Mutige Sieben

Seit Jahr und Tag  kämpft die  stadtpolitische Gruppe „Dragopolis“ gegen  den Bau  teurer Eigentumswohnungen auf  dem Dragonergelände in Berlin-Kreuzberg.  Jüngst aber widmete sie sich  einem geschichtspolitischem Thema. Gemeinsam mit der “Initiative Gedenkort Januaraufstand“  erinnerten sie an einen ungesühnten  Mord  vor 97 Jahren. Am 11. Januar 1919 sind  sieben unbewaffnete Besetzer der SPD-Zeitung Vorwärts feige ermordert worden . Sie waren von den Verteidigern des Domizils der SPD-Zeitung „Vorwärts“ auf jenem Areal während der Januarkämpfe ausgesandt,  um die Kapitulation mit den Regierungssoldaten auszuhandeln.   Die Opfer waren der Journalist Wolfgang Fernbach, der  Mechaniker Karl Grubusch, der  Schmied Walter Heise, der  Kutscher Erich Kluge, der Klempner Werner  Möller, der  Werkzeugmacher Arthur   Schöttler und  der  Schlosser Paul Wackermann.  Auf der Gedenkveranstaltung wurde aus zeitgenössischen Dokumenten zitiert, darunter den aus  Erinnerungen  der persönlichen Vertrauten und  Nachlassverwalterin   Rosa Luxemburgs, Mathilde Jakob, wie auch aus der dreibändigen „Geschichte  der Novemberrevolution“, die der Vorsitzende  der betrieblichen Räteorganisation „Revolutionäre Obleute“ Richard Müller   Mitte der 20er Jahre  veröffentlichte (  2011 im Verlag „Die Buchmacherei“ wieder aufgelegt).  Müller  beschrieb detailliert, wie  die sieben Parlamentäre gezwungen wurden, sich vor ihrer er Ermordung  zu entkleiden; die Soldaten nahmen ihnen zudem alle  Wertsachen ab.   Als anschließend  die Verteidiger des „Vorwärts“ mit erhobenen Händen aus dem Gebäude kamen,  wurden sie „unter scheußlichen Misshandlungen“ in die  Dragonerkaserne getrieben und dort zunächst in einem Stall interniert…..

Auf  enigen zeitgenössischen Fotos,   die  auf der  Gedenkveranstaltung präsentiert wurden, waren bereits auf Fahrzeugen der Freikorps gemalte Hakenkreuze zu sehen.  Der Journaliist und Historikers Sebastian Haffner l sah in der brutalen Gewalt gegen die  Arbeiter, die im Januar 1919 ihre Revolution – auch wieder die  SPD-Führung – retten und fortführen wollten,   den Auftakt  ür die vielen Morde n in den folgenden Jahren sowie ein Menetel für den Staatsterror in der NS-Zeit.  Dies läßt sich gut am Schicksal on Mathilde Jakob  ablesen. Mehrfach bereits in der Weimarer Republik verhaftet, wurde sie von den Nazis als Jüdin nach Theresienstadt deportiert, wo sie mit 70 Jahren starb.    Mittlerweile trägt ihren Namen ein Platz in Moabit, wo sie  lange wohnte-  An die  ermordeten  Vorwärts-Parlamentäre erinnert bis nur  eine Tafel  am  Eingang des  auf dem Dragonergelände befindlichen Finanzamt Friedrichshain-Kreuzberg.  Das soll sich ändern. „Dragopolis“ will sich dafür einsetzen, dass bis  zum 100ten  Jahrestag des feigen Mordes vom 11. Januar Wege auf dem weiträumigen Dragoner-Gelände nach den Opfern benannt werden.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/999043.mutige-sieben.html

Peter Nowak

Sexismus nur, wenn Ausländer dabei sind?

Einiges spricht dafür, dass es mit der Sensibilisierung gegen Sexismus nicht so weit her ist

Nach den sexistischen Angriffen in der Kölner Silvesternacht scheint endlich der Damm gebrochen. Was Feministinnen schon länger gefordert haben, wird Realität: Sexistische Angriffe werden nicht mehr als Bagatelle wahrgenommen oder die Opfer gar zu den Schuldigen erklärt. Doch stimmt diese Wahrnehmung?

Dagegen sprechen viele Details, die aber eben kaum wahrgenommen wurden. So wurde dem Asta der Frankfurter Goethe-Universität vom OLG-Frankfurt per Einstweilige Verfügung untersagt [1], weiter über eine besondere Form sexualisierter Gewalt am Campus zu berichten. Es geht um die sogenannten Pick-Up-Artists, über die es in der FAZ heißt [2]:

„Sie nennen sich ‚Pick-Up Artists‘ und machen Jagd auf Frauen. Um diese ins Bett zu kriegen, setzen die Männer auf emotionale Manipulation. Um Gefühle geht es selten.“

Sexismus kein hochschulpolitisches Thema?

Die Zeitung der Frankfurter Studierendenschaft hatte diese sexualisierten Attacken auf dem Campus zum Thema gemacht und Frauen zu Wort kommen lassen, die angegriffen wurden. Weil dabei auch der Name eines der Protagonisten des Pick-Up-Gewerbes genannt wurde, sah das OLG Frankfurt [3] dessen Persönlichkeitsrecht verletzt und untersagte dem Asta die weitere Berichterstattung. In dem Urteil wird zudem erklärt, dass der Asta gar nicht berechtigt ist, solche Praktiken zu kritisieren. In der Urteilsbegründung heißt es:

„Bei der Pick-Up-Artists-Szene handelt es sich erkennbar um ein Phänomen von allgemeiner sozialer Bedeutung, das die Öffentlichkeit, insbesondere Frauen jüngeren Alters gleichermaßen angeht und Fragen der Hochschulpolitik oder sonstige studentische Angelegenheiten nicht in besonderer hochschulspezifischer Weise betrifft. Allein der Umstand, dass einerseits auch Studenten an der Universität Frankfurt am Main […] der Pick-Up-Szene angehören und andererseits Studentinnen zu deren Zielgruppe gehören, vermögen den von § 96 Abs. 2 HHG geforderten Hochschulbezug nicht zu begründen.“

Nicht nur beim Asta sorgte diese Entscheidung für viel Kritik. Warum soll das Persönlichkeitsrecht eines Mannes, der mit als sexistischen empfundenen Methoden zum Geschäftsmodell macht, nicht auch Gegenstand von Diskussionen und Kritik sein? Der Asta lässt es trotz der hohen finanziellen Strafandrohungen auf eine Klage ankommen und weigert sich, den Auflagen der Einstweiligen Verfügung Folge zu leisten.

Nun ist die OLG-Entscheidung nicht das einzige Indiz dafür, dass es mit der Sensibilisierung gegen Sexismus nicht so weit her ist, wenn die Täter nicht als Migranten dingfest gemacht werden können.

Geldstrafe wegen Anzeige sexistischer Gewalt

So soll die ehemalige Teilnehmerin der Casting-Show „Germanys next Topmodel“, Gina-Lisa Lohfink, eine hohe Geldstrafe zahlen, weil sie zwei Männer der Vergewaltigung bezichtigt und angezeigt [4] hatte. Laut Gericht zu Unrecht. Laut Lohfink sei der in einem Video gezeigt Sexakt aber nicht einvernehmlich gewesen. Man habe ihr K.o.-Tropfen verabreicht. Die Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt [5] wehrt sich gegen die Opfer-Täter-Umkehr. Dort heißt [6] es dort zum Fall:

„Das Vergewaltigungsrecht, ungestraft vergewaltigen zu dürfen (nur 8,4% aller Anzeigen wegen Vergewaltigung führen zu einer Verurteilung), wird inzwischen von der Justiz noch eine Stufe weiter getrieben: Betroffene, die anzeigen, müssen nun sogar mit einer Strafe rechnen. So soll Gina-Lisa Lohfink eine Strafzahlung von 24.000 € an die Männer zahlen, die gegen ihren Willen ein Video von ihr aufnahmen und veröffentlichten, auf dem deutlich ihr „Hör auf“ während der Tat zu vernehmen ist.“

Die IfGsG erinnert daran, dass der Fall Kachelmann der Türöffner für eine Berichterstattung war, der Frauen, die sexuelle Gewalt anklagen, unter Verdacht stellt. Tatsächlich wird Kachelmann heute auch in Talk-Shows nur noch als Opfer einer lügnerischen Frau gesehen. Das er aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde, bleibt unerwähnt. Allerdings wurde die Frau, die Kachelmann beschuldigte, nicht strafrechtlich belangt.

Im Fall Lohfink nun wurde eine Frau, die sexuelle Gewalt anklagt auch noch zu einer Geldstrafe verurteilt. Dabei wird unterschlagen, dass auch Praktiken, die nicht justitiabel sind, für die betroffene Frau als klarer Übergriff und Gewalt erfahren werden kann. Wenn das nun bestraft wird, ist es ein besonderer Angriff auf das Recht der Frau, selber zu entscheiden, wo ihre Grenzen sind.

Ein Gericht muss sich diese Grenzen nicht zu eigen machen. Wenn das aber das Benennen und versuchte Einklagen der Einhaltung dieser Grenzen zu einer Verurteilung führt, ist das eindeutig ein Rollback zu Lasten der Frauen.

Bei Lohfink kommt wahrscheinlich noch das Ressentiment gegen ein Model hinzu, dem nicht das Recht zugestanden wird, zu entscheiden, wann sie nein sagen will und wann nicht. „Das Problem heißt Gewalt gegen Frauen. Sexuelle Übergriffe sind zu verurteilen – egal, wo sie stattfinden und wer sie verübt“, heißt es in einer Stellungnahme des Bündnisses Frauen gegen Gewalt [7] in einer Stellungnahme zu den Angriffen in der Kölner Silvesternacht.

Sind die vielen Anzeigen nach Köln Zeichen für größere Sensibilisierung?

Das Bündnis begrüßt [8], dass viele Frauen Anzeigen erstattet haben. Schließlich gab es erst vor 4 Jahren eine Befragung [9] von Frauen, die sexistische Gewalt nicht angezeigt haben. In diesem Zusammenhang ist es tatsächlich ein Fortschritt, dass Frauen selbst vermeintlich leichtere Übergriffe („Klaps auf den Po“) zur Anzeige bringen. Doch wären die Anzeigen auch erfolgt und auch angenommen wurden, wenn die vermeintlichen Täter Biodeutsche gewesen wären? Wie hätten dann die Medien reagiert? Hätten die anzeigenden Frauen die Justiz auch eingeschaltet, wenn es nicht um „deutsche Männer“ gehandelt hätte?

Diese Fragen sind wichtig, um einzuschätzen, ob die vielen Anzeigen nach Köln tatsächlich als Indiz für eine stärkere Sensibilisierung von sexueller Gewalt zu bewerten sind. Oder handelt es sich eher um eine Kampagne zum Schutz der deutschen Frau vor Ausländern, die gerade im Rheinland eine lange Tradition hat.

Bereits im 1. Weltkrieg und bei der kurzzeitigen Besetzung von Teilen des Ruhrgebiets von französischen Truppen zur Durchsetzung der Bestimmungen des Versailler Abkommens in der Frühphase der Weimarer Republik machte in rechten Kreisen das Wort von der Schwarzen Schmach [10] die Runde. Die in der französischen Armee eingesetzten afrikanischen Soldaten wurden als besondere Gefahr für die deutschen Frauen [11] angesehen.

In dieser Tradition stehen die nach der Kölner Silvesternacht verstärkten Versuche rechter Kreise, Schutzbünde für deutsche Frauen aufzubauen. In der letzten Woche wurde in Köln die Gruppe Frieda [12] „Frauen gegen die Islamisierung und Entrechtung des Abendlandes“ gegründet. Als Ansprechperson der sich überparteilich gebenden Initiative fungiert die Ratsfrau der rechtspopulistischen Bewegung pro Köln Judith Wolter [13].

Nach der Gründung ließen sich sechs Frieda-Initiatorinnen mit einem Transparent fotografieren, auf dem die Parole steht, die in rechten Kreisen nach der Kölner Silvesternacht zum Renner geworden ist: „Rapefugees – not Welcome“. Gegen diesen Spruch, der Geflüchtete pauschal zu Vergewaltigern erklärt, gibt es mittlerweile zahlreiche juristische Klagen. Die vor einer Gruppe von wütenden Frauen flüchtende Person auf dem Transparent ist übrigens auch als Frau gezeichnet, Auch der Gründungsort ist für Frieda Programm: „Unser Fotoshooting fand übrigens vor der Kölner St. Ursula Kirche statt, in der laut der Ursula-Legende die Gebeine der von Hunnen ermordeten christlichen Märtyrinnen begraben liegen.“

http://www.heise.de/tp/news/Sexismus-nur-wenn-Auslaender-dabei-sind-3082615.html

Peter Nowak

Links:

[1]

http://asta-frankfurt.de/aktuelles/olg-zensiert-studentische-berichterstattung-stellt-demokratische-selbstverwaltung-frage

[2]

http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/pick-up-artists-du-bist-ja-ein-ganz-kleines-maedchen-11908961.html

[3]

https://olg-frankfurt-justiz.hessen.de

[4]

http://www.stern.de/lifestyle/leute/gina-lisa-lohfink–geldstrafe-wegenfalschverdaechtigung—sie-soll-vergewaltigung-erfunden-haben-6628320.html

[5]

http://ifgbsg.org/

[6]

http://ifgbsg.org/gegen-taeter-opfer-umkehr-fuer-solidaritaet-mit-allen-betroffenen-von-sexueller-gewalt/

[7]

https://www.frauen-gegen-gewalt.de/

[8]

https://www.frauen-gegen-gewalt.de/nachricht/stellungnahme-zu-den-uebergriffen-in-der-silvesternacht-309.html

[9]

https://ichhabnichtangezeigt.wordpress.com/auswertung/

[10]

https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Schwarze_Schmach

[11]

https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Schwarze_Schmach

[12]

https://www.facebook.com/frieda2016/

Unter dem antisexistischen Deckmantel

Rechte Frauengruppe will Ängste nach den Silvesterübergriffen für sich nutzen

Auf den ersten Blick wirkt »Frieda« wie eine Hilfegruppe für Frauen. Doch hinter dem Projekt stehen rassistische Aktivisten, die mit ihrem Angebot verunsicherte Frauen in ihre Falle locken wollen.

»Wir sind Frauen jeden Alters, unterschiedlicher politischer Herkunft und Nationalität.« So lautet der erste Satz im Selbstverständnis der Frauengruppe »Frieda«, die sich vergangene Woche in Köln gegründet hat. Geplant sind Seminare zum Notwehr- und Nothilferecht, Selbstverteidigungskurse für Frauen sowie politische Vorträge und Schulungen. Dabei dürfte es jedoch kaum um feministische Theorie gehen. Die Gründung ist nämlich ein Versuch der extrem rechten Szene, nach den sexistischen Angriffen in der Kölner Silvesternacht die berechtigten Ängste von Frauen auszunutzen.

Der Name der Gruppe macht die politische Stoßrichtung deutlich. »Frieda« ist die Abkürzung für »Frauen gegen die Islamisierung und Entrechtung des Abendlandes«. Im Gründungsmanifest wird klar benannt, gegen wen sich ihre Aktivitäten richten: »Wir sind es leid, dass Frauen in Deutschland zunehmend zu Freiwild werden für eingewanderte Männer, die unsere abendländischen Traditionen und über Jahrhunderte erkämpften Freiheitsrechte mit Füßen treten.« Nach der Gründung ließen sich sechs »Frieda«-Initiatorinnen mit einem Transparent fotografieren, auf dem eine Parole steht, die in rechten Kreisen nach der Kölner Silvesternacht zum Renner geworden ist: »Rapefugees – not Welcome«. Gegen diesen Spruch, der Geflüchtete pauschal zu Vergewaltigern erklärt, liegen juristische Klagen vor.

Auch der Gründungsort ist für »Frieda« Programm. »Unser Fotoshooting fand vor der Kölner St. Ursula Kirche statt, in der laut der Ursula-Legende die Gebeine der von Hunnen ermordeten christlichen Märtyrinnen begraben liegen. Die elf Tropfen im Kölner Stadtwappen stehen auch für die Tränen dieser Kölner Jungfrauen«, heißt es auf der Homepage von »Frieda«. Als Kontaktadresse der rechten Frauengruppe fungiert Judith Wolter. Sie ist eine Mandatsträgerin der rechtspopulistischen Bewegung Pro Köln. Deren »Anti-Islamisierungskongresse« hatten zu massiven antifaschistischen Protesten geführt.

Wenn man die Einträge auf der »Frieda«-Facebookseite liest, wird einem suggeriert, Gewalt gegen Frauen würde es hierzulande ohne Geflüchtete nicht geben. Dort werden Meldungen über angebliche oder tatsächliche Probleme mit arabischen Männern in Schwimmbädern verbreitet. Dass das Festkomitee des Kölner Karnevals in arabisch-sprachigen Broschüren Geflüchtete zum Mitfeiern einlädt, wird mit dem Satz kommentiert: »Da werden sich dieses Jahr in Köln viele Mädchen und Frauen dreimal überlegen, wen sie an Karneval noch anlächeln.«

Inzwischen haben die »Frieda«-Gründerinnen Alice Schwarzer ein Gesprächsangebot gemacht. Die Feministin warnt schon lange vor frauenfeindlichen Tendenzen im Islam. Dass sie sich vor den Karren der Rechten spannen lässt, ist aber unwahrscheinlich. Schließlich setzen sie sich für ein schärferes Abtreibungsrecht ein und agieren gegen einen angeblichen Genderwahn.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/999130.unter-dem-antisexistischen-deckmantel.html

Peter Nowak

„Abendspaziergänger“ ohne Erfolg

Am gestrigen Mittwoch scheiterte der zweite Versuch der Pegida-Bewegung, in der brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam Fuß zu fassen.

Mehr als 200 Pogida-Anhänger hatten sich am Mittwochabend am Potsdamer Bassinplatz eingefunden. Sie skandierten „Merkel muss weg!“ und „Wir sind das Volk!“ So lautete auch das Motto des „zweiten Potsdamer Abendspaziergangs gegen die Islamisierung des Abendlandes“.  Gefordert wurde dabei die „Sicherheit unserer Familien/ entgegen den sexuellen Übergriffen“ sowie eine „angemessene Asylpolitik“. Weiter wandte man sich gegen „Gewalt gegen Polizeikräfte“ und wolle keinen „Einsatz der Bundeswehr für fremde Interessen“. Die Forderungen waren so allgemein gehalten, das sowohl AfD-Anhänger als auch Mitglieder von neonazistischen Kameradschaften sich davon angesprochen fühlen konnten. Tatsächlich war dieses Spektrum auch auf der Kundgebung am Bassinplatz vertreten.

Doch der „Abendspaziergang“ konnte nicht beginnen, weil sich rund 1000 Anhänger zivilgesellschaftlicher Gruppen  versammeln hatten, um gegen Pogida zu protestieren.  Nach rund eineinhalb Stunden löst die Polizei die Pogida-Kundgebung mit der Begründung auf, dass die Sicherheit der Teilnehmer nicht gewährleistet sei. Bereits am 11. Januar war der erste Pogida-Spaziergang von der Polizei aufgelöst worden, weil die Gegenproteste zu groß waren. (bnr.de berichtete)

Beim ihrem Versuch am gestrigen Mittwoch bekamen  die Pogida-Anhänger Unterstützung aus anderen Städten. In den letzten Tagen war  auf zahlreichen rechten Facebook-Seiten zur Unterstützung  von Pogida aufgerufen worden. Aus Dresden, Leipzig und Berlin waren kleine  Abordnungen von Pegida-Anhängern am 20. Januar nach Potsdam gereist. In diesen Kreisen  würde es als großer symbolischer Erfolg gesehen, wenn sie auch Potsdam ihren Abendspaziergang etablieren könnten.  Der  dritte Versuch wurde schon angekündigt. Nach der Auflösung der Veranstaltung durch die Polizei am Mittwoch schallte aus der Menge der Ruf: „Wir kommen wieder“.

http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/abendspazierg-nger-ohne-erfolg

Peter  Nowak

Unterschiediche Methoden der Flüchtlingsbegrenzung

Soziales Zentrum in Halle

Halle. Das Anfang Januar von 20 Menschen besetzte Haus in der Hallenser Hafenstraße wird ein soziales Zentrum. Das Haus hatte mehrere Jahre lang leer gestanden und sollte abgerissen werden. Die Besetzer konnten mit der Eigentümerin, der Wohnungsbaugesellschaft HWG, eine Nutzung für 18 Monate ohne Miete und Nebenkosten vereinbaren. Strom- Gas- und Wasserleitungen werden von der HWG erneuert. Neben Infrastruktur für Geflüchtete sollen in dem ersten sozialen Zentrum von Halle Arbeits­ und Seminarräume für nichtkommerzielle Initiativen und ein Lesecafé entstehen. Derzeit planen die Aktivisten politische Vorträge, Workshops sowie Kunst- und Musikveranstaltungen für die nächsten Monate.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/998636.erfolgreiche-besetzung-erstes-soziales-zentrum-in-halle.html

Peter Nowak

Ferienwohnung von Mieterinitiative beschlagnahmt

„Wie verhindere ich Zwangsräumungen?“  lautet die Überschrift auf  einigen   Informationsblättern, die auf einen Tisch im Wohnzimmer ausliegen. Im Flur und im Schlafzimmer finden sich Plakate zum Thema Erwerbslosigkeit und Zwangsräumung. An Tischen sitzen kleine Gruppen und lassen sich über Probleme am Jobcenter beraten. In dem zweiten Raum  sind einige Ausschnitte aus den Ergebnissen einer Umfrage  aufgelistet, die die Berliner  Mietergemeinschaft 2011 zum Komplex   Ferienwohnungen geführt hat.
Für drei Tage wurde aus einer Dachgeschosswohnung in  der Soldiner Straße 26  im Wedding ein soziales Zentrum. Allerdings wurde die Wohnung nicht besetzt sondern aus politischen Gründen zweckentfremdet.  Über 200 Euro hat die Erwerbsloseninitiative Basta  für die 3 Tage bezahlt. Sie will damit auf einen Tatbestand hinweisen, der  in den letzten  Monaten von vielen Medien und Parteien verbal  beklagt wird, ohne dass sich was ändert.

„Allein  im Wedding werden aktuell mehrere hundert Ferienwohnungen angeboten.  Für BezieherInnen von Arbeitslosengeld und Grundsicherung sind  in dem Stadtteil  dagegen nur zwei finanzierbare Wohnungen zu haben“, erklärt Basta-Aktivist Paul. Seine Mitstreiterin  Gitta betonte, dass es mit der Aktion nicht darum geht, BesitzerInnen von Ferienwohnungen als die Schuldigen an den Pranger zu stellen. „Für uns sind die fehlenden bezahlbaren Wohnungen ein politisches Problem.“  Damit sind die MitstreiterInnen von Basta regelmäßig konfrontiert. Schließlich organisieren sie  wöchentlich eine Beratung für Hartz IV-BezieherInnen. „Immer wieder kommen  Menschen zu uns, die keine  bezahlbare Wohnung finden “, erklärt Paul.  Zwei wohnungslose Frauen haben sich der Aktion beteiligt.
Im Flur der beschlagnahmten Ferienwohnung ist eine Box eingerichtet, in die sich Wohnungssuchende eintragen können, die gerne in das Apartment einziehen würden. Allerdings geht es der Initiative nicht nur um die  eine Wohnung.

Viel Unterstützung von NachbarInnen

Daher begann die Aktion am Dienstagmittag mit einem Stadtteilspaziergang  durch die unmittelbare Umgebung der Soldiner Straße.  Dort finden sich mittlerweile zahlreiche Ferienwohnungen. Die Vermieter/innen setzen dabei auf Berlinbesucher/innen, die nicht nur  das historische  Stadtzentrum kennen lernen wollen.  „In der  Soldiner Straße  und der Umgebung wohnen viele Menschen mit geringen Einkommen.  Wenn ausgerechnet in einer solchen Gegend immer mehr Ferienwohnungen entstehen, wird der günstige Wohnraum noch mehr verknappt“,  begründet  ein älterer  Anwohner, der bereits in den 80er Jahren im Wedding in einer Stadtteilgruppe aktiv war, seine Teilnahme an der Aktion.   Er hofft, dass die Beschlagnahme keine   einmalige Aktion ist und sich auch im Wedding wieder eine  MieterInnenbewegung etabliert.  Die Stadtteilinitiative „Hände weg vom Wedding“, die die Beschlagnahme unterstützt, weist in ihrer Erklärung  auf die politische Dimension des Ferienwohnungsmarktes hin:
„Völlig unklar ist es, wie viele Wohnungen Geflüchteten, Wohnungslosen oder Prekarisierten entzogen sowie privat oder über Online-Portale wie Airbnb vermarktet werden. Stadtentwicklungs-Senator Andreas Geisel (SPD) kündigte im Dezember vollmundig an, fast alle Ferienwohnungen wieder dem Wohnungsmarkt zurückführen zu wollen. An dem Prinzip der Wohnung als Ware, wird selbstverständlich nicht gerüttelt. Darum liegt es an solidarischen Menschen in dieser Stadt, Leerstand und Ferienwohnungen zu kollektivieren.“  Paul von Basta betont allerdings, dass die Ferienwohnungen nur ein  Teil des Problems sind.  „Es fehlen bezahlbare Wohnungen, weil der soziale Wohnungsbau abgewickelt wurde.  Das wird sich nur ändern, wenn  neben der Abschaffung des  Ferienwohnungsunwesen  neue Wohnungen gebaut werden.“
http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/ferienwohnung-soldiner.html

aus: MieterEcho online 20.01.2015

Update: Zur vorzeitigen Beendigung der Aktion siehe hier:

http://basta.blogsport.eu/

Peter Nowak

Ohne Kriege kein Pop

Die Konferenz „Krieg singen“ am Haus der Kulturen der Welt machte deutlich, dass alle Arten von Musik töten können. Aber auch die totale Stille kann eine Waffe sein

Schon die Posaunen von Jericho machten deutlich, dass Musik seit Menschengedenken für Kriegszwecke eingesetzt wurde. Der Medientheoretiker Friedrich Kittler wurde mit der These bekannt, dass die Erzeugnisse von Musik und Popkultur ein Missbrauch der Produkte der Militär- und Heeresindustrie waren.

Andreas Ammer: Deutsche Krieger. Bild: © Stephan Sahm / Haus der Kulturen der Welt

Ein weites Feld hat also die Berliner Konferenz beackert und ein Blick in das viertägige Programm[1] macht deutlich, dass kaum ein Thema ausgelassen wurde. Da werden die Märtyrersongs erwähnt, mit denen der IS deutsche Mütter von bei Selbstmordattentaten umgekommenen Konvertiten ermahnt, nicht traurig zu sein, weil ihre Söhne den Heldentod gestorben seien und sie so einen Platz im Jenseits hätten. Wer nun in solchen Liedern eine besondere Perfide sieht, konnte in anderen Veranstaltungen erfahren, dass die Islamisten hier nur genau jene Methoden kopieren, mit denen eine mit den herrschenden Kreisen verbandelte Kulturindustrie schon immer Kanonenfutter in den Tod schickte und ihre Angehörigen dann damit ruhigstellte, dass es jetzt ihre patriotische Aufgabe sei, um ihre toten Helden zu betrauern.

Deutsche Krieger hieß das Live-Hörspiel[2], das FM Einheit und Andras Ammer aus zeitgenössischen Tondokumenten von Wilhelm II bis Adolf Hitler konzipiert haben. Doch nicht nur die Stimmen der Herrschenden wurden auf der Konferenz hörbar. Barbara Morgenstern, Ari Benjamin Meyers und Hauschka ließen auf einem Konzert die Stimmen von deutschen Kriegsgefangenen aus ganz Europa, Nordafrika, dem Kongo und Asien hörbar werden. Sie sind auf ca. 7500 Schellackplatten festgehalten, die in Kriegsgefangenenlagern während des 1. Weltkriegs aufgenommen wurden und im Lautarchiv der Berliner Humboldtuniversität[3] konserviert sind. Vor einigen Jahren hat Philip Scheffner dieses Thema in dem Film The Halfmoon Files[4] einer größeren Öffentlichkeit bekannt.

Soundcheck zum Massenmord war keine „böse Musik“

Im Foyer des Hauses der Kulturen der Welt, in dem das Festival stattfand, war ein sehr modernes Radiostudio aufgebaut. Es war der Nachbau jener berüchtigten Radiostation RTLM, die der Schweizer Theatermacher Milo Rau[5] mit seinen Film und Theaterstück Hate-Radio[6] bekannt gemacht hat.

Der Film wurde gezeigt und in der Diskussionsrunde betonte Rau, dass die Radiostation RTLM im Wortsinne populäre Musik gemacht hat. Bekannte Songs aus den USA, Großbritannien und Frankreich wurden dort gespielt. Dazwischen wurde mit Hassreden auf die Tutsi der Genozid vorbereitet und begleitet. Sogar die Menschen, die im Sender zur Vernichtung freigegeben wurden, hörten den Sender wegen der guten Musik. Damit widerlegte Rau auch die viel strapazierten Reden von der bösen Musik, die von den Erziehern aller Länder und Zeiten mal in Blackmetal oder Hardcore, im Punk oder Hip Hop verortet wird.

Hate Radio (Aufführung von 2012) Bild: © Daniel Seiffert / International Institute of Political Murder

Es wurde in der Konferenz schnell klar, dass jede Musik, wenn sie nur oft genug und mit voller Lautstärke gespielt wird, zu körperlichen Schäden bis zum Tod führen kann. So wurden auch die Gefangenen in Guantanamo mit keiner bösen, sondern mit sehr populärer Musik beschallt. Rau machte am Beispiel Ruanda auch noch mal deutlich, wie nationalistische Erzählungen funktionieren und wirkungsmächtig werden. Nur haben sie nicht immer eine solch tödliche Wirkung wie in Zentralafrika. Die Erzählung von der Hutu-Power imaginierte alte Hutu-Königreiche, die real nie existiert haben. Doch sie wurden geglaubt und so wurde das Konstrukt wirkungsmächtig und entfaltete unter spezifischen Bedingungen seine mörderische Wirkung.

Nur ist die Imagination eben kein ruandisches Spezifikum. Alle ethnischen und nationalen Erzählungen basieren auf solchen Imaginationen und Konstruktionen. Aus dem Publikum wurde als Beispiel die Mär von dem tausendjährigen deutschen Reich als Beispiel genannt, die aktuell wieder ein AFD-Provinzpolitiker weiterspinnt[7].

Natürlich kommt eine Konferenz, die sich um Musik dreht, nicht ohne Konzerte aus. Laibach war natürlich für viele das absolute Highlight. Schließlich haben sie durch ihren Auftritt in Nordkorea[8] ihren Ruf des Extravaganten wieder aufpoliert. Auch hier wirken mediale Konstruktionen. Wie immer man die Regierung in Nordkorea beurteilen mag, warum gönnen denn viele Medien der dortigen Bevölkerung nicht, mal etwas anderes als die Parteihymen zu hören?

Wenn Laibach auch für einen vollen Saal sorgte, so waren doch auch die kleineren Konzerte sehr interessant. Konnte man doch ganz direkt erfahren, wie die Präsentation einer bestimmten Musik wirkt, welche Stimmung sie erzeugt. Da gab die Formation Zeitkratzer eine Darbietung historischer serbischer Trauerlieder, die jeden Ethnopluralisten erfreute. Von der Tracht, den Instrumenten bis auf die strenge Darbietung wurde hier ein nationales Kollektiv nachgestellt. Kein schräger Ton war zugelassen. Danach präsentierte das Trio Tri Minh, Gregor Sield, Lan Cao ihre Songs of Heroes. Dort wurden vietnamesische Revolutionsgesänge sowie Lieder gegen die US-Krieger verarbeitet und immer wieder ironisch gebrochen. Oft wurde der historische Song nur angespielt und mündete in moderne Avantgarde. Hier wurden Maßstäbe gesetzt, wie auch historische Kriegslieder heute noch hörbar sind.

Die beiden so unterschiedlichen Darbietungen machen auch deutlich, dass es keine bösen oder guten Lieder, sehr wohl aber eine regressive und reaktionäre oder eine fortschrittliche Darstellungsweise gibt. Dieser Aspekt hätte auf der Konferenz durchaus mehr theoretische Auseinandersetzungen verdient.

Wie klingt der Frieden?

Dafür kam aus dem Publikum bei den Diskussionsveranstaltungen öfter die Frage auf, warum nicht mehr Raum für Friedenslieder gegeben wurde. „Wie der Krieg klingt wissen wir. Doch wie klingt der Frieden?“, fragte eine Besucherin. Doch einige Friedenslieder waren auf der Konferenz durchaus sogar prominent vertreten.

Während der Festivaltage erklangen auf allen Toiletten im Haus der Kulturen der Welt Songs von Country Joe McDonald[9]. Damit wollten die Konferenzkuratoren verdeutlichen, dass vieles, was unter das Genre Friedensmusik fällt, allenfalls noch als Toilettenmusik taugt. Tatsächlich bekundete Kurator Holger Schulze, dass die meiste Friedensmusik schlicht Kitsch sei.

Allerdings wäre zu fragen, ob dieses Diktum historisch zutrifft. Schließlich haben viele Lieder der historischen Arbeiterbewegung, die bereits mit den Liedern der Pariser Kommune begannen, gegen den Krieg agiert, ohne eine Welt zu malen, in der Wolf und Schaf friedlich auf einer Wiese grasen. Schulze gab sich aber auch überzeugt, dass in einer Welt, in der der Krieg wieder zum Mittel der Politik wurde, auch neue Antikriegslieder entstehen werden. Das wäre sicher ein Thema für eine weitere Konferenz.

Dabei wurde auf der Konferenz durchaus Antikriegsmusik vorgestellt, die aber kaum etwas mit dem zu tun hat, dass wir uns oft darunter vorstellen. Da gab es Ausschnitte aus dem Film „Syrian Metal is War“[10] zu sehen. Dort berichten junge syrische Zivilisten, wie sie jeden Tag von einer Bombe der der Islamisten oder des Assad-Regimes sterben können und sie die Zeit, die ihnen auf Erden bleibt, in und für ihre Musik leben.

Zudem gab die Band Songhoy Blues[11] ein Gastspiel. Die malischen Musiker fanden sich auf der Flucht vor den Islamisten im Exil zusammen und zeigten damit, dass nicht nur in Paris, London oder New York die Klerikalfaschisten kulturaffinen Mensche, ihre Art zu leben mit Terror austreiben wollen. Sind das nicht gute Beispiele für eine zeitgemäße Antikriegsmusik ohne Kitsch?

Ganz am Rande kam auf der Konferenz auch zur Sprache, dass man auch mit totaler Stille Menschen verletzten und sogar töten kann. In einer Sendung mit dem Titel für den Bayerischen Rundfunk mit dem Titel „Krach Krieg Kunst“[12] erwähnte der Journalist Andreas Ammer, dass es bereits seit Jahrzehnten eine Forschung über die totale Isolation und Stille als Waffe gibt und diese auch an RAF-Gefangenen in der JVA Köln-Ossendorf ausprobiert[13] wurde.

http://www.heise.de/tp/artikel/47/47155/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://hkw.de/de/programm/projekte/2016/krieg_singen/krieg_singen_start.php

[2]

http://www.hkw.de/de/programm/projekte/veranstaltung/p_122739.php

[3]

http://www.lautarchiv.hu-berlin.de/

[4]

http://www.filmzentrale.com/rezis/halfmoonfileshf.htm

[5]

http://www.althussers-haende.org/

[6]

http://international-institute.de/wp-content/uploads/2012/07/Milo%20Rau_HATE%20RADIO.pdf

[7]

http://www.taz.de/!5242157/

[8]

http://www.rollingstone.com/culture/news/cannabis-and-the-sound-of-music-what-laibach-learned-in-north-korea-20150825

[9]

http://www.countryjoe.com/

[10]

https://www.facebook.com/SyrianMetalIsWar/photos/a.201629700032854.1073741827.201506403378517/202345003294657/?type=3&theater

[11]

http://songhoy-blues.com/

[12]

http://www.br.de/radio/bayern2/kultur/nachtstudio/ammer-krach-krieg-kunst-100.html

[13]

http://www.unrast-verlag.de/news/1342-isolationshaft-in-der-brd-entstehung-entwicklung-export

Diese Ferienwohnung ist besetzt

Gegen Zweckentfremdung: Initiative macht Touristenappartement zu sozialem Zentrum

Die Erwerbsloseninitiative Basta hat eine Ferienwohnung in der Weddinger Soldiner Straße zweckentfremdet, um gegen fehlende bezahlbare Wohnungen zu protestieren.
Am Dienstagmorgen zogen sie ein und luden Nachbarn ein, die Wohnung zu besuchen: Drei Tage lang sollen Wohnungssuchende die Möglichkeit haben, sich auf eine ausliegende Interessentenliste einzutragen, die Liste soll schließlich an den Vermieter übergeben werden. Mit dem (vorübergehenden) Einzug in eine Ferienwohnung in Wedding will die Initiative »Basta« am Dienstag auf die Problematik der Zweckentfremdung von Wohnraum aufmerksam machen und vor allem Nachbarn ansprechen.

»Wie verhindere ich Zwangsräumungen?« und »Wie ziehe ich Hartz IV-kompatibel um?« lauten die Überschriften einiger Informationsblätter, die auf einen Tisch im Wohnzimmerauslagen. Im Flur und im Schlafzimmer hängten Aktivisten Plakate zu den Themen Erwerbslosigkeit und Zwangsräumung auf. An Tischen saßen kleine Gruppen und lassen sich über Probleme am Jobcenter beraten. Drei Tage soll die Dachgeschosswohnung in der Soldiner Straße 26 in Wedding ein soziales Zentrum sein. Über 200 Euro hat die Erwerbsloseninitiative dafür ausgegeben. Doch »Basta« verfolgt damit ein politisches Anliegen.

»Allein in Wedding werden aktuell mehrere hundert Ferienwohnungen angeboten. Für Bezieher von Arbeitslosengeld und Grundsicherung sind in dem Stadtteil dagegen nur zwei finanzierbare Wohnungen zu haben«, erklärt Basta-Aktivist Paul. Mit der Beschlagnahme wolle man auf dieses »Missverhältnis« aufmerksam machen. Paul betonte auch, dass es mit der Aktion nicht darum gehe, Besitzer von Ferienwohnungen als die Schuldigen an den Pranger zu stellen. »Für uns sind die fehlenden bezahlbaren Wohnungen das Problem.« Damit sind die Mitarbeiter von »Basta« regelmäßig konfrontiert. Schließlich organisieren sie jede Woche eine Beratung für Menschen, die Probleme mit dem Jobcenter haben. »Immer wieder kommen Menschen zu uns, die keine bezahlbare Wohnung finden«, erklärt Paul.

Zwei wohnungslose Frauen haben sich an der Aktion beteiligt. Am Donnerstag will Basta mit den Eigentümern über eine Vermietung verhandeln. Allerdings geht es der Initiative nicht nur um die eine Wohnung. Daher begann die Aktion am Dienstagmittag mit einem Stadtteilspaziergang durch die unmittelbare Umgebung der Soldiner Straße. Dort finden sich mittlerweile zahlreiche Ferienwohnungen. »Oft sind Ferienwohnungen von außen kaum zu erkennen. Nur die AnwohnerInnen selbst kennen die Wohnungen in ihren Häusern. Falsche Namen an Klingelschildern sollen den Schein einer ›normalen‹ Mietwohnung aufrecht erhalten«, erklärt Lisa von »Basta«.

Die Vermieter setzen dabei auf Berlinbesucher, die nicht nur das historische Stadtzentrum kennen lernen wollen. In den drei Tagen will die Initiative ein Verzeichnis von Ferienwohnungen zusammentragen und im Anschluss an die Aktion dem Bezirk zur Prüfung einer möglichen Zweckentfremdung vorgelegen.

»In der Soldiner Straße und der Umgebung wohnen viele Menschen mit geringen Einkommen. Wenn ausgerechnet in einer solchen Gegend immer mehr Ferienwohnungen entstehen, wird der günstige Wohnraum noch mehr verknappt«, begründet ein älterer Anwohner, der bereits in den 80er Jahren im Wedding in einer Stadtteilgruppe aktiv war, seine Teilnahme an der Aktion. Er hofft, dass die Beschlagnahme keine einmalige Aktion ist und sich auch im Wedding wieder eine Mieterbewegung etabliert.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/998733.diese-ferienwohnung-ist-besetzt.html

Peter Nowak

Urlaub vom Wohnungsmarkt


AKTION Initiative nutzt Ferienwohnung als soziales Zentrum und protestiert gegen Wohnungsnot
Für drei Tage ist aus einer Dachgeschosswohnung in der Soldiner Straße 26 im Wedding ein soziales Zentrum geworden: Im Wohnzimmer liegen Flyer, die über den Umgang mit drohender Zwangsräumung informieren; im Flur und Schlafzimmer finden sich Plakate zum Thema
Erwerbslosigkeit und Zwangsräumung. In einer kleinen Box  können Mieter ihr Interesse für die Wohnung bekunden. Denn eigentlich ist die Wohnung eine Ferienwohnung. Aktivisten der Erwerbslosen-Initiative Basta haben sie bezogen; sie wollen mit der Aktion auf den Mangel an bezahlbaren Wohnungen aufmerksam machen. Am Donnerstag will Basta mit den Eigentümer darüber verhandeln, dass die Wohnung dem Wohnungsmarkt wieder zu bezahlbaren Preisen zur Vergütung gestellt wird. Der Erfolg ist ungewiss, schließlich wird die Wohnung zurzeit für 63 Euro Miete pro Tag im Internet angeboten. Sie ist mittlerweile auch auf einer Internetseite aufgeführt, die illegale Ferienwohnungen auflistet. In Berlin soll es Schätzungen zufolge mittlerweile zwischen 12.000 und 17.000 solcher Wohnungen
geben. „Allein im Wedding werden aktuell mehrere hundert Ferienwohnungen angeboten. Für BezieherInnen von Arbeitslosengeld und Grundsicherung sind in dem Stadtteil dagegen nur zwei finanzierbare Wohnungen zu haben“, begründet Basta-Aktivist Paul die Aktion.

Ein politisches Problem

Dabei sei es nicht das Ziel, die EigentümerInnen von Ferienwohnungen als die Schuldigen an den Pranger zu stellen. „Für uns sind die fehlenden bezahlbaren Wohnungen ein politisches Problem“, betont Basta-Aktivisti Gitta. Die MitarbeiterInnen von Basta sind mit diesem Problem regelmäßig konfrontiert: Sie organisieren wöchentlich eine Beratung für Menschen, die Probleme mit dem Jobcenter haben.
aus Taz vom 20.01.2016
Peter Nowak

Abschiebung in die Fremde

Nachdem die Balkan-Länder zu »sicheren Herkunftsstaaten« erklärt worden sind, werden nun massenhaft Roma dorthin abgeschoben. Viele Jüngere kennen die Länder nicht einmal, weil sie in Deutschland geboren wurden. Auf dem Balkan droht ihnen Diskriminierung.

Bis Mitte Dezember führten Gzim und Ramiz Berisha das Leben ganz normaler Teenager in Hannover. Sie gingen zur Schule und engagierten sich in der Freizeit in der Roma-Selbstorganisation »Amaro Drom«. Doch der 16. Dezember sollte ihr Leben grundlegend ändern. In den frühen Morgenstunden wurden die 13- und 15jährigen Schüler mit ihren Familien abgeschoben. Es waren zwei von insgesamt 125 Menschen, die allein an diesem Tag aus Niedersachsen zwangsweise in die Balkanländer deportiert wurden. Darunter waren viele Kinder und Jugendliche, die in Deutschland geboren wurden. Sie haben von Anfang an die deutsche Sprache gelernt und erfüllten damit die Voraussetzung, die hierzulande von Politik und Öffentlichkeit an eine gelungene Integration gestellt wird. Wobei diese Forderung bei in Deutschland Geborenen wie Gzim und Ramiz Berisha ohnehin fragwürdig ist, die ja auf die dummdeutsche Frage, woher sie kommen, wahrheitsgemäß nur angeben können: Aus Deutschland.

Dass die Berishas jetzt in ein ihnen völlig fremdes Land deportiert wurden, ist die Folge einer Regelung, die vor einigen Monaten für eine kurze Zeit für Debatten sorgte. Damals wurden die Balkan-Länder Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Serbien, Kosovo, Albanien und Mazedonien zu »sicheren Herkunftsländern« erklärt. Bei den Grünen gab es deswegen einige innerparteiliche Auseinandersetzungen. Die Parteibasis war wohl mehrheitlich dagegen, weil bekannt ist, dass in diesen Ländern Roma noch immer auf verschiedenen Ebenen diskriminiert werden. Doch im Bundesrat stimmte der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, für diese Regelung. Bei ihrer Klausur im neuen Jahr haben sich die Grünen dafür nachträglich selbst gerühmt. Damit habe man in der Öffentlichkeit das Signal ausgesendet, dass man auch zu Abschiebungen bereit sei, lobte die FAZ.

Nachdem die Regelung den Bundesrat passiert hatte, konnte in allen Bundesländern die Abschiebemaschinerie anrollen. Allein in drei fränkischen Regierungsbezirken Bayerns erhielten nach Angaben des Bayerischen Flüchtlingsrates Ende November 800 Geflüchtete vom Balkan die Aufforderung, sich in einer Kaserne in Bamberg einzufinden, von wo sie abgeschoben wurden. Auch ein junger Mann, der als Epileptiker auf ärztliche Versorgung angewiesen ist, war davon betroffen. In Nordrhein-Westfalen sitzt der Rapper Hikmet Prizreni alias Prince-H seit Oktober in Abschiebehaft. In den vergangenen Monaten hat er sich künstlerisch für die Rechte von Geflüchteten eingesetzt. Während des Roma-Tages am 8. April 2015 trat er vor dem Brandenburger Tor in Berlin auf. Weil er wegen eines Drogendelikts zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, soll der Künstler das Land verlassen, in dem er seit 27 Jahren lebt.

Die Öffentlichkeit reagiert auf die Massenabschiebungen kaum. Schließlich liegt der Fokus seit einigen Monaten auf der angeblich einmaligen deutschen Willkommenskultur. Während damit von Grünen ein neuer Patriotismus ausgerufen wurde, werden Menschen, die oder deren Eltern vor zwei Jahrzehnten aus den Balkanländern geflohen waren, weggeschoben wie ein lästiges Möbelstück. Hier wird eine klare Hierarchie unter Geflüchteten aufgebaut. Die Pressesprecherin von »Amaro Drom«, Anita Burchardt, bringt den Zynismus der deutschen Flüchtlingspolitik auf den Punkt: »Sie sind abgeschoben worden mit der Begründung, dass Deutschland Platz schaffen muss. Deutschland muss Platz schaffen, indem Menschen, die geduldet sind, abgeschoben werden in die Länder, welche von der Bundesregierung als ›sichere Herkunftsländer‹ eingestuft worden sind.«

Das Schicksal von Gzim und Ramiz Berisha wurde im Gegensatz zu vielen faktisch Namenlosen bekannt, weil die beiden Teenager sich in der Roma-Selbstorganisation engagiert hatten. Die versucht nun, die Teenager und ihre Eltern zurückzuholen, und hat eine Online-Petition gestartet. »Gzim und Ramiz Berisha wurden in ein Land abgeschoben, das sie noch nie zuvor gesehen haben – den Kosovo«, heißt es in der Begründung. Man wolle es nicht akzeptieren, dass in Deutschland aufgewachsene Jugendliche einfach aus ihrem Zuhause weggerissen und irgendwohin geschickt werden.

Lediglich glücklichen Zufällen ist es geschuldet, dass die im Kosovo geborene Nizaqete Bislimi nicht abgeschoben wurde. Wegen eines Formfehlers der zuständigen Ausländerbehörde konnte sie mit ihren Eltern und Geschwistern in Deutschland bleiben. Heute ist sie Anwältin und engagiert sich für die Rechte von Geflüchteten. In einem Interview mit dem Neuen Deutschland beklagte sie die Einteilung in gute und schlechte Flüchtlinge: »Eine Mandantin vom Balkan berichtet, sie bekomme keine Beratung in der Gemeinschaftsunterkunft, weil man dort annehme, sie müsse ohnehin in Kürze ausreisen. Lieber wolle man den syrischen Flüchtlingen helfen.« Bislimi hält es nicht für unwahrscheinlich, dass diese Politik dazu führen könne, dass syrische Geflüchtete Roma aus den Balkan-Staaten vorwerfen, dass sie ihnen den Platz in Deutschland wegnähmen, wenn sie nicht freiwillig ausreisten.

Die Abschiebung von in Deutschland geborenen Menschen in »sichere Herkunftsländer«, aus denen sie gar nicht kommen, ist natürlich auch eine Drohung an Neuankömmlinge. Ihnen wird so mitgeteilt, dass der Staat sie ein- und aussortiert und nicht nur darüber entscheidet, wann sie zu verschwinden haben. Staatliche Instanzen entscheiden auch über das Leben von in Deutschland geborenen Kindern

http://jungle-world.com/artikel/2016/02/53306.html

Peter Nowak

Gemeinsam handlungsfähig sein gegen Rechts

Was können die emanzipatorischen sozialen Bewegungen der rechten Mobilisierung entgegensetzen?

Pegida-Demonstrationen, Gewalt gegen Flüchtlinge, Anschläge auf ihre Unterkünfte – die rechte Bedrohung wird stärker. Was tun?

Rund 150 Teilnehmer haben sich am Samstag im Berliner Haus der Demokratie und Menschenrechte (HDM) in Prenzlauer Berg zum sozialpolitischen und antifaschistischen Ratschlag versammelt. Eingeladen hatten Trägerkreis Vorstand der Stiftung des HDM Ende letzten Jahres.

Angesichts der massiven Mobilisierung von Rechts in unserem Land rufen wir alle emanzipatorischen Gruppen, Initiativen, Organisationen – allgemein Bewegte – auf, gemeinsam die sozialen Fragen der Zeit zu debattieren und unsere Kräfte zu bündeln«, wurde das zentrale Anliegen zusammengefasst. Die Vorstellung einer weltoffenen, sozialen und toleranten Gesellschaft müsse offensiv gegen Rechts vertreten werden.

Schon bei der Vorstellungsrunde bekundeten viele Teilnehmer das Erschrecken über eine wachsende rechte Tendenz in der Gesellschaft. Antifaschistische Gruppen waren ebenso beteiligt wie Erwerbslosengruppen, das »Bündnis gegen Zwangsräumungen«, die »Mobile Beratung gegen Rechtextremismus« und die Junge Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

Ein älteres Ehepaar begründete ihr Engagement mit ihren Erlebnissen bei einem Dresden-Besuch, wo sie beobachten konnten, wie aus einer Pegida-Demonstration eine Gruppe ausländische Schüler beschimpft und bedroht wurden. Nachdem die unterschiedlichen Bündnisse und Gruppen ihre für die nächsten Monate geplanten Kongresse, Demonstrationen und Veranstaltungsreihen vorstellten, wuchs bei einigen Teilnehmern die Ungeduld. »Die Vorhaben der einzelnen Gruppen kann ich auch im Internet erfahren. Wir müssen hier darüber reden, warum die Linke in der Defensive ist und wie wir das ändern können«, meinte Michal Prütz von der Neuen Antikapitalistischen Organisation (NAO).

Doch in der Kleingruppenphase im zweiten Teil des Treffens konnte man sich auf einige gemeinsame Vorhaben für die nächsten Monate verständigen.

Die Interventionistische Linke (IL), zu der sich im letzten Jahr mehrere Gruppen der außerparlamentarischen Bewegung zusammengeschlossen hatten, stellte ihr Konzept einer sozialen Allianz unter dem Arbeitstitel »Berlin für Alle« vor. »Wir müssen die soziale Frage neu stellen und dürfen bei den Verteilungskämpfen nicht den Rechten die Deutungshoheit überlassen«, begründeten die IL-Vertreter ihren Vorschlag So sei die Forderung nach ausreichendem bezahlbaren Wohnraum nicht nur für die Neuankömmlinge sondern generell für Menschen mit geringen Einkommen notwendig, um zu verhindern, dass sozial und gesellschaftlich Benachteiligte gegeneinander ausgespielt werden. Als positives Beispiel wurde der Widerstand von 32 obdachlosen Männern gegen ihre Kündigung in einen Moabiter Wohnheim angeführt, das zu einer Flüchtlingsunterkunft umgewandelt werden soll. Die Betroffenen wehren sich gegen ihren drohenden Rausschmiss, sind aber mit den Geflüchteten solidarisch und fordern Wohnraum für Alle unabhängig von ihrer Herkunft. Zudem soll noch in der ersten Jahreshälfte 2016 ein »Tag der sozialen Bewegungen« veranstaltet werden, zu dem noch weitere Gruppen aus dem gewerkschaftlichen, feministischen und Flüchtlingsspektrum eingeladen werden sollen.

Neben diesen Aktionen war bei vielen Teilnehmern der Wunsch nach stärkerer Kooperation im Alltag deutlich. Dabei wurde auch über eine Reaktivierung der Sozialforen gesprochen, die zwischen 2005 und 2010 in zahlreichen Städten Deutschlands, darunter auch in Berlin, aktiv waren. Eine Wiederbelebung der Sozialforen wäre auch ein internationalistisches Signal. Schließlich existierten in Teilen Afrikas und Lateinamerikas weiterhin aktive Sozialforen. Beim nächsten berlinweiten Treffen am 14. Februar soll über die Wiedereinrichtung diskutiert werden.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/998414.gemeinsam-handlungsfaehig-sein-gegen-rechts.html

Peter Nowak

Soziale Frage neu gestellt

„Links“ „Ratschlag“ im Haus der Demokratie

Rund 150 Teilnehmer haben sich am Samstag im Haus der Demokratie und Menschenrechte an einem „sozialpolitischen und
antifaschistischen Ratschlag“ beteiligt. Das Bündnis gegen Zwangsräumungen und die Erwerbslosengruppe Basta waren ebenso vertreten wie die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus, die Junge GEW und die Interventionistische Linke (IL). Ein 88-jähriger Teilnehmer
erklärte, er wolle sich noch einmal engagieren, nachdem er in Dresden gesehen habe, wie aus einer Pegida-Demonstration heraus
ausländische SchülerInnen bedroht wurden. Angesichts der erstarkenden rechten und rassistischen Propaganda müsse die Linke wieder in der Öffentlichkeit wahrnehmbar werden, so der Konsens unter den Ratschlag-TeilnehmerInnen.  „Wir müssen die soziale Frage neu stellen und dürfen bei Verteilungskämpfen den Rechten nicht die Deutungshoheit überlassen“, begründeten die IL-VertreterInnen
ihren Vorschlag einer sozialen Allianz unter dem Motto „Berlin für Alle“. Zentraldabei ist die Forderung nach ausreichendem bezahlbarem Wohnraum nicht nur für die Neuankömmlinge, sondern für alle Menschen mit geringen Einkommen. S  könne verhindert
werden, dass Benachteiligte gegeneinander ausgespielt werden. Als positives Beispiel wurde der Widerstand von Obdachlosen gegen ihre Kündigung durch den Betreiber des „Gästehaus Moabit“ angeführt, das zur Flüchtlingsunterkunft werden  soll. Die von der Kündigung Betroffenen zeigten sich mit den Geflüchteten solidarisch. Verabredet wurde die Vorbereitung eines „Tages der sozialen Bewegungen“ in den kommenden Monaten. Dazu sollen auch Flüchtlingsinitiativen sowie gewerkschaftliche und feministische Gruppen eingeladen werden. Am 14. 2. wird die Diskussion im Haus der Demokratie fortgesetzt.
aus Taz 18.01.2016
Peter Nowak

Druck auf Merkel in der Flüchtlingsfrage wächst

In der EU ist Merkel isoliert, in Österreich wird eine Großoffensive gegen Migranten geplant, die Linke steckt im Moralisieren fest

Vor einigen Wochen noch wurde Angela Merkel wieder einmal als große Siegerin in den Medien gefeiert. Schließlich wurde sie am CDU-Parteitag mit viel Applaus bedacht und ihre Kritiker in der Flüchtlingsfrage gaben sich mit Formelkompromissen zufrieden. Vor allem Grüne und Zivilgesellschafter, ja sogar Campino von den Toten Hosen[1] sehen in Merkel die große Flüchtlingsfreundin.

Dass damals schon Tausende Menschen aus den Balkanländern, darunter Kinder und Jugendliche, die in Deutschland geboren wurden, in ihre sogenannten sicheren Herkunftsländer abgeschoben wurden, ging dabei weitgehend unter. Die Willkommenskultur galt wohl nicht für Roma aus Kosovo. Doch der innerparteiliche Burgfrieden währte nur kurz. Schon wieder melden sich Unionspolitiker zu Wort, die gegen die Merkelsche Flüchtlingspolitik opponieren. Dieses Mal geht es nicht um die Obergrenze, sondern um die Durchsetzung des Dublin-Systems. Einer der Initiatoren dieser Bewegung, der Unionsabgeordnete Christian von Stetten[2], wird in der Zeit zitiert[3]: „Bei einer solch entscheidenden Frage muss sich die Fraktion eine Meinung bilden.“

Zeit Online zitiert aus dem Antrag, dass dort eine „verlässliche Sicherung der deutschen Staatsgrenzen“ gefordert werde, solange internationale Maßnahmen wie die Sicherung der EU-Außengrenze noch keine Wirkung zeigten: „Notwendig sei eine ‚vollständige grenzpolizeiliche Kontrolle und Registrierung aller nach Deutschland Einreisender‘. Diese Maßnahmen müssten auch auf die Grüne Grenze übertragen werden. „Zurückweisungen (…) sind zumindest bei denjenigen vorzunehmen, bei denen keine offenkundigen, zwingenden humanitären Gründe für eine Einreise sprechen“, heißt es weiter.

Dies treffe vor allem auf allein reisende junge Männer zu. Aber auch Menschen, denen eine Wiedereinreisesperre auferlegt wurde, bereits einen Folgeantrag gestellt haben oder bei der Feststellung ihrer Identität nicht mitwirken, soll die Einreise verweigert werden. Nun sind diese Forderungen nicht besonders spektakulär. Ein Großteil ist bereits heute Gesetz. Allerdings können oder wollen die Initiatoren die Frage nicht beantworten, woher beispielsweise das Personal kommen soll, dass nicht nur die offizielle, sondern auch die Grüne Grenze vollständig überwachen soll.

So scheint hinter den Antrag eher die Panik von Unionspolitikern zu liegen, die bei den nächsten Landtagswahlen eine empfindliche Schlappe der Union und den Aufstieg der AfD befürchten. Es sind nicht nur Unionspolitiker, die sich Sorgen machen. Wenn vor einigen Wochen SPD-Politiker Merkel gerügt haben, sie lasse es mit ihrer Politik zu, dass die Konservativen in der Union heimatlos werden, dann kommt dort natürlich die Angst zum Ausdruck, dass die Union der SPD die Wähler wegnimmt.

Wenn man wahrnimmt, wer sich in den letzten Wochen mehr oder weniger verschämt alles als Merkel-Fan geoutet hat, dann ist diese Befürchtung sicher nicht unberechtigt. Wenn dann in der Folge die Union allerdings noch mehr Wähler an die AFD verliert, stehen die sogenannten Parteien der Mitte vor einem Dilemma. Es könnte die Zeit kommen, wo sie selber zusammen in einem Landtag keine absolute Mehrheit mehr haben.

Machtmenschen wie der Merkel-Vorgänger Schröder nutzen nun gleich die Gelegenheit, um Merkel noch zu bescheinigen[4], in der Flüchtlingspolitik keinen Plan gehabt zu haben. Seine Kritik ist teilweise verständlich, wenn er die Weigerung der Union, ein Einwanderungsgesetz zu verabschieden, kritisiert, was dazu führt, dass Migranten, die in Deutschland bessere Lebensbedingungen suchen, aber nicht politisch verfolgt werden, unter die Asylgesetzgebung gepresst werden, die für diese Menschen gar nicht passt. Wenn Schröder konsequente Abschiebung von straffälligen Migranten fordert, ohne auch nur mal die rechtliche Grundlage zu erörtern, betreibt er natürlich gnadenlosen Populismus.

Es ist aber weniger Merkel als vielmehr Sigmar Gabriel, der durch die Schröder-Attacken aufgeschreckt werden müsste. Vielleicht plant er doch noch mal eine Rückkehr in die Politik? Schließlich darf der Begriff vom Altkanzler nicht täuschen. Es gab Kanzler, die waren schon beim Amtsantritt älter als Schröder heute. Wenn sich der Abwärtstrend der SPD bei den nächsten Wahlen nicht aufhalten lässt, könnte es gut sein, dass Schröder als Retter in der Not gerufen wird. Er kann sogar glaubwürdig Merkel in der Flüchtlingsfrage von rechts kritisieren.

Landrat schickt Geflüchtete vor das Bundeskanzleramt

Wie groß die Ablehnung der Merkelschen Flüchtlingspolitik schon ist, zeigte auch die Aktion[5] eines bayerischen Landrats, der 31 syrische Geflüchtete mit dem Bus nach Berlin schickte, um gegen die Flüchtlingspolitik zu protestieren. Da der Landrat zu den Freien Wählern gehört, fanden vor allem die CSU und auch viele Medien keine guten Worte für die Aktion.

Tatsächlich macht der Landrat deutlich, dass er für eine Flüchtlingsbegrenzung eintritt, also die Aktion zur Umsetzung einer politischen Agenda nutzt. Allerdings könnte sie gegen seinen Willen auch den Geflüchteten entgegen gekommen sein. Vielleicht sehen sie in der Großstadt Berlin mehr Chancen für sich als in der bayerischen Provinz. Wenn sie schlau sind, haben sie Vorkehrungen getroffen und nutzen die Aktion des Landrats, um in Berlin zu bleiben. Dann stünde der Politiker blamiert da und einige Menschen wären zufriedener.

In der EU ist Merkel völlig isoliert

Doch nicht nur in Deutschland mehr noch in der EU wächst der Druck auf Merkel. Das wurde beim gestrigen Besuch von EU-Kommissionspräsident Juncker in Berlin deutlich. Der favorisierte EU-Verteilungsplan geht nicht auf. Ob Dänemark, Schweden, Tschechien. Polen oder die Slowakei, von Ungarn gar nicht zu reden, alle Länder mit ihren unterschiedlichen Regierungen fordern eine Verminderung von Migranten in ihren Ländern oder zumindest ein geordnetes Prozedere.

In einem Interview[6] des Deutschlandfunks mit dem Direktor des Europaprogramms der Bertelsmann-Stiftung Joachim Fritz-Vonnahme[7] wird auch deutlich, wie gespalten die EU in der Flüchtlingsfrage ist. Auf die Frage, ob es noch eine europäische Lösung geben wird, antwortet Fritz-Vonnahme:

Ich glaube nicht mehr, dass es in absehbarer Zeit eine europäische Lösung geben wird, und zwar, weil die Probleme inzwischen zu einem wahren Gestrüpp von nationalen Egoismen herangewachsen sind. Ich will mal nur ein oder zwei Beispiele nennen. Da wird beschlossen, dass man die Grenzschutztruppe Frontex auf 1.500 Mann bis Mitte dieses Jahres aufstocken soll. Die aktuelle Ratspräsidentschaft der Niederländer sagt, das kann aber noch ein bisschen warten. Die Slowaken, die anschließend übernehmen, sagen, nein, nein, wir können überhaupt nicht bis Mitte des Jahres warten, das muss sofort geschehen.

Zweites Beispiel ist die Quote von 160.000 Flüchtlingen, die verteilt werden sollen. Da sind einige wenige Hundert nach Monaten inzwischen verteilt. Oder ein weiteres Beispiel die Überlegung der niederländischen Ratspräsidentschaft, ausgerechnet in dem Augenblick, in dem sie Vorsitz haben, ein Mini-Schengen zwischen vier, fünf, sechs Mitgliedsstaaten aus der Taufe zu heben. Das ist die Spaltung der EU von unten her, von innen her. Das ist wie gesagt alles nur Gestrüpp, in dem keiner so richtig weiß, welchen Weg er eigentlich einschlagen will.Joachim Fritz-Vonnahme

Joachim Fritz-Vonnahme

Großoffensive gegen Migranten in Österreich

Derweil meldet[8] die österreichische Kronenzeitung, sie haben einen eigentlich noch geheimen Plan enthüllt, nach dem das österreichische Bundesheer schon in den nächsten Tagen gegen Migranten an der Grenze vorgehen will und dabei mit der deutschen und slowenischen Regierung in Gesprächen sei. Hier würde nur nachvollzogen, was bereits an vielen anderen Grenzen Praxis ist.

Man vertraut also nicht mehr darauf, dass die türkische Regierung die potentiellen europäischen Einwanderer schon zurückhält und sie teilweise sogar gleich nach Syrien zurückschickt. Denn auch das gehörte zur Flüchtlingspolitik à la Merkel. Doch vor allem ihre neuen Freunde, die wie die Taz gleich einen neuen deutschen Willkommenspatriotismus ausgerufen hatten, ignorierten solche unschönen Details ebenso wie die seit Wochen laufenden Massenabschiebungen in den Kosovo und andere Balkanländer.

Moral statt Analyse in der linken Flüchtlingsdebatte

Gerade die letzten Monate der Flüchtlingspolitik haben die völlige Konzeptlosigkeit einer Linken entlarvt, die in der Flüchtlingsfrage nicht über moralische Bekenntnisse hinauskam. Dabei stand weniger das Interesse der Migranten, sondern das Bedürfnis, sich mit einem angeblich so humanen Deutschland zu solidarisieren, im Mittelpunkt.

Das merkt man allein schon daran, dass in den meisten Publikationen ganz selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass die Mirganten n Deutschland für immer leben wollen. Dabei haben viele Flüchtlingsorganisationen immer wieder betont, dass sie gerne wieder in ihre Heimat zurückkehren wollen, wenn sich die Bedingungen in ihren Ländern verbessert haben. So betonen in einer Publikation[9] der zivilgesellschaftlichen Organisation Adopt the Revolution[10], die für eine demokratische Entwicklung ohne die Islamisten und das Assad-Regime in Syrien eintritt, mehrere Interviewpartner, dass sie keinesfalls dauerhaft in Europa bleiben wollen.

Die Initiative Afrique-europe-Interact[11] redet in ihrer jüngsten Publikation vom Recht zu gehen und vom Recht zu bleiben. Dort werden anders als in der moralischen deutschen Flüchtlingsdebatte auch die Folgen für die Länder beschrieben, aus denen viele meist junge Menschen migrieren.

Es wäre zu wünschen, wenn mehr solche Initiativen, in denen Geflüchtete selber zu Wort kommen, gehört werden. Der Mainstream der deutschen Willkommenskultur macht das genau nicht. Ihnen geht es vor allem um die großen Chancen für eine alternde Gesellschaft in Deutschland, die Zuwanderung mit sich bringen sollen. Dabei sind sie sich auch mit führenden Wirtschaftsverbänden einig. Das war auch der Motor der Willkommenskultur im Spätsommer 2015. Die Linke spielte dabei in der Regel die Rolle des humanitären Feigenblattes.

http://www.heise.de/tp/artikel/47/47130/1.html

Peter Nowak 15.01.2016

Anhang

Links

[1]

http://www.express.de/duesseldorf/lob-fuer-die-kanzlerin-campino—merkel–ich-koennte-sie-umarmen—23106736

[2]

http://www.christian-von-stetten.de/

[3]

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-01/angela-merke-cdu-fluechtlinge-streit

[4]

http://www.focus.de/politik/deutschland/altkanzler-zur-fluechtlingskrise-da-wurde-schlicht-die-realitaet-ignoriert-schroeder-kritisiert-merkel_id_5212643.html

[5]

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/landrat-peter-dreier-schickt-fluechtlinge-per-bus-zu-angela-merkel-a-1072011.html

[6]

http://www.deutschlandfunk.de/fluechtlingspolitik-keine-europaeische-loesung-in.694.de.html?dram:article_id=342465

[7]

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/ueber-uns/wer-wir-sind/ansprechpartner/mitarbeiter/cid/joachim-fritz-vannahme/

[8]

http://www.krone.at/Oesterreich/Grossoffensive_gegen_illegale_Einwanderer-Heeres-Geheimplan-Story-491105

[9]

http://www.adoptrevolution.org/ich-will-syrerin-bleiben/).

[10]

http://www.adoptrevolution.org/

[11]

http://afrique-europe-interact.net/

In die Ferne fuchteln

Eine fortschrittliche Linke muss sich jeder Nation verweigern und jedem Krieg eine Absage erteilen.

Anfang der neunziger Jahren wurde in antideutschen Kreisen für Linke, die ohne jeglichen gesellschaftlichen Einfluss immer ein Repertoire an Vorschlägen für die Lösung der Konflikte in aller Welt parat hatten, der schöne Begriff des Fernfuchtlers geprägt. Nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 wurden einige vormalige Antideutsche selbst Fernfuchtler. Spätestens als die Zeitschrift Bahamas im April 2003 den US-Präsidenten zum »Man of Peace« kürte und die schnelle Niederlage des Ba’ath-Regimes nicht nur feierte, sondern damit die Hoffnung auf ein Ende der antisemitischen Internationale verband, war klar, dass ein Teil dieser Strömung es nicht mehr bei Ideologiekritik belassen wollte. Nach den Anschlägen von Paris schwingt sich die Fernfuchtler-Fraktion zu neuen Höhenflügen auf. Bereits im Dossier der Jungle World 48/2015 blies Matthias Küntzel zum großen Krieg und unterschied sich in seinen Argumentationen kaum vom rechten Flügel der US-Republikaner. So warf er US-Präsident Obama eine Politik der »Selbstentmachtung« und der »Selbstdemütigung« vor. Ausgeblendet hat er dabei, dass Obama mit seiner Politik auf das völlige Scheitern der Außenpolitik seines Vorgängers reagierte und nachvollzog, was große Teile der US-Bevölkerung nach der Ende der Bush-Ära einforderten. Bushs außenpolitische Bilanz war geprägt von einer wachsenden Zahl toter US-Soldatinnen und -Soldaten. Die toten Zivilisten vor Ort spielten für den Kurswechsel eine geringere Rolle. Die größte Selbstdemütigung der USA, zumindest für die Menschen, für die ihre Gründungsdokumente noch eine Bedeutung hat, waren sicherlich die Foltermethoden von Guantánamo bis Abu ­Ghraib. Hier wurde übrigens auch auf vielfältige Art und Weise gesät, was die unterschiedliche ­Islamistenfraktionen später ernten konnten. Der sogenannte Islamische Staat (IS) ist nur die zurzeit bekannteste dieser islamfaschistischen Bewegungen.

Es sind ganz konkrete Maßnahmen, wie die Auflösung der irakischen Armee nach dem Sturz des Ba’ath-Regimes, die erklärbar machen, wie eine Gruppierung wie der IS so stark werden konnte. Und die Bilder von Abu Ghraib und Guantánamo haben dazu beigetragen, dass in vielen arabischen Ländern und längst nicht nur in islamistischen Kreisen jegliches Vertrauen in die US-Politik verloren ging. Ist schon vergessen, dass nach 2001 nicht wenige tatsächliche oder vermeintliche Islamisten für die Schmutzarbeit an die Häscher des syrischen Regimes übergeben wurden? So bediente sich der Westen genau der Terrormethoden des syrischen Regimes, die heute so wortreich beklagt werden. Von alldem lesen wir bei Küntzel nichts, der den Westen zum ganz großen Kampf gegen die von ihm so bezeichnete »Koalition der Wahnsinnigen« aufruft. Diese umfasst die Hamas, die Hizbollah, al-Qaida, den IS und den Iran. All diesen Akteuren wird niemand eine Träne nachweinen.

Die Leidtragenden einer Intervention in Syrien wären neben den vielen Zivilisten auch die Israelis. Es ist ein Glück für Israel, dass die islamistischen Kräfte untereinander zerstritten sind. Eine vereinigte islamistische Front würde erst geschmiedet, wenn jemand mit Macht, vielleicht ein US-Präsident Donald Trump, Küntzels Vorschlag umsetzen wollte. Für Israel wäre das eine große Gefahr. Es ist auffallend, dass in Küntzels Aufzählung der Wahnsinnigen Saudi-Arabien nicht auftaucht. Dabei hat das Regime bei der Praktizierung von Terror nach innen und Islamismusexport nach außen den Iran längst eingeholt. Gehört das Land jetzt nach Küntzels Meinung zu den wesentlichen Verbündeten des Westens?

Auch Gerhard Scheit erweist sich in seinem Beitrag in der Jungle World 49/2015 als Fernfuchtler mit globalem Anspruch. Allein der Vorwurf des Appeasements gegen Politiker, die nicht überall Bomber hinschicken wollen, macht deutlich, wie sehr er in militärstrategischen Kategorien denkt. Da ist für zivilgesellschaftliche, geschweige denn herrschaftskritische Gedanken kein Platz mehr. Das wird deutlich, wenn Scheit es begrüßt, dass »der NSA-Skandal« nach den Anschlägen von Paris »von deutschen Moralaposteln und grünen Politikern natürlich abgesehen, kaum noch jemanden interessiert«. Nun kann man mit Recht an dem Mainstream der deutschen NSA-Debatte kritisieren, dass sie die Überwachungsmethoden deutscher Dienste bagatellisierte, von Antiame­rikanismus geprägt war und die angeblich nicht vorhandene deutsche Souveränität beklagte. Wenn aber der Protest gegen die NSA-Überwachung für nebensächlich gehalten wird, zeigt dies doch vor allem, dass die individuellen Grundrechte – und dazu gehört das Recht, nicht abgehört zu werden – auf der Strecke bleiben, wenn das Fernfuchteln beginnt.

Und nicht nur das. Nach den Anschlägen von Paris wollten plötzlich von einer Kritik an der omnipräsenten französischen Fahne auch solche Menschen nichts mehr hören, die eigentlich immer eine klare Kritik an Staat und Nation geübt haben. Dabei entscheidet sich gerade dann, wenn der Ausnahmezustand ausgerufen wird, was diese Kritik wert ist. Denn dann werden von der Herrschaft die Toleranzgrenzen eng gezogen, und es kann sogar strafrechtlich sanktioniert werden, wenn man an der alten Staatskritik festhält. Da wird historisch argumentiert, dass es die Fahne der französischen Revolution ist. Doch die französische Fahne bedeutet einen nationalen Schulterschluss, bei dem dann zumindest kurzfristig die innergesellschaftlichen Widersprüche, wie den Kampf gegen die Rechte in Gestalt des Front National (FN), aber auch Arbeitskämpfe an Bedeutung verlieren.

Die französische Fahne zu zeigen, bedeutet auch zu schweigen über ein anderes Pariser Massaker, bei den am 17. Oktober 1962 Hunderte Teilnehmer einer von der französischen Regierung verbotenen Demonstration für die algerische Unabhängigkeitsbewegung FLN ermordet und wurden. An solche und andere Verbrechen der Nation gerade in Zeiten zu erinnern, in denen zum na­tionalen Schulterschluss aufgerufen wird, gehört zu der wichtigsten Aufgabe einer Linken, die ihre Kritik an Staat, Nation und Kapitalismus ernst nimmt. Sie erkennt als erstes ihre völlige Machtlosigkeit und unterlässt jedes Fernfuchteln.

Nur eine Linke, die sich in Zeiten des Notstands und des Ausnahmezustands verweigert, wenn zur Vereinigung unter den unterschiedlichen Nationalfahnen aufgerufen wird, wird in der Lage sein, einen widerständigen Block zu bilden, der die Barbarisierungspotentiale im Zerfallsprozess des Kapitalismus analysiert und bekämpft. Dazu gehört der Klerikalfaschismus, wovon die unterschiedlichen islamistischen Gruppen nur die Speerspitze bilden. Dazu gehören aber auch die unterschiedlichen faschistischen oder nationalistischen Gruppierungen, die in ganz Europa anwachsen.

Eine Linke, für die die Kritik an Staat, Kapital und Nation kein Schönwettergeschwätz ist, sollte dazu beitragen, dass diese Zusammenhänge erkannt und der Widerstand gegen die beiden Formen der extremen Krisenreaktionen des Kapitalismus in den Stadtteilen organisiert wird, in denen die Menschen leben, die heute oft nicht einmal mehr vom Kapitalismus ausgebeutet werden. Es sind die Stadtteile, die in den vergangenen Jahren mehr und mehr zum Wählerpotential rechter Bewegungen wurde. Es sind auch Quartiere, in denen die überwiegende Mehrheit der islamfaschistischen Attentäter leben. Man braucht also nicht Bomber in den Nahen Osten zu schicken, wenn man die unterschiedlichen Spielarten des Faschismus bekämpfen will. Diese Klärungs- und Organisationsprozesse sollten in den europäischen Kernländern geführt werden. Doch dazu braucht es eine antagonistische Linke, die nicht durch die Zusammenarbeit mit der Macht diskreditiert ist. Historische Reminiszenzen sollten sicher nicht überstrapaziert werden. Doch diese antagonistische Fraktion der Linken kann sich ein historisches Vorbild an der Zimmerwalder Linken nehmen, sich mitten im Ersten Weltkrieg in einem Meer von Nationalismus, Chauvinismus und Kriegsbegeisterung die entschiedenen Kriegsgegner sammelten. Bei allen zeitbedingten Unterschieden sind zwei Grundsätze der Zimmerwalder heute aktueller denn je: die Absage an die Kriege der Herrschenden nach außen und an die Politik des Burgfriedens nach innen.

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Peter Nowak