Musik: Kai Degenhardt, Näher als sie scheinen

„Auch meine fünfte Platte ist selbstverständlich wieder ein politisches Limpfe singend tagespolitische Themen erörtere», schreibt der Hamburger Liedermacher Kai Degenhardt auf den Waschzettel zu seiner kürzlich veröffentlichten CD Näher als sie scheinen.
Ein singendes Flugblatt war Kai Degenhardt genau sowie wenig wie sein im letzten Jahr verstorbener Vater, der als «Väterchen Franz» seit den 60er Jahren Maßstäbe im Bereich der deutschsprachigen Chansons gesetzt hat. Kai Degenhardt steht in dieser Tradition, und doch ist ihm das Kunststück gelungen, einen unverwechselbaren Stil zu kreieren. Es ist die Härte in Text und Musik, mit der sich der Sohn eindeutig von den Arbeiten des Vaters unterscheidet. Damit zeigt er aber, wie nah er an der Realität der heutigen Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen dran ist. Während der alte Degenhardt in seinen Chansons noch zur Feier am «Tisch unter den Pflaumenbäumen» einladen konnte, lässt Kai Degenhardt im Song «Wendehammer-Boheme» ein dickes Imbiss-Mädchen mit «Kleinkriminellen in Adidas» und «Kifferkurt mit Lederhut» ihr Bier trinken. Für Romantik ist da ebenso wenig Platz wie für kuschelige Sitzecken. Konnte der Vater mit Rudi Schulte noch das Bild eines linken Gewerkschaftsaktivisten zeichnen, der seinen Weg geht, steht sich bei Kai im Song «Vom Machen und Überlegen» «Verdi-Willi mit Trillerpfeife und Flugblatt mit Tausenden seiner Kollegen die Füße wieder platt». Verdi-Willi ist genau so ratlos wie die Jungautome «Mari mit nem Molli in der Hand». Doch Degenhardt wendet die scheinbar ausweglose Szenerie mit dem letzten Satz: «Wo kommen wir zusammen und überlegen uns noch mal».
Nein, wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie. Diese aus Wissen und Verzweiflung gewonnene Einsicht spricht auch aus den historischen Songs, mit denen Kai Degenhardt am Direktesten an Songs aus dem Repertoire seines Vaters anknüpft. Der Heizer Franz, der im Chanson «Herbst 1918» auf dem kaiserlichen Kriegsschiff das Feuer löschte und den Startschuss zur Revolution gab, erhielt schon Wochen später von kaisertreuen Freikorps einen Schuss in den Arm. «Und am Horizont drohte schon die braune Brut», heißt es kurz und prägnant am Ende. Im letzten, mehr als 18 Minuten dauernden Song werden zahlreiche 68er-Mythen kurz und prägnant dekonstruiert. «Sich immer wieder neu erfinden, wie bei Madonna, Apple oder Adidas», bringt Degenhardt eine ganze Philosophie mit einem Satz auf den Punkt. Aus dem Alltag gegriffen ist hier nicht nur eine hübsche Floskel. Die klappenden Mülltonnendeckel und das Katzengemieze stammen von Alltagsgeräuschen, die Kai Degenhardt mit einem Mp3-Player in den letzten Jahren in seiner Umgebung aufgenommen und dann am Rechner verfremdet hat. Degenhardt zeigt auch mit seiner neuesten Platte, dass man ein gnadenloser Realist sein kann und gerade deshalb den Traum von einer vernünftiger eingerichteten Welt nicht aufgeben muss.
Zu bestellen bei: Plattenbau, Hohe Weide 41, 20253 Hamburg, Tel.: 040/4220417, info@plattenbau.de, Plattenbau, 13 Euro
Tourdaten: www.plattenbau.de.

Kai Degenhardt


Peter Nowak

So hart wie die Realität – die neue CD von Kai Degenhardt

»Auch meine fünfte Platte ist selbstverständlich wieder ein politisches Liedermacher-Album – was sonst? Allerdings nicht in dem Sinne, dass ich zur Klampfe singend tagespolitische Themen erörtere«, schreibt der Hamburger Liedermacher Kai Degenhardt auf den Waschzettel zu seiner kürzlich veröffentlichten CD »näher als sie scheinen«. Ein singendes Flugblatt war und ist Kai genau so wenig wie sein im letzten Jahr verstorbener Vater Franz Josef Degenhardt, der als »Väterchen Franz« seit den 60er Jahren Maßstäbe im Bereich der deutschsprachigen Chansons gesetzt hat.

Kai Degenhardt steht in dieser Tradition und doch ist ihm das Kunststück gelungen, einen unverwechselbaren Stil zu kreieren. Es ist die Härte in Text und Musik, mit der sich der Sohn eindeutig von den Arbeiten des Vaters unterscheidet. Damit zeigt er aber, wie nah er an der Realität der heutigen Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen dran ist.

Während der alte Degenhardt in seinen Chansons noch zur Feier am »Tisch unter den Pflaumenbäumen« einladen konnte, lässt Kai Degenhardt in »Wendehammer-Bohème« »ein dickes Imbiss-Mädchen mit »Kleinkrimiellen in Adidas« und »Kifferkurt mit Lederhut« ihr Bier trinken. Für Romantik ist da ebenso wenig Platz wie für kuschelige Sitzecken. Konnte der Vater mit Rudi Schulte noch das Bild eines linken Gewerkschaftsaktivisten zeichnen, der seinen Weg geht, steht sich bei Kai im Song »Vom Machen und Überlegen« »Verdi-Willi mit Trillerpfeife und Flugblatt mit Tausenden seiner Kollegen die Füße wieder platt«. Verdi-Willi ist genau so ratlos wie die Jungautome »Mari mit nem Molli in der Hand«. Doch Degenhardt wendet die scheinbar ausweglose Szenerie mit dem letzten Satz: »Wo kommen wir zusammen und überlegen uns noch mal?«

Nein, wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie. Diese aus Wissen und Verzweiflung gewonnene Einsicht spricht auch aus den historischen Songs, mit denen Kai Degenhardt am direktesten an Songs aus dem Repertoire seines Vaters anknüpft. Der Heizer Franz, der in dem Chanson »Herbst 1918« auf dem kaiserlichen Kriegsschiff das Feuer löschte und den Startschuss zur Revolution gab, erhielt schon Wochen später von kaisertreuen Freikorps einen Schuss in den Arm. »Und am Horizont drohte schon die braune Brut«, heißt es kurz und prägnant am Ende.

Im letzten, mehr als 18 Minuten dauerenden Song werden zahlreiche 68er-Mythen dekonstruiert. »Sich immer wieder neu erfinden, wie bei Madonna, Apple oder Adidas«, bringt Degenhardt eine ganze Philosophie mit einem Satz auf den Punkt. Aus dem Alltag gegriffen ist hier nicht nur eine hübsche Floskel. Die klappenden Mülltonnendeckel und das Katzengemieze stammen von Alltagsgeräuschen, die Kai Degenhardt mit einem Mp3-Player in den letzten Jahren in seiner Umgebung aufgenommen und dann am Rechner verfremdet hat.

Degenhardt zeigt auch mit seiner neuesten Platte, dass man ein gnadenloser Realist sein kann und gerade deshalb den Traum von einer vernünftiger eingerichteten Welt nicht aufgeben muss.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/224739.plattenbau.html

Peter Nowak

Kai Degenhardt: näher als sie scheinen (Plattenbau)