Vergessene Kämpfe

In den achtziger Jahren gab es in Westberlin eine migrantische Hausbesetzerbewegung. Eine Ausstellung erinnert daran.

Berlin-Kreuzberg, Kottbuser Straße 8. Hier wurde vor 31 Jahren eine Frau getötet und eine weitere schwer verletzt. Doch heute erinnert nichts mehr an die Opfer dieses Anschlags türkischer Nationalisten, der am 25. September 1984 statt fand. Der rechte Angriff richtete sich gegen den »Treff- und Informationsort für Frauen aus der Türkei« (TIO), einer Selbstorganisation türkischer und kurdischer Frauen.

Der TIO repräsentiert auch die lange Zeit vergessene Geschichte der migrantischen Hausbesetzerbewegung im Berlin der achtziger Jahre. Die Räume des TIO waren im Februar 1980 von kurdischen und türkischen Frauen besetzt worden, die sich von ihren Männern getrennt hatten und dringend eine Wohnung suchten. »Als sie im Alphabetisierungskurs im TIO darüber diskutierten, selber ein Haus zu besetzen, waren alle sofort dabei«, erinnert sich eine der damals Beteiligten. In ihrem Bericht wurde auch deutlich, dass die migrantischen Besetzerinnen nicht nur mit der Repression durch Polizei und Justiz konfrontiert waren. »Als die Frauen ins Haus kamen, wurden sie von Handwerkern, die von der Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft (GSW) mit der Sanierung beauftragt waren, rassistisch beleidigt.« Eine Frau sei sogar eine Treppe hinuntergestoßen worden. »Aber sie haben schnell eine leere Wohnung gefunden und sich dort eingeschlossen«, so der Bericht weiter. »Die Unterstützer versammelten sich vor dem Haus und warfen den Frauen ein lila Transparent mit der Aufschrift ›Nur Mut!‹ hinauf. Nach drei Stunden kam ein Vertreter der GSW und nach 20 Minuten Gespräch über ihre miserablen Wohnverhältnisse haben die Frauen die Schlüssel bekommen.«

Die Geschichte der TIO-Besetzung hatte eine Besetzerin für eine Broschüre aufgeschrieben, die der migrantische Berliner Verein »Allmende« vergangenes Jahr unter dem Titel »Mehr als 50 Jahre Migration« herausgab. Dadurch erfuhr auch Marie Schubenz von der Geschichte der migrantischen Hausbesetzungen in Westberlin. Sie gehörte zum Vorbereitungsteam der Ausstellung »Kämpfende Hütten«, die in der ersten Oktoberhälfte in Berlin zu sehen war. Konzipiert wurde sie von ehemaligen Hausbesetzern sowie Miet­rebellen, die sich in den vergangenen Jahren gegen die Verdrängung einkommensschwacher Bewohner aus ihren Stadtteilen wehrten und an der Verhinderung von Zwangsräumungen beteiligten. Sie versuchen damit, an die Geschichte ihrer Kämpfe zu erinnern. Zudem sollen Schlaglichter auf historische Mieterkämpfe in Berlin geworfen werden. »Anhand von Mietstreiks, migrantischen Besetzungen und Ostberliner Häuserkämpfen wird die Vielzahl vergangener Aktionen deutlich«, sagte Simon Lengemann der Jungle World. Der Historiker forscht zu Mieterkämpfen und gehörte ebenfalls zum Vorbereitungsteam der Ausstellung »Kämpfende Hütten«.

Die Soziologin Ceren Türkmen, die seit Jahren über die Geschichte migrantischer Kämpfe in Deutschland forscht, machte bereits im Februar 2013 in einem Interview mit der Jungle World deutlich, dass ein wichtiger Aspekt der Kämpfe um Wohnraum auch in der linken Überlieferung von der Hausbesetzerbewegung oft fehlt. »Die Mieterbewegung, die Mietstreiks und der Aufbau der Kieze wären ohne die Bewegung, das Wissen, die Kampfbereitschaft, die Selbstorganisation und die Kämpfe der Migrantinnen und Migranten nicht möglich gewesen. An diese heterogene Geschichte knüpfen die derzeitigen Kämpfe doch an, indem sie auf die positiven Erfahrungen und Gefühle sowie auf das produzierte Wissen zurückgreifen«, betonte Türkmen. »Die Ausstellung ›Kämpfende Hütten‹ kann als Beginn einer solchen Auseinandersetzung mit den vergessenen Teilen der Westberliner Hausbesetzerbewegung verstanden werden«, sagt Marie Schubenz. Demnächst erscheint eine auf der Ausstellung basierende Broschüre. Zudem sucht das Kuratorenteam weitere Einrichtungen, die die Ausstellung zeigen wollen. Positive Reaktionen kamen bereits von der »Verdi-Mediengalerie« und dem »Runden Tisch Moabit«.

http://jungle-world.com/artikel/2015/46/52982.html

Peter Nowak

Der vergessene Teil der Hausbesetzerszene

WIDERSTAND Migranten sind seit Jahrzehnten Teil der Kreuzberger Kämpfe, wie ein Kiezspaziergang zeigt

Nichts erinnert heute in der Kottbusser Straße 8 an den Anschlag türkischer Nationalisten, bei dem am 25. September 1984 eine Frau getötet und eine andere schwer verletzt wurde „Der Angriff richtete sich gegen den Treff- und Informationsort für Frauen aus der Türkei (TIO), einer Selbstorganisation türkischer und kurdischer Frauen“, erklärt eine Organisatorin des Spaziergangs auf den Spuren migrantischen Protests und  Widerstands in Kreuzberg am Sonntagnachmittag. Die Kottbusser Straße 8 war eine der Stationen. Dort hatten migrantische Frauen im Februar 1981 die späteren TIO-Räume besetzt. Bereits im November 1980 gab es in der Forster Straße 16–
17 die erste migrantische Hausbesetzung in Westberlin. 29 Familien konnten später mit dem Bezirksamt Mietverträge abschließen. Bis heute leben einige migrantische ErstbesetzerInnen in dem Haus – noch immer mit befristeten Verträgen, die im nächsten Jahr auslaufen.
Der Spaziergang auf den Spuren migrantischer Proteste endete vor dem Gemüseladen in der Wrangelstraße, dessen mittlerweile zurückgenommene Kündigung im Sommer 2015 zur Gründung der Bizim-Bakal-Bewegung gegen die Vertreibung aus dem Kiez führte.
MigrantInnen sind seit mehr als drei Jahrzehnten Teil der Kreuzberger Kämpfe, werden aber selten erwähnt. „Wir haben uns eines vergessenen Teils der Westberliner HausbesetzerInnenbewegung angenommen“, erklärte Marie Schubenz. Sie ist Teil des Vorbereitungsteams der Ausstellung „Kämpfende Hütten“, die noch bis zum Sonntag im Südflügel des Bethanien zu sehen ist – der Kiezspaziergang gehörte zum Begleitprogramm. In der Ausstellung sind der Geschichte der migrantischen Hausbesetzungen in Kreuzberg mehrere Tafeln gewidmet. Eine Broschüre wird vorbereitet.

aus Taz: 13.10.2015

Peter Nowak