Zurück zu den Alltagskämpfen


Der Erfolg der Krisenproteste bemisst sich nicht an der Zahl der Demonstranten in Frankfurt oder an der Dauer einer symbolischen Blockade, sondern an der Verbindung mit Alltagskämpfen.

Nach der Demo ist vor der Demo. Dieser Spruch ist bei Organisatoren sozialer Proteste in diesen Tagen besonders beliebt. Nach dem antikapitalistischen Aktionstag am 31. März in Frankfurt werden nun die dortigen Aktionstage Mitte Mai vorbereitet. Am kommenden Freitag soll die Öffentlichkeitsarbeit beginnen. Mit dem Ausdruck »Blockupy« wurde bereits ein Slogan und mit dem Zelt ein Symbol geschaffen. Im Sinne der diesjährigen Protestagenda mag es richtig sein, wie Wolf Wetzel in seinem Jungle World-Beitrag in den Pfingstaktionen die Fortsetzung von M31 zu sehen. Doch inhaltlich fällt »Blockupy« hinter M31 zurück. Während dort der kapitalistische Verwertungszwang im Mittelpunkt der Kritik stand, will man sich Mitte Mai als Teil einer neuen internationalen Protestbewegung inszenieren. Die Revolten in Nordafrika werden beschworen, soziale Auseinandersetzungen in den USA und in den verschiedenen EU-Ländern und die Proteste gegen Acta werden in dem Aufruf angeführt. Die Organisatoren versuchen, mit dem Bezug auf die »Occupy«-Bewegung den so disparaten Kämpfen eine gemeinsame Stoßrichtung zu geben.

Dabei wird allerdings sehr eigenwillig mit der kurzen Geschichte dieser Bewegung ungegangen. So heißt es in dem zentralen Aufruf zu den Aktionstagen: »Ausgehend von Occupy Wall Street ist wie aus dem Nichts eine weltweite Bewegung gegen Entdemokratisierung und soziale Angriffe entstanden, Hunderttausende sind weltweit gegen Internetzensur auf die Straße gegangen. Auch das Camp vor der Europäischen Zentralbank besteht weiter.« Tatsächlich campierten in Spanien und Israel Empörte schon Monate vor »Occupy Wall Street« auf öffentlichen Plätzen. Mit der Ausblendung dieser Bewegungen werden ausgerechnet auf jene Proteste in den Mittelpunkt gestellt, die mit ihrem Bezug auf Banken und Börse und einer auf den Finanzsektor konzentrierten Kapitalismuskritik hinter den Diskussionsstand der M31-Mobilisierung zurückfallen.

Wie Laura Winter in ihrem Jungle World-Beitrag betont, wurde mit der EZB nicht ein Symbol der Finanzwelt, sondern eine politische Einrichtung zum Ziel der Demonstration am 31. Mai. Ein plumpes Bankenbashing wurde hingegen eindeutig zurückgewiesen. Dieser Unterschied wird im Beitrag von Wolf Wetzel verwischt, wenn er die 2010 von der Georg-Büchner-Initiative lancierte Bankenblockade, M31 und die Aktionstage im Mai in eine Traditionslinie stellt. Dabei wurde die Bankenblockade auch deshalb abgesagt, weil es Kritik an der Beschränkung auf den Bankensektor auch von Gruppen gab, die am M31-Prozess beteiligt gewesen sind. Unabhängig von der Einschätzung der Berechtigung dieser Kritik ist es zunächst wichtig, die Unterschiedlichkeit der politischen Konzepte zur Kenntnis zu nehmen. Nur dann können sie auch Gegenstand einer Debatte sein.

Wetzel zitiert die Parole der geplanten Bankenblockade 2010: »Wir müssen die Richtung ändern, wir müssen die Symbolik hinter uns lassen.« Dann aber müsste sich sofort die Bemerkung anschließen, dass mit der vorgeschlagenen Aktion die Symbolpolitik fortgesetzt wird, gerade weil man sich auf den Bankensektor konzentriert. Die von Winter und Wetzel in die Diskussion gebrachte Startbahn West war ebenso wie andere Verkehrs- und AKW-Projekte ein konkretes Vorhaben, dass verhindert werden sollte. Unter dieser Prämisse muss man über die Aktionsformen diskutieren, die dieses Ziel befördern können. Banken und Börse hingegen sind integrale Bestandteile des aktuellen Kapitalismus, die nicht einfach mit einer noch so großen Blockade aus der Welt geschafft werden können. Sollte es möglich sein, Mitte Mai zwischen den Pfingstfeiertagen und dem Wochenende einige Banken in Frankfurt zu blockieren, wäre das gerade das Paradebeispiel für Symbolpolitik. Das wäre vergleichbar mit den von der Interventionistischen Linken zum großen Sieg der Protestbewegung stilisierten Blockaden in Heiligendamm 2007, die den Ablauf des Gipfels nur am Rande beeinflussten.

Wenn die Parole, die Symbolik hinter sich zu lassen, ernst gemeint ist, müsste man die Alltagskämpfe am Arbeitsplatz, im Jobcenter, an der Universität oder im Stadtteil zum Ausgangspunkt der Proteste machen. Die Großdemonstration wäre dann nur das Forum, auf dem sich die Menschen mit ihren jeweiligen Protesten präsentieren, sich koordinieren, aber auch voneinander lernen können. Dann wäre eine solche Großaktion auch nicht ein aufwendig von wenigen Menschen bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit vorbereitetes Event, auf das allen vorherigen Beteuerungen zum Trotz danach die Flaute folgt, weil die Aktivisten dringend der Regeneration bedürfen. So dauerte es nach der Mobilisierung von Heiligendamm eine ganze Weile, bis mit den Blockaden gegen die rechten Aufmärsche in Dresden und der Aktion »Castor Schottern« an die Proteste angeknüpft werden konnte. Versuche, auch in sozialen Kämpfen mit diesen Aktionen Fuß zu fassen, wurden diskutiert, aber nicht weiter entwickelt. Das ist ein wichtiges Indiz dafür, dass soziale Alltagskämpfe einen anderen Rhythmus haben und dass das von der IL favorisierte Blockade-Konzept für bundesweite Aktionen gegen Nazis und Castoren, nicht hingegen für soziale Kämpfe im Alltag der Menschen brauchbar ist.

Einen anderen Weg sind die Menschen und Initiativen gegangen, die im September vergangenen Jahres in Berlin die große Mietendemonstration vorbereitet haben. Hier bildeten die widerständigen Strukturen vor Ort die Grundlage des Protestes. Auf der Demonstrationsroute haben Mieteraktivisten, beispielsweise von der Initiative Fulda-Weichselstraße in Neukölln oder Carla Pappel aus Treptow, von ihrer Arbeit berichtet. Dadurch wurden auch Menschen in die Demonstration einbezogen, die zuvor noch nie aus politischen Gründen auf die Straße gegangen sind. Sie haben ihr konkretes Interesse zum Ausdruck gebracht und es durch die Demonstration mit anderen Widerständen verbunden. Danach ging die Arbeit in den Stadtteilen weiter, wie die verschiedenen mietenpolitischen Aktivitäten der vergangenen Monate in Berlin zeigen. Einen Bezug auf Alltagskämpfe herzustellen, ist bei einer bundesweiten Aktion schwieriger, aber durchaus möglich.

So diskutierten auch in der Berliner M31-Vorbereitung Gewerkschafter der FAU und ein Verdi-Personalrat gemeinsam mit Vertretern der Interventionistischen Linken und des Ums-Ganze-Bündnisses über Perspektiven der Krisenproteste. Beim Ratschlag der Krisenproteste Ende Februar in Frankfurt am Main warben Beschäftigte der Steakhaus-Kette Maredo, die wegen gewerkschaftlicher Aktivitäten gemobbt und gekündigt worden waren, um Solidarität. Diese Beispiele machen deutlich, dass auch die radikale Linke zu ­einem Bündnispartner von Beschäftigten werden kann. Die Voraussetzung ist natürlich, dass sie ihre subkulturelle Selbstbezüglichkeit aufgibt und auch bereit ist, sich auf die Besonderheiten der jeweiligen Alltagskämpfe einzulassen. Beide Seiten würden davon profitieren. Die Aktivisten so­zialer Alltagskämpfe könnten ihr konkretes Anliegen in einen größeren antikapitalistischen Rahmen stellen und bekämen einen anderen Blick auf die Gesellschaft. Für die Gruppen der außerparlamentarischen Linken böte sich die Chance, ihre theoretischen Grundsätze dem Praxistest zu unterwerfen. Dabei würde sich wahrscheinlich zeigen, dass nicht jeder theoretisch fundierte Text die Konfrontation mit der Realität außerhalb des eigenen Mikrokosmos bestehen würde. Das trifft auch auf einige der auf der Homepage http://m31kritikkritik.wordpress.com dokumentierten Kritikpapiere zu, die auch auf der Demonstration M31 verteilt wurden. So wird in den auf der Homepage veröffentlichen sechs Thesen der Gruppe Eigenleben die Verfasstheit der außerparlamentarischen Linken in Deutschland ebenso gut benannt wie die vielen individuellen Rückzugsgebiete, die sich auch linke Aktivisten suchen. Doch ein Bezug auf soziale Kämpfe im Alltag sucht man in den Thesen vergeblich. Dafür finden sich an einigen kryptischen Textstellen Me­taphern aus der Computerwelt: »Unser Ziel muss es deshalb sein, die bestehenden Verhältnisse zu deprogrammieren, analysieren, und in Folge dessen – neu – rezuprogrammieren [sic].« Die »Gruppe mikrologische Aktion« wiederum liefert in ihrem Kritikpapier eine gute Kritik am Demokratiebegriff, nur um einige Absätze eine linke Moral einzufordern. Dagegen wenden sich die Autoren explizit gegen jeden positiven Bezug auf Interessen von Lohnabhängigen, Erwerbslosen, Mietern etc. »Die Demonstrierenden vom 31.03.2012 bleiben beim von Marx beschriebenen bürgerlichen Privatinteresse stehen. Dieses kann man nur in Konkurrenz zu anderen und mit der Inkaufnahme der Schädigung anderer durchsetzen«, heißt es in dem Text. Ein solches Lamento hört man sonst von den Unternehmerverbänden, wenn Lohnabhängige für ihre Interessen streiken. Die Stoßrichtung der Texte zeigt auch, dass einige linke Gruppen die Realität einer Klassengesellschaft ignorieren. Statt eine linke neue Moral zu propagieren, sollte das Interesse derer, die ausgebeutet und ausgegrenzt werden, die Grundlage von Alltagswiderstand und Protesten werden. Daran, und nicht an der Größe der Demonstrationen und der Dauer der symbolischen Blockaden, bemisst sich der Erfolg der Krisenproteste.

http://jungle-world.com/artikel/2012/15/45247.html
Peter Nowak

Hilft nur noch Oskar?

Der Druck auf Lafontaine, sich wieder für eine Spitzenposition in der Partei zur Verfügung zu stellen, dürfte zunehmen

Nach dem Rücktritt der Co-Vorsitzenden der Linkspartei, Gesine Lötzsch, wird ihr in der Partei offiziell nur Respekt bezeugt. Schließlich hat sie am Dienstagabend ihren Rücktritt mit der gesundheitlichen Situation ihres Mannes begründet. Allerdings dürfte es inoffiziell auch Erleichterung über diesen Schritt geben.

Schließlich wurde Lötzsch auch parteiintern dafür mitverantwortlich gemacht, dass die Linkspartei mittlerweile in den Mühen der Ebene angekommen ist und nicht mehr als neue, wachsende Kraft angesehen wird. Dabei ist auch viel Heuchelei im Spiel. Dass der Reiz des Neuen schnell verloren geht, wird demnächst auch die Piratenpartei erfahren müssen, deren medialen Höhenflug auch manche in der Linkspartei neidvoll verfolgen, ohne sich groß um die völlig unterschiedlichen Inhalte zu kümmern.

Lötzsch wird noch immer vorgeworfen, dass sie sich an einer Debatte über „Wege zum Kommunismus“ (Der Weg zum Kommunismus wird weiter beschritten) beteiligt hat. Kaum jemand erwähnt, dass sie sich dort ausdrücklich zum demokratischen Sozialismus bekannt hat. Auch ein Geburtstagsgruß an den Elder Statesman der kubanischen Revolution Fidel Castro, der jedes Jahr von der Linken verschickt wird und von Lötzsch nicht einmal persönlich formuliert worden war, taugte für die kurzzeitige Erzeugung von Empörung.

In Wirklichkeit haben Lötzsch und ihr Kollege Klaus Ernst für nicht wenige in der Linken zu wenig Glamour und Medientauglichkeit. Deswegen sind sie seit längerem daran interessiert, die Ära der beiden beim nächsten Parteitag enden zu lassen. Noch vor einigen Monaten konterte Lötzsch ihren Kritikern, indem sie als erste ihre erneute Kandidatur ankündigte. Mit ihrem Rücktritt aus persönlichen Gründen hat sie sich jetzt aus dem Machtkampf zurückgezogen.

Debatte um neue Führung eröffnet

Mit diesem Schritt ist die bisher inoffizielle Debatte um die neue Leitung der Linkspartei eröffnet. Nicht überraschend gab der thüringische Parteivorsitzende Bodo Ramelow den Einstieg und wiederholte im Deutschlandfunk seine Lieblingskonstellation, das Duo Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch. Damit wären nach dem Vorbild der Grünen die beiden starken Flügel, die von Wagenknecht repräsentierten Parteilinke und die Realos um Bartsch, an der Spitze repräsentiert. Ob Ramelow allerdings mit seiner schnellen Nennung diesen Kandidaten einen Gefallen tut, scheint er selbst zu bezweifeln. Schließlich fügt er in dem Interview hinzu, dass er das Duo nicht für wahrscheinlich hält, nur um die Namen drei Spitzenpolitikerinnen aus Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen sozusagen als zweite Wahl ins Gespräch zu bringen.

In der NRW-Linken dürfte die aktuelle Entwicklung im Streit um die Leitung der Linken mit mehr als gemischten Gefühlen gesehen werden. Schließlich muss die Partei fürchten, bei der vorgezogenen Landtagswahl unter die Fünfprozenthürde zu geraten. Das würde in großen Teilen der Medien sofort als Scheitern der Westausdehnung der Linken gewertet, zumal auch ihr Wiedereinzug in den Landtag von Schleswig-Hostein nicht sicher ist. In der vom gewerkschaftlichen Flügel der WASG geprägten NRW-Linken genießen sowohl Lafontaine als auch Wagenknecht, deren Wahlkreis in NRW liegt, einiges Ansehen.

Eine Aufwertung beider Politiker innerhalb der Linkspartei würde als Motivationsschub für die Wahlen angesehen. Daher dürfte dort der Rücktritt von Lötzsch nicht ungern gesehen werden. Dass sich aber der Parteivorstand heute darauf verständigte, wie geplant erst auf dem Parteitag im Juni über das Personaltableau der Linken entscheiden zu wollen, dürfte nicht nach dem Geschmack der NRW-Linken sein. Denn dann ist der Wahltermin sowohl in NRW als auch in Schleswig-Holstein vorbei. Bis dahin soll Ernst die Partei alleine leiten.

Neue Chance für Lafontaine?

Deshalb dürfte darüber das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. Denn einen Parteitag mit zwei Wahlniederlagen zu beginnen, würde kaum als Aufbruch bewertet werden. Das könnte eine Chance für Oskar Lafontaine sein, sich wieder in die Bundespolitik zurück zu melden. Schon länger wird er neben Gysi als einer der Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl gehandelt. Lafontaine hat immer betont, sich vor der Landtagswahl im Saarland nicht festlegen zu wollen. Die ist vorbei und Lafontaine dürfte mit einer Rolle als Vorsitzender der größten Oppositionspartei dort nicht ausgelastet sein.

Eine Bekanntgabe seiner Spitzenkandidatur für die Bundestagswahlen noch vor den Landtagswahlen würde denn zumindest von seinen nicht wenigen Anhängern im Westen nicht als Brüskierung der Parteigremien, sondern als Unterstützung gewertet. Wenn dann noch zumindest in NRW der Einzug in den Landtag wieder klappt, wäre ihm der Beifall auf dem Parteitag sicher. Aber auch nach einer Doppelniederlage in NRW und Schleswig-Holstein dürften sich viele um Lafontaine scharren, der bereits 2005 mit seiner Ankündigung einer Spitzenkandidatur die Gründung der Linken überhaupt erst in Gang gebracht hat.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151777
Peter Nowak

Roma ins Elend abgeschoben

Antirassistische Initiative beleuchtet Schicksale von Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien
Die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) beobachtet seit 19 Jahren die oft tödlichen Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik. Alljährlich sammelt sie Fakten über Flüchtlinge, die durch Angriffe von Neonazis oder durch staatliche Maßnahmen zu Schaden kommen. Die gesammelten Daten werden akritisch geprüft, bevor sie veröffentlicht werden. Der Schwerpunkt in dem aktuellen Bericht, der von der ARI jetzt veröffentlicht wurde, ist der Umgang mit den Romaflüchtlingen, die vor der Verfolgung nach dem Zerfall des Staates Jugoslawien in Deutschland Asyl suchten aber nicht fanden. Die Bundesregierung will sie ihre Heimat abschieben. Diese Politik wurde auch im letzten Jahr zielstrebig in allen Bundesländern umgesetzt. Die ARI hat in der Dokumentation an zahlreichen Beispielen die menschlichen Schicksale bekannt gemacht, die sich dahinter verbergen. In zahlreichen Beispielen wurde verdeutlicht, wie der deutsche Staat die Romaflüchtlinge in Not und Elend abschiebt und selbst auf lebensgefährliche Erkrankungen keine Rücksicht nimmt.
So musste die Romafrau Snezana X am 6. April 2011 mit ihrer Tochter und drei Enkelkindern nach Serbien ausreisen, nachdem die Ausländerbehörde Trier der r krebskranken Frau mit Abschiebung gedroht hat. Mitgliedern einer Romaorganisation berichtete Snezana X, die in Vranska Banja eine Unterkunft gefunden hatte, dass sie Wasser im Bauch und Blut gespuckt habe. Am schlimmsten aber seien die Schmerzen. „Wenn Du hier in Serbien keine Geld hast, dann stirbst Du einfach“, klagte die Frau den Besuchern. Im Oktober erlag Snezana X. ihrem Krebsleiden. Der Arbeitskreis Asyl Rheinland-Pfalz erhielt auf Nachfragen von der zuständigen Kreisverwaltung Germersheim die Antwort, dem Amt sei eine Erkrankung der Frau X. nicht bekannt gewesen.
Auch die 25 Jahre alte Romafrau Sevlije Begani war im April 2011 mit ihren vier Töchtern aus dem niedersächsischen Landkreis Harburg in den Kosovo abgeschoben worden. Zu dieser Zeit lag ihr Mann mit einer schweren Lungenerkrankung in einem Münchner Krankenhaus. Nach seiner Entlassung kommt er entgegen dem ärztlichen Rat in Abschiebehaft und wurde im Juli 2011 mit einem Flugzeug nach Belgrad gebracht. Sevlije Begani berichtet Unterstützern, die sie im Sommer 2011 besuchen, sie sei rassistischen Angriffen ausgesetzt. Ihre Wohnung sei mehrmals mit Steinen beworfen worden. Ihr Mann zeigte Narben im Gesicht und den Armen, nachdem er von Rassisten angegriffen und zusammengeschlagen worden sei.
Der 22jährige Roma Miroslav Redzepovic konnte seine erneute Abschiebung in letzter Minute verhindern. Er wurde im Januar 2011 aus der Abschiebehaft entlassen, nachdem er sich im Dezember 2011 die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Redzepovic war am 16. November 2011 in Haft genommen worden. Genau acht Jahre zuvor hatte sich sein Vater vor dem Syker Rathaus aus Protest gegen die Behandlung durch die deutschen Behörden verbrannt. Zwei Jahre später wurde die Witwe mit ihren fünf minderjährigen Kindern nach Serbien abgeschoben. Nachdem Miroslav Redzepovic, der mit 14 Jahren der Älteste war, mehrmals rassistischen Angriffen ausgesetzt war, floh er erneut nach Deutschland. Auch nach seiner Haftentlassung bleibt sein Aufenthaltsstatus ungesichert.
Für die Bundesregierung sind die in der Dokumentation gut belegten Menschenrechtsverletzungen kein Grund, ihre Abschiebepraxis zu überdenken. In der Antwort auf eine kleine Anfrage der Fraktion der Linken erklärte ein Sprecher der Bundesregierung, es sei schon mehrmals dargelegt worden, „dass in der Republik Kosova keine unmittelbare Gefährdung mehr nur auf Grund einer Person zu einer bestimmten Volksgruppe besteht“. Eine Sprecherin der ARI spricht von einer „zynischen Ignoranz angesichts der Realität, vieler Berichte von Menschenrechtsorganisationen und der historischen Verantwortung “. Schließlich befanden sich unter den Hunderttausenden im Nationalsozialismus ermordeten Roma viele aus den Balkanländern.

Peter Nowak
Die Dokumentation kann bestellt werden über:
Antirassistische Initiative – Dokumentationsstelle
Mariannenplatz 2, Haus Bethanien, Südflügel, 10997 Berlin
Fon: 030-61740-440, Funk: 0177-3755924, Fax: -101,
ari-berlin-dok@gmx.de,
Im Netz findet sich die aktualisierte Fassung demnächst unter: www.ari-berlin.org/doku/titel.htm

https://www.neues-deutschland.de/artikel/223315.roma-ins-elend-abgeschoben.html

Menschenunwürdige Zustände in deutschen Gefängnissen

Vielleicht kann die Kritik der Anti-Folter-Stelle an der Situation in deutschen Gefängnissen der Einsicht zum Durchbruch verhelfen, dass auch Häftlinge Rechte haben und sie auch durchsetzen können müssen

Verdreckte Zellen, lange Einzelhaft, enge Zellen. Die Mängelliste ist lang, mit der die Anti-Folterstelle in ihrem Jahresabschlussbericht das deutsche Gefängnissystem charakterisierte.

Die Nationale Stelle wurde auf Grundlage des Fakultativprotokolls zur UN-Antifolterkonvention vom 10. Dezember 1984 geschaffen. Sie hat den gesetzlichen Auftrag, regelmäßig „Orte der Freiheitsentziehung“ zu besuchen und die Bedingungen für die Behandlung der dort untergebrachten Personen zu überprüfen. Sie weist auf ggf. vorgefundene Missstände hin und richtet Empfehlungen zur Verbesserung an die zuständigen Aufsichtsbehörden

Diese durch ein internationales Abkommen nötig gewordene Einrichtung wurde von der deutschen Politik bisher weitgehend ignoriert. Die Meinung, dass eine Anti-Folterstelle in Ländern wie Deutschland überflüssig sei, hält sich hartnäckig. Dass es sich dabei um ein Fehlurteil handelt, zeigt der aktuelle Jahresbericht.

Weitwinkelspione in den Toilettenräumen

Die Mängelliste ist lang. So wurde in den Zellen des Polizeirevier Kehls, über das zahlreiche Flüchtlinge nach Frankreich zurückgeschickt werden, der Einsatz von Weitwinkelspionen in den Toilettenräumen als Eingriff in die Menschenwürde kritisiert. In den Räumen der Bundespolizeidirektion Düsseldorf wurden an den Pritschen angebrachte metallene Fixierungsvorrichtungen gerügt. In mehreren der besuchten Gewahrsamszellen waren zudem keine Brandmelder angebracht, was angesichts der heftigen Diskussion anlässlich des bis heute ungeklärten Feuertodes des Flüchtlings Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle besonders verwunderlich ist.

Besonders kritisiert wurden die Zustände in der Jugendvollzugsanstalt Berlin: „Der besonders gesicherte Haftraum befand sich zum Bezugszeitpunkt in einem unhygienischen, ekelerregenden Zustand. Die Schaumstoffmatratze … wies undefinierbare Flecken auf und war übersät mit toten Insekten. Die Toilette sowie der Trinkwasserspender waren völlig verdreckt“, heißt es in dem Bericht. Auch die Arresträume wurden als extrem ungepflegt charakterisiert. In der Justizvollzugsanstalt Bernau am Chiemsee moniert die Anti-Folter-Stelle, dass Einzellzellen doppelt belegt gewesen seien. In anderen JVA waren die Zellen zu eng.

Die in dem Bericht erwähnten Zustände in vielen Gefängnissen machen verständlich, warum Gefangene nicht selten Leben und Gesundheit gefährden, um die Änderung der von ihnen als unmenschlich empfundenen Zustände im Gefängnis durchzusetzen. Erst kürzlich hat der in der Häftlingsinteressenvertretung aktive Peter Scherzl mit einen Hungerstreik Verbesserungen in seinem Knastalltag zu erreichen versucht. Nach der Aussetzung der Aktion versuchen Solidaritätsgruppen bisher vergeblich, eine Verbesserung zu erwirken.

Im letzten Jahr hatte sich der Häftling Werner Braeuner mit einem langen Hungerstreik unter anderem gegen Verunreinigungen im Essen gewehrt. Solche Aktionen bekommen in der Regel wenig Öffentlichkeit und werden von Teilen der Bevölkerung sogar regelrecht abgelehnt. Die Vorstellung, dass Strafgefangene keine Forderungen zu stellen haben, ist weitverbreitet. Vielleicht kann die Diskussion um den Jahresbericht der Anti-Folter-Stelle der Vorstellung zum Durchbruch verhelfen, dass eine JVA kein rechtsfreier Raum ist und dass auch verurteilte Strafgefangene Rechte haben und diese auch einfordern können müssen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151739
Peter Nowak

Was brachte der europäische antikapitalistische Aktionstag?

Flop oder Beginn einer neuen Runde: Nach den 31-Protesten hat die Auseinandersetzung um die politische Bewertung begonnen

„Jetzt könnt ihr noch mal schauen, wo wir eigentlich heute hinwollten“. Fast etwas wehmütig klang die Stimme der Moderatorin, als sie am Samstag gegen 19 Uhr die zu diesem Zeitpunkt noch knapp 2000 Demonstranten in der Innenstadt von Frankfurt/Main auf die Türme im Hintergrund hinwies. Mehrere Stunden zuvor waren vom Hauptbahnhof der Mainmetropole noch fast 6000 Menschen aufgebrochen, um die Baustelle der neuen Zentrale der Europäischen Zentralbank (EZB) am Ostbahnhof zu erreichen.
Sonne und dunkle Wolken über dem Protestzug; was wiegt stärker? (Foto: indymedia) Sonne und dunkle Wolken über dem Protestzug; was wiegt stärker? (Foto: indymedia)

Sogar Besetzungspläne kursierten in Internetforen. Doch nach ca. 2. Stunden war klar, die Demonstration würde das Ziel nicht erreichen. Nach einigen Steinwürfen auf Bankfilialen kesselte die Polizei einen Teil der Demonstranten am Rande der Frankfurter Innenstadt ein. Nach einer längeren Warteperiode, die die Geduld der Demonstranten arg strapazierte, kam dann die Auflösung der Demonstration. Sofort begann im Internet die Debatte, ob die ganze Aktion ein weiterer Flop der radikalen Linken war, oder ob es sich um den Beginn einer neuen Runde von europäischen Krisenprotesten handelte, wie es die Publizistin Jutta Ditfurth in ihrer sehr optimistischen Rede auf der Auftaktkundgebung ankündigte.

Praxistest für Alltagskämpfe

Schließlich war die Demonstration in Frankfurt Teil eines europaweiten Bündnisses von linken außerparlamentarischen Gruppen und Basisgewerkschaften, die sich damit gegen die europäische Krisenpolitik wandten. Ihnen ging es dabei nicht nur um die ökonomischen Folgen, sondern auch autoritäre Krisenlösungsstrategien von Staat und Teilen der Bevölkerung. An dem M312- Bündnis, wie sich die Koordination nach dem Datum des ersten Aktionstages nenn, ist mit der spanischen CNT auch eine Gewerkschaft beteiligt, die dort wichtige Impulse für einen landesweiten Generalstreik am 29. März gab, dem sich schließlich sämtliche größeren Gewerkschaften anschlossen.

Von solchen Zuständen kann in Deutschland keine Rede sein. Obwohl fast alle DGB-Gewerkschaften kürzlich einen Aufruf gegen den Fiskalpakt initiierten, sind zur Zeit selber DGB-Linke wie das ver.di-Vorstandsmitglied Dierk Hirschel und der IG-Metall-Vize Hans-Jürgen Urban zu mehr Engagement nicht bereit.

Während Hirschel auf einer Veranstaltung in der Berliner IG-Metall-Verwaltungsstelle am 13. März vage meinte, im Herbst könnte mal über weitere Proteste reden, will Urban ebenso nebulös „Mehrheiten in der europäischen Öffentlichkeit“ für Alternativen zur Fiskalpolitik suchen. Gleichzeitig werden die Rufe an der Gewerkschaftsasis nach konkreten Widerstandsstrategien gegen die Krisenpolitik lauter. So wurde auf der Veranstaltung im IG-Metall-Haus am 13. März eine Resolution unter dem Motto „Griechenland ist überall“ einstimmig angenommen, in der zu europaweiten Widerstand gegen die europäische Krisenpolitik aufgerufen wird.

EZB-Baustelle

In den letzten Wochen hat sich auf verschiedenen Veranstaltungen gezeigt, dass diese kämpferischen Gewerkschafter auch Gruppen der außerparlamentarischen Linken als Bündnispartner anerkennen, wenn die bereit und in der Lage sind, einen Beitrag zu der Herausbildung eines solchen Widerstands zu leisten, der aktuell weder bei einer politischen Partei noch von den Vorständen der DGB-Gewerkschaften auf der Agenda steht. Kann die M31-Mobilisierung einen solchen Anspruch erfüllen? Von der Antwort auf diese Frage wird die Beurteilung abhängen, ob der europäische Aktionstag insgesamt und die Demonstration in Frankfurt im Besonderen ein Erfolg war oder nicht. Die Frage, ob es realistisch war, die EZB-Baustelle zu erreichen und gar zu besetzen, ist dagegen sekundär, zumal es seit Monaten vor der aktuellen EZB-Zentrale das Occupy-Camp gibt.

Auch die Frage, ob die für Mitte Mai abermals in Frankfurt/Main geplanten Aktionstage gegen autoritäre Krisenstrategien größer als die am 31.März werden ist letztlich nicht das entscheidende Erfolgskriterium. Der Gradmesser wird tatsächlich sein, ob diese mit viel logistischen Aufwand vorbereiteten Großaktionen, sich auf Alltagskämpfe in Betrieben, Jobcentern und Stadtteilen stützen können oder nicht. Dass in Frankfurt am 31. März, wie schon so oft, Polizei und Bankfilialen Ziele von militanten Aktionen waren und jetzt für Schlagzeilen sorgen, erweckt zumindest Zweifel an der so viel beschworenen Kreativität und Phantasie der aktivistischen Teile der linken Szene.

Die Besetzung einer der kürzlich geschlossenen Schlecker-Filialen aus Solidarität mit den auf die Straße gesetzten Beschäftigten wäre auch nach einer vermutlich schnellen Räumung ein besseres Signal gewesen, dass eine linke Praxis mehr ist als Ritual und zweifelhafte Symbolpolitik.
http://www.freitag.de/politik/1213-europaeischer-antikapitalistischer
-aktionstag-2013-auftakt-oder-event
Peter Nowak

Europäischer antikapitalistischer Aktionstag

Nach den 31-Protesten hat die Auseinandersetzung um die politische Bewertung begonnen

In zahlreichen europäischen Ländern haben Menschen am 31. März gegen autoritäre Krisenlösungsstrategien protestiert. Aufgerufen hatte ein Bündnis linker Gruppen und Basisgewerkschaften, die sich bewusst in Abgrenzung zu etablierten, oft staatstragenden Organisationen und Gewerkschaften organisierten. Schließlich kritisierten die Organisatoren nicht nur die ökonomischen Folgen der Krisenpolitik, sondern warnten auch vor wachsenden nationalistischen und antidemokratischen Tendenzen in vielen europäischen Ländern in der Folge der Krise.

In Ländern mit einer starken traditionellen Linken wie in Griechenland war die Beteiligung an den Protesten am Samstag eher klein. Hier stehen die an den M31-Protesten beteiligten Gruppen zu den großen anarchistischen und kommunistischen Gruppen in Opposition, die in den letzten Monaten häufig zu Protesten mobilisierten. In Ländern, in denen es bisher kaum Proteste gab und die verschiedenen linken Organisationen keine große Rolle spielen, waren die M31-Aktionen größer. So legte bereits am 29. März ein von Basisgewerkschaften, die Teil des M31-Prozesses sind, initiierter Generalstreik Spanien lahm. Im holländischen Utrecht gab es am Samstag eine landesweite Antikriesendemonstration, die von den Organisatoren als Erfolg eingeschätzt wurde.

Beginn der diesjährigen Krisenproteste in Deutschland

Auch in Deutschland läutete im Rahmen von M31 eine bundesweite Demonstration in Frankfurt/Main die diesjährigen Krisenproteste ein. Wie immer bei solchen Aktionen gehen die Angaben über die Zahl der Beteiligten zwischen der Polizei, die von 3000, und den Organisatoren, die von 6000 Demonstranten sprachen, weit auseinander. Allerdings war die zweite Zahl für die erste Hälfte der Demonstration nach übereinstimmenden Berichten verschiedener Augenzeugen wesentlich realistischer.

Nachdem es zu einzelnen Farbbeutel- und Steinwürfen gegen die Fassaden der Europäischen Zentralbank und anderer Bankfilialen gekommen war, kesselte die Polizei den hinteren Teil der Demonstration mehrere Stunden ein und verhinderte so, dass sie wie geplant und angemeldet zur Baustelle der EZB zwischen Ostbahnhof und Main ziehen konnte. Nachdem im Internet Aufrufe zirkulierten, im Anschluss an die Demonstration das Areal zu besetzen, war die Baustelle schon vor Tagen mit Stacheldraht eingezäunt worden.

Die Veranstalter, die sich sehr um Deeskalation bemühten und die Demonstranten immer wieder aufriefen, nicht durch Provokationen das Ziel zu gefährden, lösten gegen 19 Uhr schließlich die Demonstration auf. Auf Indymedia brach sofort eine heftige Debatte über die Einschätzung von M31 auf europäischer und deutscher Perspektive an, die natürlich nach politischen Einschätzungen geleitet sind. Während manche Jungakademiker schon ihre mit ihren Adorno-Zitaten gespickten Totalverrisse auf der Demonstration verteilten, äußerte sich die an der Vorbereitung der M31-Proteste beteiligte Publizistin Jutta Ditfurth in ihrer Rede auf der Auftaktveranstaltung sehr optimistisch: „Wo immer wir am Ende dieses Tages stehen – oder sitzen – werden: Es ist großartig, dass es zum ersten Mal gelungen ist, aus eigener Kraft, unabhängig auch von staatstragende Organisationen, diesen ersten ‚Europäischen Aktionstag gegen den Kapitalismus‘ zu organisieren.“

Basisgewerkschafter hingegen verweisen darauf, dass es im Rahmen der M31-Mobilisierung zu einer Annäherung zwischen Aktivisten sozialer Kämpfe in der Arbeitswelt und linken Gruppen gekommen ist. Für sie ist ein Kriterium für den Erfolg des M31-Prozesses, ob sich jenseits von Großdemonstrationen aus diesen Diskussionen eine gemeinsame Praxis im Alltag entwickelt. Das Interesse daran ist gewachsen, weil selbst der linke Flügel der DGB-Gewerkschaften angesichts der EU-Krisenpolitik noch immer in Wartestellung verharrt, während an der Gewerkschaftsbasis die Forderungen nach Widerstandsperspektiven lauter werden.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151727
Peter Nowak

Pfiffe für den Zauderer

Am Wochenende ist es so weit: In Deutschland und anderen europäischen Ländern soll »M31« stattfinden. Deutsche Wissenschaftler, Gewerkschafter und außerpar­lamentarische Linke erhoffen sich einiges von dem Aktionstag.
»Wir sind diese unsoziale und antidemokratische Politik ebenso leid wie die rassistischen Attacken auf die griechische Bevölkerung. Reden wir stattdessen von den menschenverachtenden Folgen dieser Politik. Reden wir über die autoritäre Wende Europas und deutsche Niedriglöhne als Krisenursache.« Dieser Appell findet sich in dem Anfang März veröffentlichten Aufruf »Demokratie statt Fiskalpakt«, der von der »Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung« (AKG) verfasst wurde. Der Zusammenschluss von Sozi­alwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern hat es sich zum Ziel gesetzt, »gesellschaftskritische Theorieansätze« angesichts »ihrer zunehmenden Marginalisierung an den Hochschulen« zu sichern und weiterzuentwickeln.

In ihrem Aufruf kritisieren die Wissenschaftler die mit dem Krisenprogramm verbundene Renaissance autoritärer Herrschaftsmodelle. Sie zeigen eine Kontinuität auf, die von der blutigen Durchsetzung der neoliberalen Politik in Chile während der Militärdiktatur unter Pinochet über die mit der Verarmung großer Teile der Bevölkerung verbundenen Transformationsprozesse in vielen osteuropäischen Länder nach 1989 bis zur derzeitigen Durchsetzung des EU-Diktats in Italien, Griechenland und Portugal reicht. Die AKG ruft auch zur Beteiligung an den in den kommenden Wochen geplanten Protesten gegen die EU-Krisenpolitik auf. Dabei steht der europaweite antikapitalistische Aktionstag am 31. März nicht nur zeitlich an erster Stelle.

Angesichts der Kritik der AKG nicht nur an der Wirtschaft, sondern auch an der Rolle des Staates bei der Krisenbewältigung gibt es inhaltlich viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Aufruf der Wissenschaftler und »M31«. Dieses Kürzel für den Aktionstag ist mittlerweile auf Plakaten und Aufklebern in vielen europäischen Städten zu sehen. »Auf zahlreichen Informationsveranstaltungen in allen Teilen der Republik wurde ­darüber diskutiert«, sagt Jutta Sommer vom Berliner »M31«-Vorbereitungskreis der Jungle World. Deshalb sieht sie Grund zum Optimismus. »Noch Anfang des Jahres hätte ich nicht gedacht, dass diese Initiative auf so viel Resonanz stößt.« Auch in der Vorbereitung sieht sie eine neue Qualität. »Auf verschiedenen Veranstaltungen haben Aktivisten der außerparlamentarischen Linken mit Gewerkschaftern über gemeinsame Krisenstrategien diskutiert.« Dabei betonten in der vergangen Woche auf einer Veranstaltung sowohl Andreas Förster von der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter­union (FAU) wie auch der bei Verdi organisierte Personalrat bei den Berliner Stadtreinigungsbetrieben, Georg Heidel, die Notwendigkeit, Alltagskämpfe in den Betrieben mit einer antikapitalistischen Praxis zu verbinden.

Dass auch an der Basis des DGB die Unzufriedenheit wächst, zeigte sich auf einer Veranstaltung, die Mitte März von linken Gewerkschaftern und der Gruppe »Real Democracy Now! Berlin/Griechenland« im Berliner IG-Metallhaus veranstaltet wurde. Eingeladen waren ein Stahlarbeiter aus einer besetzten Fabrik in Athen und eine Journalistin von der Zeitung Eleftherotypia, die seit zwei Monaten von der Belegschaft in Selbstverwaltung herausgegeben wird. Dierk Hirschel, der Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik beim Verdi-Bundesvorstand, bekundete zwar seine Solidarität. Doch Proteste stellte er frühestens für den Herbst in Aussicht, weshalb er von Teilen des Publikums ausgepfiffen wurde. In einer auf der Veranstaltung angenommenen Resolution wird zu europaweitem Widerstand gegen die Krisenpolitik aufgerufen. Am heutigen Donnerstag soll der erste praktische Versuch erfolgen. Aus Solidarität mit einem von spanischen und baskischen Basisgewerkschaften ausgerufenen Generalstreik sind in vielen europäischen Ländern Solidaritätskundgebungen vor spanischen Konsulaten geplant.
http://jungle-world.com/artikel/2012/13/45143.html
Peter Nowak

Sind E-Mails privat oder politisch?

Die taz gewinnt Rechtsstreit gegen Verfasser in erster Instanz
Die »tageszeitung« (taz) darf weiterhin gegen den Willen eines
Burschenschafters relevante Auszüge aus dessen E-Mail-Verkehr veröffentlichen. Das entschied das Landgericht Braunschweig vor einigen Wochen in erster Instanz. Rudolf Sch.,der als Alter Herr weiterhin mit der Arbeit der ultrarechten »Karlsruher Burschenschaft Tuiskonia« verbunden ist, wollte der Zeitung per Einstweiliger Verfügung verbieten lassen, aus seinen E-Mails zu zitieren. Er sehe sich durch die Veröffentlichung in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt, argumentierte er. Zumal aus den Mails deutlich hervorgehe, dass sie nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen seien. Bei dem Schriftwechsel ging es tatsächlich jedoch nicht um persönliche Dinge, sondern um eminent politische Fragen. Mehrere Burschenschafter vom rechten Flügel, darunter der Kläger, beratschlagten per Mail über Möglichkeiten,im Dachverband »Deutsche Burschenschaften« die Macht an sich reißen zu und den in ihren Augen zu liberalen Vorstand zu entmachten. Dabei wurde auch nicht mit politischen Aussagen gespart, wie sie in diesen Kreisen üblich sind.

Öffentliches Interesse hat vorrang
»Durch die von den Siegermächten eingesetzten Medien-Macher (…) und durch den von den 68ern erfolgten Umdeutungsversuch aller traditionellen Werte soll gerade beim deutschen Volk erreicht werden, dass es statt natürlichem Stolz und Nationalbewusstsein (…) Schuld- und Scham-Gefühle entwickelt«, heißt es beispielsweise in typisch rechter Geschichtssicht. Für die taz liegt hier der Grund, die Mails auch gegen den Willen der Verfasser zu veröffentlichen: »Gerade der exklusive Verschwörungsgehalt, mit dem bewusst eine Übernahme des Verbands durch rechte Gruppen geplant wurde, unterstreicht die Relevanz,« erklärte taz-Redakteur Martin Kaul. Das Landgericht Braunschweig folgte nach einer mündlichen Verhandlung dieser Auffassung. Es bestehe ein öffentliches Interesse daran, über den Vorgang zu berichten. Weil der Kläger hinreichend anonymisiert wurde, sei er nicht in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt worden.
Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Hat der Spruch Bestand,
kann er nach Meinung von Juristen auch Auswirkungen auf ähnliche
Fälle bei anderen Medien haben. Damit würden die Rechte von
Journalisten gestärkt. Bisher war die Rechtslage in solchen Fällen uneindeutig.
Journalistische Rechte würden gestärktSo erlaubte das Landgericht Hamburg 2008 dem »Spiegel«, aus EMails des NPD-Vorsitzenden Udo Voigt zu zitieren. In Berlin wurde dagegen
kürzlich der »Bild«-Zeitung untersagt, aus E-Mails auf einem geklauten
Laptop des früheren brandenburgischen Innenministers Rainer Speer zu zitieren, die allerdings eindeutig dessen Privatsphäre betrafen.
http://medien-kunst-industrie.bb.verdi.de/sprachrohr/#ausgaben-2011
Peter Nowak
aus Sprachrohr 5/11

Widerstand gegen Atomwaffen

Die Friedensbewegung will die Modernisierung der in Deutschland stationierten US-Atomwaffen verhindern.
Unter dem Motto »Abrüsten statt Modernisieren« wollen Nichtregierungsorganisationen Druck auf die USA ausüben. Hintergrund sind die Pläne der US-Regierung, die auf dem Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz stationierten ca. 20 Atomwaffen zu modernisieren. Diesen Vorhaben widerspricht einen fraktionsübergreifenden Beschluss des Bundestages, in dem ein vollständiger Abzug aller Atomwaffen gefordert wird. Genau zwei Jahre später soll die Kampagne deutlich machen, dass außerparlamentarischer Druck nötig ist, um diese Forderungen umzusetzen. Darauf soll sich die Kampagne in ihrem ersten Teil konzentrierenDie zielt auf den Natogipfel, der am 20. und 21. Mai in Chicago stattfinden soll. Seit Monaten bereiten Antimilitarismusgruppen nicht nur in den USA Proteste und kreative Aktionen vor. Mit dabei sein wird eine internationale Radlergruppen, die von Stuttgart nach Büchel, durch die Niederlande und Belgien bis zur Nato-Zentrale nach Brüssel ziehen will. Auf ihrer Route soll über den Natogipfel informiert und an den Atomwaffenstandorten der drei Länder für eine atomwaffenfreie Welt demonstriert werden. Das auch das Ziel des zweiten und dritten Teil der Kampagne „Abrüsten statt Modernisieren“.
Doch um ihre Pläne einer atomwaffenfreien Welt durchzusetzen, müssen nach Meinung der Aktivisten die jüngsten Pläne des Pentagon verhindert werden. . „Wenn die USA ihre B61-Bombe modernisieren, um sie zielgenauer zu machen, wird sowohl die Einsatzschwelle sinken als auch die deutsche Bundestagsentscheidung konterkariert“, begründet Kampagnensprecherin Xanthe Hall den Grund für die Konzentration auf die Atomwaffen in Büchel.

26mal Hiroshima
Der dort gelagerte Bombentyp hat eine maximale Sprengkraft von 340 Kilotonnen TNT, was dem 26-fachen der Hiroshima-Bombe entspricht. Die deponierten Atomwaffen müssen im Kriegsfall vom Präsidenten der Vereinigten Staaten freigegeben werden.
2008 meldete die Federation of American Scientists (FAS), dass nach einer internen Studie der amerikanischen Luftwaffe in vielen Atomwaffenlagern die minimalen Sicherheitsstandards des amerikanischen Verteidigungsministeriums nicht eingehalten werden. Dadurch wurde der Widerstand in der Region neu angefacht. Seit Jahren ist der Standort Büchel Ziel von Protestaktionen der bundesweiten Antimilitarismusbewegung. Die Klage einer Friedensaktivistin gegen die Stationierung der Atomwaffen wurde im Sommer 2011 vom Kölner Verwaltungsgericht als unzulässig zurück gewiesen. . Im Rahmen des diesjährigen Ostermarsches ist am 9,April auch in Büschel eine Kundgebung mit der Kampagnenforderung geplant.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/222644.widerstand-gegen-atomwaffen.html
Peter Nowak

Wider den Zwang

Ein elfjähriges Kind soll in die Psychiatrie eingewiesen werden, weil es nicht als Junge, sondern als Mädchen leben will. Dagegen formiert sich Protest

In Berlin soll ein elfjähriges Kind in eine Psychiatrie eingewiesen werden. Es war als Junge geboren worden, lebt aber seit Jahren als Mädchen und wurde dabei von der Mutter und deren Freundeskreis unterstützt. Der Vater des Kindes war damit nicht einverstanden. Er ist der Meinung, dass die Mutter dem Kind die Transsexualität nur einredet.
Damit traf er bei einer vom Jugendamt bestellten Pflegerin auf offene Ohren. Das Amt ist für die Gesundheitsfürsorge des Kindes verantwortlich, wenn sich beide Elternteile nicht einig sind. Nach dem Willen dieser Pflegerin und des Vaters soll der Mutter das Sorgerecht entzogen werden. Das Kind, das in der Öffentlichkeit als Alex bekannt ist, soll zu Pflegeeltern. Zuvor soll ihm aber in der Psychiatrie sein „biologisches“ Geschlecht nahegebracht und „geschlechtsatypisches Verhalten“ unterbunden werden – so zitiert die Tageszeitung, die den Fall bekannt machte, den Chefarzt Klaus Beier von der Berliner Charité.

Auf dem Taz-Blog fragten viele Leser, ob Beier die in den vergangenen beiden Jahrzehnten geführte Debatte über die Konstruktion von Geschlechtern nicht zur Kenntnis nehmen will. „Die Annahme, es könne gelingen, mit Zwangsmaßnahmen psychische Gender-Repräsentanzen gegen den Willen einer Person quasi ‚anzutrainieren‘, widerspricht dem Stand internationaler Wissenschaft und den vielfältigen gegenteiligen Erfahrungen von Menschen, die dies als falsch zugewiesenes Geschlecht erlebten und sich von sozialen Zwängen in der Richtung nur traumatisiert fühlten“, heißt es auch in einer Stellungnahme der Interessengemeinschaft freiberuflicher Einzelfallhelfer und –helferinnen.

Gegen Zwangspathologisierung

Für das „Aktionsbündnis Alex“, in dem sich in Berlin Gruppen und Einzelpersonen zusammengeschlossen haben, die eine Psychiatrisierung des Mädchens verhindern wollen, sind die Positionen des Arztes nicht nur veraltet sondern auch gefährlich. „Professor Beier vertritt äußerst kontroverse Ansichten, die wissenschaftlich widerlegt wurden“, heißt es dort. „Die erzwungene Anpassung an das Geschlecht des Geburtseintrags funktioniert nicht und quält die Betroffenen.“

Die Konsequenzen seien schlimm, meint Klara Sonntag vom Aktionsbündnis. „In seiner Arbeit als Professor ist Klaus Beier auch an der Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern beteiligt und verbreitet somit falsche wissenschaftliche Theorien, die zweigeschlechtlich/sexistisch pathologisierende Gewalt zur Folge haben.“ Unter dem Motto „Stoppt Zwangspathologisierung!“ mobilisiert seit Jahren ein internationales Bündnis. Mit dem Begriff Zwangspathologisierung beschreiben Aktivisten Versuche, Menschen mit Hilfe von Justiz und Psychiatrie auf ein bestimmtes Geschlecht festlegen zu wollen.

Die zentrale Forderung des Netzwerkes ist die ersatzlose Streichung des Krankheitsbegriffs „Geschlechtsidentitätsstörung“ aus den Krankheitskatalogen, an denen sich weltweit Ärzte orientieren. Im kommenden Jahr sollen diese Kataloge turnusmäßig aktualisiert werden. Viele Aktivisten befürchten dabei sogar eine Verschlechterung für Transmenschen. Denn bisher ist es schwierig gewesen, diese Forderungen über den Kreis der Betroffenen hinaus populär zu machen.

Demonstration in Berlin

Durch das Urteil gegen Alex könnte sich das ändern. Denn plötzlich sind die Folgen sehr konkret geworden. Das zeigte die Teilnahme von über 300 Menschen an einer vom „Aktionskreis Alex“ am vergangenen Montag vor dem Berliner Senat für Bildung, Jugend und Wissenschaft in Berlin-Mitte organisierten Kundgebung. Unterstützt wurde sie unter anderem von der Initiative für einen geschlechtergerechten Haushalt, der AK Psychiatriekritik sowie zahlreichen Frauen- und Lesbengruppen.

Solidaritätserklärungen kamen aus verschiedenen europäischen Ländern, die über das Internet von dem Urteil gegen Alex erfahren hatten. Eine lesbische Mutter aus Frankreich erhoffte sich in ihrer Erklärung, dass es in Berlin gelingen möge, die Verfolgung und Diskriminierung von Transmenschen zu stoppen und damit Signale auch in andere Länder zu senden, in denen die Diskussionen noch am Anfang stehen.

Bei der Kundgebung war die Stimmung kämpferisch. Nachdem der Anwalt von Alex Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Kammergerichts eingelegt hat, ist etwas Zeit gewonnen. Die öffentliche Diskussion nach bekanntwerden des Urteils zumindest scheint Anlass für Optimismus zu liefern. Kaum jemand will die Zwangsmaßnahmen gegen Menschen verteidigen, die nicht nach dem in der Geburtsurkunde festgehaltenen Geschlecht leben wollen. Vielleicht bringt der Fall Alex etwas in Bewegung.
http://www.freitag.de/politik/1212-wider-den-zwang
Peter Nowak

Wegen des falschen Geschlechts in die Psychiatrie?

In Berlin soll ein elfjähriges Transmädchen in eine Psychiatrie eingewiesen werden. Dagegen gibt es Proteste

Das Urteil des Berliner Kammergerichts war möglich geworden, weil sich die getrennt lebenden Eltern des Kindes nicht über die Erziehung einig sind und deshalb die Gesundheitsvorsorge auf das Jugendamt übertragen wurde. Weil eine von der Behörde bestellte Pflegerin der Ansicht ist, die Mutter habe dem Kind die Transsexualität eingeredet, soll es in einer Pflegefamilie untergebracht werden. Zuvor soll ihm aber in der Psychiatrie sein „biologisches“ Geschlecht nahegebracht und „geschlechtsatypisches Verhalten“ unterbunden werden. So zitiert die Tageszeitung den Chefarzt Klaus Beier von der Berliner Charité.

Dagegen regt sich heftiger Widerstand. „Die Annahme, es könne gelingen, mit Zwangsmaßnahmen psychische Gender-Repräsentanzen gegen den Willen einer Person quasi ‚anzutrainieren‘, widerspricht dem Stand internationaler Wissenschaft und den vielfältigen gegenteiligen Erfahrungen von Menschen, die dies als falsch zugewiesenes Geschlecht erlebten und sich von sozialen Zwängen in der Richtung nur traumatisiert fühlten“, heißt es in einer Stellungnahme der Interessengemeinschaft freiberuflicher Einzelfallhelfer und -helferinnen.

Auf einem Jurablog wurden einige Aspekte der Berichterstattung in der Tageszeitung kritisch beleuchtet. Die Entscheidung des Berliner Kammergerichts wurde demnach im taz-Bericht rechtlich nicht richtig eingeordnet: „Der Beschluss des KG, der Anlass der Pressemeldung der taz war, verhält sich nicht ausdrücklich zu der richtigen Vorgehensweise, sondern nur zur Frage, wem die Gesundheitsfürsorge zustehen soll. Allerdings lässt sich im Beschluss eine Bestätigung der Richtungswahl des Jugendamts herauslesen. Eine Zwangstherapie wird aber vom KG nicht bestätigt oder genehmigt.“ Damit bleibt der Skandal aber bestehen, die Freiheitsentziehung des Kindes:

„Unabhängig von der Frage, ob hier eine schon im Kindesalter manifest werdende Transsexualität vorliegt oder nicht: Eine Freiheitsentziehung ist ein derart gravierender Eingriff für ein Kind, dass er nur als ultima ratio vorgesehen werden kann. Laut dem Bericht fehlt bislang ein unabhängiges psychiatrisches Gutachten. Zu einer ambulanten Untersuchung seien Mutter und Kind bereit.“

Protest gegen Zwangspathologisierung

Zahlreiche Gruppen und Einzelpersonen haben sich zum „Aktionsbündnis Alex“ zusammengeschlossen, um schnell Proteste gegen die Einweisung des Kindes in eine psychiatrische Anstalt und den Entzug des Sorgerechts der Mutter zu initiieren. Da gegen die Entscheidung des Kammergerichts Rechtsmittel eingelegt wurden, wird die Angelegenheit die Gerichte weiter beschäftigten. Auf der Kundgebung verurteilte die AG Psychiatriekritik alle Versuche, mit Hilfe von Justiz und Psychiatrie, Menschen auf ein bestimmtes Geschlecht festlegen zu wollen.

Durch die Aufmerksamkeit, die der Fall von Alex bekommen hat, wurde der Fokus auf eine internationale Koordination gerichtet, die sich für das Recht einsetzt, das eigene Geschlecht zu leben. Die zentrale Forderung ist dabei die Streichung des Krankheitsbegriffs „Geschlechtsidentitätsstörung“ aus den Krankheitskatalogen, an denen sich die Ärzte orientieren. Im kommenden Jahr sollen diese Kataloge aktualisiert werden. Für die Aktivisten ist daher die zentrale Forderung, die Zwangspathologisierung zu beenden, deren Folgen durch das Urteil gegen Alex für viele Menschen sehr konkret geworden sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151693
Peter Nowak

Dürfen sich Soldaten im Ausland wohlfühlen?

Friedenspartei und Linkspartei stritten sich über die Frage, ob man nur den Abzug oder zuvor auch eine Flatrate für Soldaten im Auslandseinsatz fordern soll

Am vergangenen Donnerstag stand die Situation der deutschen Soldaten im Auslandseinsatz auf der Tagesordnung des Bundestages. Eine Allparteienkoalition beklagte deren hohe Belastung und setze sich für eine bessere Kommunikation mit der Heimat ein. Union, FDP, SPD und Grüne hatten einen gemeinsamen Antrag dazu eingebracht.

Die Linkspartei formulierte ihre Forderungen in einen eigenen Antrag und handelte sich heftigen Streit mit ihren Bündnispartnern in der Friedensbewegung ein. Denn die Partei, die immer einen sofortigen Abzug der Soldaten fordert, will ihnen den Aufenthalt bis dahin auch so angenehm wie möglich zu machen und hat die übrigen Parteien dabei sogar noch überboten.

Während das große Parteienbündnis den Soldaten kostenloses Telefonieren in die Heimat ermöglicht und das Verteidigungsministerium zur Vorlage eines Finanzierungsvorschlags für die kostenfreie Nutzung des Internets durch die Soldaten auffordert, ist die Linkspartei ein klein wenig radikaler Sie fordert kostenloses Internet rund um die Uhr für die Soldaten und außerdem ausreichend Steckplätze für Laptops in den Unterkünften.

„Schneller surfen im Kriegseinsatz“, lautete der Kommentar von Frank Brendle von der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner. Er steht mit seiner Kritik nicht allein. Der politische Sprecher der DFG/VK Monty Schädel schrieb in einem offenen Brief an die Linke: „Wer den Afghanistaneinsatz beenden will, sollte nicht bemüht sein, den Soldaten den Einsatz auch noch angenehm zu machen.“ Für Schädel verliert die Linkspartei mit dem Antrag ihren selbstgesetzten Anspruch, die einzige Antikriegspartei im deutschen Parlament zu sein. Für ihn verträgt sich eine „Wohlfühlpolitik für die Soldaten“ nicht mit der Sorge um die Opfer des Krieges. Er sieht es auch nicht als Aufgabe einer Antikriegspartei an, möglichen Traumata der Soldaten durch freies Telefonieren entgegenzuwirken. Für Schädel ist die afghanische Bevölkerung mit und ohne Flatrate der Ansprechpartner für eine Antikriegspolitik.

Durch freies Internet zum Kriegsgegner?

Der Bundestagsabgeordnete der Linken Wolfgang Gehrcke begründet seine Zustimmung zu dem Antrag mit der Hoffnung, dass damit die Soldaten kritikfähiger würden. „Soldaten kann man am besten auf Krieg ausrichten, wenn sie kaserniert sind und möglichst wenig Kontakt zum zivilen Leben haben. Je mehr Luft an die Mumie Bundeswehr herankommt, desto eher zerfällt sie; und das ist zumindest meine Absicht.

Gehrckes Parteifreundin Christine Buchholz formuliert in ihrer Begründung für den Antrag sogar ein „Recht, ungestört über den Krieg reden zu dürfen“. Warum aber Soldaten, die sich freiwillig für einen Job bei der Bundeswehr entscheiden, ausgerechnet durch ausgiebiges Surfen im Internet zu Kriegsgegnern werden sollen, wird nicht erläutert. Können dadurch nicht auch die Einsatzbereitschaft und Motivation der Soldaten erhöht werden, wie es die Antragssteller von Union bis zu den Gründen formulieren und Kriegsgegner wie Schädel, Brendle und andere Akteure der Antikriegsbewegung befürchten?

Auch in der Linkspartei war die Initiative nicht unumstritten. In der Ablehnung sind sich Bundestagsabgeordnete wie die zur Parteilinken zählende Ulla Jelpke mit den als Realopolitiker formierenden Bundestagsabgeordneten Raju Sharma und Halina Wawzyniak einig. In einer gemeinsamen Erklärung schreiben sie: „Vom Grundsatz her würden wir die Gewährleistung kostenloser Telekommunikations-Dienstleistungen als Grundrecht durchaus begrüßen – aber wenn, dann muss man damit bei jenen anfangen, die bereits jetzt eine Existenz unterhalb der Armutsgrenze fristen müssen. Soldaten, die 110 Euro Auslandsverwendungszulage pro Tag erhalten, gehören nicht dazu“, so die Meinung von 12 linken Bundestagsabgeordneten.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151685
Peter Nowak

Mein Fingerabdruck gehört mir

Ein in Bayern lebender Mann klagt gegen die Weitergabe personenbezogener Daten an US-Behörden.
Ein Bayer will mit einer Beschwerde vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gegen das 2008 in Kraft getretene deutsch-amerikanische Abkommen vorgehen, das US-amerikanischen Behörden einen direkten Online-Abgleich von Fingerabdrücken und DNA-Körperproben mit deutschen Datenbanken ermöglicht. Dem Mann waren bei einer Protestdemonstration gegen die NPD sowohl Fingerabdrücke als auch Speichelproben abgenommen worden. Obwohl ein Strafverfahren eingestellt wurde, er davon aus, dass die gesammelten Daten weiter in den Datenbanken gespeichert sind. „Ich bin durch das Abkommen persönlich und unmittelbar in meinen Menschenrechten betroffen“, begründet er seine Initiative. Ein Datenabgleich in den USA könne für ihn eine Einreiseverweigerung zur Folge haben. Daher verletze das Abkommen für den Kläger sein Recht informelle Selbstbestimmung und den Schutz personenbezogener Daten. In der juristischen Begründung der Beschwerde wird Menschenrechtsverletzungen der USA im „Krieg gegen den Terror“ eingegangen. Es sei nicht auszuschließen, dass dabei auch im Rahmen des Abkommens übermittelte Daten Verwendung finden.
„Ein Recht, unabhängige Gerichte anzurufen, um sich gegen irrtümliche oder illegale Maßnahmen der US-Behörden zu wehren, sieht das Abkommen nicht vor“, wird in der Beschwerde ein Punkt angesprochen, der von Menschenrechts- und Datenschutzorganisationen seit Langem bemängelt wird. Selbst der Bundesrat stellte 2009 fest: „In der derzeitigen Fassung genügt das Abkommen nicht den Anforderungen, die an einen grundrechtskonformen Umgang mit personenbezogenen Daten zu stellen sind.“ Aus formalen Gründen nahm das Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde gegen das Abkommen nicht an. Damit stand dem Kläger der europäische Rechtsweg offen.
„Bis zur Entscheidung des Menschenrechtsgerichtshofs warne ich Europa
davor, einer Informationsauslieferung an die USA zuzustimmen“, erklärt der Jurist und Bürgerrechtler Patrick Breyer. Schließlich könnte die Grundlage des Datentransfers für rechtswidrig erklärt werden.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/222345.mein-fingerabdruck-gehoert-mir.html

Ost-West-Populismus im NRW-Wahlkampf

Immer zu Wahlkampfzeiten kommt ein alter Dauerbrenner in die politische Debatte: die Zukunft des Solidarpakts Ost

Jetzt haben vier Oberbürgermeister aus dem Ruhrgebiet das Ende des Solidarpakts Ost gefordert. Gelsenkirchens Stadtoberhaupt Frank Baranowski will sich für eine Bundesratsinitiative gegen den Solidaritätsbeitrag einsetzen. Mittlerweile hat die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Kraft die Forderungen mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Solidarpakt vertraglich festgeschrieben sei und nicht einfach aufgekündigt werden könne. Damit vermied es die Politikerin allerdings, sich inhaltlich zu positionieren.

Dafür trumpfen ihre Parteifreunde aus den Oberbürgermeisterämtern um so mehr mit starken Sprüchen auf. So sprach der Dortmunder Bürgermeister Ullrich Sierau in der Süddeutschen Zeitung von einem „perversen System, das keinerlei inhaltliche Rechtfertigung hat“. Es sei nicht mehr zu vermitteln, dass die armen Städte des Ruhrgebietes sich hoch verschulden müssten, um ihren Anteil am Solidarpakt aufzubringen. Der Osten sei mittlerweile so gut aufgestellt, dass die dort doch gar nicht mehr wissen, wohin mit dem Geld.

„Während in seiner Stadt Einrichtungen schließen müssten, sanierten die Kommunen im Osten ihre Etats“, schließt sich Essens SPD-Oberbürgermeister Reinhard Paß dem Lamento an.

Droht jetzt die Solidaritätskeule?

Sein Gelsenkirchener Parteifreund Frank Baranowski hat gar schon die Solidaritätskeule entdeckt, mit der Kritiker des Solidarpakts angeblich bedroht und als Feinde der deutschen Einheit dargestellt würden.

Bisher waren die Reaktionen auf den Ruhrgebietsvorstoß allerdings moderat. Während der SPD-Politiker Wolfgang Thierse zusätzlich zum Solidarpakt Ost noch einen Ruhr-Solidaritätsbeitrag auflegen will, stellte sich der einflussreiche Bund der Steuerzahler hinter die Forderungen der Lega-West. So könnte man die westdeutschen Politiker nach dem Vorbild der italienischen Lega Nord nennen, die in regelmäßigen Abständen und über Parteigrenzen hinweg immer mal wieder, meistens vor wichtigen Wahlen, den Solidarpakt Ost aufkündigen wollen. 2008 ist der CSU-Vorsitzende Seehofer mit ähnlichen Forderungen hervorgetreten. Vor vier Jahren mischten sich noch Vorwürfe in die Debatte, die Ostdeutschen wären undankbar, wenn sie trotz des Solidarpakts noch die Linke stark machen.

Die Ähnlichkeiten dieser Debatte mit den Ressentiments der Lega Nord gegen die italienische Bevölkerung südlich von Rom sind ebenso wenig zufällig, wie die Parallelen zur Diskussion über die „Pleitegriechen, die in den letzten Monaten immer wieder geführt wurde. Bei diesen Debatten sollen Schuldige außerhalb des eigenen Verantwortungsbereich für die offenkundige soziale Misere herhalten. Dass es einen Kultur-und Sozialkahlschlag in vielen Städten nicht nur in NRW gibt, ist auch eine Folge der Schuldenbremse – und die wiederum resultiert aus einer Finanzklemme, welche die Politik mit ihrer Niedrigsteuerpolitik zu verantworten hat.

Was bei Befürwortern wie Kritikern des Solidarpakts Ost übersehen wird, ist die offensichtliche Tatsache, dass sich ausbreitende Alltagsarmut und gut restaurierte Innenstädte gut kombinieren lassen. Dafür ist ein Niedriglohnsektor verantwortlich, der nach 1989 im Osten Deutschland eingeführt wurde und sich längst auch im Westen etabliert hat. Deshalb müssen die dort lebenden Menschen genauso wenig vom Solidarpakt Ost profitieren wie die griechische Bevölkerung von den Rettungspaketen der EU-Troika.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151652
Peter Nowak

Demokratie statt Fiskalpakt

Wissenschaftler rufen zu Protesten gegen europäische Kürzungspolitik auf
Ein von der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung initiierter Aufruf mobilisiert gegen das EU-Krisenprogramm.
Während in den letzten Tagen die Eurokrise in Deutschland nicht im Mittelpunkt des Medieninteresses stand, geht in Griechenland, Spanien und Portugal der Widerstand gehen die sozialen Folgen der EU-Krisenprogramme weiter. Aber auch in Deutschland wächst die Kritik Das zeigt sich an der großen Resonanz, den der von der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) initiierte Aufruf „Demokratie statt Fiskalpakt“. Mit knapp 120 Erstunterzeichnern, die vor allem aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich kommen, ist der Aufruf vor einigen Tagen gestartet. Mittlerweile wurde von mehr als 1300 auf der Homepage http://www.demokratie-statt-fiskalpakt.org/ unterzeichnet Täglich kommen weitere Namen dazu. Das ist ganz im Sinne der Initiatoren.
Der AkG hat sich im Juni 2004 als Zusammenschluss von Sozialwissenschaftlerinnen und –wissenschaftlern im deutschsprachigen Raum gegründet. „Zielsetzung der gemeinsamen Arbeit ist die Diskussion gesellschaftskritischer Theorieansätze, deren Reproduktion und Weiterentwicklung in Zeiten ihrer zunehmenden Marginalisierung an den Hochschulen gesichert werden soll“, heißt es auf der Homepage der Initiative.
Mit dem aktuellen Aufruf hat das AkG dieses Selbstverständnis in die Praxis umgesetzt. Dabei richteten die Wissenschafter den Fokus ihrer Kritik auf den mit dem Krisenprogramm verbundenen Demokratieabbau.. Sie ziehen eine Linie von der blutigen Durchsetzung der neoliberalen Politik in Chile während der Militärdiktatur unter Pinochet nach dem Putsch gegen die demokratisch gewählte Allende-Regierung 1973, über die mit der Verarmung großer Teile der Bevölkerung verbundenen Transformationsprozesse in vielen osteuropäischen Länder nach 1989 bis zu den aktuellen Sparprogrammen für die europäische Peripherie.
In dem Aufruf wird auch vor dem Erstarken rechter Kräfte im Windschatten der Krisenpolitik gewarnt. Dabei wird auf die Erfolge rassistischer und nationalistischer Gruppierungen in Ungarn, Österreich und Finnland verwiesen. Allerdings wird der Fokus der Kritik auf die deutsche Regierung gerichtet. „Geschichtsvergessen macht die deutsche Regierung mit ihrer kompromisslosen Austeritätspolitik reaktionäre Krisenlösungen immer wahrscheinlicher“, warnen die Wissenschaftler. . „Wir sind diese unsoziale und antidemokratische Politik ebenso leid wie die rassistischen Attacken auf die griechische Bevölkerung. Reden wir stattdessen von den menschenverachtenden Folgen dieser Politik“, so die Verfasser. .
Der Aufruf mobilisiert zu weiteren Protesten. So wird dort zur Beteiligung an der Anti-Krisendemonstration am 31. März in Frankfurt/Main, den Global Day of Action am 12. Mai und der internationalen Mobilisierung nach Frankfurt am Main vom 17. bis 19. Mai aufgerufen.. Die Unterstützung aus der Zivilgesellschaft und dem linken Wissenschaftskreisen könnte auch Ausstrahlung auf andere Kreise haben. So verfassten auch Gewerkschaftler einen Aufruf gegen die Krisenpolitik, der bei einer Rundreise griechischer Gewerkschafter in Berlin einstimmig verabschiedet wurde.
www.demokratie-statt-fiskalpakt.de
https://www.neues-deutschland.de/artikel/221812.demokratie-statt-fiskalpakt.html
Peter Nowak