Kampf um Lohngleichheit bei der BVG

Ein Busfahrer wehrt sich vor Gericht gegen die ungleiche Behandlung bei Verkehrsbetrieben und Tochterfirma

Seine Klage hat Lothar Erich Kurth am Mittwoch vor dem Berliner Arbeitsgericht verloren, seinen Kampfesmut nicht. «Ich werde mich weiter politisch wehren und prüfe mit meinen Anwalt auch weitere juristische Schritte. Denn es geht hier nicht nur um mich, sondern um Hunderte Kolleg*innen, die bei den Berliner Verkehrsbetrieben Lohneinbußen haben, weil sie ausgegliedert wurden, erklärte Kurth gegenüber »nd«.

280 Euro hat er monatlich weniger auf seinem Konto als seine Kolleg*innen, die wie er vor 18 Jahren als Busfahrer*innen in Berlin angefangen haben. Der Grund liegt darin, dass Kurth 14 Jahre bei der BT-Transport GmbH beschäftigt war. Sie ist als Tochterfirma der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) gegründet worden und auch zu 100 Prozent deren Eigentum. Erst 2014 wechselte Kurth zur BVG. Krankheitsbedingt kann er nicht mehr als Fahrer eingesetzt werden und arbeitet seitdem als Bahnhofbetreuer. So bekommt er nicht mehr den Lohn eines Fahrers, sondern nur noch den eines Bahnhofbetreuers.

»Wäre er von Anfang an bei der BVG beschäftigt gewesen, hätte Kurth unstreitig einen Anspruch aus deren Tarifvertrag auf einen monatlichen Entgeltausgleich in Höhe dieses Gehaltsverlustes. Da er aber zunächst bei der BT Berlin Transport GmbH arbeitete, wurde ihm dieser Anspruch verweigert. Gegen diese Ungleichbehandlung haben wir geklagt,« erklärte Kurths Anwalt Benedikt Hopmann gegenüber »nd«. Das Gericht folgte dieser Argumentation jedoch nicht: Da der Tarifvertrag der Tochterfirma gültig sei, liege auch kein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot vor.

Hopmann sieht aber vor allem die Politik in der Pflicht. Am Fall von Kurth habe sich gezeigt, welche Folgen die Politik der Ausgliederung hat. Es muss jetzt darum gehen, als ersten Schritt alle zirka 3000 ausgegliederten Beschäftigten von der BT-Transport Gmbh wieder in die BVG einzugliedern. Beim Botanischen Garten ist das erfolgreich gelungen, nachdem Beschäftigte gemeinsam mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di über mehrere Jahre dafür gekämpft haben (»nd« berichtete). »Was bei den Botanischen Garten mit seiner kleinen Belegschaft gelungen ist, muss auch bei der BVG mit über 13 000 Beschäftigten möglich sein«, ist Hopmann überzeugt.

Bei der Belegschaft finde er viel Unterstützung, erklärt Kurth gegenüber »nd«. Gut 150 Kolleg*innen haben sich per Unterschrift mit Kurth solidarisch erklärt. Zu seinen Unterstützern gehört ver.di-aktiv, die Organisation engagierter Gewerkschaftsmitglieder bei der BVG. Auch die Berliner Aktion gegen Arbeitsunrecht (Baga), ein außerbetriebliches Solidaritätsnetzwerk, hat sich mit Kurth solidarisiert. Der sieht den rot-rot-grünen Berliner Senat in der Pflicht. Schließlich habe der in den Koalitionsvereinbarungen die schnelle Wiedereingliederung der Tochterfirmen in die Mutterunternehmen vereinbart.

»Ich erwarte, dass die BVG gemeinsam mit der zuständigen Gewerkschaft ver.di nach Wegen sucht, um dieses politisch vereinbarte Ziel auch für die Berliner Verkehrsbetriebe und ihre Tochter Berlin Transport umzusetzen«, erklärte der gewerkschaftspolitische Sprecher der Fraktion der LINKEN im Bundestag, Pascal Meiser.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1107443.busfahrer-in-berlin-kampf-um-lohngleichheit-bei-der-bvg.html

Peter Nowak

Unterstützt von BVG-Kollegen


Busfahrer zieht wegen Lohneinbußen vor Arbeitsgericht. Klage abgewiesen. Kampf geht weiter

Am gestrigen Mittwoch wurde vor dem Berliner Arbeitsgericht verhandelt, ob es gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt, wenn ein Beschäftigter bei gleicher Arbeit weniger verdient. Geklagt hatte der 61-jährige Lothar Erich Kurth, der 18 Jahre als Busfahrer arbeitete. Krankheitsbedingt kann er nur noch als Bahnhofbetreuer eingesetzt werden, was mit Lohneinbußen verbunden ist. „Wäre er von Anfang an bei der BVG beschäftigt gewesen, hätte Kurth einen Anspruch laut Tarifvertrag (TV-N Berlin) auf einen monatlichen Entgeltausgleich in Höhe dieses Gehaltsverlustes. Da er aber zunächst bei der BT Berlin Transport GmbH arbeitete, wurde ihm dieser Anspruch verweigert“, erklärte der auf Arbeitsrecht spezialisierte Jurist Benedikt Hopmann gegenüber der taz.
Obwohl das Arbeitsgericht die Klage abwies, denken sowohl Hopmann als auch sein Mandant nicht ans Aufgeben. Sie überlegen juristische Schritte, sehen aber vor allem die Politik in der Pflicht. „Als erster Schritt müssen alle rund 3.000 ausgegliederten Beschäftigten der BT-Transport GmbH wieder in die BVG eingegliedert werden“, betont Hopmann. Kurth bestätigt, dass er auch innerhalb der BVG viel Zustimmung für seinen Kampf gefunden hat. Mehr als 150 Kolleg*innen haben eine Solidaritätserklärung unterzeichnet. Auch das außerbetriebliche Solidaritätsnetzwerk Berliner Aktion gegen Arbeitsunrecht (Baga) unterstützt ihn.Im Koalitionsvertrag ist die schnelle Wiedereingliederung der Tochterfirmen in die Mutterunternehmen vereinbart. „Ich erwarte, dass die BVG gemeinsam mit der zuständigen Gewerkschaft Verdi nach Wegen sucht, um dieses politisch vereinbarte Ziel auch für die Berliner Verkehrsbetriebe und ihre Tochter Berlin Transport umzusetzen“, sagte der gewerkschaftspolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Pascal Meiser, der taz.

donnerstag, 6. dezember 2018 taz

Peter Nowak

Tempelhofer Mieter/innen organisieren sich gegen Deutsche Wohnen

Alles begann mit einem Mitglied der Berliner MieterGemeinschaft, der in Berlin-Tempelhof Flyer für eine Protestkundgebung gegen die Immobilienfirma Deutsche Wohnen verteilte. Barbara Jencik war sofort daran interessiert. Denn auch sie wohnte in einem Haus, das der Deutsche Wohnen gehört. Durch den Flyer hatte sie nun erfahren, dass sich in zahlreichen Berliner Stadtteilen Deutsche-Wohnen Mieter/innen organisieren und vernetzen. Zudem koordinieren sie berlinweit Proteste. Barbara Jencik beteiligt sich nicht nur regelmäßig daran. Sie wollte auch in ihrem Wohnumfeld Mitstreiter/innen gewinnen. „Am Anfang war es sehr mühselig“, berichtet sie MieterEcho online. Viele der Mieter/innen im Block wollten nicht glauben, dass die Deutsche Wohnen die Mieten erhöhen würde. Es waren zunächst nur 9 Personen, die sich in der Wohnung von Frau Jencik trafen und die Mieterinitiative „Bofugeri“ gründete. Die Abkürzung steht für die Straßennamen, in denen sich der Häuserblock befindet, der der Deutschen Wohnen gehört. Es handelt sich um Borussia-, Fuhrmann-, Germania- und Ringbahnstraße. Ein Haus steht in der Straße „Am Tempelhof“, die im Kürzel nicht berücksichtigt wurde.

Der Andrang war so groß, dass nicht alle in den Raum passten

Die kleine Mieter/inneninitiative lud im November mit Unterstützung der LINKEN des Bezirks zu einer Versammlung aller Bewohner/innen des Häuserblocks ins Rudolf-Wissel-Haus und hatte mit dem Termin Glück. Kurz vorher hatten alle Mieter/innen des Blocks ein Schreiben des Bezirksamts im Briefkasten, das sie informierte, dass die Deutsche Wohnen die nötigen Unterlagen für eine Modernisierung der Häuser eingereicht hat. Nun hatten die Mieter/innen Schwarz auf Weiß, dass die Warnungen von Frau Jencik und ihrer Mitstreiter/innen keineswegs aus der Luft gegriffen waren. „Es kamen über 100 Anwohner/innen. Fast passten nicht alle in dem Raum“, berichtet Frau Jencik über die erfolgreiche Versammlung. Dort wurde den Mieter/innen geraten, in die Mietergemeinschaft einzutreten. „Wir wollen vorbereitet sein, wenn es in den nächsten Monaten konkret wird, mit den Plänen der Deutsche Wohnen“, sagt Jencik. Jetzt können sie die nächsten Schritte abwarten. Dass die Deutsche Wohnen druckempfindlich ist, zeigt sich an den Plänen für den Tempelhofer Häuserblock. So kann ein Großteil der geplanten Instandsetzungsmaßnahmen nicht auf die Miete umgelegt werden. Das sieht Jencik als einen Erfolg der berlinweiten Organisierung gegen die Deutsche Wohnen. Seit das Unternehmen im Fokus der Kritik steht, agiert es vorsichtiger. Doch für die Tempelhofer Initiative ist das kein Grund sich zurückzulehnen. Auf den grünen Stadtrat für Bauen und Stadtentwicklung in Schöneberg-Tempelhof Jörn Oltmann ist Jencik nicht gut zu sprechen. Auf die Bitte um Unterstützung kam nur die Antwort, darum müssten sich die Mieter/innen selber kümmern. Das haben Jencik und ihre Mitstreiter/innen nun getan und sind jetzt gut vorbereitet auf die Pläne der Deutschen Wohnen. Auch in Tempelhof muss das Unternehmen mit Widerstand durch die Mieter/innen rechnen.

aus: MieterEcho 04.12.2018

https://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/tempelhofer-mieterinnen-gg-deutsche-wohnen.html
Peter Nowak

»Ich lehne eine Beteiligung ab«

Der französische Basisgewerkschafter Michel Poittevin über die »Gelben Westen«

Michel Poittevin ist aktiv in der französischen syndikalistischen Gewerkschaft Solidaires – SUD. Mit ihm sprach über die Bewegung der »Gelben Westen« für nd Peter Nowak.

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Die SPD will weiter strafen

Politiker von SPD und Grünen behaupten, Hartz IV beenden zu wollen. Die meisten von ihnen möchten die bestehende Form der Grundsicherung jedoch lediglich reformieren.

»Weg mit Hartz IV« lautete jahrelang die Parole von Erwerbslosengruppen und sozialen Initiativen. Ausgerechnet Politiker der beiden Parteien, die das meist nur Hartz IV genannte Arbeits­losengeld II (ALG II) einst beschlossen, machen sich diese Forderung nun zu eigen. In den vergangenen Wochen versuchten vor allem Spitzenpolitiker von SPD und Grünen, sich als Kritiker des bestehenden Systems der Grundsicherung zu profilieren. »Die neue Grundsicherung muss ein Bürgergeld sein«, schrieb Andrea Nahles in einem Gastbeitrag für die FAZ. Auf einem ­sozialdemokratischen »Debattencamp« in Berlin hatte die Partei- und Frak­tionsvorsitzende der SPD zuvor bereits behauptet, ihre Partei wolle Hartz IV »hinter sich lassen«.

Wodurch das von ihr geforderte Bürgergeld sich von der bisherigen Form der Grundsicherung unterscheiden würde, sagte Nahles jedoch nicht.

Der sozialdemokratische Bundes­arbeitsminister Hubertus Heil weigert sich indes weiterhin, ein Reformprojekt seines Parteifreunds Michael Müller finanziell zu unterstützen. Der Vorschlag des Regierenden Bürgermeisters von Berlin sieht vor, dass Langzeit­arbeitslose 1 200 Euro bekommen, wenn sie bereit sind, gemeinnützige Arbeiten zu übernehmen, etwa für Gemeinden den Park zu pflegen. Als langzeit­arbeitslos gilt dem Konzept zufolge, wer ein Jahr oder länger arbeitslos gemeldet ist. Würde Müllers Vorschlag realisiert, könnte einigen Menschen, die ­arbeitslos werden, der Hartz-IV-Bezug erspart bleiben. Wer sich erwerbslos meldet, erhält schließlich zunächst bis zu zwei Jahre Arbeitslosengeld I (ALG I), sofern er in den vorangegangenen Jahren in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis gestanden hat. Anders als das ALG II orientiert sich das ALG I nicht am »Existenzminimum«, sondern am vorigen Einkommen des Leistungsbeziehers. Der Bundesarbeitsminister will Erwerbslosen zwar gemäß dem im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vereinbarten Programm »Teilhabe am Arbeitsmarkt« durch die staatliche Bezuschussung von Stellen in der privaten Wirtschaft, in sozialen Einrichtungen oder bei den Kommunen wieder einen Arbeitsplatz ver­mitteln. Das Programm soll aber nur für Erwerbslose gelten, die in den ­vergangenen sieben Jahren mindestens sechs Jahre lang Hartz IV bezogen ­haben.

Sieht man sich genauer an, wie die neuen Hartz-IV-Kritiker argumentieren, wird deutlich, dass die meisten von ­ihnen die Grundsicherung lediglich ­reformieren wollen. Hartz IV soll nicht abgeschafft, sondern den veränderten ökonomischen und politischen Bedingungen angepasst werden. So schrieb der Wirtschaftsjournalist Mark Schieritz in der Wochenzeitung Die Zeit über die »fast 15 Jahre«, die seit der Einführung von Hartz IV vergangen sind: »In diesen 15 Jahren ist in Deutschland ziemlich viel passiert. Statt Massenarbeitslosigkeit herrscht zumindest in einigen Regionen fast Vollbeschäftigung. Die Staatskassen sind nicht mehr leer, sondern quellen über. Die Industriegesellschaft verwandelt sich in eine Digitalgesellschaft. Es gibt eine rechtspopulistische Partei, die die Ängste der Menschen für ihre dunklen Zwecke ausnutzt.« Angesichts dieser Situation, so Schieritz weiter, klinge es »nicht ­un­bedingt nach einer einleuchtenden These«, dass »ausgerechnet bei der Grundsicherung alles beim Alten bleiben soll«.

»Wenn jemand zum zehnten Mal nicht zu einem Termin beim Amt erscheint, sollte das Konsequenzen haben.« Hubertus Heil, Bundesarbeitsminister

Schieritz benennt nicht, welche beabsichtigten Folgen Hartz IV für den ­Arbeitsmarkt hatte. Durch diese neue Form der Grundsicherung nahm die Angst vor Erwerbslosigkeit bei Menschen mit geringen Einkommen stark zu. Viele Geringverdiener nehmen Lohnarbeit zu fast jeder Bedingung an. Mit Hartz IV wurde ein Niedriglohnsektor etabliert – ganz im ­Sinne des deutschen Kapitals, das sich davon eine gute Position in der Weltmarktkonkurrenz verspricht. Eine tiefgreifende Entsolidarisierung bei den Lohnabhängigen, die es rechten Parteien wie der AfD erleichterte, auch unter prekär Beschäftigten und Arbeitslosen Unterstützung zu finden, war die Konsequenz. Dies sind die Veränderungen, die auch den Bundesvorsitzenden der Grünen, Robert Habeck, zu einer zumindest programmatischen Abkehr von Hartz IV veranlasst haben dürften. In einem internen Strategiepapier plädiert Habeck einem Bericht der Zeit zufolge dafür, Hartz IV durch eine »Garantiesicherung« zu ersetzen. Diese soll dem Papier zufolge höher als der Hartz-IV-Regelsatz von 416 Euro ausfallen. Eine konkrete Zahl nennt Habeck jedoch nicht. Sanktionen soll es Habecks Plänen zufolge zukünftig nicht mehr geben. Dass Erwerbslose weiterhin Beratungs- und Weiterbildungsangebote wahrnehmen, will Habeck durch ein System von ­Anreizen und Belohnungen erreichen. Welche Anreize und Belohnungen dies sein könnten, sagte der Grünen-Vorsitzende nicht.

Bundesarbeitsminister Heil lehnt es dagegen ab, die Hartz-IV-Sanktionen vollständig abzuschaffen. »Ich bin dagegen, jede Mitwirkungspflicht auf­zuheben. Wenn jemand zum zehnten Mal nicht zu einem Termin beim Amt erscheint, sollte das Konsequenzen haben«, sagte Heil dem Tagesspiegel. ­Anders der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann: Er sprach sich für eine sanktionsfreie Mindestsicherung aus. Dies beteuerte Hoffmann zumindest bei einem Pressetermin am Donnerstag voriger Woche. In einem am vorvergangenen Samstag in der Berliner Morgenpost erschienenen Interview hatte er auf die Frage, ob es gutgehen könne, wenn die Grünen das Hartz-IV-System reformieren würden, »indem sie Arbeitslose nicht mehr zwingen wollen, ­Arbeit aufzunehmen«, noch geantwortet, dies sei »keine gute Idee«.

Hätte Hoffmann seine Antwort nicht revidiert, wäre er der bisherigen Linie des DGB, Hartz IV konstruktiv zu begleiten, treu geblieben. So saßen in der von SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder eingerichteten »Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, die Hartz IV konzipierte, auch Vertreter von DGB-Gewerkschaften. Deren Erwerbslosenausschüsse und einzelne Gewerkschaftsgruppen äußerten immer wieder Kritik an dieser Linie. Die DGB-internen Kritiker wiesen vor allem darauf hin, dass sich durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors, die mit Hartz IV einherging, auch die gewerkschaftlichen Kampfbedingungen verschlechterten. Denn gerade in ­jenem Sektor ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad oft sehr gering. Wer gezwungen ist, Lohnarbeit zu fast ­jedem Preis anzunehmen, beteiligt sich seltener an Streiks.

Der außerparlamentarische Widerstand gegen das Hartz-IV-System war nie besonders groß und ist in den vergangenen Jahren noch kleiner geworden. Einige Jahre lang hatten Erwerbslosengruppen mit Aktionen vor und in den Jobcentern die Institution ins Zentrum ihres Protests gerückt, die für die Sanktionen zuständig ist. Solidarische Aktionen wie die Zahltage, an denen Erwerbslose gemeinsam Jobcenter aufsuchten, um die Bearbeitung von teilweise monatelang ignorierten Anträgen oder die Auszahlung von zurückgehaltenen Geldern zu fordern, sollten der Vereinzelung der Leistungsempfänger entgegenwirken. Solche Aktionen sind selten geworden. Im Oktober 2010 hatte die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) unter dem Motto »Krach schlagen statt Kohldampf schieben« zu einer bundesweiten Demonstration von Erwerbslosen aufgerufen. Dass man von Lohnarbeit leben können müsse, ohne aber auch, war damals eine der wichtigsten Forderungen. Seit rechte Gruppen wieder vermehrt auf der Straße präsent sind, hört man solche ­Parolen nur noch selten. Gesellschaftliche Durchschlagskraft hatten sie nie. Allenfalls die Forderung nach einem »Sanktionsmoratorium«, die Politiker von SPD, Linkspartei und Grünen sowie Gewerkschafter vor fast zehn Jahren ­erhoben, schaffte es in die »Tagesschau«. Würden die Politiker, die derzeit über eine Reform der Grund­sicherung diskutieren, die Sanktionspraxis der Jobcenter aussetzen, könnten sie dem Hartz-IV-System zumindest ­etwas von seinem Schrecken nehmen.

https://jungle.world/artikel/2018/48/die-spd-will-weiter-strafen

Peter Nowak

»Wegen der SPD-Gegenstimmen gescheitert«

Am 21. November wurde in Halle in letzter Minute die Räumung des linken Hausprojekts Hafenstraße 7, auch bekannt als »Hasi« abgebrochen. Die Jungle World hat mit ­Claudia Werning gesprochen, die sich in der »Hasi« engagiert.

Small Talk von Peter Nowak

Was war der Grund für den Abbruch der Räumung?
Die Polizei hat der Gerichtsvollzieherin keine Vollzugshilfe geleistet, da sich auf dem Gelände Personen befanden, gegen die kein Räumungstitel besteht.

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„Nur die Schlösser ausgetauscht“

Interessengemeinschaft Sozialrecht veröffentlicht online einen Ratgeber rund um Zwangsräumungen

Alexander Kretschmar ist als freier Rechtsjournalist für verschiedene Verbände in Berlin tätig. Zudem ist er Mitglied der Interessengemeinschaft Sozialrecht.

taz: Herr Kretschmar, wer verbirgt sich hinter der Interessengemeinschaft Sozialrecht?

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Arbeitsteilung von Eltern

Umgedeutetes Familienernährermodell

Die Forscherin Lisa Yashodhara Haller über die Probleme junger Eltern bei der Arbeitsteilung

Lisa Yashodhara Haller arbeitet am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Stiftung Universität Hildesheim. Jüngst erschien ihr Buch „Elternschaft im Kapitalismus“. Mit der Familienforscherin sprach Peter Nowak

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#unten – Kummerkasten jetzt auch für sozial Diskriminierte?

Die Debatte über Verarmung und soziale Ausgrenzung, von der nun auch häufiger Akademiker betroffen sind, ist ein guter Anfang. Die Frage ist, welchen Effekt sie haben wird

Die Debatte über Verarmung und soziale Ausgrenzung, von der nun auch häufiger Akademiker betroffen sind, ist ein guter Anfang. Die Frage ist, welchen Effekt sie haben wird

Nach #MeToo und #MeTwo, wo sich von Sexismus und Rassismus Betroffene zu Wort meldeten, hat die linksliberale Wochenzeitung Freitag kürzlich mit dem Hashtag #unten ein Forum für soziale Diskriminierung eröffnet [1]. Das ausgerechnet eine Wochenzeitung, die sich vor allem kulturellen Melangen widmet, diese Initiative startete, ist nur auf den ersten Blick überraschend.

Schon längst sind auch prekäre Akademiker von sozialer Ausgrenzung und auch von Armut betroffen und das ist auch ein wichtiger Grund, warum Armut im Spätkapitalismus in der letzten Zeit zum großen Thema in Medien und Öffentlichkeit geworden ist. Genau wie hohe Mieten wird die real existierende Armut erst dann zum Problem, wenn sie eben nicht nur die trifft, denen in der Öffentlichkeit dann gern die Schuld für ihre soziale Lage zugesprochen wird.

Dann gibt es noch einen biographischen Grund für die Kampagne. Der Journalist Christian Baron [2] hat das Feuilleton des Neuen Deutschland verlassen und in der Wochenzeitung Freitag einen neuen Arbeitsplatz gefunden. Baron hat mit seinen vieldiskutierten Buch Pöbel, Proleten, Parasiten [3] (vgl. Wird die Rechte stark, weil die Linke die Arbeiter verachtet? [4]) auch mit biographischen Zugängen die Armut in Deutschland zum Thema gemacht.

Auch die Soziologin Britta Steinwachs, die ebenfalls #unten initiierte [5], beschäftigt sich seit Jahren damit, wie Armut in Deutschland produziert wird und was das bei den Betroffenen auslöst [6].

Klassenpolitische Dimension von #unten?

Steinwachs stellte diese Frage am Anfang: „#unten – Warum gibt es noch keine klassenpolitische Ergänzung zu #MeToo und #MeTwo?“ Die Frage ist einerseits berechtigt und andererseits irritierend. Es ist natürlich völlig richtig zu fragen, warum die sozialen Diskriminierungserfahrungen nicht ebenso Gegenstand von öffentlichem Interesse sind wie Rassismus- und Sexismuserfahrungen. Die Reaktionen der Freitag-Leserinnen und Leser bestätigten die Notwendigkeit einer solchen Initiative. Hier nur eine von zahlreichen Zuschriften an den Freitag.

Sehr geehrte Redaktion des Freitag,
haben Sie vielen Dank für die Artikel. Selbst bin ich von zwei Seiten im Thema. Ich arbeite als Honorarkraft im ambulant betreuten Wohnen und habe mit armen Menschen zu tun. Ich kenne ziemlich gut, was Christian Baron und Britta Steinwachs beschreiben. Auch die Scham. Und die Hoffnungen. Selbst habe ich mit Ende 40 nicht mehr weitermachen können wie bisher. Ich habe Soziale Arbeit studiert und bin dabei auch politisiert worden.

Jetzt habe ich nach zwei Jahren das Bewerbungen-Schreiben aufgegeben. Das wird nichts mehr, ich bin inzwischen 57 Jahre alt. Es kostet total viel Kraft, die Ursachen für das Scheitern nicht bei mir zu suchen. Ich erfahre die Abwertung: „Wer arbeiten will, findet Arbeit.“ Ich bin überzeugt, dass ich nicht allein bin mit „meinem“ Problem. Nicht im Hilfesystem. Knapp drüber, und aus Scham bloß nicht reinrutschen (und nicht drüber reden).

Leserbrief an den Freitag

Es schrieben auch Menschen, die durch #unten ihre Scham überwunden haben und die Briefe oder Mails mit vollständigen Namen zeichneten, weil ihnen jetzt bewusst geworden hat, dass ihre soziale Situation nicht ihr individuelles Problem ist. Das Problem ist vielmehr ein auf Profit orientiertes System, dass diese Armut produziert. Hier stellt sich dann die Frage, folgt auf #unten eine klassenkämpferische Initiative oder ist es ein Ersatz dafür?

Da müssen an #unten die gleichen kritischen Fragen gestellt werden wie an MeToo – „Kummerkasten von Mittelstandsfrauen oder neues feministisches Kampffeld“ [7] lautete hier eine Frage. Und MeTwo könnte zu einer Erweiterung und Stärkung von antirassistischer Praxis beitragen. #unten könnte der Anfang einer klassenkämpferischen Intervention sein.

Dann wären die Erzählungen der Betroffenen ein Anfang – ähnlich wie vor mehr als 150 Jahren in der frühen Arbeiterbewegung, als auch Berichte über das elende Leben der Arbeiter den Anstoß zur Organisierung gaben, wie Patrick Eiden-Offe in seinem Buch „Die Poesie der Klasse“ [8] für die Zeit des Vormärz gut herausgearbeitet hat.

Wie wird mit den Erfahrungen von Armutsbetroffenen umgegangen?

Und da sind wir bei der angedeuteten Irritation, wenn die Soziologin Britta Steinwachs von der klassenpolitischen Dimension von #unten schreibt. Denn die wäre dann ja der nächste Schritt – aber nicht mit #unten identisch. Hier geht es zunächst um das aufklärerische Benennen der Situation, das Bewusstsein schafft.

Das kann eben darin bestehen, dass man begreift, dass man nicht selbt schuld an der schlechten sozialen Situation ist. Doch damit #unten eine klassenpolitische Dimension bekommt, müsste der nächste Schritt erfolgen. Es müsste eine Form der praktischen Organisierung geben und ein Bewusstsein, dass Armut und Reichtum zwei Seiten einer Medaille im Kapitalismus sind. Bert Brecht hat diesen Zusammenhang in der ihm eigenen Prägnanz so zusammengefasst [9]:

Reicher Mann und armer Mann
standen da und sahn sich an.
Und der Arme sagte bleich:
»Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.

Bert Brecht

Dass sich auch die arme und reiche Frau gegenüberstehen könnten, braucht wohl keiner weiteren Erläuterung. Doch wenn dieser Erkenntnisschritt nicht gegangen wird, bleibt es beim Räsonieren über Armut, das, worauf die Publizistin Mely Kiyak mit Recht hinwies [10], so neu nicht ist.

Neu ist aber, dass nicht auf Armutskonferenzen oder „Runden Tischen gegen Armut“, sondern auch im Wochenblatt des linken Bürgertums über Armut diskutiert wird. Dafür muss sich der Freitag nicht rechtfertigen. Es ist natürlich positiv, wenn eben prekäre Akademiker über Armut reden. Das wäre nur dann zu kritisieren, wenn sie nur über ihre Arbeit debattieren wurden und wenn sie die jahrzehntelange Arbeit von Armutskonferenzen, Runden Tischen der Betroffenen etc. einfach ignoriert würden.

Noch ist nicht klar, wie bei in den von #unten angestoßenen Diskussionen die jahrelange Arbeit dieser Armutsbetroffenen einfließt. Noch ist die Kampagne zu neu, um da ein klares Urteil zu bilden.

Es fällt aber tatsächlich auf, dass darauf in den bisher publizierten Beiträgen kaum Bezug genommen wird. Man wird die weitere Debatte beobachten müssen, um sich ein Urteil bilden zu können. Es gibt aber für die Initiatoren von #unten nicht die Ausrede, die Ergebnisse der jahrelangen Arbeit von Armut Betroffener seien kaum bekannt.

Tatsächlich gab es oft wenig Resonanz auf Pressekonferenzen, wo sie ihre Arbeit und ihre Forderungen darstellten. Doch es gibt Studien über Armut und ihre Auswirkungen unter Anderem von Anne Allex zu Frauen in Armut und prekärer Beschäftigung [11]. Das ist nur eins von zahlreichen Beispielen.

Was folgt auf #unten?

Ob #unten also tatsächlich der Beginn einer neuen klassenkämpferischen Organisierung wird oder ein weiteres Beispiel für das „Räsonieren über Armut“ wird sich praktisch erweisen.

Doch es zeigte sich bereits, dass solche Initiativen bei den Betroffenen durchaus auf Resonanz stoßen und auch die Probleme einer Gesellschaft im Spätkapitalismus zeigt, in dem die Menschen oft so voneinander isoliert sind, dass sie solche Anstöße zur Kommunikation brauchen.

Peter Nowak

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https://www.heise.de/tp/features/unten-Kummerkasten-jetzt-auch-fuer-sozial-Diskriminierte-4232205.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/armut-spricht
[2] http://www.christian-baron.com
[3] https://www.eulenspiegel.com/verlage/das-neue-berlin/titel/kein-herz-fuer-arbeiter.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Wird-die-Rechte-stark-weil-die-Linke-die-Arbeiter-verachtet-3452409.html
[5] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/sag-mir-wo-du-herkommst
[6] http://www.sebastian-friedrich.net/das-maerchen-vom-boesen-armen-die-soziologin-britta-steinwachs-lueftet-den-ideologischen-schleier-des-privatfernsehens/
[7] https://www.heise.de/tp/features/Metoo-Kummerkasten-von-Mittelstandsfrauen-oder-neues-feministisches-Kampffeld-4153174.html
[8] https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/die-poesie-der-klasse.html
[9] https://www.zitate-online.de/sprueche/kuenstler-literaten/18900/reicher-mann-und-armer-mannstanden-da-und.html
[10] https://www.zeit.de/kultur/2018-11/armut-unten-hashtag-klassengesellschaft-chancengleichheit
[11] https://www.rosalux.de/dokumentation/id/13725/frauen-in-armut-und-prekaerer-beschaeftigung/

„Aktiv für den Frieden“

Die Friedensaktivistin Mary Ann Wright erhielt den Ethecon-Preis 2018.

»Mary Ann Wright handelt mutig, konsequent, unbestechlich und integer. Sie zeigt das, was gemeinhin soziale Verantwortung und Zivilcourage genannt wird.« Mit dieser Begründung zeichnete die linke Stiftung Ethecon bei einer Veranstaltung am Samstag im Berliner Pfefferberg die US-Friedensaktivistin Mary Ann Wright mit dem »Blue Planet Award« aus. Mit ihr wurde eine Frau geehrt, die darin erinnert, dass eine Opposition zur Regierungspolitik in den USA nicht erst mit dem Antritt von Donald Trump begann.

Die 1947 geborene Juristin hatte im März 2003, einen Tag vor Beginn des Krieges gegen Irak, in einem Brief an Verteidigungsminister Colin Powell ihre langjährige Dienstzeit bei der US-Army mit den Worten beendet: »Ich habe meinem Land fast dreißig Jahre lang in einigen der isoliertesten und gefährlichsten Gegenden der Welt gedient. Mit schwerem Herzen muss ich meinen Dienst in Amerika beenden und aufgrund der Richtlinien der Verwaltung zurücktreten.« Die Expertin für Äußere Sicherheit, die ihren Master an der Seeakademie des US-Militärs gemacht hatte, war im Laufe ihrer Karriere an vielen Konfliktschauplätzen von Somalia bis Grenada an der Erarbeitung von Kriegs- und Wiederaufbauplänen beteiligt. Letztlich wurde sie zur Kritikerin an der Außenpolitik der USA und konnte sich bei zahlreichen Konflikten nicht mehr mit der Position der USA identifizieren.

Nach ihrem Ausscheiden beim Militär setzte sich Wright nicht zur Ruhe. Noch immer reist sie um die Welt, nunmehr im Dienst der Friedensbewegung. Mehrmals demonstrierte sie vor dem US-Gefängnis Guantanamo für die Schließung der Einrichtung. Immer wieder wurde sie bei Protesten in den USA verhaftet. Auch ihre zahlreichen Auslandsaktivitäten sorgten für Aufsehen, etwa als sie als »Bürger-Diplomatin« in den Iran reiste. Auch in Deutschland ist sie eine gute alte bekannte – so beteiligte sich Wright an Blockaden der Air Base Ramstein, die der US-Armee als europäische Drehscheibe für Truppentransporte dient.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1105942.aktiv-fuer-den-frieden.html

Peter Nowak

Hartz IV-Reform oder Bruch mit dem Hartz IV-System?

Über Nebelkerzen bei der aktuellen Debatte über eine Überwindung von Hartz IV – Ein Kommentar

Hartz IV am Ende? Diese Fragen stellen sich in den letzten Tagen einige Zeitungen [1]. Sowohl Robert Habeck von den Grünen als auch Andrea Nahles von der SPD ist mit Konzepten an die Öffentlichkeit getreten, die angeblich das Ende von Hartz IV bedeuten. Nur sollte man dann schon genauer hingucken, was damit gemeint ist.

Das Ende von Hartz IV propagierten Politiker schon kurz nach dessen Einführung. Sie wollten aber nicht das Gesetz abschaffen, sondern die Bezeichnung. Der Namensgeber Peter Hartz kam schließlich wegen hinterzogener Steuern juristisch in Probleme und da schien er dann kein geeigneter Werbeträger mehr zu sein. Nur haben von einer solchen kosmetischen Retusche natürlich die Betroffenen nichts.

Habeck I statt Hartz IV?

Wenn man sich heute anguckt, wie der grüne Hartz IV-Kritiker Habeck [2] und seine Unterstützer [3]argumentieren, darf man bezweifeln, ob da heute mehr als Retusche rauskommt. Zunächst fällt auf, dass die Einführung von Hartz IV nicht als politischer Fehler bezeichnet, sondern darauf hingewiesen wird, dass mittlerweile 15 Jahre vergangen seien:

In diesen 15 Jahren ist in Deutschland ziemlich viel passiert. Statt Massenarbeitslosigkeit herrscht zumindest in einigen Regionen fast Vollbeschäftigung. Die Staatskassen sind nicht mehr leer, sondern quellen über. Die Industriegesellschaft verwandelt sich in eine Digitalgesellschaft. Es gibt eine rechtspopulistische Partei, die die Ängste der Menschen für ihre dunklen Zwecke ausnutzt. Dass vor diesem Hintergrund ausgerechnet bei der Grundsicherung alles beim Alten bleiben soll, klingt nicht unbedingt nach einer einleuchtenden These.

Mark Schieritz, Zeit

Nur benennt er nicht, was genau in diesen 15 Jahren passiert ist und dass es genau das war, was sich die Erfinder von Hartz IV erwartet haben. Die Angst und der Druck haben bei den Menschen mit geringen Einkommen massiv zugenommen. Viele denken, alles sei besser, als unter das Hartz IV-System zu fallen, und nehmen Lohnarbeit unter fast jeder Bedingung an. Mit Hartz IV wurde so ein Niedriglohnsystem etabliert, und das ist ganz im Sinne des deutschen Kapitals, dass sich damit gute Konkurrenzbedingungen im Kampf mit anderen Wirtschaftsstandorten verspricht.

Dafür setzte eine massive Entsolidarisierung unter den Lohnabhängigen ein, die es rechten Parteien wie der AfD erleichtert hat, auch in diesen Kreisen Unterstützung zu finden. Das bedeutet eben nicht, dass die Menschen nur deshalb AfD wählen, weil sie soziale Probleme haben. Zunächst wird die Partei ja auch verstärkt von einem Kleinbürgertum mit Abstiegsängsten gewählt. Doch die politisch gewollte Vereinzelung der Lohnabhängigen hat rechte Tendenzen gefördert.

Das sind die Veränderungen, die Habeck und seine Unterstützer konstatieren und zur Grundlage ihres Plädoyers nehmen, um eine Alternative zu Hartz IV zu empfehlen. Zudem darf auch bei Habeck der Hinweis nicht fehlen, dass das Problem für die Wirtschaft in Deutschland nicht die Höhe der Kosten der Arbeitskraft ist, sondern der Mangel an Arbeitskräften. „Man wird nicht ohne Sanktionen auskommen.“

Dann kann auch die CDU-Reformbereitschaft bei Hartz IV [4] signalisieren und deren Grundlagen verteidigen. Auch der Politikwissenschaftler Wolfgang Schröder will Hartz IV reformieren, ohne es zu beseitigen, wie er im Interview [5] mit dem Tagesspiegel erklärte:

Ist denn eine Reform notwendig?

Es wurden damals schon einige Fehler gemacht. Kaum ein anderes Gesetz ist bislang schon so oft verbessert worden, es gab 50 Änderungen. Es ist im Sinne dieses Gesetzes, dass man es immer wieder anpasst. Man sollte nur nicht die Erwartung wecken, dass man die Grundstruktur der deutschen Arbeitsmarktversicherung zur Disposition stellen kann. Insgesamt hält die überwältigende Mehrheit der Experten das Grundprinzip Fordern und Fördern für angemessen. Gerade deshalb gab es von Anfang an Kritik daran, dass das Element der Förderung im Hartz IV-System unterentwickelt ist und die Menschen zu sehr gegängelt werden.

Was bedeutet das für die Reform?

Auch für jede neue Struktur wird man Zugangskriterien definieren müssen, die zwischen Berechtigten und Nicht-Berechtigten unterscheiden. Man wird auch nicht ohne Sanktionen auskommen. Wissenschaftliche Studien belegen, dass die Arbeitsmarktintegration in der Regel besser funktioniert, wenn Sanktionen eingesetzt werden. Und auf die Integration kommt es an. Und zwar eine, die dann die Basis für weiteren Aufstieg ist. Über diesen Punkt sollte meiner Meinung nach mehr nachgedacht und neue Initiativen dazu entfaltet werden.

Wolfgang Schröder

Ehrlicher als die Politiker spricht Schröder an, dass es einen Unterschied zwischen einer vielzitieren Hartz IV-Reform und dem Bruch mit dem Hartz IV-System gibt. Die Reform gehört zum System dazu. Es muss immer wieder evaluiert, optimiert und angepasst werden, damit es nach den Vorstellungen der Erfinder funktioniert.

Solche Hartz IV-Reformen haben auch Habeck und Nahles im Sinn, wenn sie so wortgewaltig das Ende von Hartz IV verkünden. Die SPD bringt auch das Kunststück fertig, dass zeitgleich der Hartz IV-Verantwortliche Gerhard Schröder vor der Friedrich-Ebert-Stiftung vor 650 wohl vorwiegend sozialdemokratischen Gästen seine Regierung feiern konnte, ohne dass die Armut durch das Gesetz in Frage gestellt wurde. Dass die SPD noch immer Probleme mit Hartz IV hat, kann der Altkanzler und Wirtschaftslobbiest bis heute nicht verstehen.

Die Konsequenz aus der Debatte um die Hartz IV-Reform müsste sein, dass die grundsätzlichen Gegner einen Bruch mit dem Hartz IV-System fordern müssen. Das heißt anzuerkennen, dass Menschen grundsätzlich soziale Rechte haben, die nicht daran gebunden sind, was sie angeblich arbeiten. Zudem sollten sie SPD und Grüne auffordern, in den Bundesländern, in denen sie noch Einfluss haben, ein sofortiges Sanktionsmoratorium im Hartz IV-System durchzusetzen und damit eine Forderung umzusetzen, daie ein Bündnis [6] seit Jahren fordert.

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-4222638
https://www.heise.de/tp/features/Hartz-IV-Reform-oder-Bruch-mit-dem-Hartz-IV-System-4222638.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.morgenpost.de/politik/article215792275/Robert-Habeck-will-mit-Garantiesicherung-Hartz-IV-veraendern.html
[2] https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-11/sozialsystem-hartz-iv-arbeitslosengeld-sozialleistungen-grundsicherung-grundeinkommen-veraenderung
[3] https://www.gruene.de/ueber-uns/2018/wir-brauchen-eine-neue-garantiesicherung.html
[4] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/arm-und-reich/cdu-plaediert-fuer-eine-gezielte-aenderungen-von-hartz-iv-15889252.html
[5] https://www.tagesspiegel.de/politik/hartz-iv-und-die-spd-man-wird-nicht-ohne-sanktionen-auskommen/23624194.html
[6] http://www.sanktionsmoratorium.de/

»Leider kein Geschenk«

»Für Deutschland keinen Finger krumm, 20 Semester Minimum« lautete die Parole auf einer Stofftasche, die der Allgemeine Studierendenausschauss (AStA) der Universität Osnabrück an Erstsemester verteilte. Lokalpolitiker von CDU und FDP sowie örtliche Medien reagierten empört. Wir sprachen mit Lotta und Jakob, die beim AStA Osnabrück für Öffentlichkeitsarbeit und Antifaschismus zuständig sind

Wo kann man in Zeiten des Bachelor-Master-Systems noch 20 Semester studieren?
Lotta: Dieser Spruch ist leider keine Versprechung, die wir den ­angehenden Studierenden machen könnten, sondern eine Aufforderung, sich mit den Zwängen auseinanderzusetzen, die das Studierendenleben bestimmen. 20 Semester sind nämlich auch im Bachelorstudium leider meist kein Geschenk, sondern oft nötig, um mit Lohnarbeit »neben« dem Studium über die Runden zu kommen. Faktisch wird so eben doch der Finger für und wegen Deutschland krumm gemacht.

Hatten Sie mit den empörten Reaktionen gerechnet?

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Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn

Schlecht, wenn der Job an die Nieren geht. Und ans Hirn

Die neoliberale Radikalisierung in der Arbeitswelt, sagt Wolfgang Hien, bürde Körper, Geist und Seele hohe Belastungen auf. Die Folge: Arbeitsbedingte Krankheiten nehmen zu. „Dieser Entwicklung sollte Einhalt geboten werden. Dafür möchte ich meine arbeits- und gesundheitswissenschaftliche Kompetenz einsetzen.“ Damit hat Hien, geboren 1949 im Saarland, sein lebenslanges Engagement für den Gesundheitsschutz in der Arbeitswelt recht gut beschrieben. Warum das Thema zu seiner Lebensaufgabe wurde, kann man in dem langen Gespräch erfahren, das Hien mit dem Historiker Peter Birke geführt hat, und woraus „Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn“ besteht. Hien beginnt damit, wie ihn seine Erfahrungen als Auszubildender beim Chemieriesen BASF in Ludwigshafen geprägt haben. Dann klärt er auch die Verwirrung auf, die der Untertitel „68 und das Ringen um eine menschenwürdige Arbeit“ bei manchen auslösen mag. Schließlich schien Hien im BASF-Labor weit weg von den Unis, in denen Studierende Marx und Adorno zu lesen begannen.
Doch Hien beschreibt einprägsam, wie sehr ihn und einige BASF-Kollegen der gesellschaftliche Aufbruch Ende der 1960er Jahre beeinflusste. Wie er nach einigen Jahren die Fabrik verließ, das Abitur nachholte und ein Studium begann. Und wie er auch danach den Kampf um den Gesundheitsschutz in der Chemieindustrie fortsetzte.
Peter Birke, eine Generation jünger als sein Gesprächspartner, gelingt es, die Biographie Hiens auszuleuchten und zugleich Elemente einer Gegengeschichte der Industriearbeit in Deutschland aufzuzeichnen: Etwa wenn Hien von der Kooperation zwischen Umweltinitiativen und kritischen Gewerkschaftern erzählt, die es in den 1980er Jahren auch in der Chemiebranche gab. „Mitmischer“ nannte sich eine der Gruppen im Rhein-Main-Gebiet, in der Hien gemeinsam mit Chemiearbeitern organisiert war, „Mitmischer“ nannte sich auch eine Betriebszeitung, die in einer Auflage von 10 000 Exemplaren von den 1970er bis in die 1990er Jahre bei BASF Ludwigshafen verteilt wurde. Fast in jeder Nummer wurden die Kollegen über die giftigen Substanzen informiert, mit denen sie ständig in Berührung kamen.
Der gut besuchte Alternative Gesundheitstag 1980 in Berlin gab Hien Inspiration für sein Engagement, Betriebsbasisgruppen für Gesundheit aufzubauen. Mit den esoterischen Strömungen, in die Teile der Gesundheitsbewegung später abdrifteten, hatte er nichts im Sinn. Ihm ging es darum, den Bedingungen in der Arbeitswelt den Kampf anzusagen, die die Menschen krank machen. Zu seinen Kontrahenten gehörten dabei nicht nur Industrieverbände, sondern oft auch Betriebsräte und Gewerkschaften, die auf Sozialpartnerschaft setzten. Deshalb war es für viele eine Überraschung, dass Hien 2003 Referent für Gesundheitsschutz beim DGB-Vorstand wurde.
Doch schnell geriet er mit seinen Engagement für eine Arbeitswelt, in der auch die Langsamen und chronisch Kranken ihren Platz haben sollen, in Konflikt mit einer Gewerkschaftslogik, die Arbeitsplätze vor Gesundheitsschutz stellt. Hien beschäftigt vielmehr die Frage, wie Lohnarbeit so gestaltet werden kann, dass auch Alte, Kranke und Schwache darin ihren Platz finden.
In einer Zeit, in der Beschäftigte ständig erreichbar und flexibel sein sollen, hat diese Fragestellung nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. So ist der Gesprächsband nicht nur Erinnerung an linke Geschichte, sondern auch ein sehr aktuelles Buch.

Peter Nowak

Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn – „68“und das Ringen um Menschenwürde Arbeit, Wolfgang Hien, Peter Birke, VSA-Verlag 2018, 256 Seiten, 22,80 Euro,

aus Wochenzeitung Freitag, Nr. 43, 25.Oktober 2018,

Kippt Italien die europäische Austeritätspolitik?

Ein von unten organisiertes, europäisches Referendum könnte eine Chance für die Linke sein

Muss die Linke jetzt die Hoffnung in eine ultrarechte italienische Regierung setzen? Diese Frage stellt sich, nachdem die italienische Regierung aus der ultrarechten Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung zumindest vorerst im EU-Haushaltsstreit nicht sofort einknickt. Die EU-Kommission hatte den Haushaltsentwurf Italiens zurückgewiesen, weil die Neuverschuldung für die EU zu hoch ist.

Die italienische Regierung hat einerseits erklärt, den Entwurf noch einmal durchrechnen, aber nichts Grundsätzliches ändern zu wollen. Nun sind da schon Zweifel angebracht. Schließlich kann ja beim erneuten Durchrechnen mit Haushaltstricks auch der Schuldensatz noch verkleinert werden. Zumal war es nicht die Lega Nord, sondern ihr Koalitionspartner mit seiner Investitions- und Sozialpolitik, der die EU-Kommission verärgerte.

Doch die Lega Nord beteiligt sich am „Krieg gegen die EU“, solange die Auseinandersetzung in großen Teilen der italienischen Bevölkerung populär ist. Sollte sich das ändern, dürfte der Streit die Koalition belasten. Da muss gleich mit dem Missverständnis aufgeräumt werden, dass eine Gegnerschaft zur Austeritätspolitik per se links ist.

Unterschiedliche Vertreter eines nationalen Kapitalismus sind auch dagegen, dass eine von niemandem gewählte Brüsseler Kommission sich anmaßt, über den Haushalt sämtlicher EU-Länder zu bestimmen. Dann gibt es keynsianistische Kritiker der Austeritätspolitik, die in einer begrenzten Verschuldung die Möglichkeit sehen, die Wirtschaft anzukurbeln.

Weiter gibt es verschiedene linke Gruppen, die das aktuelle EU-Projekt ablehnen, weil es eben ein kapitalistisches Projekt ist und in den EU-Erklärungen daraus auch kein Geheimnis gemacht wird. Die vier Grundfreiheiten der EU – freier Fluss von Gütern, Dienstleistungen und Arbeitskräften und freier Kapitalverkehr – machen das ganz klar deutlich. Es geht eben nicht um die freie Fluktuation aller Menschen, was manche linke Verteidiger der EU wohl gerne so missverstehen.

Deshalb geht auch die Verwunderung darüber fehl, dass die kapitalfreundliche italienische Regierung gegen EU-Vorgabe interveniert. Es geht hier darum, dass eine Regierung den nationalen Kapitalismus ankurbeln will und dabei in den Konflikt mit EU-Vorgaben kommt.

Segelt die Linke europapolitisch im Windschatten der Linksliberalen?

Bei der Auseinandersetzung um die Austeritätspolitik steckt die Linke in einem Dilemma. Als die griechische Syriza-Regierung gegen diese Politik Sturm lief, hätte ein Erfolg der europäischen Linken Auftrieb gegeben. Ihre wesentlich von Deutschland betriebene Niederlage schuf erst die Grundlagen für die Erstarkung der Rechtskräfte in ganz Europa.

Doch, da nun die italienische Regierung die EU-Austeritätspolitik insgesamt infrage stellt, fragen sich natürlich verschiedene Reformlinke wie Peter Wahl [1] von Attac [2], wie sie sich hier positionieren sollen [3].

Auf die Frage, ob die Linke das Geschäft der Rechten betreibt, wenn sie den Kampf der italienischen Regierung gegen das Spardiktat aus Brüssel unterstützt, verweist Wahl auf die Defizite einer Linken, die europolitisch oft im Wind segelt. Die Kritik ist größtenteils berechtigt. So wird in Deutschland die kleine linke Pro-Brexit-Fraktion [4] in Großbritannien meist ignoriert [5].

Mit dem Verweis auf nicht näher definierte europäische Werte wird gerechtfertigt, dass EU-Gerichte ein vom polnischen Parlament mit großer Mehrheit beschlossene Justizreform mal eben außer Kraft setzen. Mal abgesehen davon, dass die Herabsetzung des Rentenalters bei allen Berufsgruppen, auch bei Richtern, aus gewerkschaftlicher Sicht überfällig ist, geht es hier vor allem darum, dass EU-freundliche Richter protegiert werden.

In anderen EU-Ländern ist die EU-Justiz längst nicht so streng mit einer Justiz, die klar im Dienst der Politik steht. Oder erinnert sich niemand mehr, an den Umgang der spanischen Justiz, mit den Protagonisten der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung? Obwohl deren Entscheidungen so deutlich im Interesse der spanischen Regierungspolitik lagen, sah die EU-Justiz hier keine Verletzung europäischer Werte.

Das festzustellen, heißt weder im Fall von Spanien/Katalonien noch im Fall von Polen sich inhaltlich auf einer Seite zu positionieren. Es gilt nur festzustellen, dass die scheinbar neutrale Berufung auf europäische Werte schon eine Positionierung darstellt. Wenn nun manche Linke im Streit zwischen italienischer Regierung und EU Partei für Letztere ergreifen, sorgen sie dafür, dass sich die Rechte als einzige Kämpfer gegen die Austerität gerieren kann.

Nicht nur Italien im Visier

Dabei gilt es festzuhalten, dass die EU-Kommission auch an Frankreich, Slowenien, Belgien, Spanien und Portugal blaue Briefe geschickt hat, weil die alle gegen die Sparrichtlinien verstoßen würden. Nur machen die anderen Regierungen nicht ein solche großes Brimborium darum. Die italienische Regierung nutzt den Konflikt innenpolitisch.

Dabei zeigt sich an den insgesamt sechs blauen Briefen aus Brüssel, wie absurd die Austeritätspolitik geworden ist. So wird Portugal von vielen Ökonomen bescheinigt, dass das Nichteinhalten des Austeritätsdiktats zu seinem Wirtschaftswachstum beigetragen haben.

In Griechenland kann man dagegen sehen, wie die Austeritätspolitik zur Verelendung der Menschen kombiniert mit einem Niedergang der Wirtschaft geführt hat. Für eine europäische Linke wäre es an der Zeit, diese Fakten in den Mittelpunkt zu stellen und zu einer transnationalen Kampagne zu mobilisieren, die sich erklärtermaßen nicht an die Parteien richtet.

Warum ein Referendum über die EU-Austeritätspolitik an der Zeit wäre

Es wäre angebracht, parallel zu den EU-Wahlen im nächsten Jahr ein Referendum in den EU-Ländern zu organisieren, das alle Menschen, die in diesen Ländern leben, danach befragt, ob sie für eine Fortsetzung oder ob sie für ein Ende der Austeritätspolitik eintreten. Es sollen ganz bewusst alle in den EU-Ländern lebende Menschen befragt werden, weil sie alle von dieser Politik betroffen sind und Migranten oft besonders stark.

Das Referendum könnte von vielfältigen Aktionen und Demonstrationen begleitet werden. Wichtig wäre, dass es zeitgleich in allen EU-Ländern läuft. Ein solches Referendum wäre ein Zeichen, dass es das viel zitierte „andere Europa“ gibt.

Sollte die Linke zu einem solchen Schritt nicht in der Lage sein und es vorziehen, lieber weiter darüber nachzudenken, ob sie jetzt den Rechten zuarbeitet, wenn sie weiter gegen die Austerität der EU-Organe auftritt, gibt sie den Kampf schon verloren, bevor sie ihn überhaupt begonnen hat.

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.weed-online.org/about/personen/wahl.html
[2] https://www.attac.de/startseite/
[3] https://www.presseportal.de/pm/59019/4095643
[4] https://www.thefullbrexit.com/
[5] https://www.heise.de/tp/features/Die-Linke-war-in-der-Brexit-Debatte-nicht-praesent-3255724.html

100 Jahre Sozialpartnerschaft und „Volksgemeinschaft“

… oder wie im Kampf gegen rechts jede Opposition infrage gestellt wird – Das Stinnes-Legien-Abkommen und die Absage an den Klassenkampf

Es ging etwas unter, dass am 16.10. 2018 der Gewerkschaftsbund DGB [1] und der Unternehmerverband BDA [2] das 100-jährige Jubiläum jenes Stinnes-Legien-Abkommens [3] feierten, das eine wesentliche Ursache für die Niederlage der Novemberrevolution war.

Mit dem Abkommen wurde nach Meinung der Befürworter die „Sozialpartnerschaft“ in die Wege geleitet. Man könnte aber polemisch auch von „100 Jahre Volksgemeinschaft“ reden. Denn in diesem Abkommen wurde dem Klassenkampf eine Absage erteilt und die Gewerkschaften stellten die Arbeiter zum Ausgleich für einige sozialpolitische Zugeständnisse unter das Kommando des Kapitals.

Die Gewerkschaften hatten ihr Hauptziel erreicht, vom Sozialpartner Kapital anerkannt zu werden. Dafür gehörten sie zu den größten Gegnern der Räte, die sich nach der Revolution am 9. November 1918 überall in Deutschland spontan bildeten. Kaum waren diese auch mit Unterstützung der Freikorps blutig niedergeschlagen worden, wollte das Kapital auch von den Zugeständnissen nichts mehr wissen, die sie im Stinnes-Legien-Abkommen der vorrevolutionären Situation geschuldet noch machen mussten.

Bald setzen führende Kapitalfraktionen auf den Nationalsozialismus, der die Volksgemeinschaft ganz ohne Zugeständnisse terroristisch gegen diejenigen durchsetzte, die wie die Juden nicht dazu gehören durften oder wie linke Oppositionelle nicht dazu gehören wollten. Doch die Wesensverwandtschaft zwischen Sozialpartnerschaft und Volksgemeinschaft konnte nie verdeckt werden.

Trotzdem hat der DGB-Vorstand 100 Jahre nach der Novemberrevolution nichts Dringlicheres zu tun, als mit dem BDA die eigene freiwillige Unterwerfung unter die Interessen von Staat und Nation zu feiern. Und es gab nicht einmal größere wahrnehmbare Proteste.

100 Jahre unvollendete Revolution

Am 8. November werden in Berlin auch einige Gewerkschafter unter dem Motto „Die unvollendete Revolution von 19181/19“ [4] an die Räte und an die Errungenschaften des Umsturzes erinnern, den die alten Mächte im Bündnis mit den durch den Stinnes-Legien-Pakt kooptierten Teile der Arbeiterbewegung verhindern wollten.

Heute gibt es keine starke Arbeiterbewegung, die integriert werden müsste und von Umsturz reden heute die Rechten und meinen eine noch stärkere Unterwerfung unter Staat und Nation. Doch der Kampf gegen rechts, der nun überall propagiert wird, setzt in der Regel einen völligen Verzicht auf grundsätzliche Kritik an den aktuellen Verhältnissen voraus. Der Schriftsteller Jonas Löscher, der am 13.10. eine europaweite Bewegung gegen Rechts organisieren wollte, bringt die Harmlosigkeit der Bewegung so auf den Punkt [5].

Ich bin aber überzeugt, dass eine Mehrheit sich ein Leben in einer liberalen Demokratie wünscht. Sicher, wir müssen aufmerksam sein, dass die Rechtspopulisten in der Minderheit bleiben. Aber gleichzeitig dürfen wir durchaus selbstbewusst unser Leben in einer freien Gesellschaft leben. Die Menschen merken auf Demos, dass es trotz aller Panik noch gute Gründe für ein positives Selbstbewusstsein gibt. Berlin war dafür ein gutes Beispiel.

Jonas Löscher, Taz [6]

Bei so viel staatstragender Servilität ist es nicht verwunderlich, dass die anvisierten fünf Millionen Demonstranten in ganz Europa nicht erreicht wurden. Der mit dem Status quo zufriedene Mittelstand, und der ist angesprochen, lässt sich eben schwer zu Demonstrationen motivieren. Und das ist durchaus positiv.

Denn eine solche Mobilisierung könnte auch schnell zu einer reaktionären Schwungmasse werden, wenn es Menschen hierzulande tatsächlich mal in Angriff nehmen sollten, die dank SPD und Stinnes-Legien-Abkommen unvollendete Revolution doch noch zu vollenden.

Der reaktionäre Appell an den Zusammenhang der Gesellschaft

Um das zu verhindern, sind vor allem die ideologischen Staatsapparate daran interessiert, aus dem Kampf gegen rechts einen Kampf um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu machen und jede Spaltung als schädlich und gefährlich zu verwerfen.

Dabei wird geflissentlich übersehen, dass die Spaltung in Klassen ein Strukturelement der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist und die Appelle an den Zusammenhalt schon Elemente von Sozialpartnerschaft und auch Volksgemeinschaft enthalten. Genau das propagiert die Rechte seit Jahren.

Daher müsste eine Gegenstrategie gerade umgekehrt sein, alle Formen der Volksgemeinschaft abzulehnen und den Klassenkampf zu verschärfen. Nur dann kann man die rechten Konzepte konterkarieren.

Mit dem freiwilligen Eingliedern zum Zwecke des Kapitals leistet man keinesfalls einen Kampf gegen rechts. Im Gegenteil können sich die Rechten als die letzten Oppositionellen gerieren, die noch von Umsturz reden und damit mehr Nationalismus wollen. Linke Gruppen, die grundsätzliche Kritik an der Verfasstheit der Gesellschaft äußern, werden schnell als Brüder der AfD abgekanzelt, wie es ein FAZ-Kommentator [7] exemplarisch vormachte.

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.dgb.de/termine/++co++c9ce97e8-cded-11e8-87db-52540088cada
[2] https://www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/id/de_100-jahre-sozialpartnerschaft-erfolgreich-in-die-zukunft
[3] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/industrie-und-wirtschaft/stinnes-legien-abkommen-1918.html
[4] http://1918unvollendet.blogsport.eu/
[5] http://www.taz.de/!5540688/
[6] http://www.taz.de/!5540688/
[7] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/afd-und-globalisierungskritik-verachtung-fuer-die-demokratie-15841164.html