#unten – Kummerkasten jetzt auch für sozial Diskriminierte?

Die Debatte über Verarmung und soziale Ausgrenzung, von der nun auch häufiger Akademiker betroffen sind, ist ein guter Anfang. Die Frage ist, welchen Effekt sie haben wird

Die Debatte über Verarmung und soziale Ausgrenzung, von der nun auch häufiger Akademiker betroffen sind, ist ein guter Anfang. Die Frage ist, welchen Effekt sie haben wird

Nach #MeToo und #MeTwo, wo sich von Sexismus und Rassismus Betroffene zu Wort meldeten, hat die linksliberale Wochenzeitung Freitag kürzlich mit dem Hashtag #unten ein Forum für soziale Diskriminierung eröffnet [1]. Das ausgerechnet eine Wochenzeitung, die sich vor allem kulturellen Melangen widmet, diese Initiative startete, ist nur auf den ersten Blick überraschend.

Schon längst sind auch prekäre Akademiker von sozialer Ausgrenzung und auch von Armut betroffen und das ist auch ein wichtiger Grund, warum Armut im Spätkapitalismus in der letzten Zeit zum großen Thema in Medien und Öffentlichkeit geworden ist. Genau wie hohe Mieten wird die real existierende Armut erst dann zum Problem, wenn sie eben nicht nur die trifft, denen in der Öffentlichkeit dann gern die Schuld für ihre soziale Lage zugesprochen wird.

Dann gibt es noch einen biographischen Grund für die Kampagne. Der Journalist Christian Baron [2] hat das Feuilleton des Neuen Deutschland verlassen und in der Wochenzeitung Freitag einen neuen Arbeitsplatz gefunden. Baron hat mit seinen vieldiskutierten Buch Pöbel, Proleten, Parasiten [3] (vgl. Wird die Rechte stark, weil die Linke die Arbeiter verachtet? [4]) auch mit biographischen Zugängen die Armut in Deutschland zum Thema gemacht.

Auch die Soziologin Britta Steinwachs, die ebenfalls #unten initiierte [5], beschäftigt sich seit Jahren damit, wie Armut in Deutschland produziert wird und was das bei den Betroffenen auslöst [6].

Klassenpolitische Dimension von #unten?

Steinwachs stellte diese Frage am Anfang: „#unten – Warum gibt es noch keine klassenpolitische Ergänzung zu #MeToo und #MeTwo?“ Die Frage ist einerseits berechtigt und andererseits irritierend. Es ist natürlich völlig richtig zu fragen, warum die sozialen Diskriminierungserfahrungen nicht ebenso Gegenstand von öffentlichem Interesse sind wie Rassismus- und Sexismuserfahrungen. Die Reaktionen der Freitag-Leserinnen und Leser bestätigten die Notwendigkeit einer solchen Initiative. Hier nur eine von zahlreichen Zuschriften an den Freitag.

Sehr geehrte Redaktion des Freitag,
haben Sie vielen Dank für die Artikel. Selbst bin ich von zwei Seiten im Thema. Ich arbeite als Honorarkraft im ambulant betreuten Wohnen und habe mit armen Menschen zu tun. Ich kenne ziemlich gut, was Christian Baron und Britta Steinwachs beschreiben. Auch die Scham. Und die Hoffnungen. Selbst habe ich mit Ende 40 nicht mehr weitermachen können wie bisher. Ich habe Soziale Arbeit studiert und bin dabei auch politisiert worden.

Jetzt habe ich nach zwei Jahren das Bewerbungen-Schreiben aufgegeben. Das wird nichts mehr, ich bin inzwischen 57 Jahre alt. Es kostet total viel Kraft, die Ursachen für das Scheitern nicht bei mir zu suchen. Ich erfahre die Abwertung: „Wer arbeiten will, findet Arbeit.“ Ich bin überzeugt, dass ich nicht allein bin mit „meinem“ Problem. Nicht im Hilfesystem. Knapp drüber, und aus Scham bloß nicht reinrutschen (und nicht drüber reden).

Leserbrief an den Freitag

Es schrieben auch Menschen, die durch #unten ihre Scham überwunden haben und die Briefe oder Mails mit vollständigen Namen zeichneten, weil ihnen jetzt bewusst geworden hat, dass ihre soziale Situation nicht ihr individuelles Problem ist. Das Problem ist vielmehr ein auf Profit orientiertes System, dass diese Armut produziert. Hier stellt sich dann die Frage, folgt auf #unten eine klassenkämpferische Initiative oder ist es ein Ersatz dafür?

Da müssen an #unten die gleichen kritischen Fragen gestellt werden wie an MeToo – „Kummerkasten von Mittelstandsfrauen oder neues feministisches Kampffeld“ [7] lautete hier eine Frage. Und MeTwo könnte zu einer Erweiterung und Stärkung von antirassistischer Praxis beitragen. #unten könnte der Anfang einer klassenkämpferischen Intervention sein.

Dann wären die Erzählungen der Betroffenen ein Anfang – ähnlich wie vor mehr als 150 Jahren in der frühen Arbeiterbewegung, als auch Berichte über das elende Leben der Arbeiter den Anstoß zur Organisierung gaben, wie Patrick Eiden-Offe in seinem Buch „Die Poesie der Klasse“ [8] für die Zeit des Vormärz gut herausgearbeitet hat.

Wie wird mit den Erfahrungen von Armutsbetroffenen umgegangen?

Und da sind wir bei der angedeuteten Irritation, wenn die Soziologin Britta Steinwachs von der klassenpolitischen Dimension von #unten schreibt. Denn die wäre dann ja der nächste Schritt – aber nicht mit #unten identisch. Hier geht es zunächst um das aufklärerische Benennen der Situation, das Bewusstsein schafft.

Das kann eben darin bestehen, dass man begreift, dass man nicht selbt schuld an der schlechten sozialen Situation ist. Doch damit #unten eine klassenpolitische Dimension bekommt, müsste der nächste Schritt erfolgen. Es müsste eine Form der praktischen Organisierung geben und ein Bewusstsein, dass Armut und Reichtum zwei Seiten einer Medaille im Kapitalismus sind. Bert Brecht hat diesen Zusammenhang in der ihm eigenen Prägnanz so zusammengefasst [9]:

Reicher Mann und armer Mann
standen da und sahn sich an.
Und der Arme sagte bleich:
»Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.

Bert Brecht

Dass sich auch die arme und reiche Frau gegenüberstehen könnten, braucht wohl keiner weiteren Erläuterung. Doch wenn dieser Erkenntnisschritt nicht gegangen wird, bleibt es beim Räsonieren über Armut, das, worauf die Publizistin Mely Kiyak mit Recht hinwies [10], so neu nicht ist.

Neu ist aber, dass nicht auf Armutskonferenzen oder „Runden Tischen gegen Armut“, sondern auch im Wochenblatt des linken Bürgertums über Armut diskutiert wird. Dafür muss sich der Freitag nicht rechtfertigen. Es ist natürlich positiv, wenn eben prekäre Akademiker über Armut reden. Das wäre nur dann zu kritisieren, wenn sie nur über ihre Arbeit debattieren wurden und wenn sie die jahrzehntelange Arbeit von Armutskonferenzen, Runden Tischen der Betroffenen etc. einfach ignoriert würden.

Noch ist nicht klar, wie bei in den von #unten angestoßenen Diskussionen die jahrelange Arbeit dieser Armutsbetroffenen einfließt. Noch ist die Kampagne zu neu, um da ein klares Urteil zu bilden.

Es fällt aber tatsächlich auf, dass darauf in den bisher publizierten Beiträgen kaum Bezug genommen wird. Man wird die weitere Debatte beobachten müssen, um sich ein Urteil bilden zu können. Es gibt aber für die Initiatoren von #unten nicht die Ausrede, die Ergebnisse der jahrelangen Arbeit von Armut Betroffener seien kaum bekannt.

Tatsächlich gab es oft wenig Resonanz auf Pressekonferenzen, wo sie ihre Arbeit und ihre Forderungen darstellten. Doch es gibt Studien über Armut und ihre Auswirkungen unter Anderem von Anne Allex zu Frauen in Armut und prekärer Beschäftigung [11]. Das ist nur eins von zahlreichen Beispielen.

Was folgt auf #unten?

Ob #unten also tatsächlich der Beginn einer neuen klassenkämpferischen Organisierung wird oder ein weiteres Beispiel für das „Räsonieren über Armut“ wird sich praktisch erweisen.

Doch es zeigte sich bereits, dass solche Initiativen bei den Betroffenen durchaus auf Resonanz stoßen und auch die Probleme einer Gesellschaft im Spätkapitalismus zeigt, in dem die Menschen oft so voneinander isoliert sind, dass sie solche Anstöße zur Kommunikation brauchen.

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-4232205
https://www.heise.de/tp/features/unten-Kummerkasten-jetzt-auch-fuer-sozial-Diskriminierte-4232205.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/armut-spricht
[2] http://www.christian-baron.com
[3] https://www.eulenspiegel.com/verlage/das-neue-berlin/titel/kein-herz-fuer-arbeiter.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Wird-die-Rechte-stark-weil-die-Linke-die-Arbeiter-verachtet-3452409.html
[5] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/sag-mir-wo-du-herkommst
[6] http://www.sebastian-friedrich.net/das-maerchen-vom-boesen-armen-die-soziologin-britta-steinwachs-lueftet-den-ideologischen-schleier-des-privatfernsehens/
[7] https://www.heise.de/tp/features/Metoo-Kummerkasten-von-Mittelstandsfrauen-oder-neues-feministisches-Kampffeld-4153174.html
[8] https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/die-poesie-der-klasse.html
[9] https://www.zitate-online.de/sprueche/kuenstler-literaten/18900/reicher-mann-und-armer-mannstanden-da-und.html
[10] https://www.zeit.de/kultur/2018-11/armut-unten-hashtag-klassengesellschaft-chancengleichheit
[11] https://www.rosalux.de/dokumentation/id/13725/frauen-in-armut-und-prekaerer-beschaeftigung/

Poesie der Klasse

Der entstehende Kapitalismus brachte nicht nur massenhaftes Elend hervor. Mit ihm bildeten sich in den unteren Klassen auch neue Formen der Dichtung und des Erzählens heraus, in denen die Misere der Gegenwart und Formen des Widerstands ei drücklich beschrieben werden. Nur wenige dieser Schriften sind heute noch bekannt. Manche von ihnen wurden in den Büchern von Marx und Engels zitiert, beispielsweise der Arbeiterdichter Wilhelm Weitling. Marx würdigte ihn als einen der ersten, der sich für die Organi-ierung des Proletariats einsetz- te. So heißt es auf der Homepage www.marxist.org über Weitling: „Trotz späteren Auseinandersetzungen achteten Marx und Engels den ‚genialen Schneider‘ (Rosa Luxemburg) sehr hoch und betrachteten ihn als ersten Theoretiker des deutschen Proletariats.“
Allerdings wird gleich auch betont, dass Weitlings Ansätze an theoretische und praktische Grenzen gestoßen sind. Inhaltich gibt es für diese Kritik gute Gründe, doch hat der Umgang mit Weitling in der marxistischen ArbeiterInnenbewegung auch etwas Paternalistisches. Schließlich blieb Weitling sein Leben lang Schneider, hatte nie eine Universität besucht und schon deshalb hatten seine Arbeiten es schwerer, wahrgenommen und gehört zu werden. Dabei gehört er zu den wenigen Chronisten der frühen Arbeiterbewegung, deren überhaupt ei- nem größeren Kreis bekannt ist. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe hat in seinem Buch „Die Poesie der Klasse“ viele der frühen Texte der ArbeiterInnenbewegung dem Vergessen entrissen. Er beklagt, dass sie lange Zeit nur durch die Brille des Marxismus gesehen und als romantischer Antikapitalismus beiseite gelegt.

Schon im Klappentext des Buches heißt es über die AutorInnen: „Die buntscheckige Erscheinung, die Träume und Sehnsüchte dieser allen ständischen Sicherheiten entrissenen Gestalten fanden neue Formen des Erzählens in romantischen Novellen, Reportagen, sozial- staatlichen Untersuchungen, Monatsbulletins. Doch schon bald wurden sie – ungeordnet, gewaltvoll, nostalgisch, irrlichternd und utopisch, wie sie waren – von den Arbeiterbewegung als reaktionär und anarchistisch verunglimpft, weil sie nicht in die große Fortschrittsvision passen wollten“.
So verdienstvoll es von Patrick Eiden-Offe ist, diese Texte wie- der bekannt gemacht und mit großem Engagement in einem Buch präsentiert zu haben, dass auch für NichtakademikerInnen zu lesen Freude und Erkenntnisgewinn bereitet, so muss man doch die Kritik des Autors an den Marxistinnen hinterfragen. Gerade, nach der Lektüre der Texte zeigt sich, dass diese Kritik oft berechtigt war. Dabei geht es gerade nicht darum, den VerfasserInnen der Texte zu unterstellen, sie wären reaktionär. Es geht vielmehr darum, zu analysieren, dass sie in ihren Texten ihre Vorstellungen von der Welt und dem hereinbrechenden Kapitalismus zum Ausdruck gebracht haben. Sie haben dabei Gerechtigkeitsvorstellungen zum Maßstab genommen, die sie aus dem Feudalismus und der ständischen Gesellschaft übernommen hatten. Nur waren diese Vorstellungen mit dem Einzug des Kapitalismus obsolet geworden. Es war ein Verdienst von Marx und Engels, dass sie die Ausbeutung und nicht den Wucher als zentrales Unterdrückungsinstrument im Kapitalismus analysiert haben. An einem romantischen Kapitalismus festzuhalten wäre dann nur anachronistisch und birgt noch die Gefahr einer reaktionären Lesart der Kapitalismuskritik, die die Schuldigen für die Misere nicht im kapitalistischen Konkurrenz- und Profitstreben, sondern in Wucherern sieht. Das war übrigens ein Schwungrad für den modernen Antisemitismus. Dem Autor sind solche Bestrebungen fern. Dass Eiden-Offe auf diese Gefahren eines romantischen Antikapitalismus nicht besonders eingeht, liegt wohl vor allem daran, dass er voraussetzt, dass seine LeserInnen mit der Problematik einer reaktionären Kapitalismuskritik vertraut sind.

Die Rückkehr des virtuellen Pauper

Ihm geht es um etwas Anderes, wie er im letzten Kapitel des Bu- ches, das unter dem Titel „Die Rückkehr des romantischen Antikapitalismus“ steht, erläutert: Wenn es seit dem Vormärz eine Uniformierung und Normierung des Proletariats gegeben hat, dann wird diese Klassenfiguration vom Gespenst des „virtuellen Paupers“, der durch keine sozialstaatliche Absicherung und durch keine Verbürgerlichung des sozialen Imaginäten zu bannen ist. Parallel zur Einhegung des Klassenkampfs in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften und zur Integration der offiziellen Arbeiterbewegung in die Gesellschaft gibt es eine andere Geschichte, die Geschichte einer anderen Arbeiterbewegung, die Geschichte all jener sozialen Gestalten, in denen das Gespenst des „virtuellen Paupers sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts verkörpert und die gehegte soziale Ordnung bespukt hat“. Damit bezieht sich der Autor auf sozialrevolutionäre Debatten der 1970er Jahre, als der linke Historiker Karlheinz Roth ein Buch mit dem Titel „Die andere Arbeiterbewegung“ veröffentlichte, in dem er die Pauperierten zum neuen revolutionären Subjekt erklärte. Er setzte sie von den Teilen der Arbeiterklasse ab, die im Rahmen des nationalen Klassenkompromisses befriedet wurden. Man könnte auf sie den Begriff der Arbeiteraristokratie anwenden. Eiden-Offe zeigt, wie sich auch diese Einhegung eines Teils des Proletariats in den zeitgenössischen Schriften niederschlägt, beispielsweise in Ernst Willkomms Roman „Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes“ von 1845. Hier ging es zum Schluss um die nationale Einhegung der ArbeiterInnen. Eiden-Offe beschreibt die Konsequenzen präzise: „Ab jetzt sollte es keine ‚vaterlandslosen Gesellen‘, keine ‚heimatlose Klasse‘ mehr geben, sondern nur noch ‚deut- sche Arbeiter‘, die vaterlands- losen Gesellen‘, die es natürlich weiterhin gibt, werden marginalisiert und ausgeschlossen: ideologisch wie materiell, wenn sie aus der staatlichen Fürsorge rausfallen“.
Der Autor beschreibt präzise, dass diese nationale Einhegung zum „Sargnagel des buntscheckigen Proletariats des Vormärz“ wurde, dessen Geschichte in dem Buch erzählt wird. Allerdings zeigte sich in der letzen Zeit das veränderte Gesicht der heutigen ArbeiterInnenklasse, beispielsweise bei den zahlreichen Arbeitskämpfen im Pflege- und Gesundheitsbereich, aber auch bei Kurierdiensten. Es sind dort sehr viele Frauen aktiv, und nicht wenige der ProtagonistInnen dieser Kämpfe haben einen Migrationshintergrund. Vielleicht wird hier in Ansät- zen diese bunte, gar nicht so heterogene ArbeiterInnenklasse sichtbar, die in dem Buch so anschaulich beschrieben wird.

libertäre buchseiten
graswurzelrevolution oktober 2018/432

Peter Nowak