Der Ökonom Kamal Salehezadeh war im Iran bei der revolutionären linken Gruppe Volksfedajin aktiv und lebt in Hamburg. Derzeit plant er eine Veranstaltungsreihe zu den Hintergründen der Gefangenenmassaker im Iran 1988.
Wer genau waren die Opfer der Massenhinrichtungen im Iran vor 27 Jahren?
In nur neun Wochen, vom August bis zum Oktober 1988, hat das iranische Regime Massenexekutionen von Oppositionellen durchgeführt. Die Menschen, die getötet wurden, waren inhaftiert und ein Großteil von ihnen hatte die Haftstrafen, zu denen sie verurteilt waren, bereits verbüßt. Die genaue Zahl der Hingerichteten konnte bis heute nicht ermittelt werden. Es ist aber klar, dass mehrere Tausend Menschen dem Terror zum Opfer fielen. Die Hingerichteten repräsentierten die ganze Bandbreite der Opposition gegen das Mullah-Regime. Doch die meisten der Opfer stammten aus der Linken. Reformerische Kräfte waren ebenso betroffen wie linke Guerillakämpfer und kurdische Aktivisten.
Welches Ziel verfolgte das Regime mit dem Terror?
Nach dem Sturz der Schah-Diktatur war die Linke im Iran sehr stark. Im kurdischen Teil des Irans hatte sich die Bevölkerung ebenso in Räten organisiert wie im Nordiran, wo es eine starke Bauernorganisation gab. In allen Bereichen der iranischen Gesellschaft, in Schulen, Universitäten und Fabriken, gab es Versammlungen, auf denen die Menschen selber über ihre Interessen entscheiden wollten. Mit den Massakern sollte jede Alternative zum islamistisch-kapitalistischen Regime ausgelöscht werden.
Gibt es im Iran Gedenkveranstaltungen für die Opfer?
Offiziell wird über das Massaker nicht gesprochen. Doch die Angehörigen organisieren Gedenkveranstaltungen an dem anonymen Massengrab, in dem das Regime die Ermordeten begraben hat. Bei den Veranstaltungen kommt es immer wieder zu Festnahmen. Einige Angehörige sind wegen der Beteiligung an den Gedenkaktionen im Gefängnis, doch davon lässt sich niemand abhalten.
Warum machen Sie jetzt, 27 Jahren danach, in Deutschland eine Rundreise dazu?
Weil ich immer wieder feststellen musste, dass in Deutschland Menschen oder Organisationen, die sich als links verstehen, das iranische Regime verteidigen und dessen staatsterroristischen Charakter ausblenden.
Wie manche konservative Kommentatoren und Ökonomen den griechischen Ministerpräsidenten lieben lernten
Der griechische Ministerpräsident Tsipras verliert zumindest in seiner Syriza-Partei an Unterstützung. Dafür findet er neue Anhänger, ausgerechnet in der konservativen FAZ [1].
Ja, Griechenland kann es schaffen. Vorbei ist die Zeit des schillernden Giannis Varoufakis mit viel Show und noch mehr Bluff. Die neue Mannschaft von Ministerpräsident Alexis Tsipras hat sich offenkundig ernsthaft an die Arbeit gemacht; ein Lichtblick ist vor allem Finanzminister Euklid Tsakalotos. Mittlerweile hebt sich die Regierung sogar wohltuend von der Anfang 2015 abgewählten Regierung Samaras ab, die gegen Ende ihrer Amtszeit kraftlos war und nichts mehr anpackte.
Plötzlich wird der Ministerpräsident, der noch vor Wochen als linksradikaler Populist und Gegner Deutschlands galt, zum Hoffnungsträger der FAZ, der sogar die in dem Blatt so umsorgten griechischen Konservativen in den Schatten stellt. Der Grund dafür ist nicht schwer zu finden und wird vom FAZ-Autor auch offen dargestellt: „Die Leute glauben an ihn, und das bietet die Chance, dass selbst harte Einschnitte akzeptiert werden.“
Ein Rätsel bleibt Ministerpräsident Tsipras, der nun das völlige Gegenteil dessen macht, was er bis zum Referendum am 5. Juli propagiert hatte. Er hat erkannt, dass es zu dem Hilfspaket und dessen Auflagen keine praktikable und vernünftige Alternative gibt, und deshalb die Kehrtwende vollzogen. Das wirft ihm kaum einer in Griechenland vor; wie bei einer Teflonschicht bleibt an ihm nichts hängen – auch nicht, dass die Kreditgeber heute auf ungleich härteren Bedingungen bestehen als zu Jahresbeginn. Die Leute glauben an ihn, und das bietet die Chance, dass selbst harte Einschnitte akzeptiert werden. Der dysfunktionale griechische Staat wird aus den neuen Gesetzen gewiss nicht das machen, was die Gläubiger erwarten. Die Chance besteht aber, dass die Krise einen Modernisierungsschub in Gang setzt, den das Land so dringend braucht.
Es sind nun nicht das erste Mal, dass ein Sozialdemokrat die unpopulären Maßnahmen umsetzen soll, die Konservative und Liberale nicht mehr umsetzen können.
„Diesmal gibt es in Athen keine Opposition mehr“
Daniel Gros [2] vom wirtschaftsliberalen Think Thank CEPS [3] ist der Überzeugung, dass mit Tsipras die Politik umgesetzt werden kann, die in den letzten Jahren in Griechenland durch Massenproteste zumindest behindert [4] worden war:
Es wäre schon ein großer Erfolg, wenn die Reformen umgesetzt werden. Die Chancen stehen besser, denn diesmal gibt es in Athen keine Opposition mehr, das Memorandum wird regelrecht durch das Parlament fliegen! Das heißt aber nicht, dass alles gut wird. Griechenland kann sich glücklich schätzen, wenn es in einigen Jahren so dasteht wie Portugal heute.
Nun könnte man denken, dass Gros mit seiner Einschätzung, dass es in Griechenland keine Opposition mehr gibt, doch etwas voreilig unterwegs ist. Schließlich versucht die Syriza-Linke gerade eine neue Front gegen die Austeritätspolitik zu kreieren und in Griechenland dürfte sich auch die lange Zeit starke außerparlamentarische Opposition wieder zurückmelden.
Doch die Vorstellung, dass nun eine neue parlamentarische und außerparlamentarische Bewegung einfach da weitermacht, wo Tsipras vor vier Wochen vor „Deutsch-Europa“ eingeknickt ist, wäre naiv. Dabei darf die Enttäuschung nicht unterschätzt werden, die viele Menschen nicht nur in Griechenland befallen hat, die mit dem Wahlsieg von Syriza eine neue Alternative erhofften. Der Europakorrespondent Eric Bonse spricht von einer „Schockstarre in Euroland“ und schreibt in der Taz: „Vier Wochen nach dem Krisengipfel zu Griechenland wagt es in Brüssel niemand mehr, Berlin zu widersprechen“.
Dabei geht er von weiteren Auseinandersetzungen aus: „Der deutsche Durchmarsch in Griechenland wäre, so gesehen, nur das Vorspiel auf einen viel größeren Kampf. Wenn es Berlin gelänge, Paris an den Rand zu drängen, und Brüssel zu schwächen, hätte das deutsche Europa gesiegt.“
Tsipras wird von manchen Konservative deshalb im Moment gelobt, weil er durch sein Festhalten an der Eurozone um jeden Preis für diese Situation mit verantwortlich ist. In einem auch im Neuen Deutschland veröffentlichten [5]Interview [6] versucht Tspiras seinen Kurs zu verteidigen und spart nicht mit revolutionären Floskeln.
Ich denke, und das habe ich auch dem Parlament gesagt, dass das, was unsere europäischen Partner und Gläubiger errungen haben, ein Pyrrhus-Sieg ist, dass dieser aber gleichzeitig für Griechenland und seine Linksregierung einen großen moralischen Sieg darstellt. Es ist ein schmerzhafter Kompromiss, sowohl auf der wirtschaftlichen als auch auf der politischen Ebene. Sie wissen, Kompromisse sind Teil der politischen Realität und auch Teil der revolutionären Taktik. Lenin war der erste, der über den Kompromiss gesprochen hat und zwar in seinem Buch „Der ‚Linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“, in dem er mehrere Seiten lang erklärt, dass Kompromisse Teil revolutionärer Taktik sind. In einer Passage erwähnt er das Beispiel eines Banditen, der seine Pistole gegen dich richtet und sagt: „Geld oder Leben?“ Was tut ein Revolutionär in dieser Situation? Sein Leben hergeben? Nein, er muss das Geld hergeben, um sein Recht zu leben zu behaupten und den Kampf fortführen. Wir sahen uns mit einem Dilemma unter Gewaltandrohung konfrontiert. Heute machen die Oppositionsparteien und die etablierten Medien viel Aufhebens, wobei sie sogar so weit gehen, dass sie strafrechtliche Schritte gegen Yanis Varoufakis fordern. Es ist uns völlig bewusst, dass wir in diesem politischen Kampf unseren Kopf riskieren. Aber wir führen ihn gemeinsam mit der überwiegenden Mehrheit der griechischen Bevölkerung an unserer Seite. Und das ist es, was uns Kraft verleiht.
Tsipras verrät nicht, wo der moralische Sieg bei der Unterwerfung lag. Unverständlich ist auch, dass er von der Alternative „Geld oder Leben“ redet, wo es nur um die Frage gegangen wäre, unter allen Bedingungen im Euro zu bleiben oder tatsächlich alternative Wege zu gehen. Dass er dann noch Lenins Lieblingsschrift aller linken Realpolitiker zitierte, dürfte vor allem auf die Syriza-Basis zielen.
Es ist erstaulich, dass Tsipras nicht den Frieden von Brest Litowsk erwähnte, den die deutschen Militärs von der jungen sowjetischen Revolutionsregierung erpressten. Die Mehrheit der Bolschewiki und ihr Koalitionspartner, die linken Sozialrevolutionäre, waren dagegen. Damals ging es wirklich um Leben und Tod und Lenins Kalkül, das der erpresste Vertrag nach dem Sturz der deutschen Monarchie zerrissen wird, ging auf. Sollte Tsipras doch noch die Hoffnung haben, dass auch die neue deutscheuropäische Macht auf Sand gebaut ist?
Fortgesetzter Druck aus Deutschland auf Griechenland – eine Studie der Universität Halle weist nach, dass die deutsche Wirtschaft Gewinnerin der Griechenland-Krise ist
In den letzten Wochen war Griechenland etwas aus den Schlagzeilen verschwunden. Aber das Land sorgt doch noch bei vielen für Empörung. Nicht genug, dass deutsche Bundestagsabgeordnete ihren Urlaub für eine Sondersitzung unterbrechen müssen, um über die euphemistisch „Griechenlandhilfe“ genannten Maßnahmen abzustimmen. Und manchem Unionspolitiker könnte sogar noch ein kurzzeitiger Karriereknick drohen. Vielleicht bleibt auch der Unionfraktionsvorsitzende Volker Kauder nicht mehr lang auf seinem Posten. Der hatte schließlich seinen Kollegen gedroht, wenn sie das Paket zu Griechenland weiter ablehnen, könnten sie auch nicht mehr die Fraktion in den entsprechenden Ausschüssen vertreten.
Ob das ein Eingriff in das Recht der Parlamentarier oder eigentlich nur eine selbstverständliche Ansage war, sorgt jetzt für Debatten [1] im sommerlichen Berlin. Denn der deutsche Politiker kann sich aufregen über eine mögliche Abberufung aus einem Ausschuss, wo doch ein solches Gremium ein Sprungbrett für eine weitere Karriere darstellt. Deshalb geht es dabei auch weniger um finanziellen Belange, sondern um Fragen der Reputation.
Akt der Unterwerfung der Bevölkerung
Dabei müsste eigentlich die von Börsen und vielen Wirtschaftsmedien gefeierte technische Einigung [2] auf ein Programm, das von der griechischen Bevölkerung bei den letzten Wahlen und bei einem Referendum mehrheitlich abgelehnt wurde, der Grund für Aufregung sein. Dabei ist der Zusatz schon wichtig, der von Tagesschau.de immerhin verwendet [3] wurde:
Noch ist das Paket nicht endgültig.
Schließlich stehe die politische Beurteilung der EU-Staaten noch aus, heißt es dort. Die politische Bewertung der griechischen Bevölkerung, die die Lasten der neuen verschärften Austeritätspolitik tragen muss und vielleicht mit Streiks und Massendemonstrationen reagieren könnte, wird überhaupt nicht erwähnt. Sie ist nicht vorgesehen – und wenn sich die Bevölkerung doch äußert, ist das ein Grund mehr, die Daumenschrauben gegen Griechenland anzuziehen.
So haben ja nicht nur Schäuble, sondern auch ein Großteil der Unionspolitiker, die sich jetzt über Kauder aufregen, nach dem Referendum erklärt, dass die Maßnahmen jetzt noch mal verschärft werden müssen, weil mit einem solchen Akt der Demokratie Vertrauen verspielt wurde. So ging man in Zeiten der Rohrstockpädagogik mit renitenten Kindern und Jugendlichen um, die man nicht als gleichberechtigte Menschen, mit denen man ein Übereinkommen erzielen muss, sondern als Untergebene, deren Willen man brechen muss, behandelte.
Nicht von ungefähr ist im Zusammenhang mit Griechenland immer wieder die Metapher der Hausaufgaben gefallen, die nicht gemacht wurden, weshalb jetzt Strafarbeiten folgen. Ältere Griechen werden an die Strafexpeditionen denken, die von Deutschen in den 1940er Jahren des letzten Jahrhunderts in Griechenland durchgeführt wurden, um den Willen der Bevölkerung zu brechen. Man kann ihnen die Vergleiche nicht verdenken.
Die vor allem von „Deutsch-Europa“ durchgesetzte Politik gegenüber Griechenland, die in dem neuen Abkommen ihren Höhepunkt findet, ist seit dem Januar 2015 davon geprägt, den Willen einer Bevölkerungsmehrheit zu brechen, die anders gewählt haben, als es die Erziehungsberechtigten vorsahen, und beim Referendum auch noch falsch abgestimmt hatten. Die abgewählte, ökonomisch vom kapitalistischen Standpunkt der Kürzungen, Privatisierungen und Liberalisierungen geprägte Politik wird verstärkt fortgesetzt.
Vor allem aber soll diese Politik jetzt von einer Regierung durchgesetzt werden, die mit dem erklärten Ziel angetreten ist, mit dieser Politik zu brechen. Hierin könnte aus Sicht der „Deutsch-EU“ sogar noch der besondere Reiz bestehen. Das ist auch eine Folge des sozialdemokratischen Charakters der griechischen Regierung. Sie hätte bei den entscheidenden Treffen mit den EU-Ministern deutlich machen müssen, dass sie lieber einen Austritt aus dem Euro in Kauf nimmt, als unter Schäubles Bedingungen drin zu bleiben. Oder sie hätte zumindest zurücktreten müssen und die Opposition gegen das Diktat aus Berlin und Brüssel anführen müssen.
Indem Tsipras sich in der Stunde der Krise als Sozialdemokrat zeigte, der sein Programm verrät, weil er nur an der Macht bleiben will, um angeblich Schlimmeres zu verhindern, erwies er sich für die Eurokraten als sehr nützlich. Schließlich lässt sich mit einer Reform-Syriza besser ein solches Programm umsetzen als mit der konservativen Opposition. Der Syriza-Flügel um Tsipras hat so gerade nicht in Alternativen gedacht, wie in der Opposition immer propagiert, sondern im Gegenteil das T.I.N.A.-Denken noch verschärft.
Schon gibt es Teile der ehemaligen außerparlamentarischen Linken, die wie der Philosoph Thomas Seibert diesen Kurs verteidigen [4].
Proteste in Deutschland mit geringer Halbwertzeit
Deutschland befindet sich im medialen Sommerloch und auch die linken Kritiker der Erpressungspolitik gegen die griechische Regierung sind anscheinend in die Ferien gefahren. Dabei haben sie Anfang Juli noch in spontanen Versammlungen und Demonstrationen die Bundesregierung und vor allem Finanzminister Schäuble heftig wegen dieser Politik angegriffen. Aber es war damals schon absehbar, dass der Onlineprotest zur Verteidigung des Oxi gegen die Austeritätspolitik in Deutschland schnell wieder von den Straßen verschwunden sein wird.
Erst wenn die Sommerpause beendet ist, wird man sich in Diskussionsveranstaltungen wieder darüber streiten, ob Griechenland von Anfang an keine Chance hatte, sich gegen „Deutsch-Europa“ durchzusetzen oder ob es an dieser oder jener falschen Politik lag. Doch es gab einige Initiativen, die auch längerfristig arbeiten und in dem Umgang mit Griechenland ein Modell für den Umgang mit widerständigen Menschen sieht.
„This is not Greece“ [5] hieß der Titel einer Konferenz auf Kampnagel in Hamburg, die von Menschen aus Griechenland und Deutschland vorbereitet wurde, die bereits seit Jahren gegen die Austeritätspolitik kämpfen. „Griechenland ist der Ort, wo der Finanzkapitalismus die Demokratie bekämpft“, stellte der Publizist Georg Diez in einer Diskussionsrunde fest.
Standort Deutschland profitiert von der Krise
Nicht die Hartz IV-Empfänger und Niedriglöhner, aber immerhin die Vermögenden in Deutschland haben bereits in den vergangenen Jahren wegen der gesunkenen Zinslasten von der Griechenland-Krise profitiert. Das war das nicht verwunderliche Ergebnis [6] des wirtschaftsnahen Instituts für Wirtschaftsforschung [7] aus Halle.
Für die Bundesbank summieren sich demnach die Zinsersparnisse seit 2007 auf 153 Milliarden Euro. Warum kann dieser Betrag nicht benutzt werden, damit ein Teil der Schulden beglichen wird, die Deutschland noch aus der NS-Zeitbei Griechenland hat? Dabei geht es um ein nicht zurückgezahltes Darlehen ebenso wie um Reparationen für die deutschen Verbrechen.
Die Hetze gegen Griechenland ging erst so richtig los, als die im Januar gewählte griechische Regierung deutlich machte, dass sie es ernst meint mit der Rückzahlung. Seitdem war von den Forderungen nichts mehr zu hören.
»Wir unterstützen die Streiks bei Amazon in Deutschland« – Transparente mit diesem Motto hingen in der letzten Junihälfte rund um das Amazon-Werk in Poznań (Polen). Es blieb nicht bei Bekenntnissen. Die Nachtschicht bei Amazon in Poznań solidarisierte sich vom 24. auf den 25. Juni durch demonstratives Bummelstreiken mit dem Streik bei Amazon-Deutschland. Andere Beschäftigte stellten kurzfristig Urlaubsanträge, um keine Streikbrecher zu werden. Tage vorher hatten Mitglieder der anarchosyndikalistischen Inicjatywa Pracownicza (IP) in dem Werk Flugblätter über den Verdi-Streik in Deutschland verteilt und dabei T-Shirts mit dem Slogan »Pro Amazon mit Tarifvertrag« getragen. Noch im Dezember 2014 bei der Eröffnung der Werke in Poznań und Wrocław erklärte der Logistikchef von Amazon Europe, Tim Collins, dass die polnische Dependance für pünktliche Lieferungen an Amazon-Kunden sorgen werde, auch wenn Verdi in Deutschland zum Arbeitskampf aufrufe. Doch schon vor Weihnachten 2014 hatte sich ein Teil der Belegschaft an die IP gewandt, weil sie mit den Arbeitsbedingungen unzufrieden war. Mitte Mai organisierte die Gewerkschaft unter der Parole »My Prekariat« (Wir Prekären) eine erste Warschauer Mayday-Parade mit knapp 350 Teilnehmern. Neben Beschäftigten von Universitäten, Bauarbeitern, Theaterleuten und Erziehern beteiligten sich auch Arbeiter von Amazon daran. Vom 2. bis zum 4. Oktober 2015 haben auch die Amazon-Beschäftigten Gelegenheit, Kontakt zu den polnischen Kollegen aufzunehmen. Am ersten Oktoberwochenende wird zu einer Tagung mit dem Thema transnationaler sozialer Streik in Poznań aufgerufen. In Arbeitsgruppen soll erörtert werden, wie man sich kollektiv gegen die Fragmentierung und Individualisierung der Arbeit wehrt. Es geht um die Vernetzung fester und befristeter Angestellter und die Frage, wie die kapitalistische Ausbeutung länderübergreifend angegriffen werden kann.
Eine Kampagne gegen den ehemaligen griechischen Finanzminister Varoufakis zeigt, dass die Rechte Morgenluft wittert
Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis ist auch nach seinem Rücktritt ein gefragter Mann. Spiegel, Stern und das Zeit-Magazin haben erst in den letzten Tagen Reportagen über Varoufakis gebracht. Dabei geht es aber mehr um seine Hobbys und seinen Kleidungsstil als um seine Politik.
Anders war das Varoufakis-Gespräch im britischen New Statesman („Das vollständige Fehlen aller demokratischen Skrupel“ [1]), das in der Tageszeitung Neues Deutschland nachgedruckt [2] wurde. Dort sprach der linkssozialdemokratische Politiker über seine Verhandlungstaktik mit den EU-Ländern und die ignoranten Reaktionen. Varoufakis redete auch freimütig über ein Thema, das in den letzten Tagen in Griechenland und auch in Deutschland für Schlagzeilen sorgte. Es geht um einen Planungen für ein Griechenland jenseits des Euros.
Die kurze dazu Passage aus dem gespräch mit dem Magazin New Statesman:
Sie müssen seit dem ersten Tag über einen Grexit nachgedacht haben…
Ja, absolut.
…sind Vorbereitungen getroffen worden?
Die Antwort lautet Ja und Nein. Es gab eine kleine Gruppe, ein »Kriegskabinett« innerhalb des Ministeriums, ungefähr fünf Leute die folgendes gemacht haben: Wir haben das theoretisch, auf dem Papier ausgearbeitet, alles, das im Falle dessen gemacht werden müsste [um sich auf den Fall des Grexit vorzubereiten]. Aber es ist die eine Sache, das mit vier oder fünf Leuten zu machen, es ist etwas ganz anderes, ein Land darauf vorzubereiten. Um das Land darauf vorzubereiten, müsste eine Entscheidung der Regierungsspitze getroffen werden – und diese wurden nie getroffen.
Zunächst gab es darauf keine Reaktionen. Erst mit deutlicher Verspätung brachte der Spiegel die Nachricht [3] mit merklicher Akzentverschiebung. Das Nachrichtenmagazin hatte seine Informationen aus einem angeblichen Mitschnitt einer Telefonkonferenz mit Finanzinvestoren. Doch inhaltlich sind die Informationen fast deckungsgleich mit Varoufakis Ausführungen im New Statesman.
Der Spiegel zitiert aus dem angeblichen Telefonmitschnitt:
„Ihr hattet offensichtlich keinen Plan B“, sagt ein Moderator, bei dem es sich um den früheren britischen Finanzminister Norman Lamont handeln soll. Der so Kritisierte widerspricht: „Wir hatten einen Plan B, aber die Schwierigkeit war der Schritt von den fünf Leuten, die ihn planten, zu den 1000 Leuten, die ihn hätten umsetzen müssen.“
Plan B gehört zur Pflicht der griechischen Regierung
Im Anschluss gab es einige detaillierte Informationen über diesen Plan B:
Laut Varoufakis wollte die Regierung Onlinezugänge nutzen, über die Bürger sonst ihre Steuerschulden begleichen. Jeder Steuernummer wäre ein „Reservekonto“ zugeordnet worden, über das digitale Zahlungen abgewickelt werden können. Das System wäre zunächst auf Euro gelaufen, hätte aber „auf der Stelle auf neue Drachmen umgestellt werden können“.
Mittlerweile hat sowohl Varoufakis [4] als auch der bekannte US-Ökonom James Galbraith [5], der an der Arbeitsgruppe mitwirkte, sehr plausibel erklärt, warum diese Pläne in einer Zeit notwendig waren, als die deutsche Regierung, aber auch in EU-Instanzen einen erzwungenen Grexit androhten. Es gehört mithin in diesem Zusammenhang zu den Pflichtaufgaben der griechischen Regierung, solche Pläne vorzubereiten.
Dabei hat Varoufakis immer betont, dass seine Priorität die Beibehaltung des Euros ist. Er hatte auch sehr konkrete Pläne [6] für einen Ausweg aus der Krise, welche die Belastungen für die griechische Bevölkerung gemindert hätten. Die wurden in den Eu-Kreisen schlicht ignoriert.
Unabhängig von diesen Plänen, die auf einen von Außen erzwungen Grexit reagieren, hat der linke Syriza-Flügel schon vor der Regierungsübernahme Austrittspläne aus dem Euro diskutiert. Die Politiker sind überzeugt, dass der Euro ein Korsett ist, das Griechenland an der Umsetzung einer eigenständigen Wirtschafts- und Sozialpolitik hindert. Die Parteilinke hat schon lange Ausstiegsszenarien aus dem Euro diskutiert und dafür sowohl bei der Basis von Syriza aber auch der griechischen Bevölkerung geworben.
Es ist verständlich, dass dieser Parteiflügel in der Zeit, als die Drohung eines erzwungenen Grexit von Außen immer konkreter geworden ist, auch konkrete Überlegungen für einen Euroaustritt anstellte. Dabei soll die Beschlagnahme der Bargeldreserven der griechischen Zentralbank und die Entmachtung des Zentralbankchefs Giannis Stournaras diskutiert worden sein. Es ist erfreulich, dass sich zumindest einige Syriza-Politiker Gedanken darüber gemacht haben, wie ein Bruch mit der Austeritätspolitik aussehen kann.
Bedauerlich ist es, dass solche Pläne von der griechischen Regierung nicht übernommen wurden. So fehlte der Regierung ein Druckmittel, das sie bei den Verhandlungen mit den EU-Ländern hätte nutzen können. So kann man sagen, dass die griechische Regierung, weil sie keine Alternativen zum Euro entwickelt hatte, dem Austeritätsdiktat zustimmen musste.
Es hätte eine Alternative gegeben
Genau so argumentiert der griechische Ministerpräsident, um Syriza auf seine Linie einzuschwören. Er sagt richtig, dass ihm nur die Unterwerfung unter das Austeritätsdiktat geblieben ist, wenn Griechenland im Euro bleiben will. Die Überlegung, Wege außerhalb des Euros zu suchen, kommt in Tsipras Überlegen gar nicht vor.
Er begründete dieses Denkverbot immer mit einer Mehrheit in der Bevölkerung, die den Euro behalten will. Dass aber eine große Mehrheit „Nein“ zum Austeritätsprogramm gesagt hat, wird dabei unterschlagen. Genau zu diesem Zeitpunkt hätte Tsipras den Plan B für ein Griechenland außerhalb des Euros in die Diskussion bringen können und hätte mit einer großen sozialen Bewegungen im Hintergrund vielleicht bessere Bedingungen in Brüssel ausgehandelt oder Griechenland hätte tatsächlich zeigen können, dass es auch ein Leben nach dem Euro gibt.
Emanzipatorische Momente hätten daraus aber nur entstehen können, wenn gleichzeitig in Griechenland die sozialen Bewegungen stärker geworden wären, vielleicht auch Fabriken und Häuser besetzt worden wären. Ein Bruch mit dem Euro als selbstbestimmter Schritt aus Griechenland hätte aber die Bereitschaft der Syriza-Politiker vorausgesetzt, die ausgetretenen Pfade von einer alternativlosen Realpolitik notfalls zu verlassen und eine Konfrontation mit den Gewalten in Griechenland und der EU einzugehen.
Tsipras war dazu nicht bereit, ein Teil der Parteilinken hat sich zumindest mit Alternativen auseinandergesetzt und der zurückgetretene Finanzminister hat nur seinen Job gemacht, als er Exitpläne entwickelte.
Rache der abgewählten Eliten
Die mangelnde Entschlossenheit von Tsipras und Co. rächt sich nun. Die eng mit der EU verbundenen gerade erst abgewählten, alten Eliten Griechenlands wittern Morgenluft und wollten nun auch mit Repression gegen die vorgehen, die ein Leben jenseits des Euros immerhin nur in Erwägung zogen. In diesem Kontext bewegt sich auch die Anzeige wegen Hochverrat gegen Varoufakis.
Es kann durchaus sein, dass diese Anzeige schon in wenigen Tagen als gegenstandslos zurückgewiesen wird. Aber auch dann hat sie ihre Zweck schon erfüllt: Es geht um die Diffamierung von Politikern, die tatsächlich mit dem T.I.N.A.-Denken brechen und auch zum Euro eine Alternative sehen.
Die Landesverrats-Kampagne ist nur die Fortsetzung eines Kampfes, den EU-Deutschland gegen die griechische Syriza-Regierung geführt hat, seit sie die Wahlen gewonnen hat. Nachdem sie eingeknickt ist, spüren auch die abgewählten alten griechischen Eliten neue Hoffnung, wie die Anzeige zeigt. Dabei haben diese Kräfte großen Anteil an der griechischen Misere.
Viel wird auch davon abhängen, ob es Syriza gelingt, eine gemeinsame Reaktion auf diese Angriffe zu geben. Schließlich sind die Spaltungstendenzen unübersehbar. Während ein Teil der Partei an den Wahlversprechen und den Inhalt des Referendums festhalten will, redet Tsipras davon, dass sich die Partei an die neuen Gegebenheiten anpassen müsse. Setzt er sich durch, würde Syriza zur neuen Sozialdemokratie.
Die Kampagne gegen die Politiker, die zumindest den Mut hatten, nicht nur eine Alternative zur aufgezwungenen Austerität zu denken, sondern auch einige Pläne entwickelten, wie sie umgesetzt werden können, soll auch den Richtungsstreit bei Syriza beeinflussen. Es fragt sich nur, ob damit eher Tsipras oder seine Kritiker gestärkt werden und Syriza vielleicht doch noch nicht zur neuen Sozialdemokratie geworden ist.
Nur ein kleiner Prozentsatz der in den letzten Tagen Festgenommen waren Islamisten
Nach dem islamistischen Attentat von Suruc, das sich gegen eine Zusammenkunft linker Jugendorganisationen richtet (Suruc-Anschlag: Verschwörungstheorien und Rachemorde[1]), geht die Polizei in der Türkei hauptsächlich gegen die Opfer vor. Das zeigte sich am vergangenen Freitag, als 5000 Polizisten in zahlreichen Städten der Türkei Razzien vornahmen.
In der Öffentlichkeit wurde die Polizeiaktion vor allem so interpretiert, als gehe der Staat jetzt endlich gegen islamistische Gruppen vor, die in der Vergangenheit oft wohlwollend toleriert, wenn nicht gar direkt unterstützt worden waren. So wurde die Razzia auch in Verbindung mit militärischen Angriffen auf Islamisten in Syrien gesetzt. Doch tatsächlich waren von den Razzien in erster Linie linke Strukturen betroffen.
Neben Einrichtungen der kurdischen Nationalbewegung war vor allem die marxistische DHKP-C im Visier der Staatsorgane. Sie ist eine der Gruppen aus der außerparlamentarischen Linken in der Türkei, die weiterhin den bewaffneten Kampf zur einer politischen Option erklärt und die sich in den letzten Monaten nach großen Verlusten durch die staatliche Repression wieder reorganisiert zu haben scheint. Sie war bei Streiks und bei außerparlamentarischen Aktionen in der Türkei wieder verstärkt in Erscheinung getreten.
Nach der Niederlage der betont gewaltfreien und zivilgesellschaftlichen Proteste rund um den Gezi-Park könnten bei manchen Aktivisten eine radikalere Opposition und Gruppen mit längerer politischer Erfahrung wieder an Attraktivität gewonnen haben. Auch das könnte ein Grund für die Reorganisation der radikalen Linken gewesen sein. In den Monaten gab es immer wieder Verhaftungen in diesen Kreisen. Auch der britische Staatsbürger Stephen Kaczynski wurde am 2. April als angeblicher DHKP-C-Unterstützer verhaftet und befindet sich im unbefristeten Hungerstreik[2].
Erschossen wegen Widerstand gegen Festnahme?
Die Razzia vom letzten Freitag, bei der nach Angaben linker Anwaltsvereine über 300 vermeintliche Aktivisten der radikalen Linken verhaftet worden sind, forderte auch ein Todesopfer.
„Unsere Mandantin Günay Özarslan wurde von der Polizei erschossen“. Diese Erklärung[3] veröffentlichte der linke „Anwaltsverein des Volkes“ in der Türkei vor zwei Tagen. Dort ist auch das Foto der Frau zu sehen, die in Istanbul erschossen worden war. Sie war eine seit Jahren bekannte Aktivistin der außerparlamentarischen Linken in der Türkei. Mittlerweile sprechen viele Menschenrechtsorganisationen vom Mord[4] an Günay Özarslan. Die Polizei behauptet, sie habe Widerstand gegen ihre Festnahme geleistet.
Waffenstillstand mit der PKK endgültig beendet
Neben der außerparlamentarischen Linken sind vor allem die Strukturen der kurdischen Nationalbewegung im Visier des türkischen Staates. Während in den meisten Medien vor allem von Angriffen des türkischen Militärs auf die Islamisten der IS die Rede war, wurde eher am Rande erwähnt, dass PKK-Stellungen im Nordirak angegriffen wurden.
„Der türkische Staat beendet den Waffenstillstand mit der PKK endgültig“, heißt[5] es in einer Stellungnahme der Informationsstelle Kurdistan e.V.[6]. Detailliert wird beschrieben[7], wie in den letzten Tagen in der Türkei gegen Mitglieder linken Partei HDP und gegen progressive Medien vorgegangen wurde.
“ Den bisherigen Informationen zufolge wurden in Istanbul 103, in Urfa 35, in Adana 13, in Mersin 21, in İzmir 29, in Bursa 9, in Şırnak 3, in Iğdır 9, in Bitlis 7, in Mardin 11, in Elazığ 6, in Adıyaman 8, in Amed 18, in Ankara 11 Personen festgenommen. Über die Zahl der Festnahmen in Van und Kocaeli liegen bislang noch keine Informationen vor. Diese Festnahmen halten weiter an. Nur in drei Provinzen (İstanbul, Adıyaman und Ankara) wurden Personen unter dem Vorwand der Mitgliedschaft in dem Islamischen Staat IS festgenommen“, schreibt das kurdische Informationszentrum.
Geht Erdogans Kalkül auf?
Die Militäraktionen nach außen und die Repression der letzten Tage nach innen können nicht ohne einen Blick auf die aktuelle politische Situation in der Türkei betrachtet werden Die islamistische AKP hat die absolute Mehrheit bei den letzten Parlamentswahlen verloren (Türkei-Wahlkampf: Es geht um zehn Prozent[8]). Dafür sitzt mit der HDP[9] eine linke Partei im türkischen Parlament, die es verstanden hat, über die kurdische Nationalbewegung auch die zersplitterte türkische Linke anzusprechen.
Die islamistische Hardlinerfraktion um Präsident Erdogan ist erstmals an ihre innenpolitischen Grenzen gestoßen. Sogar ein Machtverlust mit nachfolgender strafrechtlicher Ahndung der zahlreichen Gesetzesverstöße drohten Erdogan und seinen engsten Paladinen. Mit der Strategie der Spannung nach innen und außen könnte dieser Machtverlust abgewendet werden. Schließlich könnte sich die AKP als Partei der Ordnung präsentieren und in Kriegs- und Notstandszeiten hätte sie Chanen, wieder Mehrheiten zu bekommen. Notfalls können repressive Maßnahmen und Manipulationen einen Teil dazu beitragen.
Schon kurz nach den verlorenen Wahlen hat Erdogan das Militär für einen Einmarsch in Teile Syriens gewinnen wollen (http://www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2015/06/514368/mit-18-000-soldaten-tuerkei-marschiert-in-syrien-ein/ ). Doch beim Generalstab gab es damals Bedenken, Hilfestellung für eine abgewählte Regierung zu leisten. Dahinter standen interne Auseinandersetzungen im türkischen Machtapparat. Die scheinen nun vorerst ausgeräumt.
Der Anschlag der Islamisten (Die Türkei am Scheideweg: Demokratie oder Terror?[10]) und die nachfolgende massive Mobilsierung der kurdischen Nationalbewegung und der türkischen Linken haben die zerstrittenen Eliten geeint gegen den inneren Feind. Das sind aber nicht die Islamisten. Die haben schließlich nicht nur mit dem jüngsten Anschlag eher eine Hilfsfunktion gehabt. Es geht gegen die Linke und gegen die kurdische Nationalbewegung. Profitieren könnte Erdogan und die AKP, die damit die Grenzen überwinden wollen, die ihn die Wähler mit den verlorenen Parlamentswahlen gesetzt hatten.
Kampf um die Freilassung des kranken US-Journalisten geht weiter
Free Mumia Abu Jamal« heißt esauf Flugblättern und Plakaten, die wieder im Berliner Stadtbild zu sehensind. Seit der US-Journalist lebensgefährlich erkrankte, ist weltweit die Solidaritätsbewegung erneut gewachssen.
Seit Ende 2014 leidet Mumia an schwerem Diabetes. Seitdem wächstbei den Unterstützern des Journalisten die Sorge. Schon in den 90er Jahren rettete eine internationale Kampagne Mumia das Leben. Er saß fast 20 Jahre in einer Todeszelle, weil erwegen Polizistenmordes in einem umstrittenen Verfahren von einer rein weißen Jury zum Tode verurteilt worden war. Der Journalist hatte die Tat immer bestritten. Die weltweite Solidarität konnte die Aufhebung des Todesurteils erreichen. Doch Mumia kam nicht frei und bekam auch kenen neuen Prozess, bei dem seine Anwälte entlastende Beweise hättenvorlegen können, die juristische Komitees zusammengetragen hatten.Das Todesurteil wurde in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt –und das bedeutet nach US-Rechtssystem Gefängnis bis zum Tod. Nachdem die unmittelbare Lebensgefahr für Mumia vorbei war,ebbte die Solidaritätsbewegung ab.Aber Kontakte und Netzwerke können schnell reaktiviert werden. Daszeigte sich in den letzten Wochen,als die Erkrankung bekannt wurde. Schnell waren Plakate und Flugblätter gedruckt, Kundgebungen undDemonstrationen organisiert. Diezentrale Forderung lautet: Freiheitfür Mumia – sofort. Für Anton Mestin von der Berliner Mumia-Solidarität hat die Losung eine besondere Dringlichkeit: »Im Gefängnis ist die Krankheit von Mumia lange Zeit nicht erkannt worden. Unter Gefängnisbedingungen wird er auch nicht wieder gesund werden.« Derharte Kern der Mumia-Solidarität hofft, dass sich nun viele Menschen,die bereits in den letzten 20 Jahren aktiv waren, wieder an der Solidaritätsarbeit beteiligen. Dazu gehörenauch viele ve.rdi-Mitglieder. Schließlich ist Mumia Ehrenmitglied derDienstleistungsgewerkschaft.
Während die außerparlamentarische Linke in Deutschland weiter über Niederlagen diskutiert, wächst im Ausland die Kritik an der deutschen Hegemonie in Europa
Von Anfang war klar, dass eseine parlamentarische Mehrheit für die Aufnahme neuer Verhandlungen über ein neues Finanzpaket an Griechenland geben würde. Dazu traf sich der Bundestag zu einer Sondersitzung [1]. Tatsächlich bekam das euphemistisch Stabilitätshilfe zugunsten Griechenland gennannte Paket [2] eine Mehrheit von 439 Abgeordneten, 119 stimmten mit Nein und 40 enthielten sich.
Die Frage, wie viele Nein-Stimmen aus dem Regierungslager kamen, beschäftigte dann auch sofort die Kommentare. Schließlich war mit 60 Nein-Stimmen die Zahl der Gegner in der Union deutlich gewachsen. Dabei war allerdings den Gegnern der Vorlage klar, dass die Befürworter in der Mehrheit sind. So ist das Nein vor allem eine Warnung an Griechenland, sich noch mehr dem EU-Diktat zu unterwerfen und keinerlei Kritik mehr zu äußern.
Schon monieren Medien in Deutschland, dass Tsipras zwar das Abkommen im Athen verteidigt hat, aber auch klar machte, dass es eine Erpressung ist. Da fehlte manchen das Maß an innerer Unterwerfung. Daher wird noch immer über eine baldige Ablösung von Tsipras laut nachgedacht. Auch Merkel beflügelte sie in ihrer Rede im Parlament, wo in Frage stellte, ob Griechenland die Kraft habe wird, den von Deutsch-Europa vorgezeichneten Weg weiterzu Ende zu gehen.
Zu den Nein-Stimmen gehörte auch der SPD-Spitzenpolitiker Peer Steinbrück. In seiner Erklärung mischen sich wie bei vielen Grexit-Befürwortern in Deutschland richtige ökonomische Erkenntnisse mit Angriffen auf die griechische Regierung. Aus den Reihen der Grünen Bundestagsfraktion, die sich vehement für ein Halten Griechenlands im Euro aussprach, gab es zahlreiche Enthaltungen.
Gregor Gysi von der Linkspartei gab sich als gelernter Dialektiker [3]. Der führende Linksparteipolitker hätte in Athen dafür gestimmt. In Berlin hat er mit fast der gesamten Linksparteifraktion gegen das neue Paket gestimmt. Nur der Realo Stefan Liebich scherte [4] aus und stimmte für das Paket. Die Vermutung seiner Kritiker, dass er sich noch gerne als sozialdemokratischer Außenminister in Spe sieht, konnte er damit nicht wiederlegen.
Die Linkssozialdemokraten waren sich dieses Mal also fast einig. Doch Gysis Statement birgt Streit im Detail. Er verortet sich in Griechenland auf Seiten des realpolitischen Tsipras-Flügels von Syriza, der bekundet hat, von der EU erpresst worden zu sein und jetzt vehement einem Finanzpaket zustimmt, das nicht nur von einer Mehrheit der griechischen Bevölkerung beim Referendum vor zwei Wochen abgelehnt wurde. Er hält es auch selber sowohl politisch als auch ökonomisch für falsch. Damit ist sich Tsirpas einig mit bekannten Ökonomen von Paul Krugman bis Thomas Picketty, die alle vom Standpunkt der ökonomischen Vernunft argumentierten und die lag nun mal eindeutig bei den Vorschlägen der griechischen Regierung.
„Ein verschuldeter Staat braucht einen Schuldenschnitt“
In der Bundestagsdebatte brachte die wirtschaftspolitische Sprecherin der Linkspartei Sahra Wagenknecht diese kapitalistische Logik noch einmal auf den Punkt: „Ein verschuldeter Staat braucht nicht neuer Kredite, sondern einen Schuldenschnitt.“ Diese Forderung ist schon alt und wird von der von vielen NGOs und christlichen Initiativen getragenen Erlassinitiative [5] vertreten, die in London auch die Streichung griechischer Schulden forderte [6].
In Berlin gab es auch kleinere Proteste einer wesentlich durch das vom Blockupy-Bündnis [7] getragenen außerparlamentarischen Griechenland-Solidarität [8]. Bereits am vergangenen Mittwoch zogen ca. 1500 Menschen zum Sitz des Bundesfinanzministeriums, um ihre Proteste gegen die Rolle des dortigen Amtsinhabers auszudrücken. Zu der Aktion wurde ausschließlich über Facebook [9] aufgerufen. Zuvor hatten bei einer Veranstaltung [10]der Blockupy-Aktivisten ihre Erlebnisse auf einer Griechenlandreise geschildert. Sie berichteten über die Euphorie und die Hoffnungen, die nach dem eindeutigen Nein beim Referendum in großen Teilen der Bevölkerung zu spüren waren. Wenige Tage später folgte die große Enttäuschung, als der griechische Ministerpräsident an Deutsch-Europa scheiterte. Auf den Veranstaltungen und Aktionen der letzten Tage zu Griechenland wurde viel mit Begriffen wie einem Staatsstreich reagiert.
Deutschland ist das Problem
Bei den jungen Linken, diesich mit dem Wahlsieg von Syriza politisiert hatten,sind die aktuellen Ereignisse besonders schmerzhaft. Schließlich war damit die Hoffnung verbunden, in Europa könnte sich ein sozialeres Wirtschafts- und Gesellschaftssystem über Wahlen und eine starke außerparlamentarische Bewegung, die eine linke Regierung kritisch begleitet, umsetzen.
Griechenland sollte als schwächstes Kettenglied den Vorreiter spielen, Spanien und vielleicht Italien sollte folgen und am Ende könnte es sogar in Deutschland mit der vielzitierten aber selten bewiesenen Mehrheit links von der Union noch etwas werden. Die letzten Wochen zeigten nun deutlich, dass dieses Modells einer neuen Sozialdemokratie an Deutschland scheitert. Dabei ist Finanzminister Schäuble der Kopf der neuen Heiligen Allianz. Das machte der zurückgetretene griechische Finanzminister Yanis Varoufakis in einem Interview [11] mit einer britischen Zeitung, das das Neue Deutschland nachdruckte, noch einmal deutlich.
Dabei geht Yanis Varoufakis auch auf das Agieren derEurogruppe ein. Auf die Frage des Journalisten, ob „diese Gruppe von der deutschen Position dominiert“ wird, sagte der Ex-Minister: „Komplett und restlos. Aber nicht von Einstellungen – sondern vom deutschen Finanzminister. Es funktioniert alles wie in einem gut abgestimmten Orchester, in dem er der Dirigent ist. Alles passiert in Abstimmung miteinander. Es gibt Momente, in denen das Orchester verstimmt ist, aber er holt es zusammen und bringt es zurück auf Linie.“
Doch der SPD-Vorsitzende Gabriel hat sich in den vergangenen Wochen redlich bemüht, Schäuble noch rechts zu überholen. Damit wurde nun auch dem größten Realpolitiker deutlich, dass es vorerst mit rot-rot-grünen Regierungsspielchen [12] vorerst nichts wird. Nun beginnt in der Solidaritätsbewegung die Diskussion [13] über das Verhalten der griechischen Regierung, aber auch über die Niederlage der Kräfte, die weitergehende politische Hoffnungen mit dem Wahlerfolg von Syriza verbunden [14] hatten.
Schon melden sich in der außerparlamentarischen Linken Stimmen zu Wort, die daraus die Konsequenz ziehen, noch mehr auf sozialdemokratische Realpolitikzu setzen. Der Philosoph Thomas Seibert, der sowohl in deraußerparlamentarischen Interventionistischen Linken wie im sozialdemokratischen Institut der Moderne aktiv [15] ist, lieferte mit seiner Polemik [16] gegen die linken Grexit-Befürworter auch eine Absage an einen grundlegenden gesellschaftlichen Bruch. Statt Argumente zu liefern, bleibt Seibert bei nicht bewiesenen Schreckensszenarien.
„Das linke Grexit-Griechenland würde im 21. Jahrhundert den Sozialismen des 20. Jahrhunderts ein Nachzugsprojekt hinzufügen: die autoritär-sozialistische Verwaltung eines Elendszustands, dessen Befürworter*innen eine ideologischen Dividende (’sozialistisches Griechenland, voran, voran, die Zukunft wird strahlend sein!‘) ausgezahlt wird, die immer weniger Leute zufriedenstellt, je länger der Zustand andauert.“
Ein Referent der Blockupy-Delegation in Griechenland begründete das Einknicken der griechischen Regierung vor der Deutsch-EU mit Tausenden Leben, die in Gefahr gewesen wären. Auch hier wurde nicht begründet, wie er zu solchen Aussagen kommt.Besonders bei den Ausführungen von Seibert erstaunt, dass die soziale Bewegung in Griechenland überhaupt nicht vorkommt. Dabei hat sie am Abend des Referendums die Straßen Athens gefüllt und siehätte auch einen Umschwung in der diffusen Pro-EU-Haltung in Teilen der Bevölkerung bewirken können, wenn die griechische Regierung mit der Position in die Verhandlungen mit der EU gegangen wäre, Griechenland im Euro zu halten zu versuchen, aber nicht um jeden Preis.
Die soziale Dynamik, die ein solcher Schritt nicht nur in Griechenland, sondern auch in anderen Ländern der europäischen Peripherie hätte haben können, kommt ausgerechnet in der Erklärung des Aktivisten der außerparlamentarischen Linken gar nicht vor. Da bleibt nur die Flucht in die ominöse solidarische Moderne, die in der realen Politik der SPD wohl kaum zu finden sein dürfte.
Erster Deutschlandboykott angekündigt
Während die außerparlamentarische Linke in Deutschland weiter in der Defensive ist und im Parlament über Deutschlands Schulden [17] bei Griechenland bei der aktuellen Debatte nicht geredet wurde, wächst im Ausland die Wut gegen Deutschlands Rolle im Streit um Griechenland.
Der italienische Schriftsteller und Wissenschaftler Franco Berardi [18] hat angekündigt [19], Deutschland nicht mehr zu betreten, und deshalb die schon zugesagte Teilnahme an einem Literaturfestival abgesagt. Als Sohn eines italienischen Antifaschisten, der 1943 verhaftet und in Nazigefängnissen festgehalten wurde, könne er in diesem Moment nicht nach Deutschland reisen, erklärte Berardi. In seiner Absagebegründung lieferte er eine Kritik an Deutschland, wie man sie hierzulande selbst von deraußerparlamentarischen Opposition kaum hört.
„Ich glaube, dass für jeden europäischen Demokraten nun der Moment gekommen ist, einer tief schmerzlichen und erschreckenden Wahrheit ins Auge zu sehen: Siebzig Jahre nach dem Ende des Naziregimes, zweiundsechzig Jahre nach der Londoner Akte, in der die Schulden, die Deutschland gegenüber der Menschheit hatte, erlassen wurden, zeigt die Nation dieselben kulturellen, psychologischen und politischen Züge, die sie in ihrer dunkelsten Vergangenheit charakterisiert haben.
Die moralische Schuld, die der griechische Staat gegenüber der Europäischen Union hat, besteht in der Fälschung der Rechnungsbücher. Die moralische Schuld, die der deutsche Staat gegenüber der Welt trägt, besteht in der physischen Auslöschung von sechs Millionen Juden, zwei Millionen Roma, dreihunderttausend deutscher Kommunisten, dreiundzwanzig Millionen Russen, dreihunderttausend Jugoslawen, und weitere werden nicht genannt. An der obengenannten Schuld jedoch ist das griechische Volk unschuldig, denn für die Fälschung sind die Finanzgesellschaften verantwortlich, die die Funktionäre von Nea Demokratia und Pasok unterstützt haben. Das deutsche Volk hingegen ist keinesfalls unschuldig an den undenkbaren Verbrechen des Nazismus, denn ein Großteil der deutschen Bürger war aktiv oder passiv Mittäter.“
Auch in Polen beginnen Amazon-Beschäftigte, für einen Tarifvertrag zu kämpfen
Beim Onlinehändler Amazon kämpfen die Beschäftigten in Deutschland seit zwei Jahren für den Tarifvertrag. Die Unternehmensstrategie ist, Pakete dann eben von Polen zu verschicken – noch. Auch hier beginnen die Kämpfe.
Nicht nur in Deutschland sind die Amazon-Beschäftigten mit ihren Arbeitsbedingungen unzufrieden. Auch im Amazon-Werk im polnischen Poznan fordern die KollegInnen verlängerte Pausenzeiten und eine Erhöhung des Stundenlohns von bisher 13 auf 16 Złoty. Das wären umgerechnet etwa vier Euro. Für das Amazon-Management ist der Arbeitskampf ein Warnsignal. Schließlich wurde die weltweit größte Amazon-Niederlassung in Poznan mit 3000 Beschäftigten im September 2014 eröffnet, um bei Streiks in den Amazon-Filialen in Deutschland in das Nachbarland ausweichen zu können. Einige Wochen später wurde bei Wroclaw ein weiteres Amazon-Verteilzentrum eröffnet.
»Aus Polen werden Kunden in ganz Europa beliefert«, erklärte der Logistikchef von Amazon Europe, Tim Collins, bei der Eröffnung des Werkes in Poznan und verhehlte nicht, dass von dort ein transnationaler Streikbruch geplant war. Dank des europaweiten Netzwerks mit insgesamt 28 Standorten, darunter auch in Polen und der Tschechischen Republik, werde trotz Arbeitsniederlegungen in Deutschland pünktlich geliefert »Amazon-Pakete kommen jetzt aus Polen«, titelte das »Handelsblatt« am 15. Dezember 2014. Damals brachten an verschiedenen Amazon-Standorten in Deutschland Beschäftigte das Weihnachtsgeschäft des Onlinehändlers durch Streiks ins Stocken.
»Die Polen arbeiten, die Deutschen streiken«, kommentierten konservative polnische Zeitungen. Doch die Beschäftigten dort wurden von den Arbeitskämpfen hier ermutigt, ebenfalls für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Eine wichtige Rolle spielte dabei die anarchosyndikalistische Gewerkschaft OZZ Inicjatywa Pracownicza (Arbeiterinitiative). In einen von der Gewerkschaft herausgegebenen Bulletin werden die Anfänge des gewerkschaftlichen Engagements bei Amazon-Poznan so beschrieben: »Im Dezember 2014 drang die Unzufriedenheit der Leiharbeiter bei Amazon an die Öffentlichkeit: Sie fingen an, sich wegen nicht pünktlich gezahlter Löhne, Unregelmäßigkeiten bei der Berechnung der Löhne und überfüllter Kantinen an die lokalen Medien zu wenden.« Auch durch die Kündigung von rund 100 Leiharbeitern ließ sich die Belegschaft nicht einschüchtern. Im Mai veröffentlichte sie eine Petition für bessere Arbeitsbedingungen. Vom 24. auf den 25. Juni solidarisierte sich ein Teil der Nachtschicht bei Amazon-Poznan durch demonstratives Langsamarbeiten mit dem Streik bei Amazon-Deutschland. Andere Beschäftigte stellten kurzfristig Urlaubsanträge, um nicht zum Streikbrecher zu werden. Zuvor hatten Mitglieder der Arbeiterkommission in dem Werk Flugblätter über den ver.di-Streik verteilt und dabei T-Shirts mit dem Slogan »Pro Amazon mit Tarifvertrag« getragen. In der Nähe der Niederlassung verkündeten Transparente: »Wir unterstützen die Streiks bei Amazon in Deutschland.«
»Amazon wird immer wieder versuchen, Beschäftigte an verschiedenen Standorten gegeneinander auszuspielen. Deswegen ist es wichtig, dass sich Beschäftigte aus verschiedenen Standorten über Ländergrenzen hinweg vernetzen und gemeinsam dafür streiten, bei Amazon das Recht auf gewerkschaftliche Vertretung, Tarifverträge und bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen,« zeigt sich die Presssprecherin des ver.di-Bundesvorstands Eva Völpel über die Solidaritätsaktionen erfreut.
Bisher gab es drei Vernetzungstreffen, an denen Gewerkschafter verschiedener Amazon-Standorte teilnahmen. Aus Polen waren neben Delegierten der Arbeiterkommission auch Vertreter der sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Gewerkschaft Solidarnosc anwesend. Mit ihr hatte ver.di bereits in der Vergangenheit kooperiert. »Polnische Kollegen haben Amazon-Standorte in Deutschland während der Streiks besucht und sich zuletzt an der großen Streikkundgebung am 24. Juni 2015 in Bad Hersfeld beteiligt«, so Völpel. Die Kooperation mit der Arbeiterkommission wurde bisher vor allem von außerbetrieblichen Amazon-Solidaritätsgruppen vorangetrieben Einige Aktivisten beteiligten sich gemeinsam mit Amazon-Beschäftigten aus Deutschland am 23. Mai an einer von der Gewerkschaft organisierten Demonstration in Warschau.
Die Arbeiterkommission lädt vom 11. bis 13. September nach Poznan zu einen internationalen Treffen von Amazon-Beschäftigten unabhängig von ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit ein. Das Ziel solle ein Austausch der Beschäftigten und nicht der Funktionäre sein, heißt es in dem im Internet verbreiteten Aufruf.
Außerparlamentarische Gruppen und ihr zwiespältiges Verhältnis zu Parteien
Linke Parteien in Europa sorgen derzeit für Hoffnung auf Veränderung – auch in der außerparlamentarischen Bewegung? Eine Debatte in Berlin machte einen anhaltenden Zwiespalt deutlich.
Die Linke und der Staat, über diese sensible Frage sind viele Bücher geschrieben worden. Großes Interesse zeigte sich auch am Freitagabend, als das Museum des Kapitalismus nicht alle Interessierten fassen konnte, die an einer Diskussionsveranstaltung zu dieser Fragestellung teilnehmen wollten. Das Podium war international besetzt. Henning Obens von der Interventionistischen Linken und Chris vom »Ums Ganze«-Bündnis repräsentierten jenen Teil der außerparlamentarischen Linken, der eine Kooperation mit linken Parteien nicht grundsätzlich ablehnt.
Die Parteien brauchen eine starke außerparlamentarische Bewegung ebenso wie umgekehrt die außerparlamentarische Linke Parteien braucht, die ihre Themen in der Öffentlichkeit platzieren – so lassen sich die Statements beider Aktivisten zusammenfassen. Beide benannten zugleich die Gefahr von Vereinnahmungsversuchen durch politische Parteien. Juliane Wiedemann von der Linkspartei räumte ein, es sei ein großes Problem, dass politische Parteien in Bündnissen oft außerparlamentarische Initiativen dominieren wollten oder sich auch manchmal arrogant über deren Arbeitsweisen hinwegsetzen. Dabei bekannte Wiedemann mit Verweis auf Thüringen und Brandenburg, dass die LINKE zuweilen gar den Staat repräsentiert. Trotzdem wollte Wiedemann darin keinen Widerspruch zu außerparlamentarischen Aktivitäten ihrer Partei sehen.
Diesen Spagat müssen zurzeit auch die linken Parteien SYRIZA in Griechenland und Podemos in Spanien aushalten. Dionisis Granas, der in Berlin für SYRIZA arbeitet, betonte, dass die Situation seiner Partei aus zwei Gründen besonders kompliziert sei. Bei SYRIZA arbeiten sowohl Aktivisten der radikalen Linken als auch ehemalige Sozialdemokraten mit. Zudem sei der Druck der EU-Institutionen so stark, dass der Partei bisher wenig Zeit für linke Reformen in Griechenland geblieben sei. Die Frage, ob SYRIZA derzeit dabei ist, sich dem EU-Diktat zu beugen, das vor einer Woche noch mehr als 60 Prozent der griechischen Bevölkerung abgelehnt hatten, war wohl zu frisch. Sie spielte in der Debatte keine größere Rolle.
Die Erfahrung, dass eine linke Partei zuvor als »rechts« kritisierte Politik machen muss, könnte auch Podemos in Spanien bevorstehen. Miguel Sanz Alcantara, der in Berlin für die neue spanische Linkspartei warb, betonte, dass die Zeit kommen könnte, wo er und andere Podemos-Mitglieder gegen Maßnahmen der eigenen Regierung auf die Straße gehen. Er betonte, dass eine linke Partei diesen Spagat aushalten müsse. Erst wenn es Versuche geben sollte, solche Proteste unter Hinweis auf die Parteiräson zu unterbinden, wäre für Alcantara die Mitgliedschaft in Frage gestellt.
Die Erfolge von Podemos-Kandidatinnen bei den Bürgermeisterwahlen in Barcelona und Madrid inspirierten einen Zuhörer zum Wunsch, hierin ein Vorbild für Berlin zu sehen. Beide waren in außerparlamentarischen Bewegungen aktiv, beispielsweise im Kampf gegen Zwangsräumungen von Mietern. Noch ist die Amtszeit zu kurz, um zu analysieren, wie sich ihre neuen Aufgaben auf diese sozialen Bewegungen auswirken. Anders die Erfahrungen von Sehnaz Ildan von der linken Partei HDP. Sie berichtete, wie ihre Partei vom Staat nicht kooptiert, sondern bekämpft wird.
Das Museum des Kapitalismus in der Böhmischen Straße 11 in Berlin-Neukölln ist Di, Do und Freitag von 11 bis 21 Uhr und Sonntag von 11 bis 19 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei.
Sven Giegold, Sprecher der Eurogruppe Grüne, über das griechische Nein und die Frage einer neuen europäischen Linken
Nach dem Nein zur Troika-Politik haben Sie getwittert, dass die Wiederaufnahme der Verhandlungen ein Gebot der Stunde ist. Das fordert auch die griechische Regierung. Müsste nicht jetzt ein Schuldenschnitt auf der Tagesordnung stehen?
Sven Giegold: Nach dem „OXI“ drohte eine Eskalationsspirale, die Griechenland schnell aus dem Euro drängen kann. Ein Grexit ist und bleibt unvernünftig. Denn die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands ist bereits weitgehend wiederhergestellt, unter enormen sozialen und wirtschaftlichen Kosten. Mit einem Grexit müssten die Menschen noch ein zweites Mal bezahlen: durch den Verlust einer stabilen Währung und mit einer schweren Währungsumstellungskrise.
Ökonomisch ist das auch für die Gläubiger unsinnig, denn je ärmer Griechenland wird, desto weniger kann es seine Schulden zurückbezahlen. Allerdings scheint es, dass etliche Entscheidungsträger in den Mitgliedsländern der EU nicht die Vernunft, sondern eine wirtschaftspolitische Ideologie durchsetzen wollen. Trotzdem sind die politischen Kosten einer drohenden Kosovoisierung Griechenlands für Europa und für das Ansehen in der Welt so hoch, dass ich immer noch Hoffnung habe, dass Merkel, Hollande und Renzi doch noch ihrer Verantwortung gerecht werden und nach einer fairen Einigung mit Tsipras suchen. Dazu muss sich Griechenland zu jenen Reformen verpflichten, auf die es wirklich ankommt: eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung, Korruptionsbekämpfung, ein gerechtes und effizientes Steuerwesen.
Was der griechischen Wirtschaft dagegen schadet, sind neue pro-zyklische – also krisenverschärfende – Sparprogramme oder Steuererhöhungen. Das schreckt Investoren ab. Vertrauen für Investitionen kann nur geschaffen werden, wenn die Überschuldung gelöst wird. Das muss kein Schuldenschnitt sein. Auch eine Umschuldung mit einer Begrenzung der Zinszahlungen und Tilgungen gemäß der wirtschaftlichen Entwicklung, können helfen.
Sie hatten in einen Kommentar EU-Parlamentspräsident Martin Schulz dafür kritisiert[1], dass er im Vorfeld des Referendums eine Ablösung von Ministerpräsident Tsipras forderte. Sie schreiben dort, dass eine solche Einmischung nur dem Nein-Lager in Griechenland nützt. Aber war das nicht ein ungewollter positiver Nebeneffekt gewesen. Schließlich hat die griechische Regierung betont, dass ein Nein keine Absage an die EU und den Euro ist, sondern die Position derer stärkt, die eine Alternative zur Austeritätspolitik im EU-Raum haben wollen. Wäre das nicht ein guter Grund für Sie gewesen, ein Nein beim Referendum mit zu unterstützten?
Sven Giegold: Die europäischen Grünen haben sich aus Respekt vor der Entscheidung der griechischen Bürger mit Empfehlungen zurückgehalten. Ich halte nichts davon, wenn man aus Deutschland den Bürgern in Griechenland schlaue Ratschläge gibt, wie sie bei einer so schwierigen Entscheidung abstimmen sollen. Zurückhaltung hätte auch der Rolle eines zur Neutralität verpflichteten Präsidenten des Europaparlaments gut gestanden. Es ist leider nicht das erste Mal, dass Martin Schulz demokratische Haltung vermissen lässt.
Aber zum vermeintlich glorreichen „Oxi“: Ich bin mir sehr unsicher, ob das Nein die Verhandlungsposition der Griechen wirklich gestärkt hat, weil es die Entscheidungsträger in Europa nur noch stärker zusammenschweißt. Zudem ist die Stimmungslage in der europäischen Bevölkerung bereits sehr kritisch gegenüber Tsipras. Die Absage an die weitere Sparpolitik kann in der europäischen Realpolitik als Absage zur weiteren Mitgliedschaft im Euro gewertet werden. Diese Interpretation ist aber nicht von der Mehrheit in Griechenland gewollt und könnte im Ergebnis zu einer Katastrophe führen. Wir müssen uns bewusst machen: Das „Oxi“ ist kein Nein zum Euro oder Europa.
„Eine wirtschaftlich-soziale Katastrophe in Griechenland würde allen wieder einmal demonstrieren: Linke Regierungen können es nicht“
Jakob Augstein schrieb[2] vor einigen Tagen auf Spiegel Online: „Das griechische Scheitern ist Merkels Scheitern.“ Wäre das nicht ein weiterer Grund gewesen für ein Nein gewesen?
Sven Giegold: Wenn man nüchtern analysiert, so sieht aber die Welt auch etwas anders aus: Die Situation ist für Angela Merkel mit dem Nein viel bequemer. Sie hat nun eine Ausrede, die eigene CDU/CSU-Fraktion nicht von einer fairen Vereinbarung überzeugen zu müssen. Mit einem Ja in Griechenland wäre das ungleich unbequemer gewesen. Diese Analyse ändert nichts daran, dass ich weiterhin hoffe und auch erwarte, dass sie sich letztlich trotzdem für einen fairen Kompromiss entscheidet. Den Griechen den Euro vor die Füße zu werfen, ist aber für sie jetzt einfacher geworden.
Gesine Schwan, bisher nicht als Linke bekannt, hat kürzlich in einem Interview[3] erklärt, die deutsche Regierung wolle Tsipras scheitern sehen, „damit es keine Ansteckungsgefahr in Spanien und Portugal gibt“. Wäre es noch ein guter Grund für ein Nein gewesen, damit es endlich ernst zu nehmende Alternativen innerhalb Europas zur Austeritätspolitik gibt? Schließlich betonen auch die Podemos-Politiker ihre proeuropäische Haltung.
Sven Giegold: Gesine Schwan ist im Verhältnis zum gesamten politischen Spektrum natürlich links der Mitte. Leider bin ich auch hier nicht so optimistisch wie sie. Wenn Merkel, Hollande und Co. sich gegen faire Verhandlungen entscheiden, wird das OXI zum Pyrrhus-Sieg. Denn eine wirtschaftlich-soziale Katastrophe in Griechenland würde allen wieder einmal demonstrieren: Linke Regierungen können es nicht. Dass das zu einem großen Teil das Verschulden der europäischen Institutionen ist: geschenkt. Denn bei den eigenen politischen Strategien muss man die gegebenen Kräfteverhältnisse und die Strategien des Gegenübers immer einbeziehen, sonst schießt man sich nur selbst ins Knie und verliert die Unterstützung.
Wäre es nicht jetzt an der Zeit auch in Spanien und anderen Ländern der europäischen Peripherie Referenden zu fordern. Schließlich gab es auch dort einen starken Widerstand gegen die Austeritätspolitik, die von den dortigen Regierungen rücksichtslos durchgesetzt wurde?
Sven Giegold: Grundsätzlich bin ich immer für die Stärkung der direkten Demokratie, solange dabei die Grundrechte nicht zur Disposition gestellt werden. Allerdings sind Volksabstimmungen nur dann emanzipatorisch, wenn klar ist, worüber abgestimmt wird und eine faire und breite öffentliche Debatte stattgefunden hat.
In Griechenland jedoch war das nicht der Fall. Es wurde gleichzeitig über verschiedene Fragen abgestimmt: Über die Austeritätspolitik und die Demütigung der griechischen Regierung in der letzten Verhandlungswoche sowie über das Verhältnis zwischen Griechenland und Europa bzw. dem Euro. In Spanien wie auch in Portugal und Irland waren zwar die Troika-Programme genauso ungerecht wie in Griechenland, aber sie wurden in Wahlen mehrfach bestätigt. Die dortigen Wahlen waren im Grunde mehrfach Volksabstimmungen über den Kurs in der Finanzkrise. Der Kurs gefällt mir zwar nicht, aber es wäre arrogant, diese Wahlen nicht zu respektieren.
„Es kann keine pauschale Unterstützung für Tsipras geben
Ist es nicht überhaupt ein Versäumnis der Grünen in Europa, Kräfte wie Syriza nicht viel stärker zu unterstützen? Schließlich handelt es sich um eine Bewegungen, die mit den autoritären Konzepten der traditionalistischen Linken gebrochen haben, starke Elemente von Basisdemokratie praktizieren und damit auch Themen aufgreifen, die am Anfang vieler grüner und ökologischer Bewegungen gestanden haben.
Sven Giegold: Syriza selbst ist ein breites Bündnis. Da gibt es Sozialdemokraten und moderne Marxisten. In Syriza gibt es auch Teile, die sich in Deutschland oder Frankreich bei den Grünen politisch zuhause fühlen würden. Die griechischen Grünen sind ein Teil, wenn auch ein sehr kleiner, der Syriza-Regierung.
Allerdings finde ich Basisdemokratie nicht die richtige Beschreibung für eine Regierung, die ausschließlich aus Männern besteht, deren wichtige Entscheidungen wiederum in einem sehr kleinen Kreis von Männern getroffen werden und die ihre Koalitionsmehrheit mit Rechtspopulisten und Rassisten findet. Es gibt zudem in Syriza einen starken altlinken Flügel, der derzeit in Braunkohle und Goldabbau unter Menschenrechtsverletzungen und Naturzerstörung die wirtschaftliche Zukunft sieht. Der macht derzeit unserem grünen Umweltminister das Leben zur Hölle. Hinzu kommt eine relevante Gruppe von Trotzkistinnen und Trotzkisten, mit denen – Ausnahmen bestätigen die Regel – nur schwer auszukommen ist.
In dieser Situation kann es keine pauschale Unterstützung für Tsipras geben. Es kann daher nur um kritische Solidarität gehen. Wir Grüne waren Syriza gerade am Anfang durchaus wohlgesonnen, weil wir ihren Einsatz gegen die Austeritätspolitik richtig finden und unterstützen. Wir waren auch mehrfach vor Ort zu Gesprächen, auch um dazu beizutragen, einer Isolierung der Regierung zu verhindern. Aber wir müssen auch sehen, dass Tsipras‘ Leute gerade aus linker Sicht vieles nicht erreicht haben. Wie die deutsche Linkspartei den Claqueur der Tsipras-Regierung in Deutschland macht, finde ich deshalb peinlich.
Könnte ein Erfolg von Syriza, Podemos und vielleicht bald ähnlichen Bewegungen in anderen Ländern nicht günstige Bedingungen für die Herausbildung einer modernen emanzipatorischen Linken unter Einschluss von Teilen der Grünen in Europa bieten?
Sven Giegold: Wir Grünen sind eine pro-europäische Partei, die in den Institutionen durch breite gesellschaftliche Bündnisse viele Veränderungen durchgesetzt hat und noch viele erstreiten wird. Mir gefällt der europapolitische Diskurs von Podemos und Syriza in der Mehrheit nicht. Von ihnen höre ich nie, dass sie in Europa weitere Macht teilen wollen und dazu die Europäische Demokratie stärken wollen. Zudem: Wer die demokratischen Institutionen wie Podemos als „Kaste“ verächtlich macht, vereinfacht populistisch und wird die demokratischen Institutionen irgendwann verlieren.
„Deutschland ist dabei, sich in Europa als selbstsüchtiger Hegemon aufzustellen“
Der Ökonom Thomas Piketty erklärte[4] kürzlich in einem Interview, dass Deutschland historisch gesehen seine Schulden sowohl im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg nicht bezahlt hat. Warum machen die Grünen solche historischen Fakten nicht mehr bekannt?
Sven Giegold: Das haben wir im Bundestag gemacht. Allerdings bezweifle ich, dass man damit politisch weit kommt. Entscheidend bleibt vielmehr: Deutschland ist dabei, sich in Europa als selbstsüchtiger Hegemon aufzustellen. Durch die Folgen der Finanzkrise in Frankreich und die Selbstschwächung Großbritanniens ist Deutschland jetzt eindeutig das wirtschaftlich und politisch mächtigste Land in Europa.
Bislang ist daraus aber nicht das Verständnis gewachsen, diese Macht im Interesse aller in Europa zu nutzen. Vielmehr setzt Deutschland eine einseitige Wirtschaftspolitik durch, die die Anpassungslast in der Krise einseitig bei den anderen Ländern abwälzt. Symbolisch dafür sind das Festhalten an den hohen Exportüberschüssen, die letztlich Instabilität in der Eurozone und darüber hinaus schaffen, und die Verweigerung einer solidarisch finanzierten Investitionspolitik in Europa. Deutsche Hegemoniepolitik in Europa ist nicht nur egoistisch, sondern sie funktioniert auch nicht.
Die europäische Einigung bleibt die größte Chance, die wir haben, Demokratie, Menschenrechte und Ökologie auch unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Globalisierung zu stärken. Trotz aller Widersprüche des realen Handelns der EU – durch eine Schwächung der europäischen Einigung wird nichts besser. Die Chancen, dem Kapitalismus und im Besonderen dem Finanzmarktkapitalismus mit demokratisch erstrittenen Regeln menschliche Grenzen zu setzen, werden durch die Schwächung Europas ungleich schlechter. Somit ist die europäische Einigung im Interesse der Mehrheit und praktisch aller progressiven Bewegungen in Europa.
Vertiefte Europäische Demokratie ist schwer zu erreichen und die Fehler Europas sind schwer zu korrigieren. Aber das europäische Projekt von links aufzugeben, wäre ein unverzeihlicherFehler, denn eine bessere Wette haben wir nicht. Der Nationalstaat wird sicher nicht die Ebene sein, auf der wir der ökonomischen Globalisierung demokratisch begegnen können.
„Mangel an Erfolgen“
Hätte nicht gerade ein Ja in Griechenland die Kräfte auch in der Linken, die die EU für nicht reformfähig halten und einen Austritt und damit eine Renationalisierung von links fordern, gestärkt?
Sven Giegold: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Tsipras wurde durch das Nein in den Verhandlungen in Brüssel geschwächt. Damit ist es noch wahrscheinlicher geworden, dass er einen schlechten Deal nach Hause bringt oder das Land in das Chaos eines Grexit stürzt. Leider!
Sie haben die Politik der griechischen Regierung in letzter Zeit häufiger kritisiert. Wo sehen Sie deren Hauptfehler?
Sven Giegold: Bis heute sehe ich in der Syriza-Regierung eine Chance, Griechenland grundlegend zu verändern. Allerdings hat sich gezeigt, dass sie es auch nicht alleine schaffen. In den ersten fünf Monaten ist bei den zentralen Problemen – Leistungsfähigkeit der Verwaltung, Klientelismus und Steuerverwaltung – nichts vorangegangen. Anders als versprochen, wurde die Lagarde-Liste mit 1063 reichen griechischen Kontoinhabern in der Schweiz nicht abgearbeitet. Stattdessen wurden Steuerzahlern mit Millionenausständen gegenüber dem Fiskus, Rabatte gewährt, wenn sie ihre Steuern doch begleichen. Der Vorschlag, die Namen von Steuersäumigen mit mehr als z.B. 500.000 Euro Rückstand ins Internet zu stellen, wurde nicht umgesetzt. Bei der Kürzung der Militärausgaben ist es unter Syriza nicht weiter vorangegangen. Es ist eine wenig überzeugende Ausrede, dass die Erfolge nur wegen der Troika ausgeblieben sind. Im Gegenteil, es gibt viele negative Zeugnisse: Auch die Syriza-Regierung pflegt ihre mächtigen Klientelismen.
Dieser Mangel an Erfolgen ist leider fatal. Sie war ein Hauptgrund, warum es so leicht war, die griechische Regierung in der Eurogruppe zu isolieren. Bei sichtbaren Erfolgen hätten Tsipras und Varoufakis mit einer ganz anderen Glaubwürdigkeit auftreten können. Es ist einfach nur bitter, dass sie es Schäuble und anderen Scharfmachern gegenüber Griechenland so leicht gemacht haben.
Eine häufige Kritik an Syriza lautete, dass sie die Vermögen der Reichen in Griechenland bisher nicht angetastet hat. Aber ist diese Kritik bei den Grünen nicht verwunderlich, die darüber streiten, ob sie reiche Erben stärker besteuern soll?
Sven Giegold: In der Politik ist manches verwunderlich. Ich finde es auch nicht akzeptabel, dass manche Grünen und Sozialdemokraten bei der Reform der Erbschaftssteuer hinter Schäuble zurückfallen. Allerdings erleben die Verantwortlichen in den Landesregierungen jeden Tag, wie schwer es ist, sich gegen die Wirtschaftsverbände durchzusetzen. Aus dieser Erfahrung folgen Konsequenzen für die Rolle mächtiger Lobbys in der Demokratie.
Jenseits dessen ist es für emanzipatorische Realpolitik entscheidend, auch solche politischen Strategien zu formulieren, die die Wirtschaft inhaltlich spalten, statt gemeinsam gegen sich zu positionieren. So ist es gerade bei der Erbschaftssteuer doch so: Der Mangel an Besteuerung verfälscht den Wettbewerb. Reiche Erben haben einen unverdienten Vorteil gegenüber allen anderen. Für eine angemessene Vermögensbesteuerung spricht eben nicht nur die Verteilungsgerechtigkeit und der demokratische Zusammenhalt einer Gesellschaft, sondern auch die Leistungsgerechtigkeit. Solche Argumente glaubwürdig zu formulieren, ist nicht reaktionär, sondern notwendig für erfolgreiche Veränderung im Hier und Jetzt. Das ist letztlich auch der Kern unseres Green New Deals.
Sven Giegold[5] ist Mitglied des Europäischen Parlaments[6] und Sprecher der Eurogruppe Grüne[7]. Er hat im Streit der griechischen Regierung mit den EU-Institutionen beide Seiten kritisiert.
Auch die griechischen Grünen sind Teil der Bündnispartei Syriza. Dennoch betrachten die europäischen Schwesterparteien die Regierung unter Alexis Tsipras eher kritisch. Sven Giegold ist Mitglied der deutschen Grünen, Mitbegründer von Attac Deutschland und Abgeordneter im Europäischen Parlament. Jungle World sprach mit ihm über die Folgen des Referendums für Griechenland und die Rolle des Hegemons Deutschland.
Nach Bekanntgabe des Ergebnisses des griechischen Referendums haben Sie getwittert, dass die Wiederaufnahme der Verhandlungen ein Gebot der Stunde sei. Das fordert auch die griechische Regierung. Müsste jetzt nicht ein Schuldenschnitt auf der Tagesordnung stehen?
Nach dem Sieg des »Nein« droht eine Eskalationsspirale, die Griechenland schnell aus dem Euro drängen kann. Ein Grexit ist und bleibt unvernünftig. Denn die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands ist bereits weitgehend wiederhergestellt, unter enormen sozialen und wirtschaftlichen Kosten. Mit einem Grexit müssten die Menschen noch ein zweites Mal bezahlen: Durch den Verlust einer stabilen Währung und mit einer schweren Währungsumstellungskrise. Ökonomisch ist das auch für die Gläubiger unsinnig, denn je ärmer Griechenland wird, desto weniger kann es seine Schulden zurückbezahlen. Allerdings scheint es, dass etliche Entscheidungsträger in den Mitgliedsländern der EU nicht die Vernunft, sondern eine wirtschaftspolitische Ideologie durchsetzen wollen. Trotzdem sind die politischen Kosten einer drohenden Kosovoisierung Griechenlands für Europa und für dessen Ansehen in der Welt so hoch, dass ich immer noch Hoffnung habe, dass Angela Merkel, François Hollande und Matteo Renzi doch noch ihrer Verantwortung gerecht werden und nach einer fairen Einigung mit Alexis Tsipras suchen. Dazu müsste sich Griechenland zu jenen Reformen verpflichten, auf die es wirklich ankommt: eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung, Korruptionsbekämpfung, ein gerechtes und effizientes Steuerwesen. Was der griechischen Wirtschaft dagegen schadet, sind neue prozyklische – also krisenverschärfende – Sparprogramme oder Steuererhöhungen. Das schreckt Investoren ab. Vertrauen für Investitionen kann nur geschaffen werden, wenn das Problem der Überschuldung gelöst wird. Das muss kein Schuldenschnitt sein. Auch eine Umschuldung mit einer Begrenzung der Zinszahlungen und Tilgungen gemäß der wirtschaftlichen Entwicklung können helfen.
Sie haben in einen Kommentar den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD) dafür kritisiert, dass er vor dem Referendum die Ablösung von Ministerpräsident Alexis Tsipras gefordert hatte. Schließlich hatte die griechische Regierung betont, dass ein »Nein« keine Absage an die EU und den Euro sei, sondern die Position derer stärke, die eine Alternative zur Austeritätspolitik wollen. Wäre das nicht ein guter Grund für Sie gewesen, ein »Nein« beim Referendum zu unterstützten?
Die Europäischen Grünen haben sich aus Respekt vor der Entscheidung der griechischen Bürger mit Empfehlungen zurückgehalten. Ich halte nichts davon, wenn man aus Deutschland den Bürgern in Griechenland schlaue Ratschläge gibt, wie sie bei einer so schwierigen Entscheidung abstimmen sollen. Zurückhaltung hätte auch der Rolle eines zur Neutralität verpflichteten Präsidenten des Europaparlaments gut gestanden. Es ist leider nicht das erste Mal, dass Martin Schulz eine demokratische Haltung vermissen lässt. Aber zum vermeintlich glorreichen »Nein«: Ich bin mir sehr unsicher, ob das die Verhandlungsposition der Griechen wirklich stärkt, weil es die Entscheidungsträger in Europa nur noch stärker zusammenschweißt. Zudem ist die Stimmung in der europäischen Bevölkerung bereits sehr kritisch gegenüber Tsipras. Die Absage an die weitere Sparpolitik kann in der europäischen Realpolitik als Absage an eine weitere Mitgliedschaft im Euro gewertet werden. Diese Interpretation ist aber von der Mehrheit in Griechenland nicht gewollt und könnte im Ergebnis zu einer Katastrophe führen. Wir müssen uns bewusst machen: Das »Oxi« ist kein Nein zum Euro oder Europa.
Ist es nicht überhaupt ein Versäumnis der Grünen in Europa, Kräfte wie Syriza nicht viel stärker zu unterstützen? Schließlich handelt es sich um Bewegungen, die mit den autoritären Konzepten der traditionalistischen Linken gebrochen haben, starke Elemente von Basisdemokratie praktizieren und damit auch Themen aufgreifen, die am Anfang vieler grüner und ökologischer Bewegungen gestanden haben.
Syriza selbst ist ein breites Bündnis. Da gibt es Sozialdemokraten und moderne Marxisten. In Syriza gibt es auch Teile, die sich in Deutschland oder Frankreich bei den Grünen politisch zu Hause fühlen würden. Die griechischen Grünen sind ein Teil, wenn auch ein sehr kleiner, der Syriza-Regierung. Allerdings finde ich Basisdemokratie nicht die richtige Beschreibung für eine Regierung, die ausschließlich aus Männern besteht, deren wichtige Entscheidungen wiederum in einem sehr kleinen Kreis von Männern getroffen werden und die ihre Koalitionsmehrheit mit Rechtspopulisten und Rassisten findet. Es gibt zudem in Syriza einen starken altlinken Flügel, der derzeit in Braunkohle und Goldabbau mit Menschenrechtsverletzungen und Naturzerstörung eine wirtschaftliche Zukunft sieht. Der macht derzeit unserem grünen Umweltminister das Leben zur Hölle. Hinzu kommt eine relevante Gruppe von Trotzkisten, mit denen – Ausnahmen bestätigen die Regel – nur schwer auszukommen ist. In dieser Situation kann es keine pauschale Unterstützung für Tsipras geben. Es kann daher nur um kritische Solidarität gehen. Wir Grüne waren Syriza gerade am Anfang äußerst wohlgesinnt, weil wir ihren Einsatz gegen die Austeritätspolitik richtig finden und unterstützen. Wir waren auch mehrfach vor Ort zu Gesprächen. Aber wir müssen auch sehen, dass Tsipras’ Leute gerade aus linker Sicht vieles nicht erreicht haben. Wie die deutsche Linkspartei den Claqueur der Tsipras-Regierung in Deutschland macht, finde ich deshalb peinlich.
Wäre es nicht jetzt an der Zeit, auch in Spanien und anderen Ländern Referenden zu fordern? Schließlich gab es auch dort einen starken Widerstand gegen die Austeritätspolitik, die von den Regierungen rücksichtslos durchgesetzt wurde.
Grundsätzlich bin ich immer für die Stärkung der direkten Demokratie, solange dabei die Grundrechte nicht zur Disposition gestellt werden. Allerdings sind Volksabstimmungen nur dann emanzipatorisch, wenn klar ist, worüber abgestimmt wird, und eine faire und breite öffentliche Debatte stattgefunden hat. In Griechenland war das jedoch nicht der Fall. Es wurde gleichzeitig über mehrere verschiedene Fragen abgestimmt: Über die Austeritätspolitik und die Demütigung der griechischen Regierung in der letzten Verhandlungswoche sowie über das Verhältnis zwischen Griechenland und Europa beziehungsweise dem Euro. In Spanien wie auch in Portugal und Irland waren zwar die Troika-Programme genauso ungerecht wie in Griechenland, aber sie wurden in Wahlen mehrfach bestätigt. Die dortigen Wahlen waren im Grunde mehrfach Volksabstimmungen über den Kurs in der Finanzkrise. Der Kurs gefällt mir zwar nicht, aber es wäre arrogant, diese Wahlen nicht zu respektieren.
Der Ökonom Thomas Piketty erklärte kürzlich in der Zeit, dass Deutschland, historisch gesehen, seine Schulden sowohl nach dem Ersten wie auch dem Zweiten Weltkrieg nicht bezahlt hat. Warum machen die Grünen solche historischen Fakten nicht bekannter?
Das haben wir im Bundestag gemacht. Allerdings bezweifle ich, dass man damit politisch weit kommt. Entscheidend bleibt vielmehr: Deutschland ist dabei, sich in Europa als selbstsüchtiger Hegemon aufzustellen. Durch die Folgen der Finanzkrise in Frankreich und die Selbstschwächung Großbritanniens ist Deutschland jetzt eindeutig das wirtschaftlich und politisch mächtigste Land in Europa. Bislang ist daraus aber nicht das Verständnis gewachsen, diese Macht im Interesse aller in Europa zu nutzen. Vielmehr setzt Deutschland eine Wirtschaftspolitik durch, die die Anpassungslast in der Krise einseitig auf die anderen Länder abwälzt. Symbolisch dafür ist das Festhalten an den hohen Exportüberschüssen, die letztlich Instabilität in der Eurozone und darüber hinaus schaffen, und die Verweigerung einer solidarisch finanzierten Investitionspolitik in Europa. Deutsche Hegemoniepolitik in Europa ist nicht nur egoistisch, sie funktioniert auch nicht. Die europäische Einigung bleibt die größte Chance, die wir haben, Demokratie, Menschenrechte und Ökologie auch unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Globalisierung zu stärken. Trotz aller Widersprüche des realen Handelns der EU – durch eine Schwächung der europäischen Einigung wird nichts besser. Die Chancen, dem Kapitalismus und insbesondere dem Finanzmarktkapitalismus mit demokratisch erstrittenen Regeln menschliche Grenzen zu setzen, werden durch die Schwächung Europas ungleich schlechter. Somit ist die europäische Einigung im Interesse der Mehrheit und praktisch aller progressiven Bewegungen in Europa. Vertiefte europäische Demokratie ist schwer zu erreichen, und die Fehler Europas sind schwer zu korrigieren. Aber das europäische Projekt von links aufzugeben, wäre ein unverzeihlicher Fehler, denn eine bessere Wettoption haben wir nicht. Der Nationalstaat wird sicher nicht die Ebene sein, auf der wir der ökonomischen Globalisierung demokratisch begegnen können.
Sie haben die Politik der griechischen Regierung häufiger kritisiert. Wo sehen Sie deren Hauptfehler?
Bis heute sehe ich in der Syriza-Regierung eine Chance, Griechenland grundlegend zu verändern. Allerdings hat sich gezeigt, dass sie es nicht alleine schafft. In den ersten fünf Monaten ist bei den zentralen Problemen – Leistungsfähigkeit der Verwaltung, Klientelismus und Steuerverwaltung – nichts Relevantes vorangegangen. Anders als versprochen, wurde die Lagarde-Liste mit 1063 reichen griechischen Kontoinhabern in der Schweiz nicht abgearbeitet. Stattdessen wurden Steuerzahlern mit Millionenausständen gegenüber dem Fiskus Rabatte gewährt, wenn sie ihre Steuern doch begleichen. Der Vorschlag, die Namen von Steuersäumigen mit mehr als 500 000 Euro Rückstand ins Internet zu stellen, wurde nicht umgesetzt. Bei der Kürzung der Militärausgaben ist es unter Syriza nicht weiter vorangegangen. Es ist eine wenig überzeugende Ausrede, dass die Erfolge nur wegen der Troika ausgeblieben sind. Im Gegenteil, es gibt viele negative Zeugnisse, auch die Syriza-Regierung pflegt ihren mächtigen Klientelismus.
Dieser Mangel an Erfolgen ist leider fatal. Er war ein Hauptgrund, warum es so leicht war, die griechische Regierung in der Euro-Gruppe zu isolieren. Bei sichtbaren Erfolgen hätten Tsipras und Varoufakis mit einer ganz anderen Glaubwürdigkeit auftreten können. Es ist einfach bitter, dass sie es Schäuble und anderen Scharfmachern gegenüber Griechenland so leicht gemacht haben.
Mit dem griechischen Nein zur Austerität könnten sozialchauvinistische Hürden fallen, wenn die Prekarisierten in Europa merken, dass sie gemeinsame Interessen haben
Auch nach dem Nein der griechischen Bevölkerung gegen das Austeritätsprogramm der EU geht der Druck auf die griechische Regierung auf allen Ebenen weiter. Jetzt soll der griechische Regierungschef bis zum Sonntag Bedingungen erfüllen, die sich nur in Nuancen von den bisherigen von der griechischen Bevölkerung mit großer Mehrheit abgelehnten Programmen unterscheidet.
Schon fürchten nicht wenige in der griechischen Bevölkerung, dass Tsirpas mit der Bestätigung des Referendums im Hintergrund zu Zugeständnissen bereit ist, die der Bevölkerung weitere Opfer abverlangt. Sein betont staatstragendes Auftreten nach dem Referendum und seine sehr mit nationaler Rhetorik gespickten Reden könnten solche Vermutungen bestätigten.
Auch der Rücktritt des griechischen Finanzministers Varoufakis, der in seinen Reden und Schriften immer von einem Reformkapitalismus ausging, der aber die Politik von EU-Institutionen und IWF noch beim Namen nannte, war eine Vorleistung an die EU-Institutionen. Doch die reagierten nicht etwa so, dass die nun ihrerseits von ihren Maximalpositionen abrückten.
Dabei war das Dilemma von Anfang an, dass Tsipras und seine Strömung bei Syriza einen Austritt aus der Eurozone nie als Plan B in Erwägung zog. Das aber unterstellen ihm die konservativen Befürworter immer fälschlicherweise. Dabei wäre ein solcher Plan B die einzige Möglichkeit, um einen Prozess voranzutreiben, der den Widerstand gegen das Europa der Austerität vorantreibt.
Dafür mag der parlamentarische Raum eine Ebene sein. Doch kommt es dabei auch auf das selbstorganisierte Handeln einer Bevölkerung an, die nicht nur bei Abstimmungen ihr Oxi zu den okroyierten Verhältnissen artikuliert. In Athen gab es in den letzten Tagen, seit die Banken geschlossen sind, Nulltarif beim öffentlichen Nahverkehr.
Das war ein solches Beispiel, wo sich in Zeiten einer zugespitzten gesellschaftlichen Auseinandersetzung im Alltag Brüche und soziale und politische Veränderungen abbilden können. In denen Menschen auch Erfahrungen mit einer Organisation des Lebens machen können, die sich nicht mehr ausschließlich auf kapitalistischen Verwertungsinteressen beziehen. Die zahlreichen Solidaritätsorganisationen im Bereich von Bildung Gesundheit, Notversorung für Arme sind ein weiteres Beispiel.
Solche Selbstorganisierungsprozesse im Alltag werden oft unterschätzt, wenn vor allem auf Wahlergebnisse und Referenden geblickt wird. Dabei sind solche Prozesse eine wichtige Grundlage dafür, dass im Alltag erfahren wird, dass es ein Leben jenseits der Austeritätspolitik gibt.
Hat die Angst die Seiten gewechselt?
So wird am Beispiel Griechenlands wieder deutlich, dass auch Menschen, die in eine Notlage getrieben werden, widerständig handeln können, wenn sie Strukturen haben, wo sie sich organisieren und auch die Vereinzelung zumindest zeitweise überwinden. Denn die Austeritätspolitik ist auch eine Politik der Angst, gerade und vor allem gegenüber den einkommensschwachen Menschen. Diese Angst wird auch bewusst eingesetzt, um die von diesen Maßnahmen Betroffenen zu vereinzeln und sie am Widerstand zu hindern.
Nach dem Nein aus Griechenland am letzten Sonntag schrieb [1] der Chefredakteur des Neuen Deutschland Tom Strohschneider, dass die Angst die Seiten gewechselt hat:
Die Griechen haben »Oxi« gesagt, und in diesem Nein steckt die Botschaft, sich von der Angst, auf der die herrschenden Verhältnisse sich gründen, nicht mehr bange machen zu lassen. Das ist das Historische daran. Es wird nicht einfacher werden, nicht einmal ein bisschen. Jedoch: Die Angst hat an diesem Tag die Seiten gewechselt. Sie ist durch das Votum der Menschen in Griechenland zu jenen hinübergeworfen worden, die sich bisher sicher sein konnten, mit ihr den wirksamsten Hebel zu Niederhaltung der Interessen einer Mehrheit in der Hand zu halten. Haben sie diesen noch?
Die letzten Tage nach dem Referendum zeigen, dass sie den Hebel noch in der Hand halten. Aber ist nicht das starre Festhalten am Kurs der Austerität gegenüber jeden wirtschafts- und sozialpolitischen Sinn und Verstand auch ein Zeichen der Angst? Zeigen nicht gerade die rechtspopulistischen Ausfälle des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel vor und nach dem Referendum, die Angst, dass sich Teile der Parteibasis von dem Nein aus Griechenland aus dem einfachen Grund anstecken lassen könnten, dass eine Mehrheit in Griechenland auch die Interessen der Menschen in anderen europäischen Staaten, darunter in Deutschland vertritt, die bereits Opfer für die Austeritätspolitik gebracht haben?
Griechenland, der freche Erwerbslose unter den Nationen
In Deutschland ist diese Politik der Angst gegen die Armen mit der Agenda 2010, besser bekannt als Hartz IV bekannt. Hier wurde ganz bewusst Erwerbslose in Angst gehalten, um den Preis der Ware Arbeitskraft zu senken und den Standort Deutschland wirtschaftsfähig zu machen. Produziert wurde ein Millionenheer an Niedriglöhnern, deren Einkommen teilweise so gering ist, dass sie selbst bei einem Vollzeitjob ihren Lebensunterhalt nicht mehr durch ihr Einkommen oder ihren Lohn bestreiten können.
So gibt es mittlerweile ein Millionenheer von Austockern, die mit Harz IV ihren Lohn aufbessern müssen. Insofern betrifft die Politik der Angst der Agenda 2010 eben nicht nur Erwerbslose, sondern alle Lohnabhängigen. An vielen Arbeitsstellen blieb eine Gegenwehr gegen Arbeitszeitverdichtung und Lohnsenkungen aus, weil die Betroffenen Angst hatten, unter Hartz IV zu fallen, wenn sie sich wehren.
Aktive Gewerkschafter berichteten in den letzten Jahren immer wieder, wie sich in vielen Betrieben die Bereitschaft zur kollektiven Gegenwehr verringerte, weil die Angst umging, in Hartz IV zu landen. Neben dem Druck trug der Sozialchauvinismus noch einen wichtigen Anteil dazu bei, dass es in Deutschland nur in wenigen Fällen zu einer kollektiven Gegenwehr gegen das Hartz-IV-Regime und die Niedriglohnpolitik kam. Die durch die Angst erpressen Opfer wurden als notwendig für den Standort Deutschland verklärt.
Die wenigen Menschen, die sich zu diesen Opfern nicht bereit erklärten und als freche Erwerbslose [2] auch öffentlich in Erscheinung traten, waren dann nicht selten besonderen Anfeindungen von Menschen ausgesetzt, die dadurch ihr Opfer entwertet gesehen haben. Ein ähnliches Phänomen können wir in der Griechenland-Debatte beobachten, wo Politiker von Staaten, die durch die Austeritätspolitik in eine ähnlich desaströse Lage gebracht werden, besonders wütend auf die griechische Regierung sind – sie könnten schließlich auch die eigene Bevölkerung zur Gegenwehr verführen.
Wenn sich die griechische Regierung mit ihren Nein zur Austerität durchsetzt, könnten die sozialchauvinistischen Hürden fallen und so tatsächlich deutlich werden, dass die Prekarisierten in Europa gemeinsame Interessen haben und dass Opfer für den Standort keine gute Idee sind. Daher besteht die größte Angst der Eliten in Europa auch darin, dass der Griechenland-Virus sich auf diese Weise tatsächlich verbreitet.
„Zeitgenössischer Kapitalismus begrenzt die Demokratie“
Es sind in letzter Zeit vor allem die Befürworter der Austeritätspolitik, die die Hartz-IV-Politik in Deutschland in den Kontext der europäischen Austeritätspolitik stellen. So war es der CSU-Politiker Markus Ferber, der als Diskussionsteilnehmer an der Sendung Kontrovers im Deutschlandfunk von letzten Montag betonte [3], dass Deutschland mit Hartz IV seine Wettbewerbsfähigkeit wiedergewonnen habe und dass Griechenland ein solcher Prozess noch bevorstehe.
Nur einen Tag später schlugen der rechtsliberale und wirtschaftsfreundliche holländische Politiker Hans van Balen und sein Stichworte liefernder Interviewer in die gleiche Kerbe [4]. Der Reporter stelle die Frage:
Herr van Baalen, Sie selber erinnern sich sicherlich noch sehr gut. In den 1980er-Jahren steckten die Niederlande selber in einer tiefen schweren Wirtschaftskrise und haben dann zu etlichen Reformen gegriffen. Was in Deutschland dann später geschehen ist mit den Hartz-Gesetzen, hatte viel auch mit diesem Vorbild zu tun. Prägt das die niederländische Debatte und auch Ihren Blick bis heute?
Die Antwort war eindeutig:
Was wir wollen und was wir getan haben war Austerität, und das hat uns am letzten Ende geholfen. Hartz hat auch Deutschland geholfen. Ich meine, Frau Merkel ist geholfen worden von Schröder. Schröder ist nicht belohnt worden, aber Bundeskanzlerin Merkel hat das Hartz-Paket und die Reformen geerbt und das ist natürlich sehr gut gewesen. Das kann man auch in Griechenland machen.
Diese Aussage zeugt schon von einen bemerkenswerten Demokratieverständnis, hat doch die griechische Bevölkerung mit den Wahlen und der Abstimmung deutlich gemacht, dass man es mit ihr nicht machen kann, weil bei ihr auch dank kollektiver Strukturen die Politik der Angst nicht so gut funktioniert wie in Deutschland bei der Einführung von Hartz IV.
Das ist ein schönes Beispiel für die These, die der slowenische Philosoph Slavoj Zizek aufstellt [5]: „Zeitgenössischer Kapitalismus begrenzt die Demokratie.“
Natürlich fragt der Interviewer nicht, wie van Baalen die griechische Bevölkerung trotzdem dazu bringen will, diese Politik dort einzuführen. Gibt es etwa Pläne, das Land unter ein Protektorat zu stellen? Da vor allem in Deutschland die Befürworter der Austerität mit der Hartz IV-Politik, also der systematischen staatlichen Verarmungspolitik, werben und die davon Betroffenen diesen Zusammenhang nicht als Mobilisierung für den Widerstand nutzen, hat die Angst noch nicht endgültig die Seiten gewechselt.
Dafür haben international bekannte sozialdemokratische Ökonomen in einem Offenen Brief an Merkel [6] ein Ende der Austeritätspolitik gefordert. Sie argumentieren aus der Position der wirtschaftlichen Vernunft. Die Interessen der anderen Seite müssen den Austeritätshardlinern auf europäischer Ebene entgegensetzt werden, damit sie sich durchsetzen.
Manchmal hat man den Eindruck, nicht in Griechenland, sondern in Deutschland würde heute abgestimmt über die Austeritätspolitik
Einige der politischen Kräfte, die die Austeritätspolitik unterstützen, würden Griechenland gerne aus den Euro weisen. Da darüber nun Deutschland nicht abstimmen kann und ein Rausschmiss auch in den Statuten der Eurozone nicht vorgesehen ist, hoffen manche, dass ein „Nein“ zur Austeritätspolitik in Griechenland ein Ende der EU-Mitgliedschaft des Landes befördern würde.
Hoffen auf den Grexit
Zu den Anhängern dieser Lesart gehört der Publizist Jürgen Elsässer, einst Theoretiker einer antinationalen Linke, der seit einigen Jahren das Volk zu seiner Bezugsgruppe erklärt „Ich stimme mit Nein, ich stimme für Tsipras“, schrieb [1] Elsässer:
„Zum einen, weil endlich der einzig richtige Gedanke in die Praxis umgesetzt wird, dass das Volk entscheiden muss (ein Gedanke, den Wagenknecht für Deutschland aufgegriffen hat, aber – typisch für einen Volksfeind – von Augstein im obigen Kommentar verworfen wird…). Zum anderen, weil der Sieg des Nein genau das herbeiführen wird, was Tsipras eigentlich gar nicht will: den Grexit.
Ohne Annahme der Spardiktate werden die internationalen Kapitalgeber nämlich den Geldhahn für Griechenland nicht mehr aufdrehen. Es bleibt Tsipras in dieser Situation gar nichts anderes übrig, als – zunächst parallel zum Euro – eine eigene Währung einzuführen, um Gehälter, Renten, Sozialleistungen auszuzahlen. Durch den Sieg des Nein entsteht also eine Dynamik, die über die falsche Ideologie von Syriza hinaustreibt. Syriza wäre in dieser Situation auch dazu gezwungen, zur Bekämpfung der Armut im eigenen Land endlich die Vermögen der reichen Oligarchen anzutasten, also echten Sozialismus zu betreiben – anstatt den bequemen Weg zu gehen und sich das fehlende Kapital vom deutschen Steuerzahler zu besorgen.“
Ein Ende der alternativlosen Tina-Politik
Mit seinem Statement reagiere Elsässer auf eine Erklärung [2] von Jakob Augstein, der auf Spiegel-Online sein Plädoyer für ein Nein zu dem Austeritätsprogramm so begründete:
„Es geht nicht nur um die Zukunft Griechenlands. Sondern um die Frage, ob in Europa das Geld regiert. Das geht uns alle an.“
Augstein sieht in einer Mehrheit gegen die Austeritätspolitik auch ein Scheitern Merkels. Nur so würde in Europa eine relevante Strömung auch über Griechenland hinaus entstehen, die mit der scheinbar alternativlosen Politik der Austerität und des Diktates der Märkte bricht. Ein Nein in Athen würde auch kapitalismuskritischen Bewegungen in anderen europäischen Ländern wie Italien, Portugal und Spanien Auftrieb geben.
Dabei geht es nicht nur um Wahlergebnisse, sondern auch einen erneuten Aufbruch auf den Straßen und Plätzen. Schließlich soll nicht vergessen werden, dass der Wahlsieg von Syriza ohne die Bewegung der Empörten nicht möglich gewesen, die in den Jahren 2010 bis 2012 auf den großen Plätzen griechischer Straßen gegen die Politik der Austerität demonstrierten und von einem großen Polizeiaufgebot mit Tränengas und Wasserwerfern empfangen wurde. Damals gingen auch in Spanien und vielen andereneuropäischen Ländern Menschen mit ähnlichen Forderungen auf der Straße.
Dass die EU-Eliten vor einem Wideraufflammen einer solchen Bewegung große Angst haben und deswegen die Tsipras-Regierung als kurze Episode in EU-Geschichte gerne schnell verabschieden wollen, machte heute im Interview [3] mit dem Deutschlandfunk noch einmal der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz deutlich. Dabei zeigte sich, dass der Schulterschluss zwischen Sozialdemokraten, Liberalen und Konservativen, wie wir ihn in den letzten Wochen in Deutschland beobachten konnten, auch im EU-Parlament funktioniert. Während Schulz die Korruption in Griechenland kritisiert, singt er ein Loblied auf EU-Kommissionspräsident Juncker, dem selbst die konservative Welt bescheinigt [4], dass er sich aus dem Luxemburger Korruptionssumpf nach Brüssel gerettet hat.
Mit der gleichen Chuzpe lobt sich Schulz in dem Interview selber dafür, dass er angeblich der Versuchung widerstanden habe, in Griechenland Wahlkampf zu machen. Dass er mehrmals erklärte, dass er sich einen schnellen Abgang von Tsipras wünsche, scheint für ihn kein Wahlkampf zu sein. Wenn Schulz nun erklärt: „Ich glaube, eine Reihe von Leuten in seiner Partei, die um jeden Preis einen anderen Weg gehen wollen. Sie setzen alle Dinge außer Kraft, die sie mit den europäischen Partnern vereinbart haben“, zeigt sich in wenigen Sätzen das Elend einer Sozialdemokratie, die nichts mehr hasst, als andere Wege. Damit ist Schulz nur das Abziehbild von Sigmar Gabriel, der in den letzten Wochen die Konservativen im politischen Kampf rechts überholen will.
„Politik wird durch Zwang ersetzt“
Schulz und Gabriel verweisen die Chimärevon der angeblichen Mehrheit links von der Union, die ein Bündnis mit Grünen, SPD und Linkspartei angeblich möglichwürde, auf den ihr zugehörenden Platz: als Hoffnungsprogramm für prekäre linke Akademiker, die sich einen Posten in einer der vielen Kommissionen, die angeblich das politische Feld für diese Kombination bereiten sollen, erhoffen.
Da ist in diesen Tagen sogar eine altgediente rechte SPD-Frontfrau wie Gesine Schwan schlauer. Die später vor allem als Universitätspräsidentin bekannt gewordene Schwan hatte Ende der 1980er Jahre die SPD einmal verlassen, weil sie ihre Partei für zu linkslastig hielt. Nun kritisiert sie in einem Interview [5] mit der Wochenzeitung Freitag eine EU, die die griechische Regierung auf die Einhaltung eines Austeritätsprogramms verpflichten will, das mit ihrer Wahl in Griechenland eindeutig abgewählt worden war.
„Die EU tut sich mit dem Interessenausgleich zurzeit extrem schwer. Das konnte man auch beim Flüchtlingsgipfel vergangenes Wochenende sehen, wo der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi entsetzt war über den Mangel an Solidarität unter den Mitgliedsstaaten. In der derzeitigen Situation verschweigt man da gern auch, dass Griechenland trotz seiner schwierigen Lage sehr viele Flüchtlinge aufnimmt und sich bemüht, sie menschlich unterzubringen“, moniert Schwan den Zustand des unsolidarischen Europa.
Um eine Stellungnahmezu den deutschnationalen Ausfällen von Sigmar Gabriel [6] gebeten, der über Bild verkündete, der deutsche Arbeiter werde sich nicht durch eine in Teilen kommunistische Regierung erpressen lassen, antwortete Schwan: „Ich habe ihn wissen lassen, dass ich nicht glauben kann, dass er das gesagt hat. Wenn er es aber wirklich gesagt haben sollte, schäme ich mich dafür.“
Dass hat auch schon der Wirtschaftsexperte Gustav Horn getan [7], der vor wenigen Tagen auch erklärte, erwürde aus ökonomischen Gründen heute in Griechenland mit Nein stimmen.
„Deutschland hat nie gezahlt“
Am Freitag waren in Berlin und einigen anderen Städten noch einmal außerparlamentarische Linke [8] auf die Straße gegangen, die von Gabriel nicht enttäuscht sind und sich auch nicht für ihn schämen, weil sie keine Erwartungen in ihn und seine Partei hatten und haben. Dort stand neben der Werbung für ein Oxi in Athen die Kritik an der Rolle Deutschlands nicht nur bei der Austeritätspolitik im Mittelpunkt.
Aktivisten der antinationalen Gruppen Top Berlin und Cosmonautilus [9] wurden von der Polizei eingekesselt und festgenommen, weil sie Deutschland mit „Scheiße“ in Verbindung gebracht haben. Mittlerweile wurde das inkriminierte Motto auch zu anderen Anlässen [10] verwendet. Es könnte sich eine jahrelange auch juristische Auseinandersetzung wiederholen, wie sie in den 90er Jahren beim Slime-Refrain „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“ geführt wurde. Erst nach vielen Jahren wurde juristisch anerkannt [11], dass er unter die Kunstfreiheit fällt. Zuvor wurden immer wieder Flugblätter mit dem Slogan beschlagnahmt und Lautsprecherwägen durchsucht, wenn das Lied gespielt wurde.
Doch unabhängig vom Wortlautkönnte man auch einfach die Parole „Deutschland hat nie gezahlt“ [12] (), verwenden, mit dem der Ökonom Thomas Pickettyan einige historische Fakten, die hierzulande nicht gerne gehört werden, erinnerte. Dabei hat er noch einen für Griechenland wichtigen Fakt nicht erwähnt. Deutschland hat die im NS-Regime erpressen Darlehen [13] ebensowenig beglichen, wie Reparationen für die Verbrechenzwischen 1940 und 1944 bezahlt und noch in den 1950er Jahren die Freilassung der wenigen verurteilten Täter aus Wehrmacht und NS mit Erpressung an die griechische Regierung durchgesetzt.Im Zusammenhang mit dem griechischen Referendum wird zumindest zeitweise daran wieder erinnert.
Außerparlamentarische Initiativen aus ganz Europa werben für Nein beim Referendum am Sonntag. Mittlerweile wird die Kritik an der Rolle Deutschlands lauter, das seine Schulden nie gezahlt hat
1982 waren dem Magazin Der Spiegel die Szene-Gerüchte um den Container-Jo [1], der bei SPD-Rechten und linken AKW-Gegnern gleichermaßen unbeliebt war, eine eigene Kolumne wert. Wer hätte gedacht, dass der Bewegungsfunktionär mit SPD-Parteibuch drei Jahrzehnte später die griechische Bevölkerung via Deutschlandfunk auffordern [2] wird, Opfer für Europa zu bringen?
Das von der griechischen Regierung anberaumte Referendum am nächsten Sonntag kommentierte Leinen am Montag so:
Wir stehen an einem Scheideweg, und da muss man sich entscheiden: Will man dieses historische Projekt weiterführen? Will man wirklich der Welt zeigen und auch den eigenen Menschen, dass die Einheit Europas ein höherer Wert ist, für den man auch Opfer bringen muss?
Opfer für Europa habe auch Irland gebracht, weisen [3] Journalisten die griechische Regierung zurecht. Nur sie vergessen hinzuzufügen, dass die einkommensschwachen Menschen, die dafür bezahlen mussten, dort nicht gefragt wurden, ob sie dazu bereit sind. Schließlich ist diese Aufforderung zum Opfer für Europa nur die modernisierte Version der Opfer für das Vaterland. Europa hat in dieser Erzählung die Rolle der jeweiligen Heimatländer eingenommen.
Auch im nationalen Rahmen war und ist es nicht üblich, diejenigen, die die meisten Opfer bringen müssen, zu fragen, ob sie mit dem Programm einverstanden sind, das ihnen diese Opfer auferlegt. So wird auch das griechische Referendum entweder als Zeichen von Tsipras Gerissenheit oder Unfähigkeit gedeutet.
In dieser Lesart muss zu den Fähigkeiten eines guten Politikers gehören, der großen Bevölkerungsmehrheit Wahlversprechen zu machen und diese dann mit dem Verweis auf die kapitalistischen Sachzwänge zu ignorieren. Damit die große Mehrheit dazu bereit ist, muss der Politik eine mehr oder weniger große Prise Nationalismus, Sozialchauvinismus und bei Bedarf Antisemitismus beigemischt werden.
Tsirpras hatte in der letzten Woche durchaus mit der Versuchung gespielt, viele Wahlversprechen aufzugeben, um zu einem Einvernehmen mit den Institutionen [4] zu kommen. Dann wäre er zu einem der vielen sozialdemokratischen Politikern geworden, die vor der scheinbaren Macht des Faktischen eingeknickt sind. Wir wissen nicht, was Tsipras letztlich vor diesem Schritt zurückschrecken ließ.
Vielleicht war es das Wissen darum, dass ein Einknicken die Spaltung von Syriza und das Scheitern eines vor allem in Südeuropa mit viel Aufmerksamkeit verfolgten Aufbruchs bedeutet hätte. In seiner Erklärung [5] zur Ankündigung des Referendums [6] teilte der griechische Ministerpräsident mit:
Von der griechischen Regierung wurde verlangt, einen Vorschlag [7] zu akzeptieren, der neue unerträgliche Belastungen des griechischen Volkes kumuliert und den Aufschwung der griechischen Gesellschaft und Wirtschaft untergräbt, indem er nicht nur die Ungewissheit aufrecht erhält, sondern auch die gesellschaftlichen Ungleichheiten noch mehr aufbläht.
Botschaft der Würde für Europa?
Damit geht Tsipras natürlich ein hohes Wagnis ein. Er beruft sich nicht nur auf die jahrelangen Kämpfe gegen die Austeritätspolitik, ohne die Syriza nie zur Regierungspartei geworden wäre, sondern auch auf die griechische Demokratie und beschwört ein anderes Europa. Es muss sich nun zeigen, ob er damit die griechischen Wähler überzeugt.
Jetzt hoffen die Hüter der Austeritätspolitik in Europa, vor allem in Deutschland, dass die griechische Bevölkerung zermürbt von den vielen Opfern, die sie schon bringen müssen, nun freiwillig das Einverständnis für ein weiteres Diktat der Institutionen gibt, danach die Regierung zurücktritt und nach Neuwahlen die alten Parteien wieder an die Regierung kommen. Dann würde sich das Europa der Austerität bestätigt sehen und zur Tagesordnung übergehen.
Es ist dasselbe Europa, das Tsipras Vorvorgänger von der sozialdemokratischen Pasok zum Rücktritt zwang, nachdem er ebenfalls ein Referendum über das EU-Diktat angekündigt hatte. Dass Tsipras trotzdem nicht zögerte, die Bevölkerung zu befragen, spricht für ihn. Er gehört noch nicht zu den Politikern, denen der Machterhalt über alles geht. So hat er auch erklärt, dass seine Regierung natürlich akzeptiert, wenn die Bevölkerung den EU-Plänen zustimmt. Nur dann soll es nicht seine Regierung sein, die diese Politik umsetzt.
Wenn er im Ernstfall dabei bleibt, erteilt er all jenen sozialdemokratischen und linksreformistischen Politikern eine Lektion, die immer betonen, wie ungern sie bei der Umsetzung einer konservativen Politik mitmachen würden und sich damit entschuldigen, dass sie doch vielleicht einige soziale Spuren hinterlassen würden. Die Wähler allerdings geben dann lieber den konservativen und wirtschaftsliberalen Originalen den Vorzug und so führt jede linke Mitverwaltung der Austeritätspolitik zu einem Rechtsruck in der Gesellschaft.
Großbritannien, Finnland, Österreich und zuletzt Dänemark lieferten Beispiele dafür. So haben Tsipras und Syriza mit dem Schritt zum Referendum den Weg geöffnet, dass sie selbst nach einer Niederlage bei der Abstimmung als glaubwürdige Alternative bestehen können, die dann eben wieder Politik aus der Opposition macht. Vielleicht besteht darin die Botschaft der Hoffnung der Würde über Europa hinaus, die Tsipras jetzt leidenschaftlich beschwört [8].
Nein zur Erpressung durch EU und IWF
Noch ist das Referendum nicht entschieden. Gegen den Druck sämtlicher EU-Instanzen versucht auch in Deutschland ein Bündnis für ein Nein zum EU-Diktat [9] zu werben. Auch ein europäischer Aufruf [10] mobilisert für ein Nein beim Referendum.
Schon wird der 5. Juli, der Tag des Referendums, zum Tag des Wandels in Europa [11] erklärt. Trotz allen Pathos würde natürlich eine Ablehnung der EU-Pläne durch die griechische Bevölkerung linken Bestrebungen in Spanien und anderen europäischen Ländern Auftrieb geben.
Deutschland hat nie bezahlt
Auch der französische Ökonom Thomas Piketty [12], der mit seinen Schriften über die wachsende Ungleichheit Schlagzeilen machte, gehört zu den Gegnern der europäischen Austeritätspolitik und kritisiert dabei besonders die Rolle Deutschlands [13]. Auf die Frage, ob er sich freue, dass sich die französische Regierung entgegen ihrer Wahlversprechen der deutschen Austeritätspolitik unterordnet, antwortet Piketty:
Keinesfalls. Das ist weder für Frankreich noch für Deutschland und schon gar nicht für Europa ein Grund zur Freude. Vielmehr habe ich große Angst, dass die Konservativen, insbesondere in Deutschland, kurz davor sind, Europa und die europäische Idee zu zerstören – und zwar aufgrund ihres erschreckenden Mangels an geschichtlichem Erinnerungsvermögen.
Dann gibt Piketty seinen deutschen Lesern eine historische Lektion mit auf den Weg:
Wenn ich die Deutschen heute sagen höre, dass sie einen sehr moralischen Umgang mit Schulden pflegen und fest daran glauben, dass Schulden zurückgezahlt werden müssen, dann denke ich: Das ist doch ein großer Witz! Deutschland ist das Land, das nie seine Schulden bezahlt hat. Es kann darin anderen Ländern keine Lektionen erteilen. Weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Dafür ließ es andere zahlen, etwa nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870, als es eine hohe Zahlung von Frankreich forderte und sie auch bekam. Dafür litt der französische Staat anschließend jahrzehntelang unter den Schulden. Tatsächlich ist die Geschichte der öffentlichen Verschuldung voller Ironie. Sie folgt selten unseren Vorstellungen von Ordnung und Gerechtigkeit.
Mit dieser Einschätzung dürfte Piketty mit dem Hamburger Rechtsanwalt Martin Klingner vom AK Distomo [14] einig sein, der sich seit Jahren dafür einsetzt, dass die Opfer der deutschen NS-Herrschaft über Griechenland entschädigt wird. In einer Pressemeldung schrieb der Arbeitskreis.
Es ist paradox. Griechenland braucht Geld. Dabei hat es Guthaben. Das Guthaben liegt in Deutschland und – als deutsches Staatseigentum im Ausland – in verschiedenen (europäischen) Ländern. Deutschland schuldet Griechenland seit ca. 70 Jahren eine Summe, die heute auf bis zu 575 Milliarden Euro geschätzt wird.
Der aktuelle Kampf der griechischen Regierung hat die Forderungen nach Reparationen und Entschädigung etwas in den Hintergrund gedrängt. Am Montag fand in Berlin ein von der Linksfraktion veranstaltetes Hearing [15] unter der Überschrift „Ungesühnt, aber Unvergessen – Deutsche Verbrechen in Griechenland und die Frage der Reparationen“ statt.
Die drei zentralen Fragen, die dort von Historikern, Politikern und Angehörigen von Opfern diskutiert wurden, lauteten: Ist die Reparationsfrage erledigt? Dürfen Nazi-Opfer auch nach 70 Jahren noch Wiedergutmachung verlangen? Darf Deutschland die Zwangsanleihe behalten?“
Die Referenten betonten die Notwendigkeit von Reparationen, Entschädigung und Rückzahlung der Zwangsanleihen. Es ging den aus Griechenland angereisten Angehörigen nicht um das Geld, sondern um die Gerechtigkeit für die Opfer. Doch alle Referenten zogen auch Parallelen zur aktuellen Politik.
So wies der griechische Rechtsanwalt Sarantos Theodoropoulos darauf hin, dass bereits vor mehr als 70 Jahren NS-Funktionäre die Zwangsanleihe damit rechtfertigten, dass nur so Griechenland seinen Verpflichtungen, damals für Nazideutschland, nachkommen könne. Theodoropoulos nannte diese Zwangsanleihe denn auch sarkastisch „unser erstes Memorandum“.
Wenn eine solche Sichtweise in größeren Teilen der griechischen Bevölkerung verankert ist, gibt es vielleicht doch die Hoffnung, dass sie mehrheitlich den aktuellen Memoranden ihre Zustimmung verweigern.