Das Gezerre um US-Militärhilfen für die Ukraine ist vorbei. Es barg Chancen, viele Tote zu vermeiden. Die Reaktionen sprechen Bände. Ein Kommentar.

Ukraine-Krieg: Deutschland feiert neuen Booster für die Rüstungsindustrie

Die Aktien der Rüstungskonzerne verschiedener Länder haben auf das Signal aus Washington sofort reagiert und sind gestiegen, was immer ein Zeichen dafür ist, dass bald wieder viele Soldaten fallen. Hier zeigt sich einmal mehr, wie recht alle die hatten, die von solchen Waffenlieferungen nur einen Gewinner sahen: die Rüstungsindustrie aller Ländern.

Es ist eine Ironie der Geschichte. Am gleichen Tag, als das …

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Das Jubiläum des US-Lagers ist ein Beispiel für andauerndes staatliches Unrecht und Straflosigkeit, an das sich nur wenige erinnern und erinnern wollen

19 Jahre Guantánamo: Ein fortgesetzter Angriff auf die Demokratie

Gerade nach dem Riot im und vor dem Kapital in Washington wurde so viel vom Angriff auf das Kapitol als "Herz der Demokratie" gefloskelt. Dabei ist die Existenz und der Weiterbetrieb von Guantánamo ein fortdauernder Angriff auf die Menschenwürde der dort inhaftierten Menschen. Das Kapitol hat die Inhaftierung in Guantánamo wie so viele andere repressive Maßnahmen, die Menschen in den USA und über Kriege auch in aller Welt betreffen, gedeckt.

Noch immer werden unter dem Vorwand des „globalen Krieges gegen den Terror“ 40 Menschen in dem US-Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba festgehalten. Sie haben nie einen Gerichtsprozess erhalten, es gibt keinen Schuldspruch und so müssten diese Menschen nach bürgerlichem Standpunkt eigentlich als unschuldig gelten. Daran erinnerte die Menschenrechtsorganisation Amnestie International nicht zufällig am gestrigen 11. Januar 2021. Schließlich jährt sich an diesem Tag zum 19. Mal die Eröffnung dieses …

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Racial Profiling ist kein Mittel, um Sexismus zu bekämpfen

Oder: Was wir von Israel lernen können

Seit der islamfaschistische Terror auch in Europa für Schrecken sorgt, wurde verstärkt die Parole „Von Israel lernen“[1] ausgegeben. Dort ist die Bevölkerung schließlich seit Jahren einem solchen Terror ausgesetzt. Seit der junge israelische Soldat Elor Azari vom israelischen Militärgericht wegen Totschlag schuldig gesprochen wurde[2], hat die Parole eine spezifische menschenrechtliche Bedeutung bekommen.

Azari erschoss einen schon verletzt am Boden liegenden islamischen Messerattentäter, der zuvor einen anderen Soldaten schwer verletzt hat. Die Aussage von Azari, er habe befürchtet, der Attentäter könne auch ihn mit dem Messer attackieren, wurde als Schutzbehauptung zurückgewiesen. Der Soldat wurde schuldig gesprochen, obwohl es in der israelischen Bevölkerung durchaus nicht nur in rechten Siedlerkreisen viel Sympathie für ihn gab und auch manche Politiker der rechtskonservativen Regierung in den Ruf nach Freispruch einstimmten.

Doch das entscheidende Beweismittel für den Schuldspruch des Soldaten war ein Video eines Palästinensers, auf dem zu sehen ist, wie Azari dem am Boden liegenden Islamisten in den Kopf schießt. Was oft nicht erwähnt wird: Die Nichtregierungsorganisation B’tselem[3], welche die Palästinensern mit Kameras versorgt, um Übergriffe israelischer Soldaten oder Siedler zu dokumentieren, gilt der israelischen Regierung und auch vielen konservativen Medien und Institutionen[4] als eine jener von Ausland nicht zuletzt von der EU und Deutschland[5] finanzierten NGO, die für eine antizionistische Agenda verantwortlich sei[6].

So ist das Urteil gegen Azari auch eine Vertrauenserklärung in eine umstrittene und häufig angegriffene NGO. Das Urteil macht noch einmal deutlich, solche kritischen NGO sind der Lackmustest für eine Demokratie und mit ihrem Video hat die so häufig kritisierte Organisation B’tselem hier eine wichtige Rolle gespielt. Ohne das Video hätte es wahrscheinlich das Urteil nicht gegeben, vom dem das Signal ausgeht, dass auch in Zeiten der „Messer-Intifada“, als in Israel die Angst und Unsicherheit besonders groß war, ein Kopfschuss ein Verbrechen ist und bleibt. Es zeigt auch, dass der Zweck nicht alle Mittel heiligt.

In der vergangenen Kölner Silvesternacht gab es keine Kopfschüsse. Niemand ist ernsthaft körperlich verletzt wurden. Doch nach Meinung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International[7] (AI) stellt das Vorgehen der Sicherheitsbehörden in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten eine Menschenrechtsverletzung da.

„Das Vorgehen der Sicherheitsbehörden in der Silvesternacht in Köln stellt einen Verstoß gegen das im deutschen Grundgesetz verankerte Diskriminierungsverbot dar. Amnesty fordert eine unabhängige Untersuchung“, heißt es in einer AI-Erklärung[8]. Dort betont der deutsche Amnesty-Referent für die Themen Polizei und Rassismus, Alexander Bosch[9], zunächst, wie wichtig es war, dass die Polizei die sexistischen Übergriffe des vergangenen Jahres verhindert hat. Doch dann kommt er zum Kritikpunkt:

Gleichzeitig ist es auch Aufgabe der Polizei, Menschen vor Diskriminierung zu schützen – und diese Aufgabe hat die Polizei Köln ignoriert. Hunderte Menschen sind allein aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten nordafrikanischen Herkunft eingekesselt und kontrolliert worden. Das wichtigste Entscheidungskriterium der Polizisten ist das Merkmal der angenommenen Herkunft gewesen: Jeder Mensch, den die Beamten für einen Nordafrikaner gehalten haben, wurde in einen separaten Bereich geführt, viele von ihnen mussten dort laut Medienberichten stundenlang ausharren. Bei dem Einsatz der Polizei Köln handelt es sich also um einen eindeutigen Fall von Racial Profiling. Damit hat die Polizei gegen völker- und europarechtliche Verträge und auch gegen das im deutschen Grundgesetz verankerte Diskriminierungsverbot verstoßen.

Alexander Bosch[10]

Tatsächlich gehört der Kampf gegen Racial Profiling seit Jahren zu den Aktivitäten von Organisationen, in denen sich schwarze Menschen in Deutschland und anderen Ländern engagieren. Sie wurden dabei zunehmend von antirassistischen Gruppen unterstützt. Es war eine zähe, aber nicht erfolglose Arbeit.

2012 wurde von Johanna Mohrfeldt und Sebastian Gerhard aufgezeigt, wie Racial Profiling zur normalen Polizeiarbeit auch in Deutschland gehörte[11]. Erst neueren Datums sind Empfehlungen von Menschenrechtsorganisationen an die Polizei[12], wie eine solche Praxis zu verhindern oder zumindest zu minimieren ist.

Daher ist es ein Rückschlag für diese Bemühungen einer möglich diskriminierungsarmen Polizeiarbeit, wenn nun offen nicht nur in Medien der Rechten einer Praxis des Racial Profiling offen das Wort geredet wird. In der Welt[13] wird auch gleich der umstrittene Begriff Nafri für unbedenklich erklärt. Das sei eben eine Abkürzung in der Polizeiarbeit. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann andere Begriffe, die viele der davon Betroffenen als diskriminierend bezeichnet haben, so wieder offiziell in die alltägliche Behördenarbeit zurückkehrt. Inoffiziell waren sie nie verschwunden.

Nun wird die berechtigte Empörung über die sexistischen Übergriffe von Köln genutzt, um hart erkämpfte Fortschritte im Bereich des Antirassismus zu schleifen. Der Shitstorm, der auf die Grünen-Vorsitzende Sabine Peters niederging, als sie es wagte, Kritik am Kölner Polizeieinsatz zu äußern, hat noch einmal deutlich gemacht, dass es in bestimmten Zeiten zumindest politisch gefährlich sein kann, wenn eine Oppositionspolitikerin ihren Job macht.

In der Taz hat Inlandsredakteur Daniel Bax noch einmal daran erinnert[14], dass Kritik an rassistischen Polizeikontrollen Bürgerpflicht sein sollte. Auch hier könnte man die Parole „Von Israel lernen“ ausgeben. So wie in Hochzeiten der Messer-Intifada das Video, das von einer durchaus umstrittenen NGO ermöglicht wurde, mithalf, Rechtsgeschichte zu schreiben, kommt auch der Kritik an Racial Profiling in dem Augenblick besondere Bedeutung zu, in dem sie massenhaft angewandt wird.


Wenn dagegen die Kritik mit dem Argument abgetan wird, es sei doch vor allem darum gegangen, dass die sexistischen Angriffe sich nicht wiederholen, hat man die Logik schon akzeptiert, dass die Zwecke die Mittel heiligen. Stattdessen gilt es Methoden zu finden, die solche Angriffe verhindern, ohne andere Menschen rassistisch zu diskriminieren.

Sehr eindrucksvoll schilderte Birgit Gärtner, was die Kölner Silvesternacht im letzten Jahr für viele Frauen bedeutete und dass für sie bestimmte Räume jetzt angstbesetzt sind – siehe: Frau Merkel, wir haben ein Problem[15]. Solche Schilderungen sind auch immer wieder von Menschen zu hören, die nicht in das deutsche Leitbild passen, egal ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht.

Es gibt Gegenden in vielen Städten, das diese Menschen schlicht meiden. Es wäre jetzt die wichtige Aufgabe von außerparlamentarischen Gruppen eine antisexistische und antirassistische Praxis zusammenzubringen. Da ist es sicher eher ein hilfloser Versuch, wenn die Silvesternacht von Köln mit sexistischen Übergriffen am Münchner Oktoberfest relativiert werden sollen. Aber die Versuche verschiedener Gruppen gerade auch in Köln deutlich zu machen, dass der Kampf gegen Sexismus keine Hautfarbe und Nation und der Kampf gegen Rassismus kein Geschlecht hat, ist dabei eine wichtige Maxime.

In der Debatte der außerparlamentarischen Linken wurden schon vor mehr als drei Jahrzenten Bausteine für eine solche Kritik bereit gelegt. Es gab schon in Zeiten, als der Begriff Multikulturalismus noch in großen Teilen des liberalen und linken Milieus positiv besetzt war, Kritik daran. Die machte sich daran fest, dass Menschen bestimmten Kulturen zugeordnet werden und die Multikulturalisten diese auch in Europa nebeneinander leben lassen wollten.

Doch gerade die Zuordnung bestimmter Menschen auf ihre angebliche Kultur ist das Problem, das Multikulturalisten auch unfähig macht, Kritik am Islamismus und dessen Unterdrückungsformen adäquat zu kritisieren. Besonders absurde Beispiele gibt es, wenn Sexismus und Frauenunterdrückung als einer bestimmten Kultur zugehörig bezeichnet wird und damit angeblich aus der Kritik genommen werden soll.

Der andere Theoriebaustein, der für ein Zusammendenken einer antirassistischen und antisexistischen Praxis nützlich sein kann, ist der Triple-Oppression-Ansatz[16], der davon ausgeht, dass Rassismus, Sexismus und kapitalistische Ausbeutung drei Unterdrückungsverhältnisse sind, die unabhängig voneinander von unterschiedlichen Gruppen ausgeübt werden und nicht einander bedingen.

Dieser Ansatz grenzte sich von traditionslinken Vorstellungen ab, wonach die kapitalistische Ausbeutung der Hauptwiderspruch und Rassismus und Patriarchat Nebenwidersprüche seien. Nach dem Triple-Opression-Ansatz können Männer, die selber rassistisch unterdrückt sind, sexistische Unterdrückung ausüben, wie in Köln und anderen Städten geschehen. Frauen, die Opfer sexistischer und patriarchaler Gewalt sind, können selber wiederum rassistische Unterdrückung ausüben und verstärken.

Die Soziologin und antirassistische Aktivistin Angela Davis zeigte[17] im Buch Rassismus und Sexismus[18] an der Geschichte der USA auf, dass das Wahlrecht für Frauen erst in dem Augenblick von der weißen, männlichen Elite akzeptiert wurde, als für sie Gefahr bestand, dass schwarze Männer zahlenmäßig an Bedeutung gewinnen könnten.

Auch am Beispiel der Kölner Silvesternacht wird versucht, den notwendigen Kampf gegen alle Formen des Sexismus gegen den antirassistischen Kampf auszuspielen. Es wird die Aufgabe einer außerparlamentarischen Bewegung sein, hier Konzepte zu entwickeln, die beide Unterdrückungsformen gleichermaßen angehen.

Die genannten theoretischen Bezugspunkte sind hier eher Steinbrüche, von denen man sich bedienen kann als wirklich systematische Theorien. Bis es zu einer fundierten Theorie und Praxis kommt, sei allerdings allen geraten, von Israel zu lernen. So wie bei der Messer-Intifada der Kopfschuss kein Mittel ist, so ist – auf einer anderen Ebene – auch beim Sexismus von Köln Racial Profiling nicht zu akzeptieren, sondern zu kritisieren.

https://www.heise.de/tp/features/Racial-Profiling-ist-kein-Mittel-um-Sexismus-zu-bekaempfen-3589318.html?view=print

Peter Nowak


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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.nzz.ch/meinung/kolumnen/europas-terror-dilemma-von-israel-lernen-ld.107710
[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/israel-soldat-elor-azaria-fuer-kopfschuss-schuldig-gesprochen-14604257.html
[3] http://www.btselem.org/
[4] http://www.ngo-monitor.org/
[5] http://www.ngo-monitor.org/ngos/b_tselem
[6] http://www.deutschlandfunk.de/antisemitismusvorwurf-umstrittenes-deutsches-ngo-engagement.886.de.html?dram:article_id=317342
[7] https://www.amnesty.de
[8] http://www.amnesty.de/2017/1/2/koelner-polizeieinsatz-ist-eindeutiger-fall-von-racial-profiling
[9] http://www.amnesty.de/bilder/alexander-bosch-amnesty-referent-fuer-die-themen-polizei-und-rassismus
[10] http://www.amnesty.de/2017/1/2/koelner-polizeieinsatz-ist-eindeutiger-fall-von-racial-profiling
[11] https://kop-berlin.de/beitrag/alltagliche-ausnahmefalle-zu-institutionellem-rassismus-bei-der-polizei-und-der-praxis-des-racial-profiling
[12] http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/Studie_Racial_Profiling_Menschenrechtswidrige_Personenkontrollen_nach_Bundespolizeigesetz.pdf
[13] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article160799587/Ja-zu-Racial-Profiling-es-kann-Leben-retten.html
[14] https://www.taz.de/Debatte-Silvester-in-Koeln/!5367432/
[15] https://www.heise.de/tp/features/Frau-Merkel-wir-haben-ein-Problem-3583164.html
[16] http://www.archivtiger.de/downloads/maennerarchiv/viehmann.pdf
[17] https://www.kritisch-lesen.de/rezension/rassismus-und-feminismus-in-den-usa
[18] https://www.eurobuch.com/buch/isbn/3885200937.html

Amnesty: „Europäische Abschottungspolitik bringt Flüchtlinge in Lebensgefahr“

Unverhohlen sprechen die Gegner der Geflüchteten von den Anschlägen als Chance, in der Flüchtlingspolitik doch noch die rechte Wende zu erzwingen

Nach den Anschlägen von Paris und der Terrorangst in vielen Ländern sind die Geflüchteten zum Streitobjekt geworden. Konservative aller Länder wollen das Klima der Angst nutzen, um endlich die Brücken an der Festung Europa hochzuklappen. Die Anschläge sind für sie nur der willkommene Vorwand, um endlich die Politik umsetzen zu können, die sie sich immer gewünscht haben.

Unverhohlen sprechen die Gegner der Geflüchteten von den Anschlägen als Chance, in der Flüchtlingspolitik doch noch die rechte Wende zu erzwingen. Der Publizist Matthias Matussek konnte seine Freude gar nicht zügeln, als er kurz nach den Anschlägen postete [1]: „Ich schätze mal, der Terror von Paris wird auch unsere Debatten über offene Grenzen und eine Viertelmillion unregistrierter junger islamischer Männer im Lande in eine ganz neue frische Richtung bewegen“. Dass er diese Erkenntnis mit einem Smily verzierte, haben ihm dann doch manche übel genommen, die inhaltlichen Aussagen allerdings nicht.

Ratsherr will Geflüchtete versenken

In diesen Tagen ging auch ein Bericht [2] der Menschenrechtsorganisation Amnesty International unter, der die europäische Abschreckungspolitik für eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen an Europas Grenzen verantwortlich macht.

„Mit Zäunen an den Landgrenzen und indem die Europäische Union Länder mit kritischer Menschenrechtslage, wie Marokko und die Türkei, als ‚europäische Grenzwächter‘ nutzt, verweigert sie Menschen den Zugang zum Asylverfahren. Zudem setzt die EU Flüchtende Misshandlungen aus und zwingt sie zur lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer und die Ägäis“, sagt Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. Er erinnert daran, dass Zäune in Europa nicht zu einer geordneten Migration, sondern zu Menschenrechtsverletzungen und chaotischen Zuständen beitragen. Die aber sind gewollt, denn das Ziel besteht schließlich darin, die Geflüchteten abzuschrecken.

Amnesty verurteilt die Anschläge von Paris, wendet sich aber auch dagegen, dass sie genutzt werden, um die Flüchtlingspolitik noch mehr zu verschärfen. „Der Terror von Paris wurde von denjenigen verübt, die auch dafür verantwortlich sind, dass Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan überhaupt hierher fliehen müssen“, sagt Çalışkan. In einen eigenen Bericht [3] hat Amnestie zahlreiche Menschenrechtsverletzungen an der europäischen Grenze aufgelistet.

Der Amnesty-Bericht kommt zur rechten Zeit. Das gesellschaftliche Klima wird auch darin deutlich, dass nicht nur irgendwelche Neonazis, sondern auch ein bisher unbekannter Ortsbeirat von Fleetmark Mordfantasien gegen Geflüchtete artikuliert [4].

Der mittlerweile gekündigte Leiter der Ortsfeuerwehr Björn Hartmann äußerte in einer Ratssitzung, man müsse den Flüchtlingen Steine an die Füße binden und sie versenken. Später schob er nach, er sei keineswegs rechtsorientiert sei, sondern er habe nur denUnmut der Bevölkerung artikuliert.

Das unbekannte Massaker von Paris

Wie schnell solche mörderischen Phantasien Realität werden können, zeigte sich in Paris vor 54 Jahren. Damals richtete die französische Polizei bei einer von der algerischen FLM ausgerufenen Demonstration ein Blutbad an. Die Zahl der Toten ist bis heute nicht bekannt. Historiker sprechen von mindestens 200 Toten aber es können auch 300 sein. Viele Demonstranten wurden in die Seine geworfen und ertranken. Mittlerweile gibt es eine Homepage der Angehörigen der Opfer des 17. Oktober http://17octobre1961.free.fr).

Der Spiegel schrieb [5] über das unbekannte Massaker mitten in Paris:

„So ergab sich nach dem 17. Oktober 1961 eine groteske Situation: Das demokratische Europa hatte soeben eine der schlimmsten Gewaltorgien der Nachkriegszeit erlebt, doch in Frankreich schienen sich alle wichtigen Akteure darauf geeinigt zu haben, den Opfern keine Stimme zu geben. Und das staatlich verordnete Schweigen war erfolgreich – besonders, als ein Jahr nach dem Blutbad der Krieg in Algerien endete und Charles de Gaulle die einstige Kolonie in die Unabhängigkeit entließ. Hunderttausende Franzosen hatten in Algerien gekämpft, sie waren dem Terror der FLN ausgesetzt gewesen, hatten aber auch die Folter und Kriegsverbrechen der eigenen Truppen erlebt. Jetzt wollten sie von all dem nichts mehr wissen.

http://www.heise.de/tp/news/Amnesty-Europaeische-Abschottungspolitik-bringt-Fluechtlinge-in-Lebensgefahr-2923869.html

Peter Nowak

Werden Moslems in Europa diskriminiert?

Ein Amnesty Bericht dürfte die Diskussion über den Menschenrechtsbegriff wieder aufleben lassen

Die Diskriminierung von Moslems in Europa prangert ein von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International verfasster Bericht an. Besonders in der Kritik stehen die Niederlande, Frankreich, die Schweiz, Belgien und Spanien.

„Muslimischen Frauen werden Arbeitsplätze verweigert und den Mädchen die Teilnahme an regulärem Unterricht, weil sie traditionelle Kleidung, wie das Kopftuch tragen“, moniert Amnesty-Experte Marco Perolini. Er sieht vor allem die in mehreren dieser Länder gültigen gesetzlichen Bestimmungen, die das Tragen einer Burka oder anderen religiösen Bekleidungen in der Öffentlichkeit unter Strafe stellen, als Menschenrechtsverletzung.

„Das Tragen religiöser und kultureller Symbole und Kleidung ist Teil des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Es ist Teil des Rechts auf Freiheit der Religionsausübung oder Weltanschauung – und diese Rechte stehen allen Glaubensrichtungen gleichermaßen zu.“

Diese Version des Menschenrechtsbegriffes dürfte allerdings auch innerhalb von Menschenrechtsorganisationen kontrovers diskutiert werden. Besonders in Ländern wie Frankreich wird seit den Tagen der Französischen Revolution das Prinzip hochgehalten, dass die Verbannung bestimmter religiöser Symbole aus der Öffentlichkeit gerade dazu beitragen soll, dass möglichst niemand diskriminiert wird. Auch im Menschenrechtsdiskurs in Deutschland wird die Frage gestellt, ob es der Durchsetzung von Menschenrechten in der Praxis dienlich ist, wenn diese als ethnische religiöse Kollektivrechte formuliert werden.

„Der Islam ist okay, wenn nichts von ihm zu sehen ist“

Diese Problematik wird bei der heute vorgestellten Amnesty-Studie deutlich. Schließlich hat der Amnesty-Vertreter ausdrücklich betont, dass „Islam-Hass“ in Europa eher wenig verbreitet ist. Auch eine grundlegende Ablehnung des Islam sei nicht zu diagnostizieren. „In vielen Ländern ist die Meinung weit verbreitet, dass der Islam schon ok ist und die Muslime auch – solange nichts davon zu sehen ist“, bringt Perolini die Stimmung auf dem Punkt.

Doch gerade in dieser Haltung sieht er die Ursachen für die in dem Report beschriebenen Menschenrechtsverletzungen. Diese Kritik ist sicher berechtigt, wenn wie in Deutschland Nonnen in religiöser Kleidung in Schulen unterrichten dürfen, moslemische Lehrerinnen aber kein Kopftuch tragen dürfen. Wenn aber in einer säkularen Gesellschaft konsequent sämtliche religiösen Insignien in bestimmten öffentlichen Räumen verbannt würden, dürfte es fraglich sein, ob dann noch von Menschenrechtsverletzungen gesprochen werden könnte.

Stiller Zwang zum Tragen religiöser Kleidung

Perolini betonte bei der Vorstellung des Berichts auch, dass natürlich niemand zum Tragen bestimmter religiöser Kleidung und Symbole gezwungen werden dürfe. Auch das würde eine Menschenrechtsverletzung darstellen. Allerdings geht er nicht auf begründete Einwände ein, die von einem faktischen Druck in religiösen Familien sprechen. Tatsächlich ist es leicht vorstellbar, dass beispielsweise liberal oder säkular eingestellte Familienmitglieder starken Pressionen ausgesetzt sind, wenn sie das Tragen religiöser Kleidung verweigern, obwohl es allgemeiner Brauch ist.

Ein solches Szenario ist durchaus in verschiednen religiösen Kulturen denkbar und macht deutlich, wie schnell religiöse Rechte mit individuellen Menschenrechten in Widerspruch geraten können. Der Amnesty-Bericht hat mit der Beschreibung gesellschaftlicher Diskriminierung in verschiedenen europäischen Ländern sicher Verdienste. So ist die Kritik an dem durch eine Volksabstimmung durchgesetztes Nein zum Bau von Minaretten nachvollziehbar. Die Debatte über den Menschenrechtsbegriff ist damit allerdings nicht beendet.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151867
Peter Nowak