Guérot, Menasse: „Die Katalanen sind Europäer, die Nationalisten sitzen in Madrid“

Die Perspektive muss aber die spanische Republik und nicht ein katalonischer Nationalstaat sein – Ein Kommentar

Wie geht es weiter mit der katalonischen Unabhängigkeit, nachdem die Madrider Zentralregierung ihre Drohung wahrgemacht hat und mittels Aktivierung des Paragraphen 155 die katalonische Regierung abgesetzt hat? Die Bildung einer De-Facto-Exilregierung durch einen Teil dieser Regierung, von manchen auch als Flucht ins Ausland bewertet, scheint weniger ein langfristiger Plan der katalonischen Autonomieregierung gewesen zu sein. Es ist viel wahrscheinlicher, dass ein großer Teil der Bewegung überrascht war, dass die spanische Regierung in relativ kurzer Zeit die Gegenmaßnahmen umsetzte. Sie haben sich wohl eher auf einen längeren Prozess eingestellt, was den Autonomisten die Möglichkeit gegeben hätte, ihre Basis zu stabilisieren und erweitern.

Die Katalonische Autonomie ist längst eine europäische Frage

Spätestens durch die Anwesenheit von Teilen der Autonomieregierung in Brüssel ist die Frage der katalonischen Autonomie zu einer europäischen Frage geworden. Genau das wollen große Teile des EU-Etablissements noch immer verhindern. Es hat sich fast unisono hinter die spanische Nationalregierung gestellt und brachte es mehrheitlich nicht einmal fertig, die Repression zu kritisieren, mit dem die Abstimmung in Katalonien eingegrenzt werden sollte.

Das ist auch ein besonderer Beweis der EU-Lebenslüge, angeblich überall im EU-Raum für die Einhaltung der Menschenrechte einzutreten. In Wirklichkeit verfolgt sie unter dem Deckmantel der Einhaltung der sogenannten Werte der EU die Interessen des Hegemons Deutschland. Deswegen reagieren die EU-Gremien gegen Menschenrechtsverletzungen der nicht besonders deutschfreundlichen polnischen Regierung zumindest auf der akklamatorischen Ebene scharf, während sie im Falle der deutschfreundlichen spanischen Regierung nicht einmal den Zeigefinger erheben.

Das kann aber nur denjenigen empören, der davon ausgeht, dass Politik von Werten und nicht Interessen bestimmt ist. Zu diesen Utopisten einer europäischen Ideologie gehören die Publizisten Robert Menasse[1] und Ulrike Guérot[2], die die europäische Autonomiebewegung in ihr Konzept eines EU-Nationalstaates einordnen wollen. Dabei kommt ihnen gelegen, dass diese Autonomiebewegung so deutlich ihre Pro-EU-Position aufrecht erhält, obwohl ihr von genau dieser EU-Bürokratie die kalte Schulter gezeigt wurde. Als Replik auf einen Beitrag[3] des Historikers Heinrich August Winkler im Spiegel betonten Menasse und Guerot die Künstlichkeit sämtlicher Nationalstaaten, also auch derjenigen, die Teil der EU sind.

Nationalismus kann es auf vielen Ebenen geben

Diese Nationalismuskritik ist richtig und wichtig, würde sich natürlich aber sowohl gegen die Verfechter der bereits existierenden wie der neu zu gründenden Nationalstaaten richten, also sowohl gegen Spanien wie auch gegen Katalonien. Doch die beiden Autoren nehmen scheinbar gar nicht ernst, dass die Autonomisten einen eigenen Staat mit allem, was dazu gehört, gründen wollen. Für sie sind sowohl die autonomistischen Schotten wie die Katalonen die eigentlichen Europäer.

In einem Beitrag der Wochenzeitung Freitag schreiben sie:

Wer heute die Verteidigung der Nation gegen die europäische Einigung stellt, nimmt die Wiederholung der Geschichte billigend in Kauf, zu Lasten der Europäer, die ihr Leben so gestalten wollen, wie man es ihnen versprochen hat: in einem grenzenlosen Europa, in dem der nationale Pass keine Rolle mehr spielt, sondern ersetzt wird durch eine europäische Staatsbürgerschaft. Aktuell wünschen sich dies viele Briten (die sich gerade zuhauf einen kontinentaleuropäischen oder irischen Pass besorgen wollen, um die europäischen Freiheiten nicht zu verlieren), genauso wie die Schotten (die ebenfalls durch den Brexit betroffen sind) oder die Katalanen, die unsinnigerweise vor die Alternative gestellt werden, sich entweder den oppressiven Maßnahmen der spanischen Zentralregierung zu beugen – oder aber die EU und den Euro zu verlassen.

Die Katalanen sind Europäer, die Nationalisten sitzen in Madrid. Schon die Schotten wurden bei ihrem Unabhängigkeitsreferendum betrogen. Weil ihnen gedroht wurde, dass sie aus der EU fliegen, wenn sie für Unabhängigkeit stimmen, haben sie für „Remain“ gestimmt – dieses „Remain“ galt Europa und nicht Großbritannien. Auch auf der Insel gilt: Die Schotten sind Europäer, die Nationalisten sitzen in London – und die haben mit dem Brexit-Referendum die irrationale und gefährliche Spielart des Nationalismus gezeigt.

Ulrike Guérot, Robert Menasse[4]

Damit befleißigt sich das Autorenduo eines instrumentellen Antinationalismus. Würden sie ihn ernst nehmen, müssten sie sowohl die britische als auch die spanische Regierung, aber auch die schottischen und katalonischen Staatsgründungsprojekte als unterschiedliche Nationalismuskonzepte analysieren. Vor allem aber müssten sie ihr eigenes Projekt eines EU-Nationalstaates als eigenen EU-nationalistischen Block begreifen, der sich weltweit im innerkapitalistischen Konkurrenzkampf durchsetzen will. Doch eine solche materialistische Nationalismuskritik findet man bei Menasse und Guerot nicht. Das zeigt sich besonders an diesen Abschnitt:

Ob Katalonien, Baskenland, Tirol, Schottland, Venetien, Bayern, Flandern, Saarland oder Elsass und die vielen anderen Regionen, die sich heute mehr Autonomie wünschen: Sie alle sind kulturelle Einheiten mit ihrer eigenen Geschichte. Sie können ausbrechen aus Nationen, aber Europa nicht verlassen. Damit stellt sich erneut die Frage, in welchem Zusammenschluss sie alle auf dem europäischen Kontinent in Zukunft in Frieden und Freiheit zusammenleben möchten. Das Saarland etwa hat 1955 darüber abgestimmt, ob es zu Frankreich oder Deutschland gehören oder unabhängig sein möchte – hätte es sich damals für Letzteres entschieden, könnte es heute ein zweites Luxemburg sein. Nichts zeigt mehr den fast zufälligen Charakter dessen, was wir heute Nationalstaat nennen.

Ulrike Guérot, Robert Menasse

Wenn sie schreiben, dass sie aus ihren Nationen ausbrechen, aber Europa nicht verlassen können, bleiben sie Spielball des EU-Nationalismus.

Welche Bedeutung hat der Francofaschismus für den katalonischen Autonomismus?

Natürlich sind alle Nationalismen identitär und ausgrenzend, aber sie haben ihre eigene Geschichte. Das wird am Verhältnis zwischen dem spanischen und dem katalonischen Nationalismus besonders deutlich. Schließlich ist der Hauptakteur der spanischen Nationalregierung die direkte Nachfolgepartei des Francofaschismus.

Bis in die unmittelbare Gegenwart hatten Politiker einflussreiche Positionen, die sich im Franco-Faschismus an der Unterdrückung der Opposition beteiligten. Daher ist Taz-Kommentator Erich Rathfelder zuzustimmen, wenn er schreibt[5]: „Der Freiheitsdrang der Katalanen hat vielfältige Ursachen. Er speist sich auch aus den nicht aufgearbeiteten Verbrechen der Franco-Diktatur.“

Auch seiner Kurzbeschreibung der nicht vollzogenen Entfrancoisierung Spaniens ist weitgehend zuzustimmen: „Über die Verbrechen der Franco-Zeit sollte nicht diskutiert, die Träger des alten Systems sollten nicht angetastet werden. Dafür gab es zunächst gute Gründe. Denn die franquistische Rechte war bereit, ihr System mit Gewalt zu verteidigen. Erst als der Putschversuch von General Milan Bosch 1981 am breiten Widerstand der Gesellschaft und der eindeutigen Stellungnahme des Königs gegen die Putschisten scheiterte, war der Weg zunächst frei für die Demokratisierung des Systems.“

Der erwähnte Putschversuch von 1981 hat aber nicht der Demokratisierung Spaniens den Weg bereitet, sondern sie beendet, bevor sie so recht begonnen hatte. Seit Ende der 1970er Jahre hatte sich eine außerparlamentarische Bewegung gebildet, die sich nicht mit der Politik der sogenannten Transition anfreunden wollte, die die Faschisten und ihre Nutznießer auch in der sogenannten bürgerlichen Demokratie unangetastet ließ.

Dagegen erhob sich Widerstand von gewerkschaftlichen Basiskomitees, von Anarchosyndikalisten und von Marxisten, die den Volksfrontkurs der Kommunistischen Partei ablehnten. Der Putschversuch setzte dieser Bewegung enge Grenzen, weil nun in großen Teilen der Linken die Angst groß war, wenn man es mit der Forderung nach Demokratisierung zu weit treibt, könnte es zurück zu Zeiten des offenen faschistischen Terrors gehen. Die Erinnerung an den Terror war damals schließlich noch sehr weit verbreitet.

Trotz dieser Fehleinschätzung ist Rathfelder mit dem Verweis auf die Rolle des Francofaschismus zuzustimmen. Dagegen bezeichnet es Bernd Beier in der Jungle World als Geschichtsklitterung, wenn sich die katalonischen Autonomisten als Opfer einer francistischen Diktatur gerieren:

Rajoy als Wiedergänger Francos darzustellen, ist auch der letzte Renner bei den angeblich linken und linksradikalen Separatistenfans, etwa der CUP. Sie hat es gerade nötig. Auf ihrer Website erklärt sie unter der Überschrift „Was ist die CUP?“ ihre Ziele, unter anderen „die Verteidigung der nationalen Sprache und Identität“. Herzlich willkommen bei den Nationalidentitären aller Länder! Aber das findet sich nur im katalanischen Teil der Website, nicht im englischsprachigen. International will die CUP schließlich unter dem Label „linksradikal“ reüssieren, nicht unter dem Label „romantisch-völkisch“.

Bernd Beier[6]

Eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass Bernd Beier, der der antideutschen Linken nahesteht und Ex-Linksradikale wie Erich Rathfelder konträre Positionen haben. Bereits vor mehr als 20 Jahren waren sie beim Jugoslawien-Konflikt Antipoden. Damals wandten sich Beier und die Jungle World gegen den wesentlich von Deutschland ausgehenden antiserbischen Nationalismus der kroatischen und bosnischen Autonomisten, der wiederum von Rathfelder vehement unterstützt wurde, der auch den Militäreinsatz gegen Jugoslawien bis heute verteidigt.

Trotzdem ist die aktuelle Kontroverse bemerkenswert. Rathfelder betont die francofaschistischen Kontinuitäten im heutigen Spanien und will sie auch bei der Beurteilung der katalonischen Autonomieregierung gewürdigt wissen. Bernd Beier geht auf diese Kontinuitäten, die ja empirisch nicht geleugnet werden können, gar nicht ein. Denn für ihn ist entscheidend, dass sie heute von der katalonischen Autonomiebewegung instrumentalisiert wird.

Den ideologischen Schutt des Franco-Regimes entsorgen

Demgegenüber ist der Politologin Detlef Georgia Schulze[7] zuzustimmen[8], dass Postfrancismus kein Francismus ist. Allerdings bedeutet das nicht, dass der Einfluss des Francismus heute in Spanien irrelevant wäre. Das zeigt sich schon bei der Frage Republik oder Monarchie.

Die spanische Bevölkerung hatte sich vor über 80 Jahren für die Republik entschieden und es war der Francofaschismus, der mit dem Putsch sowohl diese demokratische Abstimmung als auch die bürgerlich-demokratisch gewählte Linksregierung mit massiver Unterstützung von NS und Mussolini-Faschismus terroristisch unterdrückte. Es war ein Diktat des Franco-Regimes, dass am Übergang zur bürgerlichen Demokratie die Monarchie wieder eingeführt wurde. So könnte die Diskussion um die katalonische Autonomie dazu führen, dass sich in ganz Spanien die Kräfte wieder zusammenfinden, die sich für eine Republik stark machen.

Das wäre ein Beitrag dazu, die spanische Gesellschaft auf allen Ebenen von dem ideologischen und materiellen Schutt des Francismus zu befreien. Dazu gehört ganz praktisch die Schleifung sämtlicher Denkmäler, mit denen an die Figuren aus dieser Epoche erinnert wird, dazu gehört die Umbenennung aller Straßen und Plätze, die an sie erinnern. Dazu könnte in letzter Konsequenz auch die Auflösung der aktuellen Regierungspartei stehen, weil für eine Nachfolgepartei des Francoregimes kein Platz ist. Das müsste natürlich die Folge einer gesellschaftlichen Debatte und nicht eines autoritären Akts von oben sein.

Wem eine solche Forderung weltfremd klingt, sei daran erinnert, dass nicht nur in der Türkei durch die Justiz auch schon Regierungsparteien aufgelöst wurden. Auch in Belgien wurde der rechte Vlaams Block juristisch aufgelöst. Eine solche Perspektive kann eben nicht in einem Teilstaat wie Katalonien, sondern nur in ganz Spanien umgesetzt werden. Es wäre eine Alternative zu einer Unterstützung einer katalonischen Autonomieregierung und würde auch vermeiden, dass die neuen Nationalbewegungen zum Spielball des EU-Nationalismus würden. Vielmehr könnte es eine europäische Perspektive sein, die Kräfte zu unterstützen, die sich für die spanische Republik und die Entfrancoisierung stark machen. Und es wäre wünschenswert, wenn die Postfaschisten um Rajoy und sein Umfeld, die die katalonische Autonomiebewegung der Rebellion und des Aufstands anklagen, endlich für die faschistische Rebellion zu Verantwortung gezogen werden, mit der die demokratische Republik bis heute in Spanien verhindert wird.

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] http://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=119524678
[2] http://dietz-verlag.de/isbn/9783801204792/Warum-Europa-eine-Republik-werden-muss-Eine-politische-Utopie-Ulrike-Guerot
[3] http://www.spiegel.de/spiegel/heinrich-august-winkler-ueber-robert-menasse-europas-falsche-freunde-a-1174045.html
[4] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-grenzen-fliessen
[5] http://www.taz.de/!5458606/
[6] http://jungle.world/artikel/2017/43/francos-wiedergaenger
[7] http://theoriealspraxis.blogsport.de/
[8] https://www.heise.de/tp/features/Katalonien-Emphatische-Demokratie-und-das-Gewicht-von-Verfassungen-3871045.html