Fußballpatriotismus in Krisenzeiten

vom 23 Oktober 2024

Die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy erklärt das verstärkte Nationalfahnenschwenken mit der Zunahme prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen

Seit Freitag ist Deutschland wieder Schland geworden. Schwarzrotgolde Fähnchen sind mittlerweile Alltag. Nachdem in den letzten Jahren viele Artikel verfasst wurden, die sich mit dem nun nicht mehr so neuen Fußballpatriotismus befassen, scheint das Interesse nachzulassen. Deswegen ist es besonders bemerkenswert, dass die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy auch im Jahr 2012 ein Buch zum neuen deutschen Fußballpatriotismus aus sozialpsychologischer Perspektive herausbringt. Die Wissenschaftlerin hat dort die Ergebnisse zahlreicher Befragungen von Fußballfans veröffentlicht. Sie hat die Interviews auf Fanmeilen in verschiedenen deutschen Städten bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 sowie den Europameisterschaften 2008 durchgeführt.

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Analyse der Krisenproteste in Europa

Ein Buch betrachtet Widerstandsbewegungen

Warum gibt es in Europa trotz der großen Krise relativ wenig gemeinsamen Widerstand? Ein kürzlich im Verlag Assoziation A erschienenes Buch mit dem Titel »Krisen Proteste« (312 Seiten, 18 Euro) gibt einige Antworten auf diese Frage und zieht eine Zwischenbilanz der Proteste, Aufstände und Streikbewegungen, die es bisher als Reaktion auf die sozialen Verwerfungen gab.

Die Ungleichzeitigkeit der Krisenpolitik und der Wahrnehmung bei den Betroffenen erschwert einen gemeinsamen Widerstand. Diese Entkoppelung stellt für die Linken ein großes Problem dar, »das keineswegs mit bloßen Appellen und weltweiten Aufrufen bewältigt werden kann«, schreiben die Herausgeber des Buches, Peter Birke und Max Henninger, in der Einleitung. In zwölf Aufsätzen, die größtenteils auf der Onlineplattform Sozial.Geschichte Online veröffentlicht wurden, werden die aktuellen Bewegungen in den unterschiedlichen Ländern auf hohem Niveau analysiert.

Zur Lage in Griechenland gibt es gleich zwei Beiträge. Während der Historiker Karl Heinz Roth die Vorgeschichte der Krise rekonstruiert und dabei auf das Interesse des griechischen Kapitals am Euro eingeht, beschäftigt sich der Soziologe Gregor Kritidis mit der vielfältigen Widerstandsbewegung der letzten Jahre. Er sieht in den Aufständen nach der Ermordung eines jugendlichen Demonstranten durch die Polizei im Dezember 2008 »die Sterbeurkunde für die alte Ordnung«. Ausführlich geht er auch auf die Bewegung der Empörten ein, die im Sommer 2011 aus Protest gegen die EU-Spardiktate öffentliche Plätze in Griechenland besetzten und mit massiver Polizeirepression konfrontiert waren. Ebenso stellt Kritidis die Bewegung zur Schuldenstreichung vor, die es seit einem Jahr gibt.

Kirstin Carls zeigt am Beispiel Italien auf, wie die technokratische Monti-Regierung in den letzten Monaten Einschnitte in die Arbeits-, und Sozialgesetzgebung umgesetzt hat, die Berlusconis Regierung nach heftigem Widerstand hatte zurückziehen müssen. Das Bündnis The Free Association liefert Hintergrundinformationen über die Proteste in Großbritannien. Zwei spanische Aktivisten beschreiben, wie sich ein Teil der Empörten, nachdem sie Zelte auf den öffentlichen Plätzen aufgegeben hatten, auf den Kampf gegen Häuserräumung und die Unterstützung von Streiks konzentrierten. Das Buch kann nach den Blockupy-Aktionstagen letzte Woche in Frankfurt wichtige Anregungen für eine Perspektivdebatte der Krisenprotestbündnisse liefern.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/227787
.analyse-der-krisenproteste-in-europa.html
Peter Nowak

Angriff der Eliten

Vor mehr als 15 Monaten sorgte der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab für ein großes Medienecho mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen.

Viele Bücher sind darüber in politisch guter Absicht, aber oft geringer theoretischer Fundierung verfasst wurden. Als Beispiele seien hier das als Anti-Sarrazin-Buch hochgelobte Integrations-unwillige Muslime von Ahmet Toprak oder Anti-Sarrazin von Sascha Stanicic genannt.
Die drei hier vorgestellten Bücher befassen sich mit den Vorläufern Sarrazins und den Auswirkungen der von seinem Buch ausgelösten Debatte auf einem hohen theoretischen Niveau und bleiben auch nach dem Ende des Hypes um Sarrazin lesenswert.

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Vom Zentralismus zum Kommunalismus?

Direkte Erfahrungen mit der Umstrukturierung in der kurdischen Befreiungsbewegung. Ein Erlebnisbericht vom mesopotamischen Sozialforum 2009

Im September 2009 hatte ich die Gelegenheit als Besucher des mesopotamischen Sozialforums in Diyarbakir in Ansätzen mitzubekommen, wie die in Öcalans Buch Jenseits von Staat, Macht und Gewalt skizzierten Grundsätze konkrete Auswirkungen auf die Menschen in Kurdistan haben. Die meist mehrsprachigen Veranstaltungen deckten eine große thematische Bandbreite ab. Dort ging es unter anderem um das Recht auf Bildung, drohende Kriege um Energie und Wasser und den Zustand der Gewerkschaftsbewegung im Nahen Osten. Viele Diskussionen gab es um das Projekt des Demokratischen Kommunalismus, mit dem die kurdische Bewegung die Demokratisierung der Gesellschaft voranbringen will und das in Öcalans Verteidigungsschriften eine große Rolle spielt. Es ist vom mexikanischen Zapatismus und den sozialistischen Rätevorstellungen beeinflusst und stieß auch bei den Linken aus Westeuropa auf großes Interesse. Der Interpret dieser Idee in die Vorstellungswelt der kurdischen Bevölkerung ist aber vor allem Öcalan. Seine Texte, die in der hiesigen Linken kaum wahrgenommen werden, sind für die große Mehrheit der kurdischen Bevölkerung, unabhängig von Alter und Bildungsgrad, tatsächlich eine Art Wegweiser zu Konzepten der Befreiung in der Geschichte und der Gegenwart. Mag es für theoretisch vorgebildete LeserInnen eher eine Mischung von verschiedenen theoretischen Ansätzen sein, für Teile der kurdischen Bevölkerung sind es Hinweise für die praktische Politik. Das wurde auf dem Sozialforum besonders beim Themenbereich „Patriarchat“ deutlich, dem Öcalan in seinen Schriften großen Raum widmet.

Kurdischer Gender Trouble

So befassten sich in Diyarbakir zahlreiche Arbeitsgruppen mit Diskriminierungen und Verfolgungen, denen Menschen aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt sind. Im Workshop Gender-Trouble wurde anhand von Fotos über den männlichen Blick in den Medien diskutiert. Daran nahmen Menschen allen Alters teil, von der über sechzigjährigen Frau mit Kopftuch bis zum Jugendlichen. Organisiert wurde er von der Organisation Lambda, einer Vereinigung von Bi- und Homosexuellen und Transgender-Personen in der Türkei. Diese Themen spielen nicht nur auf dem Sozialforum eine wichtige Rolle. Ein Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) berichtete in einer Arbeitsgruppe, dass bei ihren wöchentlichen Aktionen in Diyarbakir an unterschiedliche Opfer des Staatsterrorismus erinnert wird. Dazu gehören auch die Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verschleppt und ermordet wurden. Ein aus Istanbul angereister Teilnehmer, der sich selbst als Anarchist bezeichnete, zeigte sich über die Themen und die Diskussionskultur positiv überrascht. Die kurdische Linke sei hier ein Vorreiter für linke emanzipatorische Ideen. Dort würden feministische Themenstellungen angesprochen, die in Teilen der türkischen Linken noch immer eine marginale Rolle spielen, erklärte er.

Auch über staatskritische Themen sowie eine generelle Ablehnung von Macht und Hierarchien werde in der kurdischen Linken seit einigen Jahren sehr offen diskutiert. Er könne sich mit seinen anarchistischen Vorstellungen daher in der Linken von Diyarbakir eher wiederfinden als in Istanbul, betonte der Mann, der auch bekundete für die PKK als Anarchist keine großen Sympathie gehabt zu haben.

Grenzen der Machtkritik

Auch viele westeuropäische TeilnehmerInnen des Sozialforums teilten das positive Urteil über das Sozialforum. Es sei gelungen, sich auch über kontroverse Themen in solidarischer Atmosphäre auszutauschen. Zu diesen strittigen Themen gehört die Rolle von Führungspersönlichkeiten wie Abdullah Öcalan in der linken Bewegung.

Hier liegt auch einer der größten Schwachpunkte in Öcalans Schriften. Bei aller durchaus ernsthaften Auseinandersetzung mit staats- und machtkritischen Texten und Theorien bleibt Öcalans Rolle als Prophet außerhalb jeder Kritik. Öcalans Machtkritik reicht bedauerlicherweise nicht aus , seine eigene Rolle in der Organisation zu hinterfragen.

Schwachpunkt Soziale Frage

Ein weiterer Schwachpunkt in Öcalans Schriften ist die fehlende Ökonomiekritik. Daher kommt es in den Schriften auch zu durchaus missverständlichen Formulierungen. So heißt es an einer Stelle: „Besser wäre, sich auf einen schlanken Staat zu einigen, der lediglich Aufgaben zum Schutz der inneren und äußeren Sicherheit und zur Versorgung sozialer Sicherheitssysteme wahrnimmt.“ Die Metapher vom schlanken Staat spielt heute auch oft in wirtschaftsliberalen Theorien eine große Rolle. In Öcalans Schriften sind soziale Fragen weitgehend ausgeblendet. Mehrmals verweist er ausdrücklich darauf, dass Klassenkämpfe keine große Bedeutung haben. Auch die Rolle von Gewerkschaften als Selbstorganisation der Lohnabhängigen kommt in den Schriften kaum vor. Dafür finden sich mehrere positive Bemerkungen zur sozialdemokratischen Globalisierung, die Öcalan als Alternative zum klassischen Imperialismus in die Diskussion bringt. Es gäbe also genügend kritische Fragen an Öcalans Vorstellungen zu stellen. Allerdings sollte durchaus zur Kenntnis genommen werden, dass in seinen Schriften eine mit starken geschichtlichen und mythologischen Bezügen versehene Kritik an Macht und Staat vorliegt. Diese Kritik sollte in Zukunft auch in Deutschland Gegenstand einer kritischen Diskussion sein.
http://www.direkteaktion.org/211/vom-zentralismus-zum-kommunalismus
Peter Nowak

Bürgerbeteiligung

Auf www.dialog-ueber-deutschland.de lädt die Kanzlerin ein zur Diskussion: Wie wollen wir zusammen leben? Wovon wollen wir leben? Wie wollen wir lernen? Merkel: »Jeder kann seine Ideen vorschlagen oder auf gute Praxisbeispiele hinweisen. Diese Vorschläge können dann wiederum kommentiert und bewertet werden.« Für den Publizisten Thomas Wagner ist dieser Bürgerdialog im Internet eine »Mogelpackung«: das Beispiel eines »demokratisch verkleideten autoritären Regierungsstils«. Für eine Direktwahl des Bundespräsidenten gibt es Unterstützung in allen politischen Lagern. Der konservative Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim fordert zudem einen deutlichen Machtzuwachs für das Staatsoberhaupt. Rechte Parlamentskritik betreibt auch der ehemalige Wirtschaftslobbyist Olaf Henkel. Dieser fordere eine »plebiszitär abgesicherte Elitenherrschaft«, schreibt Wagner. Bürgerbeteiligung als Vehikel für eine Verfestigung von Elitenherrschaft, mag auf den ersten Blick paradox klingen. Doch Wagner zeigt an verschiedenen Beispielen auf, wie in rechtskonservativen Kreisen mit dem Verweis auf die schweigende Mehrheit soziale Regelungen, Forderungen von Gewerkschaften, aber auch von sozialen Initiativen und Umweltverbänden ausgehebelt werden sollen. Der Parteienstaat, der unterschiedliche Interessen austarieren müsse, hindere am kraftvollen Durchregieren, lamentierten schon rechte Parlamentskritiker in der Weimarer Republik.

Peter Nowak
http://www.akweb.de/ak_s/ak571/08.htm
Thomas Wagner: Demokratie als Mogelpackung. Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus. Papyrossa-Verlag, Köln 2011. 142 Seiten, 11,90 EUR.

Musik: Kai Degenhardt, Näher als sie scheinen

„Auch meine fünfte Platte ist selbstverständlich wieder ein politisches Limpfe singend tagespolitische Themen erörtere», schreibt der Hamburger Liedermacher Kai Degenhardt auf den Waschzettel zu seiner kürzlich veröffentlichten CD Näher als sie scheinen.
Ein singendes Flugblatt war Kai Degenhardt genau sowie wenig wie sein im letzten Jahr verstorbener Vater, der als «Väterchen Franz» seit den 60er Jahren Maßstäbe im Bereich der deutschsprachigen Chansons gesetzt hat. Kai Degenhardt steht in dieser Tradition, und doch ist ihm das Kunststück gelungen, einen unverwechselbaren Stil zu kreieren. Es ist die Härte in Text und Musik, mit der sich der Sohn eindeutig von den Arbeiten des Vaters unterscheidet. Damit zeigt er aber, wie nah er an der Realität der heutigen Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen dran ist. Während der alte Degenhardt in seinen Chansons noch zur Feier am «Tisch unter den Pflaumenbäumen» einladen konnte, lässt Kai Degenhardt im Song «Wendehammer-Boheme» ein dickes Imbiss-Mädchen mit «Kleinkriminellen in Adidas» und «Kifferkurt mit Lederhut» ihr Bier trinken. Für Romantik ist da ebenso wenig Platz wie für kuschelige Sitzecken. Konnte der Vater mit Rudi Schulte noch das Bild eines linken Gewerkschaftsaktivisten zeichnen, der seinen Weg geht, steht sich bei Kai im Song «Vom Machen und Überlegen» «Verdi-Willi mit Trillerpfeife und Flugblatt mit Tausenden seiner Kollegen die Füße wieder platt». Verdi-Willi ist genau so ratlos wie die Jungautome «Mari mit nem Molli in der Hand». Doch Degenhardt wendet die scheinbar ausweglose Szenerie mit dem letzten Satz: «Wo kommen wir zusammen und überlegen uns noch mal».
Nein, wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie. Diese aus Wissen und Verzweiflung gewonnene Einsicht spricht auch aus den historischen Songs, mit denen Kai Degenhardt am Direktesten an Songs aus dem Repertoire seines Vaters anknüpft. Der Heizer Franz, der im Chanson «Herbst 1918» auf dem kaiserlichen Kriegsschiff das Feuer löschte und den Startschuss zur Revolution gab, erhielt schon Wochen später von kaisertreuen Freikorps einen Schuss in den Arm. «Und am Horizont drohte schon die braune Brut», heißt es kurz und prägnant am Ende. Im letzten, mehr als 18 Minuten dauernden Song werden zahlreiche 68er-Mythen kurz und prägnant dekonstruiert. «Sich immer wieder neu erfinden, wie bei Madonna, Apple oder Adidas», bringt Degenhardt eine ganze Philosophie mit einem Satz auf den Punkt. Aus dem Alltag gegriffen ist hier nicht nur eine hübsche Floskel. Die klappenden Mülltonnendeckel und das Katzengemieze stammen von Alltagsgeräuschen, die Kai Degenhardt mit einem Mp3-Player in den letzten Jahren in seiner Umgebung aufgenommen und dann am Rechner verfremdet hat. Degenhardt zeigt auch mit seiner neuesten Platte, dass man ein gnadenloser Realist sein kann und gerade deshalb den Traum von einer vernünftiger eingerichteten Welt nicht aufgeben muss.
Zu bestellen bei: Plattenbau, Hohe Weide 41, 20253 Hamburg, Tel.: 040/4220417, info@plattenbau.de, Plattenbau, 13 Euro
Tourdaten: www.plattenbau.de.

Kai Degenhardt


Peter Nowak

Lehrzeit keine Leerzeit

David Templin erinnert in einem Buch an den »Hamburger Aufstand der Stifte«
Ende der sechziger Jahre standen nicht nur die Studenten auf den Barrikaden, auch junge Auszubildende begannen, sich für ihre Interessen stark zu machen. Auch in Hamburg.

»Braucht Du einen billigen Arbeitsmann, schaff‘ Dir einen Lehrling an«, lautete einer der Slogans, mit denen sich junge Leute vor 40 Jahren gegen die Zustände in der Ausbildung wehrten. Dazu gehörte damals noch das obligatorische Zeitung holen, Fegen und Brötchen schmieren. Selbst Prügel vom Meister war keine Seltenheit.
Doch die Folgen der i Studierendenbewegung wirkten sich vor allem auf jüngere Arbeiter aus. Es entstand h in der ganzen BRD eine Lehrlingsbewegung,, die bisher in der Forschung kaum beachtet wurde. Doch kürzlich hat der an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg arbeitende Historiker David Templin unter dem Titel „Lehrzeit – keine Leerzeit“ im Dölling und Galitz Verlag ein Buch veröffentlicht, dass den Hamburger Aufstand der Stifte“, wie die Bewegung in der Presse häufig genannt wurde, untersucht.. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem Hamburger DGB und den Aktivisten der Lehrlingsbewegung nimmt in Templins Untersuchung einen großen Raum ein.
Ebenso wird an die in der Hamburger Akademie für Wirtschaft und Politik aktive gewerkschaftlichen Studentengruppe (GSG) erinnert. Die beiden Aktivisten Reinhard Crusius und Manfred Wilke, die sich selber als Linkssozialisten verstehen, haben eine wichtige Rolle beim Entstehen der Lehrlingsbewegung. Ihnen gelingt der Spagat, die Strukturen des DGB zu nutzen und trotzdem die politische Autonomie zu wahren. So wurde ein vom Hamburger DGB unterstützter Jour Fixe für eine kurze Zeit zum lebendigen Zentrum der Lehrlingsbewegung in der Hansestadt. Die Gründung dieses Gremiums war auch eine Folge von außerparlamentarischen Druck, nachdem die 1.Mai-Kundgebung des DGB 1969 massiv von Gruppen der neuen Linken, darunter vielen Lehrlingen gestört worden war. Mit dem Jour Fixe versuchte der DGB verlorenes Vertrauen der Jugend zurück zugewinnen.
Zu Konflikten kam es in dem Jour Fixe bald mit den unterschiedlichen kommunistischen Gruppen, die Anfang der 70er Jahre in die Lehrlingsbewegung intervenierte. Dabei war die DKP-nahe Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) anfangs am erfolgreichsten. Die Mitgliederzahlen stiegen zunächst und auch im DGB-Jugendapparat konnte die Organisation Posten besetzen.
Heftige Kritik an ihren Positionen kam nicht nur von den diversen maoistisch ausgerichteten Gruppierungen, sondern auch von der linkssozialistischen GSG. Wilke und Crusius warfen der SDAJ sogar vor, gemeinsam mit dem DGB-Apparat die Lehrlingsbewegung in Hamburg abgewürgt zu haben.
Diese Einschätzung teilt Templin nicht. „Mit ihrer auf Organisationshandeln fixierten These tendieren beide dazu, zu übersehen, dass der Welle des politischen Aufbegehrens von Lehrlingen, die 1969 einsetzte, seit 1971 abebbte.“
Dazu hatte die Line vieler maoistischer Gruppierungen beigetragen, dass eine eigene Lehrlingsorganisierung die Klasse spalten. Aber auch Reformen der sozialliberalen Koalition, die den Fokus auf die Ausbildung und nicht mehr auf des Bierholen legten trug zum
Abebben der Bewegung bei. Vierzig Jahre später ist es das Verdient von Templin an die fast vergessene Gesichte angeknüpft zu haben. Es ist zu hoffen, dass auch aus anderen Teilen der Republik über die Lehrlingsbewegung geforscht wird. Schließlich konnten heute Azubis davon etwas lernen. Schließlich ist der Druck auf sie im Zeiten von wachsenden Niedriglohnsektoren sogar noch. gewachsen.

Peter Nowak
https://www.neues-deutschland.de/artikel/225914.lehrzeit-keine-leerzeit.html
David Templin: „Lehrzeit – keine Leerzeit!“ « Die Hamburger Lehrlingsbewegung 1968 – 1972, Dölling und Galitz Verlag, 194 Seiten, 10.00 €, ISBN 9-783862 180189

Eine Lehre fürs prekäre Leben

Vor 40 Jahren begann der Niedergang der Lehrlingsbewegung, aus der auch Ton Steine Scherben hervorgingen. Angesichts der prekären Situation von Auszubildenden heutzutage wäre es an der Zeit für eine Wiederbelebung.

Ein Film, der kürzlich in den Kinos angelaufen ist, trägt den Titel »Die Ausbildung«. Regisseur Dirk Lütter schildert darin die Zwänge der neoliberalen Arbeits- und Bürowelt aus der Sicht ­eines Auszubildenden (Interview Jungle World 12/2012). Der Protagonist Jan, der eine Lehre in einem Callcenter absolviert, wird in einer Rezension der Taz als »Azubi am unteren Ende der Hackordnung« beschrieben. Auffallend sei die Uniformität, die im Büro herrsche. Alle tragen »dieselben korrekt gescheitelten Frisuren« und heißen »Jan, Jens oder Jenny«, bei den Prota­gonisten handele es sich um »prekär beschäftigte Klone«. Angesichts solcher Befunde stellt sich die Frage, ob sich wirklich viel verbessert hat im Vergleich zu jener Zeit, als anstelle von Azubis von Lehrlingen oder ganz altmodisch von »Stiften« die Rede war. Abgesehen davon, dass es damals undenkbar gewesen wäre, den Chef zu duzen, und die Zuständigkeit fürs Zigarettenholen noch zum Alltag von Lehrlingen gehörte.

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Zur Abschaffung der Leiharbeit

Die Berliner Journalisten Andreas Förster, Holger Marcks widmen sich in ihrem gerade im Unrast-Verlag erschienen Büchlein „Zur Abschaffung der Leiharbeit“ mit dem eigentlichen Boom-Sektor in der deutschen Wirtschaft.
Die ökonomischen Rahmenbedingungen dafür werden in mehreren Kapiteln nicht nur in Deutschland nachgezeichnet. Matthias Seiffert untersucht die Bedingungen für die Leiharbeit im EU-Raum. Bisher ist Griechenland mit 0,1 % der Leiharbeiter noch ein Schlusslicht. Das dürfte sich mit der Etablierung eines EU-Krisenprotektorats für das Land ändern.
Mehrere Kapitel widmen sich den gewerkschaftlichen Diskussionen zur Leiharbeit. So hat das von der IG-Metall initiierte Netzwerk „ZeitarbeiterInnen – ohne Organisation machtlos“ (ZOOM) die Parole “Leiharbeit fair gestalten“ durch die Forderung „Gleiche Arbeit – gleiches Geld“ ersetzt. Der Münsteraner Soziologe Torsten Bewernitz gibt einen kurzen Überblick über Widerstandsaktionen gegen die Leiharbeit in Deutschland. Er erwähnt Proteste gegen die Leiharbeitsmessen und Jobbörsen, geht auf Leiharbeitsspaziergänge ein, bei denen bekannte Firmen aufgesucht wurden und erinnert an dem Streik bei einer Leiharbeitsfirma in Frankfurt/Main im Dezember 2005. Das Büchlein gibt einen guten Überblick über die Debatte.
http://medien-kunst-industrie.bb.verdi.de/sprachrohr/#ausgaben-2012
Peter Nowak

Andreas Förster, Holger Marcks (Hg.), Knecht zweier Herren
Zur Abschaffung der Leiharbeit, Münster November 2011,
ISBN: 978-3-89771-112-9Ausstattung: br., 78 Seiten, 7.80 Euro

Die trüben Quellen des Thilo Sarrazin

Die von dem ehemaligen Berliner Senator und späteren Vorstandsmitglied der Deutschen Bank Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ ausgelöste Debatte ist mittlerweile fast 15 Monate alt. Das von dem Autorenduo Thomas Wagner und Martin Zander verfasste Büchlein ist trotzdem noch mit Gewinn zu lesen.

In 12 gut lesbaren Kapiteln spüren sie den ideologischen Quellen nach, denen sich Sarrazin bediente. Darunter befinden sich die USA-Autoren Richard Herrnstein und Charles Murray, die 1994 mit ihrem in rechtslastigen Kreisen gefeiertem Buch „Die Glockenkurve“ die These von der genetisch vererbbaren Intelligenz verbreiteten Statt Programme zur Bekämpfung von Armut forderten sie mehr staatlichen Druck auf die Armen. Damit sprechen sie auch vielen Sarrazin-Fans aus dem Herzen. Eine weitere seiner trüben Quellen ist der Humangenetiker Volkmar Weiss, der bisher als Autor verschiedener rechtslastiger Zeitungen und als von der sächsischen NPD-Fraktion als Gutachachter in die Enquetekommission zur demographischen Entwicklung Deutschlands berufene Experte seine Thesen verbreite. Mit der Sarrazin-Debatte wurden sie auch in der Mitte der Gesellschaft verbreitet. Wagner und Zander sensibilisieren ihre Leser dafür.

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Bürgerbeteiligung als Absicherung von Elitenherrschaft?

Der Soziologe Thomas Wagner setzt sich kritisch mit Diskussionen über Bürgerbeteiligung auseinander
Der Verein „Mehr Demokratie e.V.“, der sich für Volksentscheide einsetzt, erfreut sich nicht nur bei außerparlamentarischen Initiativen großer Beliebtheit. Zum zwanzigjährigen Jubiläum des Vereins gratulierten Politiker aller politischen Lager. Bürgerbeteiligung ist mittlerweile zum Modebegriff geworden, und scheinbar finden alle Bürgerbeteiligung gut. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Begriff?

Der Publizist Thomas Wagner hat sich diese Frage gestellt und kommt in dem vor Kurzem im Papyrossa-Verlag erschienenem Buch „Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus“ zu Antworten, die auch manche Freund/innen der Bürgerbeteiligung in außerparlamentarischen Initiativen nachdenklich stimmen dürften. Er weist dort nach, dass mit dem Gerede von Bürgerbeteiligung manchmal die Herrschaft der Eliten sogar stabilisiert werden soll. Was auf den ersten Blick paradox klingen mag, erklärt sich, wenn Wagner untersucht, was mit dem „Bürger“ gemeint ist, der sich da beteiligen soll.

Ausführlich setzt sich der Autor mit einer konservativen Parlaments- und Parteienkritik auseinander, die den „Bürger“ ins Feld führt, um gegen angebliche Sonderinteressen zu polemisieren. Dabei gehe es vor allem darum, den Einfluss organisierter Interessenvertretungen der Lohnabhängigen und der Erwerbslosen zu minimieren, betont Wagner. Er zeigt an verschiedenen Beispielen auf, wie in rechtskonservativen Kreisen mit dem Verweis auf die schweigende Mehrheit soziale Regelungen, Forderungen von Gewerkschaften, aber auch von sozialen Initiativen und Umweltverbänden ausgehebelt werden sollen. Dass es sich dabei nicht nur um theoretische Überlegungen handelt, zeigte das Volksbegehren zur Hamburger Schulreform im Juli 2010. Damit hatte sich ein Bündnis aus Elite und Mittelstand gegen die Kinder von einkommensschwachen Familien durchgesetzt. In einer Zeit, wo Vorstellungen einer solidarischen Gesellschaft nicht besonders weit verbreitet sind, dürften sich solche Initiativen durchaus wiederholen. Zudem stehen sie in einer Tradition, denn der Parteienstaat, der unterschiedliche Interessen austarieren muss, hindere am kraftvollen Durchregieren, lamentierten schon rechtskonservative Parlamentskritiker in der Weimarer Republik, wie Wagner nachweist.Wie sollen soziale Initiativen reagieren, wenn Bürgerbeteiligung und Parlamentskritik zum Vehikel für „plebiszitär abgesicherte Elitenherrschaft“ zu werden droht? Diese Frage kommt in Wagners Buch leider etwas kurz. Die Selbstorganisation am Arbeitsplatz, im Stadtteil und im Jobcenter wäre eine solche Alternative. Dass sie bei Wagner nur am Rande erwähnt ist, ist nicht unbedingt ein Manko des Buchs, schließlich muss sie in der konkreten Praxis hergestellt werden. Wagner zeigt aber mit seinen Buch auf, dass längst nicht alles, was unter dem Label Bürgerbeteiligung gehandelt wird, mit Selbstermächtigung und Selbstorganisation verbunden ist.

„Zwar war der Ruf nach mehr direkter Demokratie selten lauter als heute, doch nie zuvor war er auch so ambivalent. Denn während die Forderung zu Zeiten des gesellschaftlichen Aufbruchs der 60er und 70er Jahre in der BRD meist mehr oder weniger eng mit dem Ziel verknüpft war, die Macht der Konzerne zu brechen und auch die Wirtschaft zu demokratisieren, hat heute längst nicht jeder, der den Wähler als Souverän beschwört, die Machenschaften politischer Eliten an den Pranger stellt, für Volksabstimmungen und mehr direkte Demokratie wirbt, wirklich den Abbau von Herrschaft und Ungleichheit im Sinn. Selten wird die Forderung noch mit einer umfassenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verknüpft. Von einer Erweiterung des öffentlichen statt des privaten Sektors – Rätedemokratie, Arbeiterselbstverwaltung, Genossenschaften – oder selbst von betrieblicher Mitbestimmung und sozialen Sicherungssystemen, geschweige denn von demokratischer Planung des Wirtschaftslebens oder gar einer grundlegenden Veränderung der Eigentumsverhältnisse ist in den heutigen Diskussionen über mehr Bürgerbeteiligung, Volksinitiativen und Volksabstimmungen so gut wie gar nichts zu hören.“ „Wer sich die Forderung nach mehr Demokratie auf die Fahnen schreibt, kann in der Regel mit einer positiven Resonanz rechnen. Das politische Zauberwort verspricht eine größere Beteiligung der Menschen an die sie betreffenden Entscheidungen, Befreiung von Fremdbestimmung und repressiver Herrschaft. Das Engagement für direkte Demokratie steht zweifellos in einer guten Tradition. Seit den Tagen der Aufklärung zielt fortschrittliche Politik darauf, dass die Bürger selbst über ihre Angelegenheiten entscheiden. Echte Demokratie diesem Sinne verlangen heute die Revolutionäre in der arabischen Welt, die Demonstranten in Griechenland, aber auch die gegen Arbeitslosigkeit, das Finanzdiktat der EU und ihre wortbrüchige Regierung revoltierenden spanischen Bürger.“

Thomas Wagner: Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Köln 2011, Papyrossa-Verlag, 142 Seiten, 11,90 Euro, ISBN: 978-3-89438-470-8

Peter Nowak
aus Mieterecho 353, März 2012

http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2012/me-single/article/
buergerbeteiligung-als-absicherung-von-elitenherrschaft.html
Peter Nowak

Das Lied der Commune

Manfred Sohn hofft auf einen neuen Anlauf

Gewiss, doch sie kommt, die Kirschenzeit. Wenn die Nachtigall singt, die Spottdrossel singt, in das Lied der Commune«, sang der linke Barde Franz Joseph Degenhardt in den 70er Jahren. Dem damaligen mamarxistischen Gewerkschaftler Manfred Sohn scheinen die Zeilen nicht aus dem Kopf gegangen zu sein Diesen Erinnerungen ist es zu verdanken, dass auf dem Cover des kürzlich im Papyrossa-Verlag erschienenen Buches von Sohn mit dem optimistischen Titel „Der dritte Anlauf – Alle Macht den Räten“ zwei Kirschen prangen. Der niedersächsische Landesvorsitzende der Linken singt in dem Buch tatsächlich ein neues Lied der Pariser Commune, die für einen neue sozialistische Bewegung mehr als die ehemalige Sowjetunion ein Vorbild sein soll. Dabei gelingt es ihm gleich im ersten seiner neun Kapitel des einfach zu lesenden Buches eine erstaunliche Präzisierung des Kommunegedankens. Dort zieht er eine Linie von der Pariser Commune zur aktuellen Kommunalpolitik, auf die er sich als Politiker der Linken besonders konzentriert. Er beschreibt, wie im Zeichen von Schuldenbremsen und Spardiktaten die politischen Spielräume für die Kommunen immer enger werden. Güter der Daseinsvorsorge werden privatisiert, Kultureinrichtungen geschlossen. Dagegen setzt Sohn auf eine Kommune, deren Bewohner die Interessen selbstbewusst vertreten und landet wieder bei der Pariser Kommune. Im folgenden Kapitel setzt sich Sohn mit der politischen Verarbeitung der kurzen Geschichte der Pariser Kommune in der marxistischen Literatur auseinander und kommt zu dem Schluss, dass Marx und Engels der Dezentralität eine wichtige Vorbildrolle für andere sozialistische Entwicklungen zugesprochen haben, die in der Sowjetunion aber schnell in Vergessen gerieten. Über die von Karl Marx verfasste Schrift: „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ schreibt Sohn: „Alles, was im weiteren Text dieses kleinen Büchleins als dezentralisierter Sozialismus, als Stärkung der Kommune gedacht war, steht unter dem Generalvorbehalt der Verknüpfung mit Eigentumsfrage“. Die ist für ihn bis heute zentral. „Gibt die Verfassung unserer Kommunen alle Macht in die Hand und lass der Deutschen Bank und den vier großen Energiekonzernen… ihr Eigentum und die scheinbare kommunale Macht wird regelmäßig zur Lachnummer“, schreibt der Autor und dürfte bei vielen Initiativen, die mit Referenden für die Rekommunalisierung von Gütern der Daseinsvorsorge kämpfen, auf Zustimmung stoßen.

Neben dem Rätegedanken widmet sich Sohn der überwiegend von Frauen geleisteten Reproduktionsarbeit, der er eine zentrale Rolle bei einen neuen sozialistischen Anlauf zuspricht. In mehreren Kapiteln beschäftigt er sich mit Schriften Rosa Luxemburgs dazu, und geht auch auf die aktuelle Debatte in der Linkspartei ein So beschäftigt er sich kritisch-solidarisch mit der von der feministischen Sozialistin Frigga Haug in die Debatte gebrachten Modelle der Neuregelung Lebens- und Arbeitszeit. Mit seiner Verknüpfung von Dezentralisierung und Reproduktionsarbeit hat Sohn wichtige Gedanken formuliert, die auch bei sozialen Initiativen außerhalb der Linkpartei sowie bei Feministinnen auf Interesse stoßen dürften. Dem belesenen Autor gelingt es, seine aktuellen Thesen mit historischen Schriften der Arbeiterbewegung zu belegen. Allerdings überzeugen seine auch in der feministischen Debatte umstrittenen Ausflüge in die Matriarchatsforschung ebenso wenig, wie sein kurzer Bezug auf den Zinstheoretiker Silvio Gesell. Warum Sohn den erklärten Antimarxisten Gesell überhaupt erwähnt und dabei die lange Debatte über die antisemitischen Implikationen von dessen Geld- und Zinstheorie ausblendet, bleibt offen. . Trotz dieser Kritikpunkte liefert der Autor mit dem Buch ein Diskussionsangebot auch für Linke ohne Parteibuch.


Manfred Sohn: Der dritte Anlauf – Alle Macht den Räten. Papyrossa Verlag, Köln 2012, 180 Seiten, 12,90 Eur
o
https://www.neues-deutschland.de/artikel/221152.das-lied-der-commune.html
Peter Nowak

Wiederentdeckung eines Aufständischen


AUFGESCHRIEBEN Der Novemberrevolutionär Richard Müller war lange vergessen – bis ein junger Historiker seine Biografie verfasste. Jetzt wurde auch Müllers „Geschichte der Novemberrevolution“ neu aufgelegt

Dass Geschichte von den Siegern geschrieben wird, diese These lässt sich an der Rezeption der Novemberrevolution in Deutschland besonders gut nachweisen. Während der rechte Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der die Revolution nach eigenen Bekunden hasste wie die Sünde, in allen Schulbüchern steht, ist Richard Müller vergessen. Dabei gehörte der Berliner Metallarbeiter als Vorsitzender der Revolutionären Obleute 1918 zu den zentralen Protagonisten der Revolution. Für kurze Zeit war er als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten sogar nominell Staatsoberhaupt im nachrevolutionären Deutschland. Doch selbst ein ausgewiesener Kenner der ArbeiterInnenbewegung wie der Marburger Politologe Wolfgang Abendroth schrieb über Müller in den 70er Jahren: „Dann verlieren sich seine Spuren in der Geschichte.“

Der junge Berliner Historiker Ralf Hoffrogge hat sich dennoch auf die geschichtliche Spurensuche begeben und ist fündig geworden: 2008 hat er eine Biografie des vergessenen Gewerkschafters herausgegeben: „Richard Müller – der Mann hinter der Novemberrevolution“.

Mit Telefonbüchern auf dem Fußboden

Er habe sich für seine Abschlussarbeit an der Freien Universität bewusst für Müller entschieden, weil es zu ihm keinerlei Forschungsergebnisse gab, erklärt Hoffrogge. Seine Recherche erwies sich anfangs als recht mühsam: „Zeitweise habe ich auf dem Fußboden des Archivs gesessen und Telefonbücher aus den 1920ern nach dem Namen ,Müller‘ durchsucht“, beschreibt der Geschichtswissenschaftler die Mühen der Forschung. Aus Tauf- und Handelsregistereinträgen sowie Zeitungsmeldungen gelang es ihm schließlich, Müllers Biografie weitgehend zu rekonstruieren. Das Ergebnis stieß nicht nur bei HistorikerInnen, sondern auch bei Berliner GewerkschafterInnen auf Interesse. Dort interessierte man sich vor allem für Müllers Rätekonzepte und seine Ansätze einer basisorientierten Gewerkschaftspolitik. Und von dort kam auch der Anstoß, Müllers „Geschichte der Novemberrevolution“, die Mitte der 1920er Jahre zum ersten Mal erschien, im Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ neu herauszugeben. Als Müller das dreibändige Werk verfasste, spielte er in der Politik bereits keine Rolle mehr. Nachdem er – nach kurzer Mitgliedschaft – wegen eines Streits über die politische Orientierung aus der KPD ausgeschlossen wurde und der Aufbau einer neuen linken Gewerkschaft gescheitert war, hatte er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

„Die Zeitzeugenberichte Richard Müllers kamen der damaligen Realität deutlich näher als die recht einseitigen und mit Mythen, Legenden und Tabus behafteten Geschichtsbetrachtungen vieler sozialdemokratischer und kommunistischer HistorikerInnen“, begründet Verlagsmitarbeiter Jochen Gester den Reprint, von dem seit Dezember 2011 bereits mehr als 500 Exemplare verkauft worden sind.

Ralf Hoffrogge hat jetzt angeregt, eine Straße in Berlin nach Richard Müller zu benennen. Von der Politik ist der Vorschlag bisher noch nicht aufgegriffen worden. PETER NOWAK

Richard Müller: „Eine Geschichte der Novemberrevolution“. Neuausgabe der Bände „Vom Kaiserreich zur Republik“, „Die Novemberrevolution“, „Der Bürgerkrieg in Deutschland“. Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2011, 756 Seiten

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/
?ressort=bl&dig=2012%2F02%2F24%2Fa0156&cHash=08412cdb1d
Peter Nowak

Gleiche Arbeit – gleiches Geld

Ein Büchlein sammelt Argumente zur Abschaffung der Leiharbeit

Andreas Förster, / Holger Marcks (Hg.): „Knecht zweier Herren. Zur Abschaffung der Leiharbeit“, Münster November 2011, 78 Seiten, EUR 7,80, ISBN 978-3-89771-112-9

Der Trend zum Kleinbuch hält an. Dass in der Kürze manchmal die Würze liegen kann, beweisen die Berliner Journalisten Andreas Förster und, Holger Marcks mit ihrem gerade im Unrast-Verlag erschienen Büchlein: „Zur Abschaffung der Leiharbeit“ bewiesen. Damit widmen sie sich dem eigentlichen Boom-Sektor in der deutschen Wirtschaft.
In den 70er Jahren galt sdie Leiharbeit noch als Skandal, wie sich an dem Bestseller „Ganz unten“ von Günther Wallraff zeigte. Die Leiharbeitsbranche hatte damals noch Imageprobleme und kämpfte um die Begriffe. Zeitarbeit und Personalleasing sollten den Begriff der Leiharbeit ersetzen. Bei den Beschäftigten hat eine solche semantische Maskerade wenig Erfolg. Sie kennen den Inhalt des Begriffs sehr genau.
Der Boom der Leiharbeit hatte ökonomische Gründe, die Holger Marcks und Andreas Förster in ihren Beiträgen nachzeichnen. Die Hartz IV-Gesetze waren nur der letzte Baustein. Förster zeigt auf, wie seit Ende der 90er Jahre die gesetzlichen Regelungen für die Etablierung der Leiharbeit geschaffen wurde. Ziel war die Senkung der Kosten der Ware Arbeitskraft.
Matthias Seiffert untersucht in seinem Beitrag: „Titel Around the Work – die globale Ausprägung der Leiharbeit“ die Bedingungen für die Leiharbeit im EU-Raum. Bisher ist Griechenland mit 0,1 Prozent der Leiharbeiter noch ein Schlusslicht. Das dürfte sich mit der Etablierung eines EU-Krisenprotektorats für das Land ändern. Es stellt sich die Frage, ob die niedrige Zahl der Leiharbeiter in dem Land auch ein Erfolg gewerkschaftlicher Kämpfe war. In Deutschland zumindest haben die DGB-Gewerkschaften nach Meinung von Andreas Förster einen großen Fehler begangen, indem sie Tarifverträge mit Leiharbeitsfirmen schlossen. „Ohne Tarifvertrag gilt für Lohnarbeiter der einfache wie einleuchtende Grundsatz: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Nichtstun wäre hier für seriöse Gewerkschaften die Devise gewesen, denn zum Vertragsabschluss gehören immer noch zwei“, formuliert Andreas Förster eine Kritik, die zunehmend auch in den DGB-Gewerkschaften zu hören ist. So hat das von der IG-Metall initiierte Netzwerk „ZeitarbeiterInnen – ohne Organisation machtlos“ (ZOOM) die vage Parole “Leiharbeit fair gestalten“ durch die Forderung „Gleiche Arbeit – gleiches Geld“ ersetzt.
Der Münsteraner Soziologe Torsten Bewernitz gibt in seinem Beitrag „Stille Wasser – die Ansätze von Widerstand gegen die Leiharbeit“ einen kurzen Überblick über Proteste gegen die Leiharbeit in Deutschland. Er erwähnt Kundgebungen gegen die Leiharbeitsmessen und Jobbörsen, geht auf Leiharbeitsspaziergänge ein, bei denen bekannte Firmen aufgesucht wurden, und erinnert an denm Streik bei einer Leiharbeitsfirma in Frankfurt/Main im Dezember 2005. Dass auch die Kampagne „Leiharbeit abschaffen“ der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) in dem Buch erwähnt wird, muss nicht verwundernt. Schließlich sind fünf der sechs Autoren FAU-Mitglieder.


MiIt Sklaverei gleichgesetzt

Dass die Forderung nach Abschaffung der Leiharbeit keine Traumtänzerei ist, machte der Beschluss des Oberste Gerichtshof von Namibia deutlich, den Matthias Seiffert in seinen schon erwähnten kurzen Überblick über die globale Ausprägung der Leiharbeit hervorhob. gibt es dazu einen Beitrag in dem Buch? Er verbot nach anhaltenden Gewerkschaftsprotesten 2009 die Leiharbeit mit der Begründung, dass sie mit der Sklaverei gleichzusetzen und damit in dem südafrikanischen Land illegal sei. Damit schloss sich die namibische Justiz argumentiert hier genauso wie einer Bewertung der die IG-Metall, die in einer Broschüre 1994 die Leiharbeit ebenfalls und zu Recht als moderne Sklavenarbeit bezeichnete.
http://www.labournet.de/express/
Peter Nowak
aus: „express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“, 1/2012