Die SPD will weiter strafen

Politiker von SPD und Grünen behaupten, Hartz IV beenden zu wollen. Die meisten von ihnen möchten die bestehende Form der Grundsicherung jedoch lediglich reformieren.

»Weg mit Hartz IV« lautete jahrelang die Parole von Erwerbslosengruppen und sozialen Initiativen. Ausgerechnet Politiker der beiden Parteien, die das meist nur Hartz IV genannte Arbeits­losengeld II (ALG II) einst beschlossen, machen sich diese Forderung nun zu eigen. In den vergangenen Wochen versuchten vor allem Spitzenpolitiker von SPD und Grünen, sich als Kritiker des bestehenden Systems der Grundsicherung zu profilieren. »Die neue Grundsicherung muss ein Bürgergeld sein«, schrieb Andrea Nahles in einem Gastbeitrag für die FAZ. Auf einem ­sozialdemokratischen »Debattencamp« in Berlin hatte die Partei- und Frak­tionsvorsitzende der SPD zuvor bereits behauptet, ihre Partei wolle Hartz IV »hinter sich lassen«.

Wodurch das von ihr geforderte Bürgergeld sich von der bisherigen Form der Grundsicherung unterscheiden würde, sagte Nahles jedoch nicht.

Der sozialdemokratische Bundes­arbeitsminister Hubertus Heil weigert sich indes weiterhin, ein Reformprojekt seines Parteifreunds Michael Müller finanziell zu unterstützen. Der Vorschlag des Regierenden Bürgermeisters von Berlin sieht vor, dass Langzeit­arbeitslose 1 200 Euro bekommen, wenn sie bereit sind, gemeinnützige Arbeiten zu übernehmen, etwa für Gemeinden den Park zu pflegen. Als langzeit­arbeitslos gilt dem Konzept zufolge, wer ein Jahr oder länger arbeitslos gemeldet ist. Würde Müllers Vorschlag realisiert, könnte einigen Menschen, die ­arbeitslos werden, der Hartz-IV-Bezug erspart bleiben. Wer sich erwerbslos meldet, erhält schließlich zunächst bis zu zwei Jahre Arbeitslosengeld I (ALG I), sofern er in den vorangegangenen Jahren in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis gestanden hat. Anders als das ALG II orientiert sich das ALG I nicht am »Existenzminimum«, sondern am vorigen Einkommen des Leistungsbeziehers. Der Bundesarbeitsminister will Erwerbslosen zwar gemäß dem im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vereinbarten Programm »Teilhabe am Arbeitsmarkt« durch die staatliche Bezuschussung von Stellen in der privaten Wirtschaft, in sozialen Einrichtungen oder bei den Kommunen wieder einen Arbeitsplatz ver­mitteln. Das Programm soll aber nur für Erwerbslose gelten, die in den ­vergangenen sieben Jahren mindestens sechs Jahre lang Hartz IV bezogen ­haben.

Sieht man sich genauer an, wie die neuen Hartz-IV-Kritiker argumentieren, wird deutlich, dass die meisten von ­ihnen die Grundsicherung lediglich ­reformieren wollen. Hartz IV soll nicht abgeschafft, sondern den veränderten ökonomischen und politischen Bedingungen angepasst werden. So schrieb der Wirtschaftsjournalist Mark Schieritz in der Wochenzeitung Die Zeit über die »fast 15 Jahre«, die seit der Einführung von Hartz IV vergangen sind: »In diesen 15 Jahren ist in Deutschland ziemlich viel passiert. Statt Massenarbeitslosigkeit herrscht zumindest in einigen Regionen fast Vollbeschäftigung. Die Staatskassen sind nicht mehr leer, sondern quellen über. Die Industriegesellschaft verwandelt sich in eine Digitalgesellschaft. Es gibt eine rechtspopulistische Partei, die die Ängste der Menschen für ihre dunklen Zwecke ausnutzt.« Angesichts dieser Situation, so Schieritz weiter, klinge es »nicht ­un­bedingt nach einer einleuchtenden These«, dass »ausgerechnet bei der Grundsicherung alles beim Alten bleiben soll«.

»Wenn jemand zum zehnten Mal nicht zu einem Termin beim Amt erscheint, sollte das Konsequenzen haben.« Hubertus Heil, Bundesarbeitsminister

Schieritz benennt nicht, welche beabsichtigten Folgen Hartz IV für den ­Arbeitsmarkt hatte. Durch diese neue Form der Grundsicherung nahm die Angst vor Erwerbslosigkeit bei Menschen mit geringen Einkommen stark zu. Viele Geringverdiener nehmen Lohnarbeit zu fast jeder Bedingung an. Mit Hartz IV wurde ein Niedriglohnsektor etabliert – ganz im ­Sinne des deutschen Kapitals, das sich davon eine gute Position in der Weltmarktkonkurrenz verspricht. Eine tiefgreifende Entsolidarisierung bei den Lohnabhängigen, die es rechten Parteien wie der AfD erleichterte, auch unter prekär Beschäftigten und Arbeitslosen Unterstützung zu finden, war die Konsequenz. Dies sind die Veränderungen, die auch den Bundesvorsitzenden der Grünen, Robert Habeck, zu einer zumindest programmatischen Abkehr von Hartz IV veranlasst haben dürften. In einem internen Strategiepapier plädiert Habeck einem Bericht der Zeit zufolge dafür, Hartz IV durch eine »Garantiesicherung« zu ersetzen. Diese soll dem Papier zufolge höher als der Hartz-IV-Regelsatz von 416 Euro ausfallen. Eine konkrete Zahl nennt Habeck jedoch nicht. Sanktionen soll es Habecks Plänen zufolge zukünftig nicht mehr geben. Dass Erwerbslose weiterhin Beratungs- und Weiterbildungsangebote wahrnehmen, will Habeck durch ein System von ­Anreizen und Belohnungen erreichen. Welche Anreize und Belohnungen dies sein könnten, sagte der Grünen-Vorsitzende nicht.

Bundesarbeitsminister Heil lehnt es dagegen ab, die Hartz-IV-Sanktionen vollständig abzuschaffen. »Ich bin dagegen, jede Mitwirkungspflicht auf­zuheben. Wenn jemand zum zehnten Mal nicht zu einem Termin beim Amt erscheint, sollte das Konsequenzen haben«, sagte Heil dem Tagesspiegel. ­Anders der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann: Er sprach sich für eine sanktionsfreie Mindestsicherung aus. Dies beteuerte Hoffmann zumindest bei einem Pressetermin am Donnerstag voriger Woche. In einem am vorvergangenen Samstag in der Berliner Morgenpost erschienenen Interview hatte er auf die Frage, ob es gutgehen könne, wenn die Grünen das Hartz-IV-System reformieren würden, »indem sie Arbeitslose nicht mehr zwingen wollen, ­Arbeit aufzunehmen«, noch geantwortet, dies sei »keine gute Idee«.

Hätte Hoffmann seine Antwort nicht revidiert, wäre er der bisherigen Linie des DGB, Hartz IV konstruktiv zu begleiten, treu geblieben. So saßen in der von SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder eingerichteten »Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, die Hartz IV konzipierte, auch Vertreter von DGB-Gewerkschaften. Deren Erwerbslosenausschüsse und einzelne Gewerkschaftsgruppen äußerten immer wieder Kritik an dieser Linie. Die DGB-internen Kritiker wiesen vor allem darauf hin, dass sich durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors, die mit Hartz IV einherging, auch die gewerkschaftlichen Kampfbedingungen verschlechterten. Denn gerade in ­jenem Sektor ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad oft sehr gering. Wer gezwungen ist, Lohnarbeit zu fast ­jedem Preis anzunehmen, beteiligt sich seltener an Streiks.

Der außerparlamentarische Widerstand gegen das Hartz-IV-System war nie besonders groß und ist in den vergangenen Jahren noch kleiner geworden. Einige Jahre lang hatten Erwerbslosengruppen mit Aktionen vor und in den Jobcentern die Institution ins Zentrum ihres Protests gerückt, die für die Sanktionen zuständig ist. Solidarische Aktionen wie die Zahltage, an denen Erwerbslose gemeinsam Jobcenter aufsuchten, um die Bearbeitung von teilweise monatelang ignorierten Anträgen oder die Auszahlung von zurückgehaltenen Geldern zu fordern, sollten der Vereinzelung der Leistungsempfänger entgegenwirken. Solche Aktionen sind selten geworden. Im Oktober 2010 hatte die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) unter dem Motto »Krach schlagen statt Kohldampf schieben« zu einer bundesweiten Demonstration von Erwerbslosen aufgerufen. Dass man von Lohnarbeit leben können müsse, ohne aber auch, war damals eine der wichtigsten Forderungen. Seit rechte Gruppen wieder vermehrt auf der Straße präsent sind, hört man solche ­Parolen nur noch selten. Gesellschaftliche Durchschlagskraft hatten sie nie. Allenfalls die Forderung nach einem »Sanktionsmoratorium«, die Politiker von SPD, Linkspartei und Grünen sowie Gewerkschafter vor fast zehn Jahren ­erhoben, schaffte es in die »Tagesschau«. Würden die Politiker, die derzeit über eine Reform der Grund­sicherung diskutieren, die Sanktionspraxis der Jobcenter aussetzen, könnten sie dem Hartz-IV-System zumindest ­etwas von seinem Schrecken nehmen.

https://jungle.world/artikel/2018/48/die-spd-will-weiter-strafen

Peter Nowak

Hartz IV-Reform oder Bruch mit dem Hartz IV-System?

Über Nebelkerzen bei der aktuellen Debatte über eine Überwindung von Hartz IV – Ein Kommentar

Hartz IV am Ende? Diese Fragen stellen sich in den letzten Tagen einige Zeitungen [1]. Sowohl Robert Habeck von den Grünen als auch Andrea Nahles von der SPD ist mit Konzepten an die Öffentlichkeit getreten, die angeblich das Ende von Hartz IV bedeuten. Nur sollte man dann schon genauer hingucken, was damit gemeint ist.

Das Ende von Hartz IV propagierten Politiker schon kurz nach dessen Einführung. Sie wollten aber nicht das Gesetz abschaffen, sondern die Bezeichnung. Der Namensgeber Peter Hartz kam schließlich wegen hinterzogener Steuern juristisch in Probleme und da schien er dann kein geeigneter Werbeträger mehr zu sein. Nur haben von einer solchen kosmetischen Retusche natürlich die Betroffenen nichts.

Habeck I statt Hartz IV?

Wenn man sich heute anguckt, wie der grüne Hartz IV-Kritiker Habeck [2] und seine Unterstützer [3]argumentieren, darf man bezweifeln, ob da heute mehr als Retusche rauskommt. Zunächst fällt auf, dass die Einführung von Hartz IV nicht als politischer Fehler bezeichnet, sondern darauf hingewiesen wird, dass mittlerweile 15 Jahre vergangen seien:

In diesen 15 Jahren ist in Deutschland ziemlich viel passiert. Statt Massenarbeitslosigkeit herrscht zumindest in einigen Regionen fast Vollbeschäftigung. Die Staatskassen sind nicht mehr leer, sondern quellen über. Die Industriegesellschaft verwandelt sich in eine Digitalgesellschaft. Es gibt eine rechtspopulistische Partei, die die Ängste der Menschen für ihre dunklen Zwecke ausnutzt. Dass vor diesem Hintergrund ausgerechnet bei der Grundsicherung alles beim Alten bleiben soll, klingt nicht unbedingt nach einer einleuchtenden These.

Mark Schieritz, Zeit

Nur benennt er nicht, was genau in diesen 15 Jahren passiert ist und dass es genau das war, was sich die Erfinder von Hartz IV erwartet haben. Die Angst und der Druck haben bei den Menschen mit geringen Einkommen massiv zugenommen. Viele denken, alles sei besser, als unter das Hartz IV-System zu fallen, und nehmen Lohnarbeit unter fast jeder Bedingung an. Mit Hartz IV wurde so ein Niedriglohnsystem etabliert, und das ist ganz im Sinne des deutschen Kapitals, dass sich damit gute Konkurrenzbedingungen im Kampf mit anderen Wirtschaftsstandorten verspricht.

Dafür setzte eine massive Entsolidarisierung unter den Lohnabhängigen ein, die es rechten Parteien wie der AfD erleichtert hat, auch in diesen Kreisen Unterstützung zu finden. Das bedeutet eben nicht, dass die Menschen nur deshalb AfD wählen, weil sie soziale Probleme haben. Zunächst wird die Partei ja auch verstärkt von einem Kleinbürgertum mit Abstiegsängsten gewählt. Doch die politisch gewollte Vereinzelung der Lohnabhängigen hat rechte Tendenzen gefördert.

Das sind die Veränderungen, die Habeck und seine Unterstützer konstatieren und zur Grundlage ihres Plädoyers nehmen, um eine Alternative zu Hartz IV zu empfehlen. Zudem darf auch bei Habeck der Hinweis nicht fehlen, dass das Problem für die Wirtschaft in Deutschland nicht die Höhe der Kosten der Arbeitskraft ist, sondern der Mangel an Arbeitskräften. „Man wird nicht ohne Sanktionen auskommen.“

Dann kann auch die CDU-Reformbereitschaft bei Hartz IV [4] signalisieren und deren Grundlagen verteidigen. Auch der Politikwissenschaftler Wolfgang Schröder will Hartz IV reformieren, ohne es zu beseitigen, wie er im Interview [5] mit dem Tagesspiegel erklärte:

Ist denn eine Reform notwendig?

Es wurden damals schon einige Fehler gemacht. Kaum ein anderes Gesetz ist bislang schon so oft verbessert worden, es gab 50 Änderungen. Es ist im Sinne dieses Gesetzes, dass man es immer wieder anpasst. Man sollte nur nicht die Erwartung wecken, dass man die Grundstruktur der deutschen Arbeitsmarktversicherung zur Disposition stellen kann. Insgesamt hält die überwältigende Mehrheit der Experten das Grundprinzip Fordern und Fördern für angemessen. Gerade deshalb gab es von Anfang an Kritik daran, dass das Element der Förderung im Hartz IV-System unterentwickelt ist und die Menschen zu sehr gegängelt werden.

Was bedeutet das für die Reform?

Auch für jede neue Struktur wird man Zugangskriterien definieren müssen, die zwischen Berechtigten und Nicht-Berechtigten unterscheiden. Man wird auch nicht ohne Sanktionen auskommen. Wissenschaftliche Studien belegen, dass die Arbeitsmarktintegration in der Regel besser funktioniert, wenn Sanktionen eingesetzt werden. Und auf die Integration kommt es an. Und zwar eine, die dann die Basis für weiteren Aufstieg ist. Über diesen Punkt sollte meiner Meinung nach mehr nachgedacht und neue Initiativen dazu entfaltet werden.

Wolfgang Schröder

Ehrlicher als die Politiker spricht Schröder an, dass es einen Unterschied zwischen einer vielzitieren Hartz IV-Reform und dem Bruch mit dem Hartz IV-System gibt. Die Reform gehört zum System dazu. Es muss immer wieder evaluiert, optimiert und angepasst werden, damit es nach den Vorstellungen der Erfinder funktioniert.

Solche Hartz IV-Reformen haben auch Habeck und Nahles im Sinn, wenn sie so wortgewaltig das Ende von Hartz IV verkünden. Die SPD bringt auch das Kunststück fertig, dass zeitgleich der Hartz IV-Verantwortliche Gerhard Schröder vor der Friedrich-Ebert-Stiftung vor 650 wohl vorwiegend sozialdemokratischen Gästen seine Regierung feiern konnte, ohne dass die Armut durch das Gesetz in Frage gestellt wurde. Dass die SPD noch immer Probleme mit Hartz IV hat, kann der Altkanzler und Wirtschaftslobbiest bis heute nicht verstehen.

Die Konsequenz aus der Debatte um die Hartz IV-Reform müsste sein, dass die grundsätzlichen Gegner einen Bruch mit dem Hartz IV-System fordern müssen. Das heißt anzuerkennen, dass Menschen grundsätzlich soziale Rechte haben, die nicht daran gebunden sind, was sie angeblich arbeiten. Zudem sollten sie SPD und Grüne auffordern, in den Bundesländern, in denen sie noch Einfluss haben, ein sofortiges Sanktionsmoratorium im Hartz IV-System durchzusetzen und damit eine Forderung umzusetzen, daie ein Bündnis [6] seit Jahren fordert.

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-4222638
https://www.heise.de/tp/features/Hartz-IV-Reform-oder-Bruch-mit-dem-Hartz-IV-System-4222638.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.morgenpost.de/politik/article215792275/Robert-Habeck-will-mit-Garantiesicherung-Hartz-IV-veraendern.html
[2] https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-11/sozialsystem-hartz-iv-arbeitslosengeld-sozialleistungen-grundsicherung-grundeinkommen-veraenderung
[3] https://www.gruene.de/ueber-uns/2018/wir-brauchen-eine-neue-garantiesicherung.html
[4] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/arm-und-reich/cdu-plaediert-fuer-eine-gezielte-aenderungen-von-hartz-iv-15889252.html
[5] https://www.tagesspiegel.de/politik/hartz-iv-und-die-spd-man-wird-nicht-ohne-sanktionen-auskommen/23624194.html
[6] http://www.sanktionsmoratorium.de/

DGB streitet um Positionierung zu Hartz IV

Bundesvorstand verhinderte Veröffentlichung eines Papiers der eigenen Rechtsabteilung, das die Sanktionspraxis deutlich kritisiert

„Der Deutsche Gewerkschaftsbund ist daher der Auffassung, dass das Sanktionsregime nicht nur das Grundgesetz verletzt, sondern auch aus sozialpolitischen Gründen verfehlt ist.« So deutlich wurde selten von Seiten des DGB die Sanktionspraxis gegen Hartz-IV-Empfänger_innen verurteilt. Doch obwohl die Stellungnahme der Rechtsabteilung des DGB bereits mehrere Monate alt ist, ist sie kaum bekannt. Schließlich hat der DGB-Bundesvorstand eine Veröffentlichung verhindert. Auch der Sozialhilfeverein Tacheles e.V. wurde gebeten, die Stellungnahme nicht zu veröffentlichen, wie deren Geschäftsführer Harald Thome gegenüber »nd« bestätigte. Mittlerweile ist die 23-seitige Stellungnahme allerdings auf der Onlineplattform LabourNet Germany zu finden. 

Dass es zu der Stellungnahme kam, ist einem Arbeitsrichter des Sozialgerichts Gera zu verdanken, der die Sanktionen für verfassungswidrig hält und das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingeschaltet hatte. Wie üblich hat diese Instanz Stellungnahmen von sachkundigen Organisationen eingeholt, darunter der DGB. In der Stellungnahme der Rechtsabteilung finden sich sämtliche Argumente der Hartz-IV-Kritiker_innen. Sehr detailliert stellten die Verfasser_innen der Erklärung klar, wie mit den Hartz-IV-Gesetzen ein politisch gewollter Niedriglohnsektor in Deutschland etabliert wurde, der die Rechte von Lohnabhängigen einschränkt. 

Es ist nicht verwunderlich, dass dem DGB-Bundesvorstand die Hartz-kritische Stellungnahme nicht gefällt. Schließlich saßen in der Kommission, die die Agenda 2010 einst vorbereitete, auch Vertreter von DGB-Gewerkschaften. Noch 2015 hatte der DGB-Vorstand die Sanktionen verteidigt. Dass er nun sogar eine juristisch fundierte Stellungnahme aus dem eigenen Haus verschweigen will, hat vor allem bei den gewerkschaftlichen Erwerbslosenausschüssen Protest ausgelöst. Der ver.di-Erwerbslosenausschuss hatte bereits 2015 vom DGB-Vorstand eine Erklärung verlangt, warum dieser immer noch die Agenda 2010 unterstützt. Darauf gab es die vage Antwort, man handele im »höheren Interesse«. 

Viele Kritiker_innen des DGB-Vorstandes sahen einen Zusammenhang zwischen der Zurückhaltung des Papiers der Rechtsabteilung und den Bundestagswahlen. Der Vorstand wolle, so der Verdacht, das Verhältnis des DGB zur SPD nicht stören und halte sich daher mit Kritik an der Agenda 2010 zurück. Vor allem die als SPD-Linke firmierende Andrea Nahles war in ihrer Position als Arbeitsministerin von führenden DGB-Gewerkschafter_innen oft gelobt worden, besonders nachdem sie den Mindestlohn mit auf den Weg gebracht hatte. Doch auch nach den Bundestagswahlen gab der DGB-Vorstand die Stellungnahme der Rechtsabteilung nicht frei.
Es gibt also offenbar auch innergewerkschaftliche Gründe. Die Mitwirkung der Gewerkschaften bei der Agenda 2010 wurde nie kritisch aufgearbeitet. Tatsächlich dürften die gewerkschaftlichen Interessenvertreter_innen der Beschäftigten in den Jobcentern einen großen Druck ausüben. Immer wenn in der Mitgliederzeitschrift der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ein kritischer Artikel oder eine Reportage zu dem Hartz-Sanktionsregime veröffentlicht wurde, meldeten sich Mitarbeiter_innen der Jobcenter zu Wort, die sich gegen Hetze gegen ihren Berufsstand wandten und ihre Gewerkschaftsmitgliedschaft zur Disposition stellten.

Die Kritik an der Verschweigepraxis des sanktionskritischen Gutachtens sollte nicht nur den Erwerbslosenausschüssen überlassen werden. Schon vor einigen Jahren gehörten Gewerkschafter_innen wie der ver.di-Chef Frank Bsirske zu den Unterzeichner_innen eines Aufrufs für ein Sanktionsmoratorium. Es wäre doch eigentlich zu erwarten, dass von ihnen nun Widerspruch kommt, wenn eine sanktionskritische Expertise aus dem eigenen Haus unterdrückt wird,

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1067445.dgb-streitet-um-positionierung-zu-hartz-iv.html

Peter Nowak