Unerhörte Flüchtlingsproteste

Minister befassen sich nur mit »Asylmissbrauch«
Am Samstag begannen die Proteste gegen die am Mittwoch in Rostock beginnende Innenministerkonferenz.

Seit Monaten kämpfen Flüchtlinge aus ganz Deutschland für ihre Rechte. Doch ihr Marsch durch die Republik, ein Protestcamp in Berlin-Kreuzberg und Hungerstreiks am Brandenburger Tor werden von der Politik noch immer ignoriert. Auf der Innenministerkonferenz, die am 5. Dezember in Rostock beginnt, stehen ihre Anliegen nicht auf die Agenda. Doch die Betroffenen haben den Protest schon einige Tage vor Konferenzbeginn nach Rostock getragen. Der Block der Flüchtlinge und ihrer Unterstützer war auf der Demonstration von knapp 300 Menschen nicht zu überhören, mit der am Samstag die Proteste gegen die Innenministerkonferenz starteten. Andere Themen waren die Auflösung aller Geheimdienste nach der NSU-Affäre und die Einschränkung von Grundrechten auf Demonstrationen ebenso wie bei Fußballspielen.

Polizei schottete ab
Gegenüber »nd« begründet ein Sprecher der Flüchtlingsinitiativen seinen Unmut über die Konferenzagenda: »Zynischerweise befasst sich der einzige von 45 Tagungspunkten, der dieses Thema berührt, mit »Asylmissbrauch», der den Menschen aus Mazedonien und Serbien unterstellt wird. Wir alle wissen, dass damit Roma gemeint sind, die an vielen Orten bedroht und verfolgt werden.«

Auf der Demonstration machten die Flüchtlingsgruppen noch mal ihre Forderungen deutlich. Dazu gehören die Abschaffung der Residenzpflicht, die die Bewegungsfreiheit massiv einschränkt, die Auflösung der Heime und ein Abschiebestopp. Auf einem großen Transparent in zehn Metern Höhe an einem Parkhaus angebracht wurde zur Solidarität mit den Kämpfen der Flüchtlinge und zur Ablehnung jeder Form von Rassismus aufgerufen. Die Botschaft war auch für die Besucher des Rostocker Weihnachtsmarktes nicht zu übersehen. Ansonsten hatten es selbst interessierte Passanten schwer, die Inhalte der Demonstrationen zu erfahren. »Die Polizei schottete uns massiv von den Passanten ab, so dass es oft schwierig war, unsere Inhalte an die Bevölkerung zu vermitteln«, kritisierte Heiko Dorn vom Rostocker Bündnis gegen die Innenministerkonferenz die Polizeitaktik.

Kriminalisierung
Zudem sei eine Demonstrantengruppe ohne ersichtlichen Grund fast eine Stunde festgehalten worden, monierte Dorn. »Schon im Vorfeld sind die Proteste von der Rostocker Politik und der Lokalpresse kriminalisiert worden«, kritisierte Charlotte Hass, die ebenfalls im Rostocker Bündnis mitarbeitet. So habe der Rostocker Rathaussprecher Ulrich Kunze in einem Interview mit der Ostseezeitung vom Samstag gewarnt, dass es auf der Demonstration »Blut und Scherben« geben könne.

In den nächsten Tagen stehen verschiedene Themen der Innenministerkonferenz im Zentrum von Veranstaltungen. So wird heute im Peter-Weiss-Haus in Rostock über die Folgen ein möglichen NPD-Verbots auf die Naziszene besonders in Mecklenburg-Vorpommern diskutiert. Während der Konferenz wird es am kommenden Donnerstag und Freitag eine Mahnwache vor dem Tagungsort, dem Hotel Neptun geben. Für den 5. Dezember ruft die Initiative Jugend ohne Grenzen zu einer weiteren Demonstration für Flüchtlingsrechte auf, die um 17 Uhr am Hauptbahnhof beginnt.
Weitere Termine finden sich auf der Homepage der Kampagne imkversenken2012.blogsport.de.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/806139.unerhoerte-fluechtlingsproteste.html
Peter Nowak

Von Goldbarren und Geldsäcken

Eher Schützenhilfe beim Wahlkampfauftakt als Sozialprotest in Krisenzeiten: der Aktionstag „Umfairteilen“

Am Aktionstag „Umfairteilen“ haben sich am 29. September in über 40 Städten in Deutschland nach Veranstalterangaben ca. 40.000 Menschen beteiligt. Die Forderungen beschränkten sich im Wesentlichen darauf, Vermögende in Deutschland etwas stärker am Steueraufkommen zu beteiligen. Konkret geht es um eine einmalige Vermögensabgabe und um die Einführung einer Reichensteuer. Im Vorfeld hatten Aktive ihre Vorstellung eines fairen Kapitalismus mit dem symbolischen Umschichten von Goldbarren, Münzen und Geldsäcken zugunsten gesellschaftlicher Bereiche wie Bildung, Pflege und Energiewende deutlich gemacht.

Die Veranstalter sehen den Aktionstag erwartungsgemäß als vollen Erfolg, so in einer Pressemitteilung von Attac. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband spricht von einem Durchbruch in der Gerechtigkeitsdebatte. Doch jenseits solcher Erklärungen waren auch aus Teilen des Aufruferkreises deutlich kritischere Stellungnahmen zu hören. So warnte Pedram Shahyar auf dem Attac-Blog im Vorfeld des Aktionstages vor einer Unterordnung der Proteststrategie unter rot-grüne Wahlkampfszenarien: „Attac darf nicht Teil einer Re-Legitimierung von SPD und Grünen werden und ihnen helfen, ihre Oberfläche sozial zu polieren. Deshalb ist es nötig, die Vereinnahmungsversuche von SPD und Grünen zu widerstehen und in der Öffentlichkeit, die wir mit unserer Kampagne gewinnen, noch sehr viel deutlicher auf die Rolle der rot-grünen Regierung als neoliberaler Rammbock der letzten 20 Jahre hinzuweisen. Ansonsten bekommen wir die Rechnung in einer neuen ‚Agenda 2020’“. Tatsächlich aber wurde im Aufruf zum Aktionstag Umfairverteilen die Schuldenbremse ebenso wenig erwähnt wie die Agenda 2010.

Kritik von innen, kaum von außen
Zum Aktionstag hatten auch die Vorstände verschiedener Einzelgewerkschaften aufgerufen. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sprach auf der Abschlusskundgebung von Umfairteilen in Bochum. Doch lediglich von der GEW und von Verdi hatte man im Vorfeld eine eigenständige Mobilisierung wahrgenommen. Auch die DGB-Gewerkschaftsbasis sparte nicht mit Kritik an den eigenen Vorständen: „Zumindest in Hamburg haben sozialdemokratische ver.di-Funktionäre keinerlei Probleme damit, einerseits wortgewaltig eine Vermögenssteuer zu fordern und gleichzeitig als SPD-Bürgerschaftsabgeordnete still und leise die Schuldenbremse zu beschließen oder mal eben den massiven Kürzungen z.B. in der Kinder- und Jugendhilfe zuzustimmen“, brachte Heiko Laning die Realität nicht nur in der Hansestadt auf den Punkt. Er bezeichnet den Umfairteilen-Aktionstag als von Bewegungsfunktionären aufgesetzte Kampagne, die den aktiven Basisinitiativen kaum nutzt.

Die meisten Einzelgewerkschaften beschränkten ihre Unterstützung für Umfairteilen auf eine Unterschrift und eine Presseerklärung. „Teile des gewerkschaftlichen Funktionärskörpers (und hier vor allem die Führungen) sind inzwischen nicht mehr bereit, eine starke Mobilisierung und erfolgversprechende Kampfmaßnahmen bis zur vollständigen Durchsetzung von politischen Forderungen auch nur in Betracht zu ziehen. Unter diesen Voraussetzungen ist zu befürchten, dass die gewerkschaftlichen Herbstaktionen wieder einmal nur zum ‚Dampf ablassen’ genutzt werden sollen“, schrieb Christiaan Boissevain von der Münchner Gewerkschaftslinken. Die Hamburger Gewerkschaftslinke stellte die richtigen Fragen: „Fairer Lohn, gerechter Lohn, geht alles nicht, es gibt nur erkämpften Lohn. Und faire Leiharbeit wie sie die IGM fordert – was soll das eigentlich sein?“

Bei so viel Kritik auch der DGB-Basis an der Kampagne und an den eigenen Vorständen müssten eigentlich die Stimmen linker Basisinitiativen auf offene Ohren stoßen. Doch sie waren auf dem Aktionstag nur schwach zu vernehmen. In Berlin beteiligten sich, neben einem kleinen antikapitalistischen Block, auch Aktivisten der Interventionistischen Linken mit der Aktion „Kapitalismus Fairsenken“. Gar nichts zu hören war hingegen vom M31-Bündnis, das mit der Mobilisierung zum antikapitalistischen europaweiten Aktionstag am 31. März eigentlich die Grundlage für eine längerfristige antikapitalistische Organisierung legen wollte.

http://www.direkteaktion.org/214/von-goldbarren-und-geldsaecken
Direkte Aktion 214 – Nov/Dez 2012

Peter Nowak

Leitbild Dienstgemeinschaft

Das Bundesarbeitsgericht hat über das Streikverbot bei kirchlichen Arbeitgebern entschieden.

In der vorigen Woche befasste sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt mit der Frage, ob eine der boomenden Branchen mit mittlerweile über 1,3 Millionen Beschäftigten weiterhin eine streikfreie Zone bleiben darf. Es handelt sich um die Diakonie und die Caritas, die sich im Zuge des Ausbaus der sogenannten Care-Industrie zu pro­fitorientierten Privatkonzernen entwickelt haben. Aus Sicht der Kapitaleigner haben diese Konzerne einen wichtigen Vorteil. Die Beschäftigten, in Reproduktions- und Pflegeberufen sind es überwiegend Frauen, dürfen nicht streiken. Denn die Unternehmen befinden sich in kirchlicher Trägerschaft. Im Rahmen des noch aus der Weimarer Republik stammenden »Selbstordnungsrechts« der Kirchen hatten die kirchlichen Unternehmer bisher die Möglichkeit, weltliche Arbeitsrechte zu ignorieren und einen sogenannten dritten Weg zu gehen. Doch hinter diesem schillernden Begriff verbirgt sich nichts anderes als eine ständestaatliche Vorstellung von Konfliktregelung, die am »Leitbild der Dienstgemeinschaft« ausgerichtet ist.

Arbeitsbedingungen ebenso wie Löhne sollen einvernehmlich kirchenintern ausgehandelt werden. Jede Arbeitskampfmaßnahme wird als Verstoß gegen diese betriebsinterne Regelung angesehen und hat zu unterbleiben. Eine solche arbeitsrechtliche Situation dürfte auch den Wunschvorstellungen vieler Unternehmerverbände entsprechen. Aber nur die kirchlichen Träger können sie bis heute mit Verweis auf die über 80 Jahre alte Regelung legitimieren. Man könnte vermuten, dass in einer säkularen Gesellschaft solche Entrechtungen von Beschäftigten mit dem Verweis auf Kirchenrechte endgültig der Vergangenheit angehören müssten. Darauf stützte sich auch die Hoffnung von Kritikern dieser Regelung, wie sie vor allem bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi zu finden sind.

Nach der gerichtlichen Entscheidung des BAG, die am Dienstag voriger Woche verkündet wurde, kann jedoch keinesfalls von einem Sieg für die säkulare Gesellschaft und die Gewerkschaftsrechte gesprochen werden. Auch die Erfolgsmeldungen, die Verdi nach der Entscheidung verbreitete, können an diesem Befund nichts ändern. Die Gewerkschaft stützt ihre Erklärungen auf den Passus der Entscheidung, der das strikte Verbot von Arbeitsniederlegungen bei kirchlichen Trägern zumindest aufweicht. Doch vor allem in der Urteilsbegründung hat die Präsidentin des BAG, Ingrid Schmidt, die Position der kirchlichen Unternehmer bestätigt. Dass sie damit eine ständestaatliche Ideologie aufwertet, wird schon im Wortlaut deutlich.

Die Religionsgemeinschaften sollen auch weiterhin »ein am Leitbild der Dienstgemeinschaft ausgerichtetes Arbeitsrechtsverfahren« praktizieren dürfen. Es müsse nur garantiert sein, dass die Gewerkschaften dabei organisatorisch eingebunden würden und die Ergebnisse dann für die gesamte Branche verbindlich seien. Werden diese Kriterien erfüllt, kann den Beschäftigten religiöser Träger auch weiterhin das Streikrecht verweigert werden. Man muss den Vertretern von Verdi zustimmen, wenn sie davon sprechen, Verhandlungen ohne Streikrecht seien nicht mehr als ein kollektives Betteln. Allerdings sollte man daran erinnern, dass sich die DGB-Gewerkschaften auch außerhalb der kirchlichen Trägerschaft gerne für die Standortinteressen von Unternehmen instrumentalisieren lassen.

Wenn die Deutsche Bischofskonferenz nach der Entscheidung des BAG schlussfolgert, »das System der partnerschaftlichen Tariffindung in paritätisch zusammengesetzten Kommissionen« sei »im Grundsatz bestätigt« worden, ist das eine Einschätzung, die der Realität entspricht. Hingegen ist weniger verständlich, dass auch Verdi einen Erfolg reklamiert. Gerade im Hinblick darauf, dass ständestaatliche Elemente weiterhin im Arbeitsrecht dafür sorgen können, das Streikrecht der Beschäftigten einzuschränken, sollte man nicht nur auf die nächste juristische Instanz verweisen, wie es Verdi getan hat. Ein Bündnis von betroffenen Arbeitnehmern und gesellschaftlichen Institutionen gegen ständestaatliche Sonderrechte wäre sinnvoll. Aber vielleicht stünde Verdi dann eine andere Bündniskonstellation im Weg? Gemeinsam mit den großen Kirchen hat sich die Gewerkschaft bisher erfolglos gegen längere Ladenöffnungszeiten und die Ausdehnung der Wochenendarbeit gewehrt.

Immerhin vertrauen nicht alle Betroffenen dem Gerichtsweg. Unter dem Motto »Kein Abbau der Arbeitnehmerrechte in der Diakonie! Für Tarifvertrag!« riefen Arbeitsgemeinschaften der Mitarbeitervertretungen (AGMAV) des Diakonischen Werks in Hessen-Nassau (DWHN) gemeinsam mit Verdi in den vergangenen Tagen zum Protest auf.
http://jungle-world.com/artikel/2012/48/46687.html
Peter Nowak

von Peter Nowak

Armutslöhne als politscher Erfolg?

Die Kritik am veränderten Armutsbericht der Bundesregierung war vorhersehbar, ist aber heuchlerisch

Als parteipolitisch motivierte Manipulation kritisiert das Bündnis Umfairteilen – Reichtum besteuern! die massiven Streichungen im aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. „Der zum Teil schonungslosen Analyse im ersten Entwurf der Bundesarbeitsministerin wurden offensichtlich in zentralen Passagen sämtliche Zähne gezogen“, kritisiert Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband.
Auch der DGB und sämtliche Oppositionsparteien monieren, dass die aktuelle Fassung des Armuts- und Reichtumsbericht (Der Staat wird ärmer) in wesentlichen Teilen von der Fassung abweicht, der Ende September vom Bundesarbeitsministerium vorgelegt und sogleich von dem FDP-Vorsitzenden und Teilen der Union heftig kritisiert wurde (Rösler und der Romneyeffekt).

Es bestehe die Gefahr, dass aus einigen Formulierungen in dem Bericht Argumente für eine stärkere Vermögensbesteuerung gezogen werden könnten, lautet ein Argument der Kritiker. Dabei stieß sich Rösler vor allem an dem Passus in dem Bericht, in dem von einem Prüfauftrag die Rede ist, „ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann“.

In den nun mit allen Ministerien abgestimmten Bericht sind solche inkriminierten Passagen nicht mehr enthalten. Wo in der ersten Fassung noch von einer zunehmenden Armutsspreizung und einer wachsenden Kluft zwischen arm und reich die Rede war, wird jetzt in Loblied auf den Niedriglohnsektor angestimmt, der Deutschland eine stabile Wirtschaft beschere und die Arbeitslosigkeit sinken lasse.


Klingt wie Gerhard Schröder

Doch ist die Aufregung wirklich berechtigt? Bei vielen der Betroffenenverbände ist der Ärger über die Umformulierungen verständlich. Sie hatten seit Jahren dafür gekämpft, dass gesellschaftlich anerkannt wird, dass eine Politik, wie sie in der Agenda 2010 deutlich wird, zu wachsender Armut in der Bevölkerung führt. Wenn diese Version zumindest in Ansätzen im Armutsbericht festgehalten worden wäre, hätte man zweifellos von einem Erfolg für diese Initiativen sprechen können. Doch SPD und Grünen darf man ihre Empörung nicht abnehmen. Das ist eben Wahlkampf. Denn sie haben nicht nur die Agenda 2010 auf den Weg gebracht, sondern genau die gleichen Argumente dafür verwendet, wie sie jetzt in dem Armutsbericht kritisieren.

Daran mögen führende Politiker dieser Parteien im anstehenden Wahlkampf nicht so gerne erinnert werden. Aber gerade ein Kandidat wie Steinbrück kann sich gar nicht so sehr verbiegen, dass er nicht immer als Agenda2010-Politiker identifiziert wird. Und er will es auch gar nicht. Wenn nun die Sozialdemokratie wie am Wochenende auf dem Parteitag kosmetische Veränderungen fordert, dann meldet sich prompt Alt-Kanzler Schröder zu Wort und verteidigt die Agenda-Politik vehement. Schon zum 10. Jubiläum bezeichnete er die maßgeblich zu den sozialen Verwerfungen führende Reform, die in der ersten Fassung des Armutsbericht noch zaghaft benannt wurden, als Gewinn für die Gesellschaft. Dass ein großer Teil der SPD dazu keinen Widerspruch hat, zeigt sich schon daran, dass sie Schröders Wunschkandidaten zum Kanzleraspiranten ernannten. Wenn SPD-Generalsekretärin Nahles nun der Regierung vorwirft, mit der neuen Version des Armutsberichts Realitätsverweigerung zu betreiben, so müsste sie die Kritik auch an große Teile der eigenen Partei zu richten.

Daher kann die Bundesregierung mit dieser Kritik gut leben. Interessanter ist für sie die Frage, wie lange relevante Teile der Bevölkerung einen wachsenden Niedriglohnsektor bei gleichzeitigem Ansteigen von gesellschaftlichem Reichtum akzeptieren. Diese Frage wurde in der ersten Version des Berichts noch gestellt. Die bisher geringe Beteiligung der Bevölkerung in Deutschland an den europäischen Protesttagen gegen die Folgen der Wirtschaftskrise zeigt, dass das Bekenntnis zum Standort Deutschland in großen Teilen der Bevölkerung noch intakt ist

http://www.heise.de/tp/artikel/38/38093/1.html

Peter Nowak

Kann das Streicheln eines Hundes strafbar sein?

Eine von der Regierung geplante Verschärfung der Sexualgesetzgebung sorgt in letzter Zeit für Diskussionen.
Eigentlich ist schon länger bekannt, dass in Deutschland Sex mit Tieren bald wieder generell verboten werden soll. Das sieht eine Novelle des Tierschutzgesetzes vor, auf die sich die schwarz-gelbe Koalition geeinigt hat. Es drohen künftig Bußgelder von bis zu 25.000 Euro, wenn ein Tier zu „artfremden“ sexuellen Handlungen gezwungen werden sollen.

Mag die Verschärfung auch nur eine Minderheit betreffen, so handelt es sich bei der geplanten Verschärfung doch um eine Revision von Liberalisierung, die 1969 vollzogen wurden. Damals wurden bekanntlich in der Sexualgesetzgebung einige ganz alte Zöpfe abgeschnitten. Dazu gehörte auch die Strafbarkeit von „widernatürliche Unzucht“. So wurde lange Zeit sowohl der Geschlechtsverkehr zwischen Männern als auch der Sex zwischen Mensch und Tier genannt. Objektiver wird Sex mit Tieren Sodomie oder Zoophilie genannt. Mit der 1969 vollzogenen Liberalisierung war Sex mit Tieren nur noch strafbar, wenn dem Tier dabei erhebliche Verletzungen zugefügt werden. Die Vorschrift fand sich deshalb nicht mehr im allgemeinen Strafgesetzbuch, sondern im Tierschutzgesetz.

Dagegen liefen Tierfreunde der unterschiedlichen Couleur Sturm. Im Internet machen sie gegen Tiervergewaltiger mobil und haben einen Fragebogen entworfen, indem die Meinung über die Wiedereinführung des Straftatbestands Sex mit Tieren und Tierpornographie eine zentrale Rolle spielt.

Hund durch Zungenkuss genötigt?
Der Bund gegen Missbrauch der Tiere hat eine eigene Unterschriftensammlung für ein Zoophilieverbot gestartet. Wer hier vor allem eine mit Tierrechtsargumenten ummantelte Prüderie vermutet, kann auf der Seite der Tierfreunde auch fündig werden. So echauffiert man sich in einer Pressemitteilung über eine besondere Grenzüberschreitung.

„Berlin, 31.10.2012. Derzeit strahlt RTL die sechste Staffel von ‚Schwiegertochter gesucht‘ aus. Dabei kam es am Sonntag, 28. Oktober, zu einer Szene, die noch Tage später in den sozialen Netzwerken für Aufregung sorgt. Einer der Kandidaten gab vor laufender Kamera seiner Hündin einen intensiven Zungenkuss.“

Während im Internet von „übertriebener Tierliebe“ die Rede ist, bewertet der bmt den Vorfall als unzulässige Provokation. „Es geht hier nicht um Lob oder eine freundschaftliche Liebkosung des Hundes“, sagt Claudia Lotz, Leiterin der bmt-Geschäftsstelle Berlin, „sondern um einen Akt der Nötigung. Der Kandidat zwingt seine Schäferhündin durch beidseitig festen Griff um den Kopf, diese mehr als artwidrige ‚Intimität‘ zu erdulden.“

Sodann fordern die Sittenwächter Konsequenzen: „Es liegt in der Verantwortung des Senders, ihren Kandidaten keine Plattform für Bekenntnisse zu bieten, die auch nur ansatzweise mit zoophilen Handlungen oder Neigungen in Verbindung gebracht werden könnten“, so Claudia Lotz. Allein die Diktion klingt so, als handele es sich hier um Menschen, die sich gerne in fremde Angelegenheiten einmischen und nach den Paragraphen rufen, die ihnen die Handhabe dazu geveb. Wäre die Gesetzesverschärfung schon in Kraft, hätte es sicher einige Anzeigen gegen den Tierfreund und den Sender gegeben.

Gegen pauschale Kriminalisierung der Zoophilie
Sicher haben manche Kritiker der neuen Strafverschärfung solche Szenarien vor Augen. So wendet sich die Gruppe Zeta gegen eine „pauschale Kriminalisierung der Zoosexualität“.

„Tiere sind schon jetzt geschützt durch § 17 Tierschutzgesetz, wodurch ganz ungeachtet der Motivation jede Tierquälerei unter Strafe gestellt ist.“ Zudem wehrt sich die Initiative auch dagegen,jegliche sexuellen Kontakte mit Tieren nur als Missbrauch zu bewerten. „Warum sollen sexuelle Mensch-Tier-Kontakte unter Strafe gestellt werden, in denen das Tier Spaß daran hat? Wozu soll ein gesonderter Paragraph dienen, wenn nicht dazu, um eine subjektive Moralvorstellung in Stein zu meißeln?“ So die letzte Frage dieser Erklärung. Zuvor hat Zeta betont, dass Tiere sehr wohl ausdrücken können, ob sie an den menschlichen Annäherungen Gefallen finden oder nicht. Selbst, wenn man das in Zweifel zieht, muss man die Zoophilie-Gegnern ebenfalls fragen, ob Tierrechte, auf die sie sich immer berufen, nicht ein menschliches Konstrukt sind, das auf die Tierwelt übergestülpt wird.

Wo ökonomisches Interessen tangiert werden könnten, muss das Tierrecht hinten an stehen, wie die Grünen an der geplanten Gesetzesverschärfung kritisieren. So hat die Pferdezüchterlobby durchgesetzt, dass es nicht zu einem Verbot des Schenkelbrandes kommen wird. Auch bei der Ferkelkastration gibt es einen Kompromiss, der der Fleischindustrie entgegenkommt. Dabei stellt sich die Frage, ob nicht in erster Linie die Zurichtung zu Schlachtvieh und Versuchstieren die Felder sind, auf denen sich Kämpfer für die Tierrechte bewähren können. Aber hier ist der Gegendruck eben groß und die kleine Gruppe der Zoophilen hat keine große Lobby.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153271
Peter Nowak

Kampf gegen die Wildwestmethoden

Maredo-Beschäftigte wollen sich nicht mit Enschüchterung und schlechter Bezahlung abfinden
Am Samstag protestierten in mehreren Städten Maredo-Beschäftigte gegen die unsoziale Politik der Restaurantkette

„Gegen Niedriglohn und Bespitzelung bei MAREDO!“ lautete die Parole auf dem Transparent, das am Samstagnachmittag in der Berliner Tourismusmeile „Unter den Linken“ bei den Passanten für Aufmerksamkeit sorgte. Auch in anderen Städten gab es am Samstag ähnliche Aktionen vor Maredofilialen. Denn am 26. November jährt sich eine Kündigung, die von Gewerkschaftlern als massiver Angriff auf Rechte von Lohnabhängigen bewertet wird. In den Medien war von „Wildwestmethoden bei Maredo“ die Rede. Betroffen waren die Beschäftigten der Restaurantfiliale in der Freßgass in Frankfurt/Main.
Sie berichteten, am 26. November letzten Jahres hätten Manager der Düsseldorfer Maredo- Firmenzentrale die Beschäftigten durch Einschüchterung gezwungen, ihre Kündigungen zu unterschreiben. Die Abgesandten aus der Zentrale hätten den betroffenen Mitarbeitern in Aussicht gestellt, sonst Strafanzeigen wegen Eigentumsdelikten gegen sie zu erstatten. Über eine Stunde hätten die Beschäftigten das Steakhaus nicht verlassen dürfen. Die Eingänge seien durch Sicherheitskräfte gesichert. Die Benutzung von Mobiltelefonen sei strikt untersagt worden.14 Betroffene haben bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft Strafantrag wegen Nötigung und Freiheitsberaubung gegen die Verantwortlichen von Maredo gestellt. Die Ermittlungen laufen noch. Im Juli 2012 hatte die Polizei die Frankfurter Filiale durchsucht und dabei Videoaufnahmen gefunden, die Maredo von seinen Beschäftigten ohne deren Zustimmung gemacht hat. Trotzdem erreichte das Maredo-Management mit diesen Aufnahmen, dass das Arbeitsgericht in der ersten Instanz den Kündigungen stattgab. Die Richter sahen einen Entlassungsgrund gegeben, wenn Mitarbeiter am Arbeitsplatz ausgemusterte Brote gegessen und Wasser getrunken haben. „Maredo besiegt Betriebsräte“, titelte die Frankfurter Rundschau nach dem Urteil.

Die Betroffen wollen mit Unterstützung der Gewerkschaft Nahrung Genussmittel, Gaststätten (NGG) in die nächste Runde gehen. Doch sie verlassen sich nicht nur auf dem Rechtsweg.
Schon kurz nach den spektakulären Entlassungen gründete sich ein Solidaritätskomitee, das sich noch immer wöchentlich trifft und die Betroffenen unterstützt. Wöchentlich werden auch vor der Frankfurter Filiale Flugblätter verteilt, die über den aktuellen Stand des Verfahrens informieren. Bei mehreren Aktionstagen wurden die Aktionen auf die ganze Republik ausgedehnt. Es sei wichtig, dass Angelegenheit nicht einfach aus Öffentlichkeit verschwindet, betonen die Betroffenen. Namentlich zitiert werden, will niemand. In der Vergangenheit seien mit aus dem Zusammenhang gerissenen Interviewzitaten neue Kündigungen begründet worden, betonte ein Betroffener. Ihr Vorbild ist die Berliner Kaiser’s-Kassieren Emmely, die mit der Begründung gekündigt worden war, sie habe einen Flaschenbond im Wert von 1,30 Euro unterschlagen. Einem Solidaritätskomitee gelang eine bundesweite Debatte über den Fall und Emmely wurde nach mehreren Niederlagen in den unteren Instanzen am Ende doch wieder eingestellt werden.
„Gegen Niedriglohn und Bespitzelung bei MAREDO!“ lautete die Parole auf dem Transparent, das am Samstagnachmittag in der Berliner Tourismusmeile „Unter den Linken“ bei den Passanten für Aufmerksamkeit sorgte. Auch in anderen Städten gab es am Samstag ähnliche Aktionen vor Maredofilialen. Denn am 26. November jährt sich eine Kündigung, die von Gewerkschaftlern als massiver Angriff auf Rechte von Lohnabhängigen bewertet wird. In den Medien war von „Wildwestmethoden bei Maredo“ die Rede. Betroffen waren die Beschäftigten der Restaurantfiliale in der Freßgass in Frankfurt/Main.
Sie berichteten, am 26. November letzten Jahres hätten Manager der Düsseldorfer Maredo- Firmenzentrale die Beschäftigten durch Einschüchterung gezwungen, ihre Kündigungen zu unterschreiben. Die Abgesandten aus der Zentrale hätten den betroffenen Mitarbeitern in Aussicht gestellt, sonst Strafanzeigen wegen Eigentumsdelikten gegen sie zu erstatten. Über eine Stunde hätten die Beschäftigten das Steakhaus nicht verlassen dürfen. Die Eingänge seien durch Sicherheitskräfte gesichert. Die Benutzung von Mobiltelefonen sei strikt untersagt worden.14 Betroffene haben bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft Strafantrag wegen Nötigung und Freiheitsberaubung gegen die Verantwortlichen von Maredo gestellt. Die Ermittlungen laufen noch. Im Juli 2012 fand in der Maredo-Filiale, eine Hausdurchsuchung statt, bei der Videoaufnahmen gesucht wurden, die von den Beschäftigten ohne deren Zustimmung heimlich gefilmt wurden. Trotzdem erreichte das Maredo-Management mit diesen Aufnahmen, dass das Arbeitsgericht in der ersten Instanz den Kündigungen stattgab. Die Richter sahen einen Entlassungsgrund gegeben, wenn Mitarbeiter am Arbeitsplatz ausgemusterte Brote gegessen und Wasser getrunken haben. „Maredo besiegt Betriebsräte“, titelte die Frankfurter Rundschau nach dem Urteil.

Die Betroffen wollen mit Unterstützung der Gewerkschaft Nahrung Genussmittel, Gaststätten (NGG) in die nächste Runde gehen. Doch sie verlassen sich nicht nur auf dem Rechtsweg.
Schon kurz nach den spektakulären Entlassungen gründete sich ein Solidaritätskomitee, das sich noch immer wöchentlich trifft und die Betroffenen unterstützt. Wöchentlich werden auch vor der Frankfurter Filiale Flugblätter verteilt, die über den aktuellen Stand des Verfahrens informieren. Bei mehreren Aktionstagen wurden die Aktionen auf die ganze Republik ausgedehnt. Es sei wichtig, dass Angelegenheit nicht einfach aus Öffentlichkeit verschwindet, betonen die Betroffenen. Namentlich zitiert werden, will niemand. In der Vergangenheit seien mit aus dem Zusammenhang gerissenen Interviewzitaten neue Kündigungen begründet worden, betonte ein Betroffener. Ihr Vorbild ist die Berliner Kaiser’s-Kassieren Emmely, die mit der Begründung gekündigt worden war, sie habe einen Flaschenbond im Wert von 1,30 Euro unterschlagen. Einem Solidaritätskomitee gelang eine bundesweite Debatte über den Fall und Emmely wurde nach mehreren Niederlagen in den unteren Instanzen am Ende doch wieder eingestellt werden.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/805466.kampf-gegen-die-wildwestmethoden.html

Peter Nowak

Schränkt Berliner Abgeordnetenhaus Versammlungsfreiheit ein?


Die SPD-CDU-Koalition in Berlin will Videoüberwachung von Demonstrationen; Menschenrechtsorganisationen protestieren

Am vergangenen Wochenende fand in Berlin wieder eine jener Demonstrationen statt, die noch eine ganze Zeit danach für Diskussionen sorgen. Es ging um eine von antifaschistischen Gruppen organisierte Gedenkdemonstration für den vor 20 Jahren von Neonazis ermordeten Silvo Meier. Nach der Auflösung gab es Auseinandersetzungen mit der Polizei, die nun die Öffentlichkeit beschäftigen.

Wenn es nach der in Berlin regierenden Koalition aus SPD und Union geht, würden solche Demonstrationen in Zukunft von der Polizei videoüberwacht. Eine entsprechende Beschlussvorlage liegt dem Berliner Abgeordnetenhaus vor. Es ist ein besonderer Wunsch der Union, die sich in Berlin seit jeher als Law- and Orderpartei gibt und damit auch in der großen Koalition eigene Akzente für ihre Klientel setzen will.

Auch bei großen Teilen der SPD stößt sie damit auf offene Ohren. Schließlich hatte sich über dieses Thema die rot-rote Koalition schon gestritten. Die Linke hat sich aber bei diesem Thema einmal nicht den Druck gebeugt, so dass es bisher keine landeseigene Regelung für die Videoüberwachungen von Demonstrationen gibt. Das Berliner Bundesverwaltungsgericht hatte aber schon am 5.7. 2010 entschieden, dass für diese Videoaufnahmen eine gesetzliche Grundlage nötig ist. Die soll nun mit der Vorlage geschaffen werden.


Protest von 4 Menschenrechtsorganisationen

Dagegen protestieren nicht nur die Grünen, die Linke und die Piraten im Abgeordnetenhaus. Jetzt haben sich auch das Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein, die Internationale Liga für Menschenrechte und die Humanistische Union Berlin-Brandenburg gegen die Überwachungspläne positioniert.

„Mit diesem Gesetz soll schnell und ohne breite öffentliche Diskussion in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit eingegriffen werden“, kritisieren die vier Menschenrechtsorganisationen. Der Berliner Senat täusche eine Gesetzeslücke vor, die es zu schließen gelte, während man eine fahrlässige Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit und eine Gefährdung demokratischer Teilhabe vorbereite, lautet die harte Kritik.

Das geltende Bundesversammlungsgesetz, das in Berlin nun durch ein Landesversammlungsgesetz ersetzt werden soll, sieht Bild- und Tonaufnahmen von Versammlungen nur vor, wenn „tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen“. Nun soll die Polizei in Berlin das Recht bekommen, aufgrund von unbestimmter „Größe“ oder inhaltsleerer „Unübersichtlichkeit“ „Übersichtsaufnahmen“ zu fertigen.

Diese dürfen dann zwar nicht aufgezeichnet werden. Sobald die Polizei jedoch Anhaltspunkte auf „Gefahren“ findet, kann sie entsprechend den Regelungen gemäß Bundesversammlungsgesetz auch heranzoomen und aufzeichnen. Schon heute herrscht in diesem Bereich eine Grauzone. Wann das Geschehen von Versammlungen aufgezeichnet wird, liegt letztlich im Ermessen der Einsatzleitung der Polizei.

Sollte die Senatsvorlage verabschiedet werden, dürften die Gerichte wieder damit befasst werden. Die Menschenrechtsorganisationen machen darauf aufmerksam, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über das erste bayerische Versammlungsgesetz anlasslose Aufzeichnungen als unzulässigen Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wertete.

Auch das Verwaltungsgericht Berlin hat am 5. Juli 2010 in seinem Urteil zur Videoüberwachung einer Demonstration gegen die Nutzung der Atomenergie festgestellt, dass diese Aufzeichnungen das Selbstbestimmungsrecht der Bürger und Bürgerinnen und die Demokratie gefährden. Allein „durch das Gefühl des Beobachtetseins“ könnten die Teilnehmenden „eingeschüchtert“ oder gar von der Teilnahme an einer Demonstration abgehalten und so in ihren Grundrechten eingeschränkt werden.

Bleibt es bei den Nummernschildern für Polizisten?

Auch in anderen Bereichen der Innenpolitik scheint der neue Senat konservative Akzente zu setzen. So hat der erst vor wenigen Tagen von Innensenator Henkel ernannte Polizeipräsident Klaus Kandt deutlich gemacht, dass er die individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizisten, die gegen heftige Widerstand der Polizeigewerkschaft eingeführt wurde, nicht für optimal hält.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153253
Peter Nowak

Schwierige Erinnerung

Demonstration Für das Neonazi-Opfer Silvio Meier sind am Samstag wieder Tausende auf die Straße gegangen. Doch nun wird über weitere Formen des Gedenkens diskutiert
Schwierige Erinnerung

Tausende haben am Samstag in Berlin-Friedrichshain an den Antifaschisten Silvio Meier erinnert. Der junge Mann war am 21. November 1992 von einem Neonazi im U-Bahnhof Samariterstraße erstochen worden. Meier war zu DDR-Zeiten in der Opposition und hatte nach dem Fall der Mauer mit Freunden ein Haus in Friedrichshain besetzt.

Damals gehörte die Auseinandersetzung mit Neonazis zum Alltag. Rechte Jugendliche überfielen zu dieser Zeit auch in vielen Teilen Ostberlins Menschen, die nicht in ihr Weltbild passten. Nach Meiers Tod organisierte sein politisches Umfeld Gedenkveranstaltungen, die in den Jahren danach auch für eine neue Generation von Antifaschisten Tradition wurden. Die Parole „Silvio Meier unvergessen“ prangt jedes Jahr auf Plakaten, Flyern und Aufklebern.

„Nicht der Silvio Meier, den ich kannte“

Doch diese Art der Gedenkkultur ist nicht unumstritten, wie vor einigen Tagen auf einer Podiumsdiskussion in Friedrichshain deutlich wurde. „Das ist nicht der Silvio Meier, den ich kannte“, kritisierte ein Jugendfreund. Er erinnerte daran, dass Meier als DDR-Oppositioneller sicher nicht damit einverstanden wäre, nun überall als Genosse bezeichnet zu werden, weil der Begriff zu sehr nach SED klinge.

Aber nicht alle Freunde Meiers sehen das so. „Personen haben sich in unterschiedliche politische Richtungen entwickelt und von dieser Perspektive beurteilen sie heute das Gedenken an Meier“, meinte ein anderer Mitstreiter des Neonaziopfers. Die Spanne ist weit – vom Wissenschaftler, dem die staatsfeindliche Attitüde der Parolen auf dem Meier-Gedenken missfallen, bis zu Anhängern, die sich in anarchistischen Zusammenhängen bewegen. Damit wird deutlich, dass auch der Freundeskreis keine letzte Instanz der Gedenkarbeit ist.

Angehörige einbeziehen

Für ein weiteres Neonazi-Opfer wird nun erstmals eine andere Art der Erinnerungskultur diskutiert: ein Gedenkstein in der Nähe des Tatortes. Dieter Eich wurde am 24. Mai 2000 von vier Neonazis in seiner Wohnung Berlin-Buch ermordet, offenbar nur deshalb, weil er erwerbslos und damit in den Augen seiner Mörder ein „Assi“ war. Eine Initiative im Nordosten Berlins widmet sich seit vielen Jahren seiner Erinnerung.

2013 wird der Haupttäter aus der Strafhaft entlassen. Bis dahin soll auch der Gedenkstein gesetzt sein. Noch werden Spenden dafür gesammelt. Staatliche Sponsoren scheiden für die Initiatoren aus, weil sie sich nicht abhängig von politischen Vorgaben machen wollen.

Selbst beim Gedenken an Opfer der NS-Zeit tut sich die Gesellschaft immer noch schwer, wie Dirk Stegemann vom Berliner Bündnis „Rechtspopulismus stoppen“ berichtete. Er setzt sich für einen Erinnerungsort für die Opfer des größten Berliner Arbeitshauses in Berlin-Rummelsburg ein. Von dort wurden in der Nazizeit mehrere Insassen in Konzentrationslager verschleppt. Weil es sich beim dem Areal um lukrative Grundstücke handelt, soll aber kein Investor mit Tafeln verschreckt werden, die an Geschichte erinnern.
Benennung verschoben

Einen Gedenkort wollen auch Freunde von Silvio Meier durchsetzen. Nach ihm soll gleich in der Nähe des Orts seiner Ermordung eine Straße benannt werden. Der Beschluss wurde schon vor Monaten auf einer Bürgerversammlung gefasst und vom Bezirksparlament bestätigt.

Ein Anwohner hat allerdings geklagt und damit die Umbenennung zu Meiers 20. Todestag vorerst verhindert. In der taz wird er mit der Begründung zitiert, dass Meier als ehemaliger Hausbesetzer kein würdiger Träger eines Straßennamens und für seinen Tod auch selber verantwortlich sei.

http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/schwierige-erinnerung
Peter Nowak

Was darf Satire?

UNImedien: Hans Martin Schleyer und ein Studentenkalender

»AStA beleidigt RAF-Opfer in Taschenkalender«. titelte unlängst das »Hamburger Abendblatt«. Der stellvertretende Gruppenvorsitzende des Hamburger RCDS, Ramon Weilinger, sprach im »Deutschlandfunk« von »Menschenverachtung«. In einen Brief an die Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung monierte der Hamburger RCDS über »die latent verfassungsfeindliche Gesinnung einzelner Mitglieder des AStA«. Der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Walter Scheuerl stellte bereits eine Anzeige gegen AStA-Mitglieder.

Was sich wie ein Remake auf den deutschen Herbst vor mehr als drei Jahrzehnten anhört, sind Meldungen vom November 2012. Stein des Anstoßes ist ein kurzer Eintrag in dem gerade veröffentlichten »KalendAStA 2013«, wie der alljährlich vom Hamburger AStA herausgegebene Taschenkalender heißt. Unter dem Datum des 18. Oktober ist dort zu lesen: »Mit seinem Tod schafft Hanns Martin Schleyer die Voraussetzung für die nach ihm benannte Mehrzweckhalle in Stuttgart.« Am 18. Oktober 1977 war Schleyer nach sechswöchiger Entführung von der RAF getötet worden. AStA-Vorstandsmitglied Simon Frerk Stülcken erklärt, dass mit dem Eintrag in satirischer Form darauf hingewiesen werden soll, dass in Stuttgart eine Mehrzweckhalle nach einem Mitglied der Waffen-SS benannt wurde. Dieser Teil der Schleyer-Biographie ist historisch unstrittig. Stülcken sagt, er sei sich bewusst, dass die satirische Darstellung nicht den Geschmack aller Leser treffe. Aber erkenne man eine gelungene Satire nicht gerade daran?

Im »Deutschen Herbst« 1977 wurden zahlreiche Asten wegen des sogenannten Mescalero-Aufrufs durchsucht, der sich ebenfalls satirisch mit RAF-Aktionen auseinandersetzte. Dazu ist es jetzt nicht gekommen. Doch der Ruf nach Sanktionierung und Bestrafung ist auch heute schnell zu hören.
http://www.neues-deutschland.de/rubrik/medienkolumne/
Peter Nowak

Man streikt hier nicht

Während in vielen europäischen Ländern am 14. November gegen die Krisenpolitik gestreikt wurde, gab es in Deutschland nur Kundgebungen mit einer überschaubaren Anzahl von Teilnehmern.

Der 14. November war eine Premiere in der Geschichte des gewerkschaftlichen Protests. An diesem Tag organisierten Gewerkschaften in Spanien und Portugal, aber auch in Italien, Zypern, auf Malta und in Belgien flächendeckende Arbeitsniederlegungen gegen die Folgen der Krisenpolitik. Von einer gesamteuropäischen Koordination konnte aber selbst in den südeuropäischen Ländern keine Rede sein. So hatten die Gewerkschaften in Griechenland nur zu einem einstündigen Protest während der Mittagspause aufgerufen. Die baskischen Gewerkschaften wiederum boykottierten den Ausstand weitgehend, weil sie sich von den spanischen Gewerkschaften nicht die Termine vorgeben lassen wollen.

In Deutschland gab es erwartungsgemäß keine Arbeitsniederlegungen. »Europa streikt und Deutschland schaut zu«, titelte die Taz. Diese Kritik wird selbst in den Vorstandsetagen des Euro­päischen Gewerkschaftsbundes geteilt. Dort wird immer häufiger moniert, dass die DGB-Gewerkschaften, die ebenfalls Mitglied sind, für die Proteste ihrer Kollegen in anderen europäischen Ländern nur schöne Grußworte übrig hätten. Und manchmal nicht einmal das. Vor dem Europäischen Streiktag äußerte sich das Spitzenpersonal der IG-Metall wenig wohlwollend zu den Streikvorhaben an der europäischen Peripherie. So klang der IG Metall-Vorsitzende Berthold Huber bei seinem Auftritt in der Gesprächssendung »Forum Manager« des Fernsehsenders Phoenix am 14. Oktober, als hätte er versehentlich ein Skript des Sprechers der Unternehmerverbände verlesen. Huber erklärte, die spanischen Gewerkschaften verspielten durch zu hohe Lohnabschlüsse ihre wirtschaftlichen Vorteile. Dass es sich dabei nicht etwa um einen Blackout handelte, machte Huber knapp zwei Wochen später in einem Gespräch mit dem Schwäbischen Tagblatt deutlich. Dort bezeichnete er die Streiks in Südeuropa als voluntaristischen Unfug. Diese Auslassungen blieben auch in den eigenen Reihen nicht unwidersprochen. »Der Vorsitzende der IG Metall sorgt sich um die Finanzausstattung der Unternehmen, nicht um die Nöte der Krisenopfer in Spanien, Griechenland oder in Deutschland«, monierte Stephan Krull, langjähriges Betriebsratsmitglied bei VW in Wolfsburg, auf der Internetplattform Labournet. »Wir halten dein Verhalten nicht nur für unsolidarisch, sondern auch für ein Hindernis für die Entwicklung von Gegenwehr in Deutschland angesichts der deutlich nahenden Krise«, heißt es in einem offenen Brief, den zahlreiche Gewerkschafter an Huber adressierten.

In einem Aufruf mit dem Titel »Für ein krisenfestes Deutschland und ein soziales Europa« macht die IG Metall deutlich, wie sie sich die Standortpflege vorstellt. »Die Lokomotive Deutschland stößt ordentlich Rauch aus und ist auf Touren«, heißt es dort. Die IG Metall fordert die Politik dazu auf, mit keynesianischen Maßnahmen, wie der Erhöhung der Vermögenssteuer, für den Wirtschaftsstandort Deutschland Sorge zu tragen. Es greift allerdings zu kurz, diese von der IG Metall hinlänglich bekannte Standortpflege als Klassenverrat der Gewerkschaftsspitze zu deuten, wie es manche linken Kritiker tun, die sich im Wesentlichen nur einen Austausch der Führung wünschen. Denn Teile der Facharbeiterschaft in der metallverarbeitenden Industrie sehen durch den Korporatismus der IG Metall durchaus ihre Interessen vertreten. Sie sorgen auch für die verbandsinternen Mehrheiten der Vertreter dieser Position.

Mit ihrer Standortpolitik gerät die IG Metall immer mehr in die Kritik von Gewerkschaftern aus der EU, die das deutsche Wirtschaftsmodell häufig als »Dampfwalze« wahrnehmen und für den Abbau von sozialen Standards und Gewerkschaftsrechten verantwortlich machen. Obwohl bei dieser Kritik die Verantwortung der eigenen Politiker für die Krisenpolitik manchmal zu kurz kommt, wird doch die Dominanz Deutschlands im europäischen Machtgefüge richtig erkannt. Noch nie standen bei Protesten gegen die Krisenpolitik Vertreter der deutschen Politik derart im Zentrum der Aufmerksamkeit, wie es am 14. November der Fall war. In Thessaloniki wurde der deutsche Generalkonsul mit Eiern beworfen, in Portugal hatten vor dem Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am 12. November Tausende in einem offenen Brief erklärt: »Wir haben Sie nicht gewählt, erkennen keine Kanzler/in Europas an«. Ausdrücklich solidarisierten sich die Unterzeichner mit den Menschen, die überall in Europa gegen die Sparpolitik auf die Straße gehen.

Dass eine solche Stimmung nicht nur in der europäischen Peripherie zunimmt, zeigte sich auch am 7. November. An diesem Tag protestierten etwa 150 Beschäftigte des von Schließung bedrohten Ford-Werkes im belgischen Genk vor der Werkszentrale in Köln (siehe auch Seite 16). Anders als die meisten deutschen IG-Metaller warteten sie nicht auf eine Einladung des Managements, um das Verwaltungsgebäude zu betreten. Ein Polizeiansatz mit zahlreichen Personalienfeststellungen sowie eine Besetzung der Ford-Zentrale waren die Folge. Ein Sprecher der belgischen Gewerkschafter bezeichnete sie als »Weckruf an die Kollegen in Deutschland«. Die belgischen Ford-Arbeiter wollten deutlich machen, dass nur ein koordinierter, länderübergreifender Widerstand die geplante Schließung abwenden könne. Die Verunsicherung durch die drohende Schließung des Ford-Werks hat dazu beigetragen, dass sich auch in Belgien zahlreiche Beschäftigte der Automobilindustrie, aber auch der Eisenbahn am 14. November am Streik beteiligten. Die Kritik an der Passivität der deutschen Gewerkschaften wurde von belgischen Kollegen bereits vor zwei Jahren sehr originell ausgedrückt. Mit dem Slogan »Helft Heinrich« warben Mitglieder der belgischen Gewerkschaft CSC auf einer Großdemonstration für eine stärkere Unterstützung der deutschen Kollegen, die sich gegen das Kürzungsprogramm entweder nicht wehren wollten oder nicht dazu in der Lage seien.

Dabei sei Deutschland ein Vorreiter auf dem Niedriglohnsektor, der mittlerweile zum europäischen Exportschlager geworden sei, monierten die belgischen Gewerkschafter sehr zum Missfallen vieler deutscher Gewerkschaftsfunktionäre, die dieses Unterstützungsangebot eher als Provokation ansahen.

Dass es unter den DGB-Gewerkschaften auch Vertreter gibt, die sich von der Standortlogik der IG Metall abheben, zeigten die vielen Aufrufe und Erklärungen unmittelbar vor dem 14. November. Allerdings war die geringe Beteiligung an den Kundgebungen ein Beleg dafür, dass nur wenige Gewerkschaftsmitglieder bereit sind, ihre Solidarität mit den europäischen Streiks auch praktisch auszudrücken. Knapp 1 000 Menschen beteiligten sich in Berlin an den Protesten. Dazu hatte schließlich auch der DGB Berlin-Brandenburg in letzter Minute aufgerufen. Initiiert aber hatte sie vor allem ein politisches Bündnis, das sich »Neue antikapitalistische Organisation« (NAO) nennt und den Anspruch erhebt, Gruppen und Einzelpersonen mit trotzkistischem, autonomem und feministischem Hintergrund zusammenzubringen. Unabhängig von dem Bündnis hatte nach monatelangem Schweigen auch das Berliner »M31«-Bündnis mit dem Slogan »Unsere Solidarität gilt nicht dem Standort« zur Solidaritätsaktion aufgerufen. Es hatte den europaweiten, antikapitalistischen Aktionstag am 31. März mit vorbereitet und auchfür die »Blockupy«-Aktionstage im Mai in Frankfurt geworben. Danach war allerdings von »M31« wenig zu hören. Dabei könnte ein solches Bündnis in einer Zeit an Bedeutung gewinnen, in der die europäischen Gewerkschaften »vaterländisch gespalten« sind, wie es der Politologe Arno Klönne im Online-Magazin Telepolis auf den Punkt brachte, und zugleich im EU-Raum nicht nur die Kritik an der Politik der deutschen Regierung, sondern auch an den DGB-Gewerkschaften zunimmt. Im Zuge des Aktionstags hatten sich auch zahlreiche Basisgewerkschaften aus verschiedenen Ländern mit eigenen Aufrufen zu Wort gemeldet.

http://jungle-world.com/artikel/2012/47/46635.html
Peter Nowak

„Die Gerichtsvollzieherin wird den Räumungstitel nicht vollstrecken können“

Der Mieterwiderstand in Kreuzberg nimmt neue Formen an und wendet sich gegen die Folgen einer Krise, die angeblich in Deutschland noch gar nicht angekommen ist

Mit einer Selbstverpflichtungserklärung haben sich Initiativen und Einzelpersonen bereit erklärt, die Zwangsräumung der Familie Gülbol in der Lausitzer Straße 8 in Berlin-Kreuzberg verhindern zu wollen.

Weil die Familie bei der vom Gericht verfügten Mietnachzahlung Fristen versäumte, wurde ihr vom Hauseigentümer gekündigt. Ein erster Räumungsversuch musste am 22. Oktober abgebrochen werden, nachdem sich ca. 150 Unterstützer vor dem Hauseingang versammelt hatten (Kein Durchkommen für Gerichtsvollzieherin). Die Gerichtsvollzieherin hatte angekündigt, das nächste Mal mit Polizeibegleitung wieder kommen.

„Ich erkläre hiermit, mich an einer Sitzblockade vor dem Haus der Familie zu beteiligen, sollte es einen weiteren Räumungsversuch geben. Die Gerichtsvollzieherin wird auch dann den Räumungstitel nicht vollstrecken können“, heißt der einscheidende Satz, der von Politikern, Wissenschaftern, aber auch Stadtinitiativen und – vereinen unterschrieben wurde.

Gegen die Auswirkungen einer Krise, die in Deutschland angeblich nicht angekommen ist

Die an der Fuldaer Fachhochschule lehrende Politikwissenschaftlerin Gudrun Hentges will mit ihrer Beteiligung an der Blockade ein Zeichen gegen steigende Mieten setzen, erklärt sie gegenüber Telepolis. „Davon bin ich auch als Akademikerin betroffen. Ich wohne in Schöneberg in einem Haus, das wurde in 10 Jahren sieben Mal verkauft.“

Der Kontakt zur Frauen- und Mädchenabteilung des Fußballvereins Türkiyemspo, die ebenfalls blockieren will, ist in der Protesthütte am Kottbuser Tor entstanden, in der sich seit mehreren Monaten Mieter der Initiative Kotti und Co gegen die drohende Verdrängung aus dem Stadtteil wehren, erklärt das Mitglied des Türkiyemspor-Fördervereins Robert Claus. „Es geht nicht um Kreuzberger Sozialromantik, aber es soll sicher gestellt werden, dass Menschen mit niedrigen Einkommen weiter in dem Stadtteil wohnen können“, stellte er klar.

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldtuniversität Manuela Bojadžijev hat nicht nur den Einzelfall im Blick. „Mir geht es um die Frage, wie wir in Berlin mit den Folgen der Wirtschafts- und Bankenkrise umgehen, von der immer behauptet wird, sie ist in Deutschland noch gar nicht angekommen“, erklärt sie gegenüber Telepolis. Dass die Familie Gülbol kein Einzelfall ist, bestätigt auch David Schuster vom Bündnis „Zwangsräumungen gemeinsam verhindern“:

„Seit Ende Oktober melden sich wöchentlich betroffene Familien bei uns, alle mit Migrationhintergrund.“

So soll ein schwerkrankes Seniorenehepaar ihr Domizil in einem der Mitte gehörenden Haus in der Lübbener Straße, in der sie seit 37 Jahren leben, bis zum Monatsende räumen.

Vorbild Spanien?

Dass sich seit Ende Oktober wöchentlich Betroffene bei der Initiative melden, liegt daran, dass die erste erfolgreiche Verhinderung der Räumung von Familie Gülbol ihnen Mut gemacht hat. Auch vorher gab es bereits den Räumungsdruck vor allem unter Hartz IV-Empfängern. Durch Erhöhungen der Miete oder der Nebenkosten rutschen sie schnell in den Bereich, in dem das Jobcenter nicht mehr den vollen Mietpreis übernimmt. Bisher sind die Betroffenen dann entweder ausgezogen, was oft der Verlust ihres bisherigen Lebensumfeldes bedeutete oder sie haben die Mietdifferenz aus dem Hartz IV-Satz bezahlt, was weitere Einschränkungen in anderen Bereichen bedeutete.

Viele haben sich auch Geld geliehen und damit verschuldet. Dass sich mehr Betroffene zum Widerstand entscheiden, macht deutlich, welch großes Rolle eine Infrastruktur im Stadtteil, die in Kreuzberg vor allem durch die Protesthütte entstanden ist und ein erfolgreiches Beispiel ist, bei dieser Entscheidung spielt. Zurzeit versuchen die Initiativen Mieter- und Erwerbslosenproteste zu koordinieren. Schließlich soll der Widerstand nicht erst beginnen, wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht, sondern im Vorfeld, wenn es um die Frage geht, ob die Jobcenter die Kosten für die Miete übernehmen.

Die Berliner Mieterbewegung hat sicher auch von den Erfahrungen in anderen Ländern gelernt. In Spanien, wo die Situation der Mieter in der Krise wesentlich dramatischer als in Deutschland ist, hat sich in den letzten Monaten eine landesweite Bewegung gegen Zwangsräumungen entwickelt. Die Politik musste mit einem bedingten Räumungsmoratorium darauf reagieren.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153238
Peter Nowak

Protest wird breiter

MIETEN Wissenschaftler und Privatpersonen wehren sich gegen Zwangsräumung von Familie

Der Protest gegen Zwangsräumungen in Kreuzberg geht neue Wege. Mit einer sogenannten Selbstverpflichtungserklärung haben sich Initiativen und Einzelpersonen bereit erklärt, die Zwangsräumung der Familie Gülbol in der Lausitzer Straße 8 verhindern zu wollen. Weil die Familie bei einer vom Gericht verfügten Mietnachzahlung Fristen versäumt hatte, war ihr vom Hauseigentümer André Franell gekündigt worden.

Der Fall hatte Schlagzeilen gemacht. Ein erster Räumungsversuch musste am 22. Oktober abgebrochen werden, nachdem sich etwa 150 UnterstützerInnen vor dem Hauseingang versammelt hatten (taz berichtete). Die Gerichtsvollzieherin will das nächste Mal mit Polizeibegleitung wiederkommen.

Ein Zeichen setzen

Der Fall hat inzwischen auch Wissenschaftler alarmiert. So will sich die an der Fachhochschule Fulda lehrende Politologin Gudrun Hentges an einer neuerlichen Blockade beteiligen. „Damit will ich ein Zeichen gegen das Steigen der Mieten setzen“, erklärt sie gegenüber der taz. „Davon bin ich auch als Akademikerin betroffen. Ich wohne in Schöneberg in einem Haus, das in zehn Jahren siebenmal verkauft wurde.“

Hentges ist ein Beispiel für das erfolgreiche Netzwerk, das in Kreuzberg gegen Zwangsräumungen geknüpft wird. Andere Unterstützer sind Dirk Behrendt (Grüne), der Autor Raul Zelik, der Kinderzirkus Cabuwazi und die Frauen- und Mädchenabteilung des Fußballvereins Türkiyemspor, die ebenfalls blockieren will. „Dieser Kontakt ist in der Protesthütte am Kottbusser Tor entstanden, in der sich MieterInnen der Initiative Kotti und Co gegen drohende Verdrängung wehren“, sagt Robert Claus vom Türkiyemspor-Förderverein. „Es geht nicht um Kreuzberger Sozialromantik. Es soll sichergestellt werden, dass Menschen mit niedrigen Einkommen weiter hier wohnen können.“

Manuela Bojadzijev hat nicht nur den Einzelfall im Blick. „Mir geht es um die Frage, wie wir in Berlin mit den Folgen der Wirtschafts- und Bankenkrise umgehen“, erklärt die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität.

Dass die Familie Gülbol kein Einzelfall ist, bestätigt David Schuster vom Bündnis „Zwangsräumungen gemeinsam verhindern“. „Seit Ende Oktober melden sich betroffene Familien bei uns, alle mit Migrationshintergrund“, betont er. So soll ein schwerkrankes Seniorenehepaar seine Wohnung in einem Haus der Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) in der Lübbener Straße räumen.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2012%2F11%2F21%2Fa0146&cHash=4acd645119287420d16b5762c28f286f
Peter Nowak

„Ein Kind, das an Hunger stirbt, wurde ermordet!

Positiv- und Negativpreise für Jean Zieger und den Rohstoff-Multi Glencore

Der Saal im Berliner Pfefferwerk war voll, als dort am Samstag die Stiftung Ethecon ihren Positiv- und Negativpreis vergab. Publikumsmagnet war der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, der sich den Kampf gegen den Hunger verschrieben hat und dafür auch in UN-Gremien als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung arbeitete.

„Ziegler setzt sich seit Jahren unerschrocken für das Recht auf Nahrung ein“, begründete Ethecon-Sprecherin Bettina Schneider die Auswahl des diesjährigen Preisträgers. Bei seinem Engagement ging es Ziegler immer auch um die gesellschaftlichen Ursachen für den Hunger in der Welt, worauf der Gründer der NGO Business Crime Control, Hans See, in seiner ausführlichen Laudatio auf den Preisträger hinwies. „Nie mehr auf Seiten der Henker stehen“, sei Zieglers Devise, betonte See. Vor wenigen Monaten ist Zieglers Buch Wir lassen sie verhungern – die Massenvernichtung in der dritten Welt auf Deutsch erschienen. Dort geht er mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem hart ins Gericht. Zieglers Äußerung: „Ein Kind, das an Hunger stirbt, wurde ermordet“, wurde am Samstag häufig zitiert.

Strukturelle Gewalt statt böse Manager

In seiner Dankesrede lieferte der Geehrte viele Details zum weltweiten Skandal des Hungers. Ziegler betonte, dass bei den heutigen technischen Mitteln kein Mensch mehr Hunger leiden müsste. Hunger sei nicht die Folge von Mangelproduktion, sondern bedingt durch den fehlenden Zugang zu Nahrung. Dabei betonte Ziegler, dass es sich um strukturelle Gewalt handelt und eine Anprangerung von angeblich „bösen Managern“ daher zu kurz greife.

Diesen Befund sollte man im Hinterkopf haben, wenn jetzt von drei Preisträgern die Rede ist, welche die ihnen zugedachte Ethecon-Ehrung ignoriert haben. Simon Murray, Tony Hayward und Ivan Glasenberg sollten stellvertretend für den Schweizer Rohstoff-Multi Glencore den Negativpreis der Stiftung entgegennehmen. Die Schmährede, in der diese Wahl begründet wurde, hielt der Schweizer Gewerkschafter und engagierte Antimilitarist Josef Lang.

Er berichtete, dass Glencore in der Schweiz seit langem in der Kritik steht und auch schon mit Negativpreisen bedacht wurde. Mit der Verleihung des jetzigen Negativpreises dürften auch in Deutschland die Praktiken des umstrittenen Konzerns bekannter werden.

„Multis wie Glencore verletzen Menschen- und Sozialrechte, verursachen Umweltschäden und vergiften Gewässer, verschieben Gewinne in Steuerparadiese, vergrößern den globalen Graben zwischen arm und reich“, heißt es dem Aufruf eines Komitees Solidarität mit den Opfern der Rohstoffmultis.

Das Komitee hatte vor einigen Monaten zu einer Demonstration im Schweizer Örtchen Zug, in der Glencore seinen Sitz hat, aufgerufen. Der Konzern wurde von dem Schweizer Ölhändler Marc Rich gegründet. Er war mit Diktatoren verschiedener Länder befreundet und wurde von den US-Behörden wegen Steuerhinterziehung und Falschaussagen angeklagt, aber 2001 vom damaligen Präsidenten Bill Clinton begnadigt.

Eröffnet wurde die gesellschaftskritische Herbstschule, zu der sich die alljährlich Mitte November stattfindende Ethecon-Preisverleihung mittlerweile entwickelt hat, von dem Kölner Publizisten Werner Rügemer, der sich in seiner Rede mit dem Ausverkauf öffentlicher Güter im Rahmen des Public Private Partnership auseinandersetzte.

Die Stiftung Ethecon wurde 2004 von Axel Köhler Schnurra und Gudrun Rehmann mit dem Ziel gegründet, ökologische, soziale und menschenrechtliche Prinzipien im Wirtschaftsprozess zu fördern sowie demokratische und selbstbestimmte Strukturen zu stärken.

In den letzten Jahren waren u.a. die indische Globalisierungskritikerin Vandana Shiva, der israelische Friedensaktivist Uri Avnery, der österreichische Menschenrechtler Elias Bierdel und die langjährige Kämpferin gegen Rassismus und den gefängnisindustriellen Komplex in den USA, Angela Davis mit dem Preis geehrt worden.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153213
Peter Nowak

Die schöne Republik

In der vorigen Woche debattierte der Bundestag über die Aufarbeitung der NS-­Vergangenheit deutscher Behörden und Ministerien. Viele Akten sind weiterhin nicht zugänglich.

70 000 Mark Abfindung kassierte Carl-Theodor Schütz, nachdem ihm der Bundesnachrichtendienst (BND) 1964 wegen seiner NS-Vergangenheit gekündigt hatte. Schütz erstritt die Summe vor Gericht, wegen der Entlassung von seinem Posten als Abteilungsleiter beim BND war er vorübergehend in Geldnot geraten und musste sein Haus verkaufen. Dabei konnte sich Schütz auf eine exzellente berufliche Beurteilung berufen. Reinhard Gehlen, der während der NS-Zeit als Leiter der Gruppe Ost der Heeresabteilung maßgeblich am Unternehmen Barbarossa beteiligt war, setzte sich besonders für ihn ein. Gehlen, der bis 1968 Präsident des BND war, erläuterte dem vormaligen Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, Adenauers Staatssekretär Hans Globke, in einem Schreiben, warum die NS-Elite auch nach dem Ende des NS-Regimes gebraucht werde: Die ehemaligen Beamten der Gestapo seien die »einzig kriminalistisch geschulten Beamten (…), die die Gewohnheit des Umgangs mit intelligenten Gegnern haben, wie sie im Kreise der Kriminellen regelmäßig nicht anzutreffen sind«. Für Gehlen und seinen Adressaten war klar, wer damit gemeint war. Es ging vor allem um Kommunisten.
Schütz hatte bereits 1924 diesen Gegner fest im Blick, als er als Mitglied des Freikorps Rhein-Ruhr gegen streikende Arbeiter kämpfte. Er trat bereits im Oktober 1931 in die SS ein. 1933, als er schon als angehender Jurist beim Oberlandesgericht Köln beschäftigt war, beteiligte er sich an Überfällen auf Wohnungen von Kommunisten. Im selben Jahr wurde er wegen schwerer Misshandlung von wehrlosen Frauen und Männern von der noch nicht vollständig gleichgeschalteten Justiz zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, aber bald begnadigt. Seine NS-Mordkarriere führte ihn nach Polen, in die Ukraine und nach Italien. Beim Massaker in den Ardeatinischen Höhlen, bei dem 335 Geiseln der SS ermordet wurden, kommandierte Schütz die Erschießungskommandos. Am Massaker beteiligte Täter sagten später aus, Schütz sei einer der Haupttäter gewesen.

Dass ein solcher Mann seine Karriere in der Bundesrepublik fortsetzen und wegen seiner Entlassung gerichtlich eine Abfindung erstreiten konnte, war keine Ausnahme. Die Karriere eines Carl-Theodor Schütz, der 1985 in Köln starb, ohne jemals gerichtlich belangt worden zu sein, beschäftigte in der vorigen Woche noch einmal den Bundestag.

Am 8. November debattierte das Parlament knapp zwei Stunden lang über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit deutscher Behörden und Ministerien. Dass es sich dabei keineswegs um ein Thema der Vergangenheit handelte, wurde schnell deutlich. Noch heute sind Akten gesperrt, die den Schutz belegen, den bundesdeutsche Behörden und Geheimdienste NS-Verbrechern wie Klaus Barbie, Adolf Eichmann oder Walter Rauff gewährten. Auch die Vita von Carl-Theodor Schütz wurde wegen der Geheimhaltung erst Ende Oktober durch einen Bericht der Süddeutschen Zeitung bekannt. Jan Korte, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, wies auf die Nachkriegskarriere von Schütz in der Debatte ebenso hin wie Wolfgang Thierse (SPD) und die Parteivorsitzende der Grünen, Claudia Roth. Mit dem pflichtschuldigen Entsetzen über den Fall Schütz waren aber die Gemeinsamkeiten schon beendet.

Die Linkspartei möchte in die Erforschung der NS-Verstrickung deutscher Behörden auch die sechziger und siebziger Jahre einbeziehen und fordert die Öffnung sämtlicher Akten. Es dürfe keine Handhabe mehr geben, um Akten über die braunen Kontinuitäten in der Bundesrepublik mit dem Verweis auf das Staatsinteresse zurückzuhalten, betonte Korte. Die SPD hingegen hat sich mit FDP und Union auf einen gemeinsamen Antrag geeinigt, der sich auf die Erforschung der frühen Jahre der Bundesrepublik beschränkt. Vor allem anhand des jeweiligen Forschungsinteresses zeigte sich die völlig unterschiedliche Stoßrichtung der Anträge, über die am Donnerstag vergangener Woche im Bundestag debattiert wurde.

SPD, FDP und Union wollen untersuchen, wa­rum aus der Bundesrepublik trotz der Beschäftigung zahlreicher NS-Funktionäre in ihren Institutionen eine stabile Demokratie wurde. In der Bundestagsdebatte betonten besonders die Redner von Union und FDP, dass es sich nach so langer Zeit erübrige, nachzurechnen, wie viele NS-Täter in den Ministerien und Behörden beschäftigt waren. So waren bei Stefan Ruppert von der FDP zwar einige selbstkritische Töne über die Landesverbände seiner Partei zu hören, die in den fünfziger Jahren in mehreren Bundesländern zu Nachfolgeorganisationen der NSDAP geworden waren, doch kurz darauf stimmte er ein Loblied auf die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik an. Dabei führte Ruppert ausdrücklich das Verbot der KPD an. Dass dieses Verbot von einem Bundesverfassungsgericht verhängt wurde, dessen Personal im NS-Staat für die Jagd auf Kommunisten geschult worden war, war ihm keiner Erwähnung Wert.

Dagegen ging Korte auf die Konsequenzen ein, die die Präsenz der Nazis in den staatlichen Institutionen für die wenigen Antifaschisten in der Bundesrepublik hatte. Sie wurden erneut an den Rand gedrängt, bedroht und nicht selten verfolgt. In ihrem im Oktober mit dem Deutschen Buchpreis 2012 ausgezeichneten Roman »Landgericht« hat die Schriftstellerin Ursula Krechel mit dem Protagonisten Richard Kornitzer, einem aus der Emigration zurückgekehrten Richter, exemplarisch eine solche Biographie bekannt gemacht.

»Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich Feindesland«, sagte der antifaschistische Staatsanwalt Fritz Bauer, der wesentlich dazu beitrug, dass die Frankfurter Auschwitz-Prozesse zustande kamen. Informationen über den Aufenthaltsort von Adolf Eichmann, die er von einem in Argentinien lebenden ehemaligen KZ-Häftling erhalten hatte, leitete er 1960 an die israelischen Behörden weiter, weil er den deutschen Ämtern misstraute.

Korte ging in seiner Rede auch auf Tausende unbekannte Menschen ein, die in den fünfziger Jahren als tatsächliche oder vermeintliche Kommunisten wieder verfolgt und inhaftiert wurden. In dem kürzlich fertiggestellten Film »Verboten – verfolgt – vergessen. Die Verfolgung Andersdenkender in der Adenauerzeit« gibt der Regisseur Daniel Burgholz einen Einblick in das Ausmaß und die Folgen dieser deutschen Verfolgung von Linken. Im Zentrum steht das Ehepaar Ingrid und Herbert Wils aus dem Ruhrgebiet. Als Mitglieder der in Westdeutschland 1951 verbotenen Freien Deutschen Jugend waren beide wegen der Herstellung einer Betriebszeitung und des Singens von als staatsfeindlich eingeschätzten Liedern jahrelang inhaftiert. Der Film verzichtet auf Heroisierung, seine Stärke liegt darin, dass er auch zeigt, wie sich die Verfolgung auf das Umfeld der Betroffenen auswirkte. Manche haben die zweite Verfolgung nicht überlebt.

Herbert Wils berichtet im Zeitzeugengespräch, viele Genossen hätten nicht begreifen können, wieso sie nur wenige Jahre, nachdem sie die Konzentrationslager der Nazis überlebt hatten, erneut im Gefängnis saßen, und nicht nur das Gefängnispersonal, sondern auch die zuständigen Richter sich noch in Positionen befanden, die sie bereits vor 1945 innehatten.

http://jungle-world.com/artikel/2012/46/46592.html
Peter Nowak

Zu viele Zufälle im Berliner Verfassungsschutz

Die Leiterin der Berliner Verfassungsschutzbehörde musste wegen Aktenvernichtungen zurückgetreten – nur ein Bauernopfer?

Die Aktenvernichtung im Berliner Verfassungsschutz hat personelle Konsequenzen. Die Leiterin der Berliner Behörde Claudia Schmid hat ihren Rücktritt erklärt. Damit übernimmt sie die Verantwortung für die immer wieder bekannt gewordenen Aktenvernichtungen des Berliner VS im Zusammenhang mit der rechten Szene, die wachsende Kritik ausgelöst hat. Erst kürzlich war bekannt geworden, dass zwei Mitarbeiterinnen im Juli 2010 Akten zum Komplex des mittlerweile verbotenen neonazistischen Netzwerkes Blood & Honour vernichtet hatten, die eigentlich zur Aufbewahrung im Landesarchiv bestimmt waren. Schon vorher hatte für Schlagzeilen gesorgt, dass im Sommer dieses Jahres Akten vernichtet wurden, die nach Aussage von Henkel einen Bezug zur rechten Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) gehabt haben könnten.

Dabei war in den letzten Tagen immer mehr der Innensenator Franz Henkel selber in die Kritik geraten. Nachdem der Christdemokrat in Umfragen zwischenzeitlich den wegen der Verzögerungen beim Berliner Flughafen angeschlagenen Regierenden Bürgermeister Wowerei in der Beliebtheitsskala überrundet hatte, überwiegt nun in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass der Politiker sein Amt nicht im Griff hat. Um diesen Eindruck zu widerlegen, hat Henkel schon gestern Konsequenzen angekündigt. Der Rücktritt von Schmid dürfte dazu gehören. Henkel konnte darauf verweisen, dass zumindest die zuletzt bekannt gewordene Aktenvernichtung nicht in seiner Amtszeit erfolgte. 2010 war der Sozialdemokrat Ehrhart Körting Innensenator.

„Unsägliche Salamitaktik des Innensenats“

Doch auch mit Schmids Rücktritt dürften weder Henkel noch der Verfassungsschutz aus der Kritik sein. Es wird vor allem darauf ankommen, ob noch mehr Aktenvernichtungsaktionen bekannt werden. Schon vor einigen Tagen zog der innenpolitischer Sprecher und Vorsitzender der Berliner Piratenfraktion Christoph Lauer eine vernichtende Kritik an Henkel und der Behörde. Er monierte die „unsägliche Salamitaktik des Innensenats“. Doch er stellt auch eine Frage, die sich in den letzten Wochen im Zusammenhang mit der NSU viele Menschen ebenfalls gestellt haben: „Es ist kaum mehr möglich, bei den haarsträubenden Vorgängen im Berliner Verfassungsschutz noch an Zufälle zu glauben“, betont Lauer.

Tatsächlich ist es bemerkenswert, dass Mitarbeiter von Verfassungsschutzämtern, die gemeinhin im Fall von Linken durch Klagen dazu gezwungen werden müssen, gesammelte Daten zu vernichten, hier scheinbar sehr daran interessiert waren, Akten loszuwerden. Pikant ist auch, dass zumindest die Aktenvernichtung im Sommer dieses Jahres zu einem Zeitpunkt erfolge, als die Verfassungsschutzämter verschiedener Länder bereits stark in der Kritik standen, weil Aktenvernichtungen bekannt geworden waren. Wollte da jemand schnell noch Spuren beseitigen? Diese Frage wird sich zumindest so lange stellen, wie die Behörden mauern und nur die Informationen zugeben, die sie nicht mehr verschweigen können.

Am Ende eine Stärkung der Behörde?

Dass es in den Behörden ein Leck gibt zeigt sich nun daran, dass bestimmte Medien immer wieder mit Berichten über Aktenvernichtungsaktionen gefüttert werden. Über die Aktenzerstörung im Sommer 2010 hatte die Bildzeitung exklusiv berichtet. Solche Veröffentlichungen könnten am Ende auch die Sicherheitsbehörden stärken.

Schon wird von offizieller Seite als Konsequenz der ständigen „Pannen“ eine effektivere und zentralistisch gelenkte Behörde gefordert. Zivilgesellschaftliche und linke Kritiker warnen denn auch, in das Lamento über die Pannen einzustimmen. Am 4. November demonstrierten in vielen Städten Deutschlands anlässlich des Jahrestages der Selbstenttarnung der NSU Tausende für die Auflösung der Verfassungsschutzämter. Diese Forderung wird zurzeit selbst von FDP-Politikern unterstützt. Daher könnte Schmids Rücktritt auch ein Bauernopfer für die Behörden sein.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153193
Peter Nowak