worden.“

Die Aussagen müssen sich nicht einmal widersprechen. Denn was B. schilderte, können polizeiliche Maßnahmen zur Durchsetzung von Durchsuchungen sei. Dabei wird durchaus Gewalt ausgeübt, aber es handelt sich aus der Sichtweise der Polizei keinesfalls um eine Misshandlung. Wo bei solchen Maßnahmen die Grenzen sind, ist Sache der Gerichte. Zudem lässt die Formulierung des Polizeisprechers aufhorchen, dass B. von keinem Mitarbeiter der Berliner Polizei misshandelt wurde.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass bei der Festnahme eines Mannes, der für einige Zeit als Top-Terrorist galt, auch andere Behördenvertreter anwesend sind. Will der Polizeisprecher vielleicht mit seiner Formulierung andeuten, dass die fürs Grobe zuständig waren? Zumindest ist die Erklärung mehrdeutig. Klären könnte das vielleicht ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der von dem grünen Bundestagsabgeordneten Ströbele und Politikern der Linken ins Gespräch gebracht wurde[5]. Doch wichtiger wäre, wenn die Reste der antirassistischen Bewegung ihre Wächterfunktion wahrnehmen, die sie sonst beim Umgang der deutschen Staatsapparate, nicht nur der Polizei, gegenüber Migranten und Geflüchteten an den Tag legen. Bisher hat man da wenig gehört. Schließlich will sich ja niemand nachsagen lassen, er mache sich zu Helfershelfer derjenigen, die für den Anschlag in Berlin verantwortlich sind.

Doch abgesehen davon, dass das für Navid B. nicht zutrifft, muss man wohl doch wieder an den Grundsatz erinnern, dass auch der Attentäter Rechte hat und dass, wer daran erinnert, sich nicht mit ihm und seiner Tat gemein macht. Da ging der US-Journalist Mumia Abu Jamal[6] kürzlich in seiner wöchentlichen Kolumne[7] in der jungen Welt mit guten Beispiel voran, in dem er auch gegen die drohende Todesstrafe von Dylan Roof[8] Einspruch erhebt. Roof ist der US-Nazi, der im Juni 2015 neun Menschen in einer Kirche erschossen hat, wo sie beteten. Er hatte sich vorher das Vertrauen der Gemeinde erschlichen. Er wollte so viele Menschen wie möglich umbringen, weil sie schwarz waren. Es gibt also zwischen den Nazis in der Tradition des Ku-Klux-Clans und den Aktivisten der schwarzen Emanzipationsbewegung keinerlei politische Berührungspunkte. Mumia beschreibt seine Motivation für die Kampagne:

Als jemand, der sein halbes Leben im Todestrakt zubringen musste, ist meine Haltung eindeutig: Selbst in einem Fall wie diesem kommt meine Opposition dagegen, dass der Staat Leben nimmt, nicht ins Wanken. Ja, selbst in diesem Fall eines vom weißen Überlegenheitsdenken getragenen rassistischen Gewaltaktes gegen neun christliche Gläubige der Emanuel African Methodist Episcopal Church!

Mumia Abu Jamal

Hier setzte Mumia Abu Jamal menschenrechtliche Standards, an denen sich nicht nur die Staatsapparate, sondern auch die Zivilgesellschaft in Deutschland messen lassen müssen.

Im Fall von Navid B. stellt sich die Frage, wieso gerade er in der Menge der Menschen festgenommen wurde und, mehr noch, warum er mehr als zwei Tage als Täter galt und der Bundesinnenminister ihn noch zu einem Zeitpunkt als Täter bezeichnete, als eigentlich schon klar war, dass es nicht stimmt. So gab B. an, dass er keine Fahrerlaubnis hat und also einen solchen Wagen niemals hätte bedienen können. Eine solche Aussage müsste ja eigentlich in wenigen Stunden überprüft werden können.

Doch neben dieser Aufklärung stünden jetzt konkrete Forderungen an, um den Schaden, den nicht Navid B. selber durch die falschen Verdächtigungen erlitten hat, zu begrenzen. Er schilderte, wie er durch die Festnahme an die Situation der Gewalt in seiner Heimat erinnert wurde. Man kann hier von einer Retraumatisierung sprechen. Er beschreibt, dass auch seine Familie in Pakistan jetzt in Gefahr sei, weil durch die Festnahme erst bekannt wurde, dass er geflohen ist. Zudem dürfte auch in Pakistan die Festnahme für mehr Schlagzeilen gesorgt haben als die Berichte über seine Unschuld. So müsste die logische Forderung als Wiedergutmachung sein, dass Navid B. in Deutschland Asyl bekommt und seine Verwandten, die jetzt durch die öffentlichen Berichte in Gefahr sind, ebenfalls. Diese aus rechtsstaatlicher Warte zwingenden Maßnahmen werden aber in Deutschland von der Politik sicher nicht auf den Weg gebracht. Dazu bedarf es einer kritischen Öffentlichkeit, die im Fall von Navid B. fast vollständig gefehlt hat. Es ist zu hoffen, dass die Veröffentlichungen im Guardian hier etwas bewegen.

https://www.heise.de/tp/features/Das-Versagen-der-kritischen-Oeffentlichkeit-im-Fall-Navid-B-3583198.html

Peter Nowak


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[1] http://www.theguardian.com/world/2016/dec/29/naveed-baloch-man-wrongly-arrested-berlin-attack-fears-for-his-life
[2] http://www.theguardian.com/world/2016/oct/24/gunmen-attack-police-cadet-hostel-in-quetta-pakistan
[3] http://www.thebnm.org/
[4] http://www.welt.de/politik/deutschland/article160724011/Polizei-weist-Vorwurf-der-Ohrfeigen-nach-Festnahme-zurueck.html
[5] http://www.deutschlandfunk.de/anschlag-von-berlin-linke-und-gruene-erwaegen.447.de.html?drn:news_id=693944
[6] http://www.freemumia.com/who-is-mumia-abu-jamal/
[7] http://www.jungewelt.de/2016/12-27/029.php?sstr=mumia
[8] http://edition.cnn.com/2015/06/19/us/charleston-church-shooting-suspect/