Zwangsbehandlung durch die Hintertür?

Anders als die Beschneidung von Kindern ist die Zwangsbehandlung von als psychisch krank erklärten Menschen hierzulande kein großes Thema

Die heute im Bundeskabinett beschlossene Formulierungshilfe zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme hat in der Öffentlichkeit kaum für Diskussionen gesorgt. Auslöser der Initiative ist ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom Juni 2012. Es hatte entschieden, dass Psychiatriepatienten nicht gegen ihren Willen behandelt werden dürfen.

Ein ähnliches Urteil hatte bereits im letzten Jahr das Bundesverfassungsgericht gefasst. Damit ist jede Zwangsbehandlung gesetzwidrig. Nun müssen Gesetze formuliert werden, die diesen Urteilen Rechnung tragen. Doch die heute unter Federführung des Bundesjustizministeriums verfasste Änderung will die Zwangsbehandlung unter bestimmten Umständen wieder ermöglichen und wird denkbar unterschiedlich interpretiert.

Hilfe oder Folter?

In einer Pressemitteilung aus dem Bundesjustizministerium wird von Hilfe für die Betroffenen gesprochen.

„Mit dem heute vorgelegten Entwurf wird Betroffenen konkret geholfen. Wenn jemand wegen einer Krankheit seinen freien Willen verliert, muss der Staat zum Wohle des Patienten helfend eingreifen können. Die Neuregelungen knüpfen an die bisherige Rechtsprechung an. Künftig können psychisch Kranke unter engen Voraussetzungen auch dann ärztlich behandelt werden, wenn ihnen die Fähigkeit zur freien Willensbildung fehlt.“

Für Rene Talbot von den Psychiatrieerfahrenen ist die Änderung dagegen schlicht gesetzwidrig. Damit werde das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das jede Zwangsbehandlung ausschließt, konterkariert. Den Verweis auf die Hilfe für die Betroffenen hält Talbot für zynisch. „Es ist schon merkwürdig, dass die Verbände dieser Betroffenen, denen damit angeblich geholfen werden soll, gegen diese Änderung protestieren“, erklärt er gegenüber Telepolis.

Tatsächlich schlagen zahlreiche Organisationen Alarm, in denen sich von Menschen zusammengeschlossenen haben, die mit psychiatrischen Maßnahmen Erfahrungen sammeln mussten. Die beschlossene Änderung legalisiere Foltermaßnahmen gegen Psychiatriepatienten, warnt die Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener in einer Erklärung. Der heutige Beschluss sei auf massiven Druck von Seiten der Bundesländer sämtlicher politischer Couleur zustande gekommen, so Talbot.

Gerade das grün-rot regierte Baden-Württemberg sei dabei federführend gewesen. Zudem hatten in vielen Medien Psychiater gegen die Abschaffung der gerichtlichen Abschaffung der Zwangsbehandlung agiert. Auch sie betonten immer, dass ihre Einwürfe im Interesse der Patienten seien, so der Leiter Berliner Psychiater in einem Kommentar in der Taz. Als die Psychiatrieerfahrenen eine Antwort darauf formulierten und ebenfalls in der taz platzieren wollten, bekamen sie darauf bis heute keine Antwort.

Zwangsbehandlung im Gegensatz zu Beschneidung kein Thema

Das Desinteresse, das ihrem Anliegen entgegenschlägt ist besonders deshalb bemerkenswert, weil in den letzten Wochen so viel und sehr lebhaft darüber diskutiert wurde, dass das Selbstbestimmungsrecht von Menschen nicht eingeschränkt werden darf. Dabei ging es um die Beschneidung von Kindern.

Auch der Rechtsanwalt und Publizist Oliver Tolmein stellte diesen Zusammenhang in der FAZ her. Auf dem Höhepunkt der Beschneidungsdebatte machte er sich darüber Gedanken, warum das juristische Verbot für Zwangsbehandlungen kaum wahrgenommen wird:

„Angesichts des vehementen Interesses der deutschen Öffentlichkeit an der körperlichen Unversehrtheit von Menschen, die Eingriffen selber nicht zustimmen können, ist erstaunlich, wie wenig Beachtung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes gefunden hat, die viele Tausende vor einer Zwangsbehandlung bewahrt. Die Bundesrichter haben mit ihrer aktuellen Entscheidung ihre bisherige Rechtsprechung aufgegeben (die erstaunlicherweise genau das für rechtens hielt) und festgestellt, dass das Betreuungsrecht keine ausreichende Rechtsgrundlage für eine Zwangsbehandlung enthält.“

http://www.heise.de/tp/blogs/8/153139
Peter Nowak

Reise zum unbekannten Kontinent Jobcenter

Eine neue Kampagne will aus einem politischen Konflikt eine Serviceleistung machen

Niemand soll sagen, dass die Piraten nicht die Politik verändern. Schließlich hat die Lektüre eines über die [http://www.heise.de/tp/blogs/8/152639 Probleme des Geschäftsführers der Piratenpartei Ponader sogar einige Leser zu einer neuen Initiative animiert. Weil Ponader dort berichtete, dass Erwerbslose, die sich zum Jobcenter begleiten lassen, eine bessere Gesprächsatmosphäre haben und ihre Forderungen auch oft besser durchsetzen können, kamen sie auf die Idee, die Initiative „Wir gehen mit“ zu gründen. Nach dem Vorbild der Internet-Mitfahrzentralen suchen auch die Mitläufer Interessenten, die sich dann mit den Begleitung suchenden Erwerbslosen kurzschließen sollen. Die Initiative betont ihre parteipolitische Neutralität, doch wer sich durch die Protokolle klickt, wird feststellen, dass die Piratenparte dort einen wichtigen Einfluss hat.

Zu den Zielen der Initiative gehört die „moralische Unterstützung für den der Verwaltungsmaschine ausgelieferten Menschen“. „Es ist ein Geben und Nehmen und beruht auf Gegenseitigkeit. Die Begleiter möchten selbst erfahren, wie unser Sozialsystem von innen aussieht“, heißt es auf Homepage. Diese Formulierung hört sich so an, als hätte ein bis dato von den sozialen Realitäten in unserem Land uninformierter FAZ-Leser über den Umweg über das Schicksal von Herrn Ponader erfahren, dass es in Deutschland Armut und die vielfältigen Zumutungen des Hartz IV-Regimes gibt. Das Mitlaufen wäre dann eine Art Ausflug zu den unbekannten Kontinent Jobcenter, so wie in den 60er Jahren junge weiße Studierende in den USA die Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung unterstützt und dadurch von der Realität von Rassismus und struktureller Gewalt überzeugt wurden. Solche Erfahrungen können tatsächlich das Bewusstsein verändern, wie es eben bei vielen jungen Akademikern in den USA in den 60er Jahren der Fall war. Ob allerdings die Mitläufer dazu bereit sind, muss offen bleiben.

Mitläufer oder solidarische Begleiter?

Denn auffällig ist, dass jeder Hinweis darauf ausgeblendet wird, dass es Begleitaktionen zum Jobcenter nicht erst seit der Gründung der Mitläufer gibt. Nach Einführung von Hartz IV haben viele Selbsthilfegruppen und Erwerbsloseninitiativen Erwerbslose zum Jobcenter begleitet. Sie mussten über die soziale Realität nicht aus der FAZ erfahren, sondern sind oft selber aktive Erwerbslose, die sich seit Jahren gegen Schikanen am Amt wehren und sich mit der Begleitung mehr Solidarität erhoffen.

Ein Unterschied zwischen den Mitläufern und den sozialen Begleitern fällt schon bei einem Blick auf die Internetseiten auf. Während Letztere ganz klar Stellung gegen das Hartz IV-Regime nehmen, bleiben die Mitläufer hier äußerst vage. Bis auf einige Klagen über Ungerechtigkeiten und fehlenden Datenschutz im Amt findet sich keine Position zu Hartz IV. „Uns geht es nicht um die politische Dimension der Sache, sondern um die direkte Hilfe und moralische Unterstützung für die Hilfesuchenden und um die Deeskalation der Situation im Gespräch“, so der Initiator der Mitläufer Till Riebeling.

Menschliches Sozialsystem mit Hartz IV?

Wie das menschliche Sozialsystem aussehen soll, das auf der Internetseite postuliert wird, bleibt unklar. Während Begleitaktionen eindeutig parteiisch auf Seiten der Erwerbslosen sind, lautet das Credo der Mitläufer: „Unsere Arbeit kommt beiden Seiten zugute. Sie hilft, die Gesamtsituation zu entspannen, was sowohl für den Sachbearbeiter als auch für den Hilfesuchenden zu einer besseren und damit konstruktiveren Atmosphäre und besseren Ergebnissen für alle Beteiligten führt.“ Damit wird das Machtgefälle zwischen den Jobcentermitarbeiter und den Erwerbslosen ausgeblendet.

Wenn eine Seite darüber entscheiden kann, ob dringend benötigte Gelder angewiesen werden oder nicht, ob Sanktionen verhäng werden oder eine Aufforderung zur Mietsenkung verschickt wird, dann wird der Ruf nach einem fairen Umgang schnell zum Hohn. Deswegen kritisieren auch viele aktive Erwerbslose die neue Initiative. „Ich möchte kein Mitläufer sein und würde es auch niemand raten“, erklärte ein Berliner Erwerbsloser, der seit Jahren selber Begleitungen anbietet und sich auch selber begleiten lässt. Dass die neue Initiative Zulauf bekommt, überrascht den Mann nicht. Schließlich fehlt in großen Teilen Deutschlands eine soziale Infrastruktur, die Menschen mit wenig Kontakten eine solidarische Begleitung ermöglicht. Dann werden auch Serviceinitiativen als Rettungsanker gesehen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153132
Peter Nowak

Soliaktionen für Südeuropa

Gewerkschaften und linke Gruppe wollen Streikende unterstützen
Anlässlich des geplanten Generalstreiks in Südeuropa in der kommenden Woche finden in Deutschland in zahlreichen Städten Solidaritätsveranstaltungen statt.

In mehreren südeuropäischen Ländern wird am 14. November zum Generalstreik gegen die Krisenpolitik aufgerufen. In Portugal, Italien und Griechenland, Zypern und Malta wird für den ersten europaweiten den ersten europaweiten Generalstreik schon seit Monaten unter dem Kürzel N14 mobilisiert. In Deutschland hingegen wurde noch vor wenige Wochen auf der Internetplattform Indymedia darüber geklagt, dass hierzulande der Aktionstag wohl mal wieder verschlafen werde. Doch mittlerweile hat sich das Bild geändert. In zahlreichen Städten, darunter in Berlin, Köln und Frankfurt/Main finden am 14. November Solidaritätsveranstaltungen mit den Streikenden in Südeuropa statt. Organisiert werden sie von Bündnissen und Gruppen, die sich schon bereits in den vergangenen Monaten an Krisenprotesten in Deutschland beteiligt haben. Dazu gehört unter Anderem das Blockuppy-Bündnis, das im Mai 2012 von der Polizei stark behinderte europaweite Aktionstage in Frankfurt/Main organisiert hat. Auch das M31-Bündnis, das den antikapitalistischen Aktionstag am 31.März zur Zentrale der Europäischen Zentralbank nach Frankfurt/Main eingeladen hatte, will sich wieder an den Protesten beteiligen. In den letzten Wochen gab es in linken Kreisen Kritik, dass nach dem als Erfolg eingeschätzten Aktionstag am 31.März von dem Bündnis wenig zu hören war. Dabei wurde vor den Aktionstag der Anspruch formuliert, dass er der Beginn europaweiter Proteste werden soll. Damit wird auch eine Problematik der Krisenproteste in Deutschland deutlich. Weil die Gruppen meistens wenig lokale Verankerung haben, gehen die Aktionen oft an die finanzielle und zeitliche Substanz der Aktivisten. Daher ist nach der Großdemonstration oft wenig Zeit für weitergehende Aktivitäten.
Kooperation mit den Gewerkschaften
Bei den Aktionen zum 14. November wird von vielen linken Gruppen die Kooperation mit dem DGB gesucht. So hat in Berlin das Griechenlandkomitee, das dort die Proteste vorbereitet, sogar die eigene Kundgebung vorverlegt, nachdem auch der DGB-Berlin zu den Protesten aufgerufen hat. „Der Berliner DGB hat gebeten, die Aktionen am 14.11. gemeinsam durchzuführen. Das Griechenlandsolidaritätskomitee und die unterstützenden mehr als 20 Organisationen entsprechen diesem Wunsch“, beschreibt Komiteemitglied Michael Prütz gegenüber nd die Kooperation. Um 15 Uhr veranstaltet der DGB auf dem Pariser Platz eine Solidaritätskundgebung mit den Generalstreiks in Südeuropa, auf der auch ein Vertreter des Griechenlandsolidaritätskomitees spricht. Dafür ruft der DGB ruft zur anschließenden
Teilnahme an der Demonstration des Bündnisses auf und hält dort einen Redebeitrag. Diese Art der Zusammenarbeit zwischen DGB und linken Gruppen ist auch in anderen Städten geplant. Allerdings gibt es von linken Gruppen auch Kritik an der Haltung der Gewerkschaften. Sie beziehen sich dabei auf eine Erklärung der IG-Metall mit dem Titel „Für ein krisenfreies Deutschland und ein solidarisches Europa“ vom 19. Oktober. Dort wird auf die Krisenproteste mit keinen Wort eingegangen, dafür aber der Wirtschaftsstandort Deutschland als „Lokomotive, die viel Rauch ausstößt und auf Touren ist, bezeichnet. Gefordert wird von IG-Metall-Vorsitzenden Berthold Huber, dass diese dampfende Lokomotive mit Lohnerhöhungen und Förderprogrammen weiter Dampfen soll. . Ganz andere Akzente setzt hingegen die anarchosyndikalistische Basisgewerkschaft FAU in ihrem Aufruf zum Aktionstag.
Gegen einen europaweiten Angriff auf die Arbeiterklasse hilft kein
nationales Kleinklein, heißt es dort. Ein (teil-)europäischer Generalstreik wäre ein historischer Meilenstein.“

https://www.neues-deutschland.de/artikel/803535.soliaktionen-fuer-suedeuropa.html
Peter Nowak

Von Wahlkampfgeschenken und Phrasendreschern

Der Wahlkampf hat in Deutschland begonnen. Das zeigten sowohl die Beschlüsse der Koalitionsrunde, die früh am Montagmorgen zu Ende gegangen sind, als auch die Reaktionen der anderen Parteien

Die wichtigsten Punkte, auf die sich die Koalitionäre geeinigt haben, sind die beiden Dauerthemen in der deutschen Innenpolitik: das Betreuungsgeld und die Praxisgebühr. Letztere wird bereits zum 1. Januar abgeschafft. Das Betreuungsgeld soll nun mit einer von der FDP durchgesetzten Bildungskomponente erst am 1. August nächsten Jahres in Kraft treten, falls nicht die die Justiz da noch ihr Veto einlegt.

Die SPD sieht in dem Betreuungsgeld eine Bevorzugung von Eltern, die ihre Kinder zu Hause erziehen und will eine Verfassungsbeschwerde einreichen. Sollte das auch in Teilen der Koalition ungeliebte Betreuungsgeld dann noch scheitern, können alle Parteien sagen, es lag nicht an ihnen, sondern eben an der dritten Gewalt. Auf diese Weise kann man sich auch eine tendenziell regierungssprengende Koalitionskrise ersparen. Denn eigentlich ist das FDP-Klientel genau so vehement gegen das Betreuungsgeld wie das konservative CSU-Milieu dafür. Dass es schon mehrmals als Ergebnis eines Kompromisses im Koalitionsausschuss beschlossen wurde, aber immer wieder neu diskutiert wird, macht die scharfen Differenzen deutlich, die ihre Gründe in den unterschiedlichen Interessen der jeweiligen Klientel haben.

Kurz vor den Wahlen will man die Streitereien einstellen und hat deshalb einen Beschluss gefasst, mit dem beide Seiten leben können. Damit hat man aber wieder mal die Politik an die Justiz delegiert. Sollte das Bundesverfassungsgericht nein sagen, wird auch die CSU einsehen müssen, dass Gesetze, die ihre konservative Basis befriedigen, nicht mehr in die Zeit bzw. in die Erfordernisse des neoliberalen Wirtschaftsmodells passen. Würde die FDP, die die Logik dieses Wirtschaftsmodells am reinsten vertritt, ihr Veto einlegen, wäre die Koalitionskrise da – und die will im gefühlten deutschen Vorwahlkampf keiner der Koalitionäre riskieren.

Kuhhandel oder Alltagsgeschäft?

Hier wird auch die Funktion dieser schon tagelang rauf und runter debattierten Koalitionsrunde deutlich, die die Medien außer Gebühr in Anspruch nahm und sogar das fast manische Interesse der deutschen Politikbeobachter am Präsidentenwahlkampf in den USA etwas dämpfte.

Eigentlich hätte man sich die Koalitionsrunde samt medialer Vor- und Nachbereitung sparen können. Schließlich waren die Ergebnisse nicht besonders überraschend. Die Differenzen innerhalb der Koalitionäre waren bekannt und auch die nun beschlossenen Kompromisse wurden schon tagelang in den politischen Nachrichten diskutiert. Noch am Sonntag wurden sie von Union und FDP aber pflichtschuldig dementiert. Schließlich muss man ja irgendwie rechtfertigen, warum man 7 Stunden lang verhandelt hat.

Einstieg in den Niedriglohnsektor 65 plus

Auch die Altersarmut, die Ursula von der Leyen mediengerecht lanciert hatte (Rösler und der Romneyeffekt), wurde verhandelt. Rentner, die 40 Jahre in die gesetzliche Rentenversicherung einbezahlt und zusätzlich noch privat vorgesorgt haben, sollen einen Zuschuss von 10 bis 15 Euro über den Sozialhilfesatz bekommen. Sowohl die hohen Hürden als auch der geringe Betrag machen deutlich, dass es keineswegs im Interesse der Politik ist, die Altersarmut generell zu bekämpfen.

Längst schon werden Modelle diskutiert, wie der Niedriglohnsektor auch auf das Rentenalter ausgeweitet werden kann. Basis dafür ist eine geringe Rente, die die Senioren erst dazu zwingt, auch im Alter noch für geringe Löhne zu arbeiten. So hat die Niedrigrente eine ähnliche Funktion für den Arbeitsmarkt wie die Einführung von Hartz IV. Auch biographisch wird es in vielen Fällen so sein, dass Menschen, die ihre Niedriglöhne mit ALG II aufstocken mussten, ihre dadurch bedingten Niedrigrenten auch weiterhin mit Jobs im Niedriglohnsektor aufstocken müssen. Mit dem nun gefundenen Begriff der „Lebensleistungsrente“ wird auch eine Spaltung in Teilen der Bevölkerung weiter vorangetrieben.

Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, nicht 40 Jahre in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt und keine Privatversicherung abgeschlossen haben, sollen nach dieser Definition keine Lebensleistung erbracht haben. So werden sozialchauvinistische Spaltungslinien in Gesetze gegossen und verstärken Ressentiments, wie sie von Boulevardmedien schon lange im Einklang mit großen Teilen der Bevölkerung vertreten werden. Dass Arbeitgeberpräsident Hundt, der das Betreuungsgeld und die Abschaffung der Praxisgebühr kritisiert, die gefundene Rentenformel lobt, ist nur folgerichtig. Auch sein Klientel sieht, dass sich hier Chancen auf einen Niedriglohnsektor 66+ auftun.

Phrasenmaschine läuft auf Hochtouren

Darüber schweigen auch die meisten Oppositionspolitiker, die die Ergebnisse der Koalitionsrunde pflichtschuldig kritisieren. Weil sie aber eigentlich nur sauer sind, dass sie selber nicht mit am Koalitionstisch gesessen haben, ergehen sie sich in Phrasen statt in inhaltlicher Kritik. Einen Meistertitel im Phrasendreschen konnte sich der Volker Beck von den Grünen sichern, der im Interview mit dem Deutschlandfunk, die arg strapazierte Formel vom Kuhhandel noch bereicherte, indem er ausführte, dass selbiger von Milchbuben ausgeführt worden sei. Ob das der genderkorrekte Ersatz für die vielgeschmähte Milchmädchenrechnung ist? Auch Beck ist ein scharfer Kritiker des Betreuungsgeldes, sieht aber mehr Chancen. es nach den nächsten Wahlen auch ohne Verfassungsbeschwerde abzuschaffen. Wetten, dass eine Koalitionsrunde aus Union und Grünen oder SPD, Grünen und FDP, die so eine Entscheidung fällen könnte, von den Parteien, die nicht mit am Koalitionstisch sitzen, ebenfalls als Kuhhandel bezeichnet werden wird?

So hat die Regierung von der Opposition wenig zu befürchten. Schließlich hat die größte Oppositionspartei ein großes Problem, nämlich ihren eigenen Kanzlerkandidat. Die Debatte um ein Salär von 25000 Euro für eine Rede vor den Bochumer Stadtwerken ist für ihn nicht ausgestanden, nachdem diese nun juristisch klein beigeben und bestätigt haben, der Agentur des SPD-Kandidaten nicht vermittelt zu haben, dass das Geld eigentlich gespendet werden sollte (Kommunikationsschwierigkeiten). Wie will er die Wähler im Ruhrgebiet, der Herzkammer der Sozialdemokratie bis zur Einführung von Hartz IV, erreichen, wenn er nicht selber auf die Idee kommt, dass die klamme Behörde dieses Geld selber gut gebrauchen könnte? Wenn er nun nach der Koalitionsrunde von Wahlkampfgeschenken spricht, die die Regierung ausgebe, denkt man sich sofort, ein Kanzler Steinbrück hätte wohl nichts zu verschenken.

http://www.heise.de/tp/artikel/37/37944/1.html
Peter Nowak

Wird eine Trendwende in der Klimapolitik vorbereitet?

Eine Studie der Stiftung für Wissenschaft und Politik empfiehlt die Aufgabe des Ziels, die Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen

In knapp drei Wochen werden Politiker aus aller Welt nach Doha reisen, um erneut an einer internationalen Klimakonferenz teilzunehmen. Schon längst ist auch in Sachen Klimakonferenz Routine eingekehrt. Während sich Klimaexperten, Politiker und Nichtregierungsorganisationen auf die Konferenz vorbereiten, ist von den außerparlamentarischen Gruppen, die sich vor 3 Jahren anlässlich des UN-Klimagipfels von Kopenhagen als Klimabewegung artikulierten, wenig geblieben.

Eine vor 5 Jahren von den Blättern für deutsche und internationale Politik gestellte Frage ist weiter aktuell: „Wo bleibt die Klimabewegung?“ An den Konferenzorten dürfte es nicht liegen. Schließlich hatte die Klimabewegung das Ziel formuliert, statt Gipfelhopping Basisarbeit zu machen. Es war der Klimabewegung eigentlich darum gegangen, lokale Initiativen aufzubauen und Druck auf die verantwortlichen Politiker und Institutionen hierzulande auszuüben. Die Schwäche der Klimabewegung zeigt sich schon daran, dass es noch keine größeren Reaktionen auf aktuelle Diskussionen gibt, welche die jahrelang verkündeten Klimaziele zu verwässern.

2-Grad-Ziel nicht mehr zu erreichen?

Dazu gehört das 2-Grad-Ziel. Damit ist gemeint, dass ein zentrales Ziel der internationalen Klimapolitik sein muss, die Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen. In den letzten Jahren haben EU-Gremien und zahlreiche Wissenschaftler die Dringlichkeit dieses Ziels damit begründet, dass eine stärkere Steigerung der Erwärmung unkontrollierbare Folgen haben könnte. Doch schon lange kritisieren Klimaexperten, dass die bisherigen Zusagen von Industrie- und Schwellenländern auf Klimakonferenzen allenfalls ausreichen würden, die Erderwärmung auf 3,5 Grad zu begrenzen.

In der „Zeit“ wurde über die Frage eine lebhafte Debatte geführt. Dort wurde das 2-Grad-Ziel als großer Selbstbetrug bezeichnet. Darauf wurde fast stoisch geantwortet, man könne dieses Ziel nicht aufgeben. Klimaforscher wollen auch mit komplexen Rechenmodellen beweisen, dass das 2-Grad-Ziel erreichbar ist.

Eine Studie der Stiftung für Wissenschaft und Politik fordert nun eine Modifizierung des 2-Grad-Ziels:

„Folgt man den Kernaussagen der Klimaforschung, müssten die Emissionen zwischen 2010 und 2020 bereits deutlich reduziert werden, um ein Scheitern des von der EU durchgesetzten 2-Grad-Ziels noch zu verhindern. Angesichts eines gegenläufigen globalen Emissionstrends ist dies völlig unrealistisch. Da ein als unerreichbar geltendes Ziel politisch aber weder eine positive Symbol- noch eine produktive Steuerungsfunktion erfüllen kann, wird das zentrale Ziel der internationalen Klimapolitik unweigerlich modifiziert werden müssen“, schreibt der Autor der Studie, der Klimaforscher Oliver Geden.

In einem Interview mit der Taz erklärt Geden, es sei wissenschaftlich nicht haltbar, dass es bei Überschreitung des 2-Grad-Ziels zu einer Klimakatastrophe komme und spricht sich dafür aus, überhaupt keine Grenze bei der Erderwärmung mehr zu benennen. „Nicht weil ich sagen würde, es ist egal, wie die Temperatur steigt, sondern weil man mit einer Obergrenze die Illusion erzeugt, die Weltgemeinschaft könnte und würde dieses Ziel auch tatsächlich umsetzen“, begründet Geden den Vorschlag.

Tatsächlich könnte ein solcher Vorstoß den Ernst der Lage klarmachen und vielleicht tatsächlich zur Entstehung einer Klimabewegung führen, die auch Druck auf die Verantwortlichen ausüben kann. Eine solche Möglichkeit scheint Geden in seinem Beitrag in der „Zeit“ anzudeuten. Die Aufgabe des 2-Grad-Ziels kann aber auch als ein Kniefall vor der Lobby jener Industriesektoren interpretiert werden, die auf ihre klimaschädlichen, aber gewinnbringenden Produkte nicht verzichten wollen und zur Entmutigung und weiterer Resignation führen.

Ist ein grüner Kapitalismus möglich?

So könnte die Studie einer Tendenz Vorschub leisten, die nicht mehr die Klimaveränderungen begrenzen, sondern die Menschen an die Klimaveränderungen anpassen will. Allerdings wäre eine solche Strategie mit gravierenden Folgen für viele Menschen vor allem im globalen Süden verbunden.

Eine Frage stellen aber weder Geden noch andere Kritiker des 2-Grad-Ziels. Könnte der Grund für das Nichterreichen dieses Ziel vielleicht auch in einem Wirtschaftssystem liegen, in dem letztlich auch die Umwelt eine Ware ist (Die äußere Schranke des Kapitals)? In der Klimabewegung wurde die Frage diskutiert, ob ein grüner Kapitalismus möglich ist. Diejenigen, die diese Frage verneinen, müssen sich durch die Studie von Geden bestätigt sehen.
http://www.heise.de/tp/blogs/2/153116
Peter Nowak

Nicht relevant für die »heute«-Nachrichten?

MEDIENkritik: Das ZDF und die Flüchtlinge am Brandenburger Tor

»Vor dem Brandenburger Tor protestieren etwa 20 Asylbewerber. Sie fordern eine andere Asylpolitik in Deutschland. Ist das ein Thema? Sollen wir darüber berichten?« Diese Frage twitterte der Redakteur des ZDF-Hauptstudios Dominik Rzepka vor einigen Tagen. Zuvor hatte es Kritik daran gegeben, dass der Hungerstreik der Flüchtlinge medial kaum ein Thema war, obwohl die Protestierer den Unbilden des Berliner Wetters schutzlos ausgeliefert waren, weil das zuständige Amt, Schlafsäcke, Zelte, Schirme und Isomatten verboten hat.

Doch Rzepka sieht darin keinen Grund für einen ZDF-Bericht. »Relevanz, Betroffenheit, Prominenz – das sind einige der Kriterien, nach der wir Ereignisse abzuklopfen haben. (…) Eine Demonstration von 20 Menschen erfüllt diese Kriterien eigentlich nicht«, twittert der Journalist eines öffentlich-rechtlichen Senders. Von dem hätte man eigentlich erwartet, dass ein Kriterium für die Relevanz einer Berichterstattung auch in der Frage liegt, ob hier gesellschaftliche Missstände angesprochen werden, die in einer größeren Öffentlichkeit thematisiert werden sollten. Im Fall der Hungerstreikenden wären da gleich zwei relevante Themen zu nennen: Die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und eine Versammlungsordnung, die an bestimmten Orten zu bestimmten Jahreszeiten Proteste massiv erschwert oder Aktivisten massiver Gesundheitsprobleme aussetzen könnte.

»Sind Journalisten dazu da, auf Missstände aufmerksam zu machen?«, fragt Rzepka dagegen rhetorisch. Flüchtlingsaktivisten sahen in dieser Haltung ein Armutszeugnis für das ZDF. Erst nachdem via Blogs und Twitter der Flüchtlingshungerstreik breit diskutiert wurde, wurde er auch für Rzepka als genug relevant für einen ZDF-Bericht erachtet. So machen sich die öffentlich-rechtlichen Medien überflüssig.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/803105.nicht-relevant-fuer-die-heute-nachrichten.html
Peter Nowak

Hat Deutschland ein Rassismusproblem?

Ein Jahr nach der NSU-Aufdeckung – viel Gerede wenig Änderung

Nicht nur die Taz erinnert dieser Tage an einen besonders makaberen Jahrestag: die Aufdeckung des neonazistischen Untergrunds NSU vor einem Jahr. Es waren nicht die Ermittlungsbehörden, die den Rechtsterroristen auf die Spur gekommen sind. Es war vielmehr der Selbstmord von zwei der rechten Protagonisten, der aufdeckte, dass jahrelang Neonazis in Deutschland morden konnten und die Opfer zu Tätern gestempelt wurden. Wie so etwas möglich sein konnte, war in den vergangenen 12 Monaten Gegenstand zahlreicher außerparlamentarischer Initiativen, aber auch parlamentarischer Ausschüsse.

Ein Jahr nach der Aufdeckung hat sich wenig geändert. Das zeigt die Reaktion der Gewerkschaft der Polizei, die sich zum Jahrestag nicht etwa noch mal offiziell bei den Opfern dafür entschuldigt, dass durch Fehler in der Polizeiarbeit die Morde nicht aufgeklärt wurden und man statt dessen das Umfeld der Toten ausspioniert hatte.

Mehr Geld Polizei eine Lösung?

Stattdessen wird in einer Pressemeldung von einer „ungeheuerlichen Unterstellung“ gesprochen, weil der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Edathy und der Vorsitzende der Türkischen Gemeinden in Deutschland Kenan Kolat deutlich machten, dass es ein Rassismus-Problem in Deutschland gibt. Den Funktionären der Polizeigewerkschaft fällt dazu nur ein, dass die Politik auch in ihren Kerngebieten Einsparungen vorgenommen hat. Hätte also ein größerer Etat für Polizei und Geheimdienste die NSU-Morde verhindert oder zumindest früher aufgedeckt?

Mit einen solchen Argument wird nicht nur von der Polizei und den in die Kritik geratenen Geheimdiensten, sondern auch von Unionspolitikern als Konsequenz aus der NSU-Affäre eine Stärkung von Sicherheitsdiensten und Staat propagiert. Noch mehr Geld für die Sicherheitsorgane, noch mehr Gesetze, noch mehr Überwachung wird hier als Konsequenz aus den NSU-Versagen angeboten. Dabei haben die Ermittlungen der letzten Monate eins deutlich gezeigt. Die unterschiedlichen Dienste waren sehr nah dran an den Protagonisten der NSU. Warum sie trotzdem nicht aufgedeckt werden konnten, kann sehr wohl mit einem strukturellen Rassismus bei den Sicherheitsdiensten erklärt werden, der einen neonazistischen Untergrund für undenkbar hielt, dafür Ausschau nach „kriminellen“ Migranten hielt.

Darauf macht auch ein bundesweites Bündnis gegen Rassismus aufmerksam, das in den nächsten Tagen in zahlreichen Städten mit Gedenkveranstaltungen an die Opfer der NSU-Morde erinnert. In Berlin beginnt die geplante Demonstration bei dem Flüchtlingscamp am Oranienplatz in Kreuzberg. Dort haben sich nach einen bundesweiten Marsch Flüchtlingen eingerichtet, um gegen die verschiedenen Sondergesetze gegen Flüchtlinge in Deutschland zu protestieren. Eine Gruppe von 20 Flüchtlingen trug ihre Forderungen vor das Brandenburger Tor in die Mitte Berlins und wurde durch Ordnungsrecht und Polizei fast schutzlos der winterlichen Kälte ausgeliefert. Auch hier stellt sich die Frage des Rassismus, wie auch bei der kürzlich durch eine Konferenz und ein Gerichtsurteil in die Diskussion gekommenen Racial Profiling eine Rolle spielt.


Welche Lesart setzt sich durch?

Dabei wird in allen Fällen Rassismus als strukturelles Problem von Behörden und Instanzen verstanden. Die Gewerkschaft der Polizei hingegen macht daraus ein persönliches Problem und verwahrt sich dagegen, dass Polizisten in die Rassismusecke gesteckt werden. Damit aber würde die NSU-Affäre als Mittel benutzt, um die Sicherheitsapparate zu Opfern der Debatte zu machen. Es wird vor allen davon abhängen, ob außerparlamentarische und zivilgesellschaftliche Initiativen in der Lage sind, diesem Trend auch medial zu widersprechen und dabei auch gehört zu werden.

Der Jahrestag der NSU-Aufdeckung ist in dieser Hinsicht vielleicht ein wichtiges Datum, um in der Öffentlichkeit eine eigene Lesart zu präsentieren. Es gibt mittlerweile auch verschiedene Autoren, die die NSU-Affäre zum Anlass für historische Forschungen zu rechten Untergrundtätigkeiten nahmen. Solche Arbeiten sind wichtig, um den Kontext zu ermessen und die NSU-Affäre nicht einfach nur als Kette von Fehlern, Pleiten und Pannen erklären, aus denen die Sicherheitsdienste wie Phönix aus der Asche auferstehen können. Allerdings muss man bei den historischen Recherchen aufpassen, nicht selber in den Bereich von Spekulationen und Verschwörungstheorien abzugleiten. Auch deshalb ist es wichtig, vollständige Aktentransparenz von den Behörden einzufordern.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/153112
Peter Nowak

Campen ohne Zelte

Die vor dem Brandenburger Tor hungerstreikenden Flüchtlinge haben zwei harte Gegner: das Wetter und die Polizei.

Die dicke Jacke und die Mütze können Omeaiqbel nicht wirklich wärmen. Der junge Afghane gehört zu der Gruppe von 20 Flüchtlingen, die am Mittwoch vergangener Woche in den Hungerstreik getreten sind und bei winterlichen Temperaturen Tag und Nacht vor dem Brandenburger Tor in Berlin campieren. Mit diesem drastischen Mittel kämpfen sie für die Abschaffung aller Lager und Sammelunterkünfte sowie der Residenzpflicht, die es Flüchtlingen verbietet, den ihnen von den Ausländerbehörden zugewiesenen Landkreis zu verlassen.

In einem Akt des zivilen Ungehorsams haben sich die Flüchtlinge über die Residenzpflicht hinweggesetzt. Sie sind von Würzburg und weiteren Städten aus zu Fuß nach Berlin gelaufen. Schon beim Marsch quer durch die Republik waren iranische Oppositionelle die treibende Kraft (Jungle World 41/2012). Sie haben im Iran gegen das islamistische Regime gekämpft, wurden verfolgt, mussten das Land verlassen und haben sich in Deutschland ein sicheres Leben erhofft.

Auch bei der Entscheidung, in den Hungerstreik zu treten, spielten die iranischen Oppositionellen eine wichtige Rolle, weitere Flüchtlinge aus afrikanischen und asiatischen Ländern haben sich ihnen angeschlossen. Um die Dringlichkeit ihrer Anliegen zu unterstreichen, verließen sie das Flüchtlingscamp am Oranienplatz in Kreuzberg, in dem sie nach dem Marsch quer durch Deutschland untergekommen waren, und begaben sich in die Nähe des Brandenburger Tors. Sie wollen so verhindern, dass der Protest von der Politik einfach ignoriert wird in der Hoffnung, die winterliche Witterung werde das öffentliche Campen bald unmöglich machen.

Doch nicht nur die Temperaturen machen den Hungerstreikenden am Brandenburger Tor zu schaffen, auch die Polizei soll offenbar den weiteren Aufenthalt auf dem exponierten Platz unterbinden, den viele Touristen aufsuchen. Beamte verhindern nicht nur den Aufbau von Zelten, sondern auch die Verwendung von Isomatten und Schlafsäcken. In den Abendstunden leuchten Polizisten mit Taschenlampen die eng aneinander kauernden Hungerstreikenden an, um sich zu vergewissern, dass nicht doch einer der nicht gestatteten Gegenstände eingeschmuggelt wurde. Und nachts und in den frühen Morgenstunden hindern sie die Protestierenden regelmäßig daran, sich zum Schlafen niederzulassen. Als sich einige Flüchtlinge gegen das Vorgehen wehrten, kam es zu am Donnerstag und Freitag voriger Woche zu Festnahmen. Die aufgespannten Regenschirme mit den Aufschriften »Ich bin ein Zelt« und den Forderungen der Hungerstreikenden informieren über deren ­Ziele, liefern aber keinen Schutz vor den Temperaturen.

Die Polizei begründet ihr rigoroses Vorgehen mit dem Versammlungsrecht. Es handele sich um eine Kundgebung, bei der Schlafsäcke und Isomatten verboten seien. Kurz nach Beginn des Protests seien zudem die öffentlichen Toiletten in der nahegelegenen Akademie der Künste aus technischen Gründen geschlossen worden, berichtet ein Unterstützer der Flüchtlinge der Jungle World. Nach Auskunft eines Mitarbeiters des Hauses, in dessen Räumen gelegentlich auch antirassistische Veranstaltungen stattfinden, sind die sanitären Einrichtungen wieder in Betrieb und stehen auch den Flüchtlingen zur Verfügung.

Wegen der widrigen Verhältnisse gelangen manche Hungerstreikende bereits an ihre körperlichen Grenzen. Der weitere Verlauf des Protests dürfte vor allem davon abhängen, ob es Widerstand dagegen gibt, dass die Flüchtlinge fast schutzlos dem Wetter ausgesetzt sind. Die politisch Verantwortlichen zögern nicht, Härte zu zeigen, das wurde schon am ersten Tag des Hungerstreiks deutlich. Die Flüchtlinge wurden von der Polizei daran gehindert, an der Eröffnung des Mahnmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti in der Nähe des Brandenburger Tor teilzunehmen. Dafür hielt dort die politische Prominenz pathetische Reden, während Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) zur gleichen Zeit eine populistische Kampagne gegen Roma aus Südosteuropa betrieb.
http://jungle-world.com/artikel/2012/44/46509.html
Peter Nowak

Privileg des Bürgertums

Rolltreppe nach unten. Mit dieser Metapher wurde in vielen Medien das Ergebnis einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Durchlässigkeit der 16 Schulsysteme zusammengefasst. Die Ergebnisse der am Dienstag dieser Woche vorgestellten Studie sind nicht wirklich überraschend. In Deutschland gibt es zwischen den einzelnen Schulformen weit mehr Ab- als Aufsteiger. Etwa 50 000 Schüler der Klassen fünf bis zehn sind im Schuljahr 2010/11 auf ein niedrigeres Niveau wie Real- oder Hauptschule herabgestuft worden. Nur rund 23 000 schafften es nach oben. Welch wichtige Rolle die soziale Herkunft der Kinder dabei spielt, machte bereits eine Studie der Bertelsmann-Stiftung vom März dieses Jahres deutlich. Danach haben Kinder einkommensschwacher Eltern deutlich geringere Chancen, nach der Grundschule ein Gymnasium zu besuchen als Kinder von Akademikern – bei gleicher Intelligenz.

Um diese soziale Spaltung im Bildungsbereich zu minimieren, haben progressive Bildungspolitiker aber auch die GEW in den 1970er Jahren die Gesamtschule als Alternative zum gegliederten Bildungssystem in die Diskussion gebracht. Solche Reformansätze wurden von einem Bürgertum bekämpft, das ihr Bildungsprivileg bis heute verteidigt, wie das Referendum über die Primärschule in Hamburg 2010 deutlich zeigte. Wenn die Bertelsmann-Stiftung nun die individuelle Förderung als Mittel für bessere Bildungschancen in die Diskussion bringt, bleibt sie ihrer wirtschaftsliberalen Agenda treu und stärkt das Bildungsprivileg des Bürgertums. Denn das kann sich Nachhilfeunterricht und individuelle Betreuung für ihre Kinder leisten. Entsprechende Angebote tauchen gleich neben den Onlineartikeln über die Ergebnisse der neuen Studie auf.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/802975.privileg-des-buergertums.html

Peter Nowak

Großes Bündnis gegen Erdogan mit geringer Beteiligung

Der türkische Regierungschef verlangte für die Türken in Deutschland erneut die zweite Staatsbürgerschaft, zum EU-Beitritt der Türkei gibt sich die Kanzlerin weiterhin reserviert

Besuche des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan sorgen immer für ein großes Medienecho. Schon 2008 hatte seine Kölner Rede sehr unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Damals rief der türkische Ministerpräsident zur Integration der in Deutschland lebenden Menschen mit türkischem Hintergrund auf. Mit dem Schlagwort „Assimilation ist ein Verbrechen“ forderte er gleichzeitig, dass sie weiterhin türkische Staatsbürger bleiben sollten. Dieser Anspruch sorgte bei deutschen Politikern aber auch bei Menschen türkischer Herkunft, für viel Kritik.

Im Grunde hat Erdogan bei seinen aktuellen Deutschlandbesuch seine Lesart von 2008 wiederholt. Bei der Einweihung des weltweit größten türkischen Kulturzentrums in Berlin hat Erdogan die in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Hintergrund erneut dazu aufgerufen, hier Karriere zu machen und die Sprache zu lernen und trotzdem ihre Loyalität zur Türkei nicht aufzugeben. Die Rede machte aber jetzt deutlich weniger Schlagzeilen als vor vier Jahren.

Aleviten, Säkulare und Kurden demonstrieren gemeinsam

Dafür rückten andere Themen in den Fokus der Erdogan-Kritiker. Ca. 3000 Menschen haben sich am 31. Oktober in Berlin-Mitte an einer Protestdemonstration gegen Erdogan beteiligt. Sie sind mit Bussen aus der ganzen Republik nach Berlin gekommen. Lange Zeit war allerdings mit einer viel größeren Beteiligung an den Protesten gerechnet worden. Doch die Erdogan-Gegner in der Diaspora sind genau so zerstritten wie in der Türkei. Daraus resultierte bisher der Stärke der islamischen Konservativen von der AKP.

So werfen ihm viele Kemalisten noch immer vor, dass er die säkulare Elite vor allem in den Militärs entmachtet und in der Türkei eine islamische Agenda durchgesetzt hat, was deutlich wurde, als kürzlich beim Tag der Republik erstmals Frauen mit Kopftüchern auftauchten. Doch gemeinsam mit kurdischen Aktivisten wollten sie trotzdem nicht gegen Erdogan demonstrieren. Es gab sogar aus nationalistisch-kemalistischen Kreisen Aufrufe, sich nicht an den Protesten in Berlin zu beteiligten. Daher blieben die alevitischen und die kurdischen Aktivisten bei den Protesten gegen Erdogan weitgehend unter sich. Bei letzteren stand der Hungerstreik von ca. 700 politischen Gefangenen in türkischen Gefängnissen im Mittelpunkt. Viele von ihnen befinden sich nach mehr als 7 Wochen ohne Nahrung in einem kritischen Zustand.

Auch einige Anti-Kriegs-Aktivisten haben protestiert, die Erdogan vorwerfen, mit seiner Anti-Assad-Politik einen Konflikt zwischen Nato und Syrien zu provozieren. Hinzu kam der Verweis auf die weiterhin schlechte Menschenrechtssituation in der Türkei, auf die auch die Bundestagsabgeordnete der Linke Sevrim Dagdelen in einer Presseerklärung aufmerksam machte. Tatsächlich hat sich bei manchen Antiimperialisten in den letzten Jahren das Bild von Erdogan verändert. Sahen sie ihn vor einigen Jahren wegen seiner harschen Töne gegen Israel noch als teilweise positiv, so ist er wegen seiner Frontstellung gegen das syrische Regime nun fast schon zum Kriegstreiber geworden.

EU-Beitritt bis 2023?

Die türkische Syrienpolitik spielte auch bei den Gesprächen von Erdogan mit Merkel eine wichtige Rolle. Auch über das Schicksal der syrischen Flüchtlinge in der Türkei wurde geredet. Dabei versuchten deutsche Politiker die Diskussion, ob nicht Flüchtlinge auch vorübergehend in Deutschland Asyl erhalten könnten, gar nicht aufkommen zu lassen. Anderseits ist klar, dass es in der Türkei Kräfte gibt, die hinter der syrischen Grenze eine Flugverbotszone etablieren möchten, und dort auch die Flüchtlinge unterbringen wollen. Allerdings sind solche Pläne ohne die Unterstützung der anderen Nato-Länder nicht zu bewerkstelligen.

Auch ein Ladenhüter der deutschen Politik kam bei den deutsch-türkischen Gesprächen wieder auf die Agenda. Bekanntlich lehnen die Unionsparteien eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ab und favorisieren eine privilegierte Partnerschaft. Erdogan hat nun erklärt, wenn es bis 2023 keine definitive Zusage für eine EU-Mitgliedschaft gäbe, könnte die EU die Türkei verlieren. Schon heute orientiert sich die Türkei mehr auf den arabischen Raum als auf die EU. Zudem ist die Entmachtung der kemalistischen Elite, für die Erdogan die Rückendeckung der EU brauchte, weitgehend abgeschlossen. Entsprechend hat auch dort das Interesse an einer schnellen EU-Mitgliedschaft nachgelassen. Daher brachte Erdogan auch wieder einen zentralen Streitpunkt aufs Trapez, die EU-Mitgliedschaft von Zypern. Nun wird sich zeigen, ob in den nächsten 10 Jahren eine mögliche Bundesregierung unter SPD-Beteiligung wieder mehr Fahrt in den stagnierenden Prozess bringen wird. Der SPD-Politiker Johannes Kahrs forderte im Deutschlandfunk die Wiederaufnahme des Beitrittsprozesses. Doch da das Thema auch bei den Wählern nicht besonders beliebt ist, wird auch die SPD das Thema nicht besonders pushen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153098

Peter Nowak