Geschichte einer tödlichen Entmietung

Vor zwei starb die Berliner Rentnerin Rosemarie F. Zwei Tage zuvor war sie aus ihrer Wohnung in Berlin-Reinickendorf zwangsgeräumt worden. Zum  zweiten Jahrestag ihres Todes hat die Sozialwissenschaftlerin Margit Englert  unter dem Titel  „Rosemarie F. Kein Skandal „ im  Verlag „Edition Assemblage“  ein Buch veröffentlicht.  Die Autorin lernte die Rentnerin   im Berliner „Bündnis Zwangsräumung verhindern!“ können, in dem sie  Unterstützung bei dem  Kampf gegen ihre Räumung suchte. Zu den Treffen brachte sie auch die Unterlagen und amtlichen Dokumente, die Grundlage des Buches geworden sind.  Darunter befinden sich viele Schreiben, die die Rentnerin an die Behörden und Wohnungseigentümerin Birgit Hartig  richtete, um ihre Räumung zu verhindern. Margit Englert geht sehr sensibel mit den persönlichen Daten der Rentnerin um. Sie hat schon im Vorwort deutlich gemacht, dass es in dem  Buch nicht um das Leben der Rentnerin geht, sondern um die Verhältnisse, die zu ihrem Tod führten. “Denn es ist klar, was Rosemarie widerfahren ist, ist kein Einzelschicksal. …. Es geht in diesem Text also nicht darum, Rosemarie als einen besonderen oder außergewöhnlichen Menschen herauszustellen“.

„Kapitalanlage in  beschleunigten B-Lage“

Im Titel wird deutlich, dass es der Autorin um die kapitalistischen Verwertungsinteressen geht, die zum Tod der Rentnerin führten. „Wenn der Tod Rosemaries zum Skandal erhoben wird, lässt es sich leicht zurücklehnen und zur Tagesordnung übergehen. Und auf der Tagesordnung steht halt, Gewinne mit Immobilien zu machen, oder sich mit gutem Einkommen in Berlin eine der freiwerdenden Wohnungen zu nehmen, oder sich vorbildlich um die eigene Altersversorgung zu kümmern, durch Investition in Immobilien“, begründet Englert ihre im Titel formulierte Kritik an einer kurzatmigen Skandalisierungspolitik. Die Rezeption des Todes der Rentnerin bestätigt sie. Nach dem Tod der Rentnerin  gab es eine kurze folgenlose Empörung. Nicht einmal ein von den Oppositionsparteien im Berliner Abgeordnetenhaus ins Gespräch gebrachtes Räumungsmoratorium für RentnerInnen und schwer kranke Menschen wurde realisiert. Die Zwangsräumungen von einkommensschwachen Menschen gehen täglich weiter.
Englert benennt die Profiteur/innen und Verlier/innen der aktuellen Berliner Wohnungspolitik. Detailliert schildert sie, wie die in der Weimarer Republik errichtete Wohnsiedlung, in der F. wohnte, in den letzten beiden Jahrzehnten zur „Kapitalanlage in beschleunigter B-Lage“ geworden ist. Die Wohnung von Rosemarie F. wurde von der Geschäftsfrau Birgit Hartig erworben, die gemeinsam mit ihren Ehemann  die  Räumung der Rentnerin vorantrieb.  Gestützt auf die Dokumente  schildert Englert, wie Jobcenter und Eigentümer die Rentnerin  um ihre Wohnung brachten. „Der (Neo)liberalismus nutzt Sozialbehörden, die immer noch vorgeben, ärmere Menschen vor dem Verlust der Wohnung schützen zu wollen, als Instrument der Entmietung“, lautet  Englerts  Resümee.  Das im Untertitel gegebene Versprechen,  „Einblicke in den sozialstaatlich-immobilienwirtschaftlichen Komplex“ zu ermöglichen, werden auf den knapp 130 Seiten gut einlöst
Auf den letzten Seite sind Adressen von Organisationen wie der Berliner MieterGemeinschaft aufgelistet, an die sich MieterInnen wenden können, die sich dem Agieren des „sozialstaatlich-immobilienwirtschaftlichen Komplex“ widersetzen wollen.
Am Freitag, den 10. April  um 19 Uhr  wurde das Buch von  Margit Englert im Cafe am Schäfersee in der Residenzstraße 43 in Berlin-Reinickendorf vorgestellt   Dort hatte das Bündnis Zwangsräumung verhindern gemeinsam mit Rosemarie  F.  noch wenige Tage vor ihren Tod eine Nachbarschaftsveranstaltung zu Verhinderung der Räumung organisiert.

Englert Margit, Rosemarie F. kein Skandal, Einblicke in den sozialstaatlich-immobilienwirtschaftlichen Komplex, April 2015, Edition Assemblage, 134 Seiten, 7.80 Euro
ISBN 978-3-942885-83-6

aus:  MieterEcho online 13.04.2015

http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/rosemarie-f.html

Peter Nowak

Wenn die Renditechancen steigen, wird schneller geräumt

Berlin: Der sozialstaatlich-immobilienwirtschaftliche Komplex und die Frage, ob Hausbesetzungen eine geeignete Aktionsform zur Schaffung von Wohnraum sind

Zwangsräumungen sind in Berlin und anderen Städten zu einem politischen Thema geworden, seit sich Mieter dagegen zu wehren begonnen haben. Dass sind längst nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen aus der linken Ecke. Senioren die in der Stillen Straße in Berlin-Pankow eine Begegnungsstätte besetzen [1], die aus finanziellen Gründen geschlossen werden soll, die Mieter der Palisadenstraß [2]e, die erfolgreich eine Mieterhöhung in ihrer Seniorenanlage verhindert haben, wurden über Berlin hinaus bekannt- Auch die 67 jährige schwer kranke Rentnerin Rosemarie F [3]., die am 11. April 2013 zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung gestorben ist, wurde bundesweit zu einen Symbol für eine unbarmherzige Wohnungspolitik.

Einblicke in den sozialstaatlich-immoblienwirtschaftlichen Komplex“

Zum zweiten Todestag hat Margit Englert in dem in der Edition Assemblage erschienenen Buch Rosemarie F. kein Skandal [4] die Umstände untersucht, die zum Tod der Rentnerin führten. Dazu wertete Englert zahlreiche Dokumente aus, die die Rentnerin dem Berliner Bündnis „Zwangsräumungen gemeinsam verhindern“ [5] überlassen hatte. Bei der Initiative suchte sie Unterstützung gegen ihre Zwangsräumung.

In dem Buch werden auch zahlreiche Briefe veröffentlicht, mit denen sich F. gegen ihre Räumung wehrte. Doch sie hatte gegen den „sozialstaatlich-immoblienwirtschaftlichen Komplex“ keine Chance, wie Englert das Konglomerat aus Eigentumswohnungsbesitzer und ihrer Lobbygruppen, Politik und eines Hilfesystem, das vor allem darauf abzielt, Zwangsräumungen möglichst geräuschlos zu bewältigen, bezeichnet. Darüber gibt sie im Buch einen guten Überblick.

Sie zitiert auch die Kommentare einiger Nachbarn in den Eigentumswohnungen des Wohnblocks, in dem F. wohnte. Die Rentnerin hätte nicht in das Haus gepasst. Schließlich bezog sie Grundsicherung, sammelte zur Aufbesserung ihrer geringen Rente Flaschen und war damit niemand, die nicht gut verwertbar. Englerts Anliegen war es, den Fall er Rentnerin nicht als Ausnahme hinzustellen, wie es viele Medien nach dem Tod der Rentnerin praktizierten. Englert erklärt gegenüber Telepolis:

Wenn der Tod Rosemaries zum Skandal erhoben wird, lässt es sich leicht zurücklehnen und zur Tagesordnung übergehen. Und auf der Tagesordnung steht halt, Gewinne mit Immobilien zu machen, oder sich mit gutem Einkommen in Berlin eine der freiwerdenden Wohnungen zu nehmen, oder sich vorbildlich um die eigene Altersversorgung zu kümmern, durch Investition in Immobilien.

Langzeitmieter sind eine Gewinnbremse

Was Englert am Beispiel von Rosemarie F. ausführte, haben Stadtforscher der Berliner Humboldtuniversität in einer noch nicht veröffentlichten Fallstudie mit dem Titel „Zwangsräumungen und Krise des Hilfesystems“ gut belegt. In der von Laura Berner, Andrej Holm und Inga Jensen verfassten Fallstudie, die Telepolis vorliegt, heißt es:

Der Berliner Wohnungsmarkt ist in den letzten Jahren durch eine fast flächendeckende Mietsteigerungsdynamik geprägt und innerhalb des S-Bahn-Ringes hat sich Gentrification zu einem Mainstream-Phänomen entwickelt. Diese Entwicklungen haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Zwangsräumungen in Berlin und die Überlastung des wohnungsbezogenen Hilfesystems. Insbesondere die Entstehung von Mietschulden, die Klagebereitschaft von Eigentümer*innen und die Unterbringungsschwierigkeiten sind eng mit Mietsteigerungen im Bestand, Ertragserwartungen von Eigentümer*innen und den Preisentwicklungen von Wohnungsangeboten verbunden.

Dort wird anschaulich beschrieben, wie die Wohnungseigentümer von einem Mieterwechsel profitieren und wie der dann auch forciert wird. Aus einer ökonomischen Perspektive verwandeln sich Bewohner, die schon sehr lange im Haus wohnen und günstige Bestandsmieten zahlen in „unrentable Mieter“. Galten Mietrückstände noch vor ein paar Jahren vor allem als ärgerlicher Einnahmeverlust, sehen viele Eigentümer in Mietrückständen inzwischen eine Chance, durch eine Räumungsklage den Mieterwechsel zu forcieren.

Diese Entwicklung haben die Stadtforscher nicht nur in einigen angesagten Szenestadtteilen sondern in ganz Berlin festgestellt. Die Zahl der Zwangsräumungen war denn auch nicht in Kreuzberg oder Neukölln sondern in dem Stadtteil Marzahn im Osten Berlins besonders hoch. Belegt wird in der Studie auch, dass Jobcenter mit ihrem Handeln die Bedingungen für Zwangsräumungen schaffen:

Jobcenter und landeseigene Wohnungsbaugesellschaften sind Teil einer staatlichen Koproduktion von Zwangsräumungen und erzwungenen Umzügen. Mit ihrer konsequenten Orientierung an Kostensenkungsverfahren und der repressiven Hartz-IV-Gesetzgebung sind die Jobcenter an der Entstehung von Mietrückständen oft beteiligt.

Ein Hilfesystem, das den Betroffenen nicht hilft

In der Studie werden auch die verschiedenen Instrumentarien untersucht, mit denen der Verlust der Wohnung von einkommensschwachen Mietern verhindern werden soll. Ihre Schlussfolgerungen sind wenig ermutigend:

Unter den aktuellen wohnungswirtschaftlichen Rahmenbedingungen erscheinen die Mietschuldenübernahme und die Unterbringung als klassische Instrumente der Sozialen Wohnhilfe völlig ungeeignet, um eine Vermeidung von Wohnungslosigkeit tatsächlich durchzusetzen.

Ausführlich wird an vielen Beispielen belegt, wie die Hilfesysteme selbst dem Zwang unterworfen sind, rentabel zu arbeiten und dadurch Ausgrenzungsmechanismen gegen einkommensschwache Mieter entwickeln.

Durch Sparzwang und fehlende Ressourcen entwickelt sich eine Logik des Hilfesystems, die die eigentliche Logik von Auffangsystemen ins Gegenteil verkehrt. Statt davon auszugehen, dass unterstützungsbedürftige Menschen grundsätzlich immer Hilfe gewährt wird, gilt die Devise: „Es ist nichts zum Verteilen da, Ausnahmen von dieser Regel sind allerdings möglich.“

Im Fazit betont das Forschertrio noch einmal, dass mit den Instrumenten des Hilfesystems Zwangsräumungen und erzwungene Umzüge nicht verhindert werden können. Organisierter Widerstand gegen Zwangsräumungen, wie er in Spanien in den letzten Jahren massenhaft praktiziert und in Deutschland in einigen Städten durchaus ein Faktor wurde, könnte die Interessen für einkommensschwacher Mieter besser vertreten.

In Berlin wurde unter dem Motto „Besetzen statt Räumen“ [6] diskutiert, ob Häuserbesetzungen nicht zur Etablierung einer Subkultur, sondern zur Schaffung von Wohnraum für von Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit bedrohten Menschen eine Aktionsform sind. Im Vorfeld des in Berlin noch immer unruhigen 1. Mai ergehen sich manche Medien in Spekulationen [7], ob diese Aktionsform an diesen Tag etwa ausprobiert werden soll.

Tatsächlich steht die Organsierung von sozialer Gegenwehr in diesem Jahr auch um den 1. Mai verstärkt im Mittelpunkt. So wird auch am Vorabend des 1. Mai nicht mehr unter dem politisch missverständlichen Motto Walpurgisnacht [8], um den Schwerpunkt deutlicher auf den Widerstand sozialen Widerstand zu legen.

Wenn selbst im Tagespiegel bestätigt [9]wird, dass die Politik an der Bereitstellung von billigem Wohnraum gescheitert ist, dürften solche Bestrebungen der außerparlamentarischen Initiativen auf Unterstützung stoßen.

http://www.heise.de/tp/news/Wenn-die-Renditechancen-steigen-wird-schneller-geraeumt-2599807.html

Peter Nowak

Links:

[1]

http://stillestrasse10bleibt.blogsport.eu/

[2]

http://palisaden-panther.blogspot.de/

[3]

http://petitionen24.de/events/gedenktag-rosemarie-fliess-protestmarsch-berlin/

[4]

http://www.edition-assemblage.de/rosemarie-f-kein-skandal/

[5]

http://zwangsraeumungverhindern.blogsport.de/

[6]

http://besetzenstattraeumen.blogsport.de/

[7]

http://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/1-mai-in-berlin-hausbesetzung-statt-steinhagel/11596958.html

[8]

http://haendewegvomwedding.blogsport.eu/

[9] http://www.tagesspiegel.de/berlin/steigende-mieten-in-berlin-politik-schei

„Unmenschlichkeit der neoliberalen Stadtentwicklung“

ZWANGSRÄUMUNG Margit Englert beschreibt in ihrem Buch das Schicksal von Rosemarie F., die aus ihrer Wohnung zwangsgeräumt wurde und danach starb

taz: Frau Englert, wo lernten Sie Rosemarie F. kennen?

Margit Englert: Ich habe in den Jahren 2012/13 einige Monate im Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ mitgearbeitet. Rosemarie ist zu einer Demonstration des Bündnisses gekommen, als sie den Brief von der Gerichtsvollzieherin bekommen hatte. Rosemarie war sehr verzweifelt und krank, am Ende ihrer Kräfte, aber sie wollte kämpfen.

Was war Ihre Motivation, zwei Jahre nach dem Tod von Rosemarie F. dieses Buch über ihren Fall zu schreiben?

Ich wollte die Unmenschlichkeit der neoliberalen Stadtentwicklung aufzeigen. Denn Rosemarie ist ja nicht die Einzige, es findet in Berlin ein Austausch eines großen Teils der Bevölkerung statt. Was das für die Menschen bedeutet, die aus ihren Wohnungen geschmissen werden, wird in der öffentlichen Diskussion weitgehend tabuisiert.

Warum wurde der Tod von Rosemarie F. nach einer Zwangsräumung kein Skandal?

Wenn so ein Fall wie Rosemaries Tod öffentlich als Skandal wahrgenommen wird, geht man in der Regel schnell wieder zur Tagesordnung über. Und auf der Tagesordnung steht halt, Gewinne mit Immobilien zu machen oder sich mit gutem Einkommen in Berlin eine der frei werdenden Wohnungen zu nehmen oder sich vorbildlich um die eigene Altersversorgung zu kümmern -durch Investition in Immobilien.

Im Untertitel werden „Einblicke in den sozialstaatlich-immobilienwirtschaftlichen Komplex“ versprochen. Was meinen Sie damit?

Mieterhöhung durch Neuvermietung ist eine der wichtigsten Renditestrategien auf dem Immobilienmarkt. Rosemarie ist zwangsgeräumt worden, weil das Grundsicherungsamt ihre Miete aus unterschiedlichen Gründen nicht überwiesen hatte. Die Räumung ermöglichte es der Vermieterin, die Wohnung von Rosemarie zu einer deutlich höheren Miete wieder zu vermieten. Sozialbehörden generieren also Gewinne für die Immobilienwirtschaft. Eine aktuelle Studie, die von StadtforscherInnen an der Humboldt-Universität erstellt wurde, kommt flächendeckend für ganz Berlin zu demselben Ergebnis.

Was kritisieren Sie an den Medienreaktionen nach dem Tod von Rosemarie F.?

Die bürgerliche Presse hat Rosemarie in vielfacher Weise diffamiert, ist über ihre persönlichen Grenzen gegangen und hat so die politisch-ökonomischen Verhältnisse und auch das Handeln der Behörden aus dem Fokus genommen. Nach einem der schlimmsten Artikel sagte sie: „Das überlebe ich nicht.“

Frau Englert, aus welchem Grund stellen Sie das Buch zwei Jahre nach dem Tod von Rosemarie F. in der Nähe ihres ehemaligen Wohnorts im Café am Schäfersee vor?

Weil Rosemarie in diesem Café gemeinsam mit ihren UnterstützerInnen aus dem Bündnis einige Tage vor ihrem Tod dort eine Nachbarschaftsversammlung abgehalten hat. Viele Menschen auch in diesem Teil Berlins stehen unter immensem Druck, weil sie ihre Mieten kaum noch bezahlen können oder schon keine eigenen Wohnungen mehr haben und die Behörden oft alles andere tun, als ihnen zu helfen, genauso wie bei Rosemarie. Ich fänd’s schön, auch mit dieser Initiative wieder praktisch-politisch zu arbeiten.

INTERVIEW: PETER NOWAK

Margit Englert: „Rosemarie F. Kein Skandal“. Edition Assemblage, 2015, 128 Seiten

http://www.taz.de/Opfer-von-Wohnungraeumungen/!157883/

Interview: Peter Nowak

Räumung ins Nichts

Auch nach dem Tod einer Rentnerin darf weiter zwangsgeräumt werden

Vor zwei Jahren starb die Berliner Rentnerin Rosemarie Fließ. Sie war zwei Tage zuvor aus ihrer Wohnung geworfen worden. Ihr Tod sorgte für Empörung, aber nur kurz. Politische Konsequenzen blieben aus. Selbst ein von den Oppositionsparteien im Berliner Abgeordnetenhaus vorgeschlagenes Räumungsmoratorium für Rentner und schwer kranke Menschen wurde nie realisiert. Die Zwangsräumungen von einkommensschwachen Menschen gehen täglich weiter. Notiz wird von ihnen nur genommen, wenn sich die Betroffenen wehren, wie es die 67-jährige Rosemarie Fließ getan hatte. Zum zweiten Jahrestag ihres Todes hat die Sozialwissenschaftlerin Margit Englert unter dem Titel »Rosemarie F. kein Skandal« ein Buch herausgebracht, das die im Untertitel versprochenen »Einblicke in den sozialstaatlich-immobilienwirtschaftlichen Komplex« überzeugend einlöst.

Englert lernte Rosemarie Fließ im Berliner Bündnis »Zwangsräumung verhindern!« kennen, wo die Rentnerin Unterstützung suchte. Zu den Treffen brachte sie die Unterlagen und amtlichen Dokumente mit, die nun Grundlage des Buches geworden sind. Sensibel geht Englert mit den persönlichen Daten um. Bereits im Vorwort macht sie deutlich, dass es in dem Buch nicht um das Leben der Rentnerin, sondern um die Verhältnisse gehen soll, die zu ihrem Tod führten. Anders als ein Großteil der Medien, die die Ursachen im Verhalten der Frau suchten, richtet Englert den Fokus auf die kapitalistischen Verwertungsbedingungen, die Wohnraum zu einer Ware machen, auf Profiteure und Verlierer. Sie beschreibt die Geschichte der Siedlung in Reinickendorf, in der Fließ gewohnt hat, und geht dabei bis in ihre Anfangsjahre in der Weimarer Republik zurück. Schon damals konnten sich die einkommensschwachen Teile der Bevölkerung die Wohnungen dort nicht leisten. Detailliert schildert die Wissenschaftlerin, wie diese Wohnanlage in den letzten beiden Jahrzehnten zur »Kapitalanlage in beschleunigter B-Lage« geworden ist. Aus Miet- wurden Eigentumswohnungen. Die Wohnung von Rosemarie Fließ wurde von der Geschäftsfrau Birgit Hartig erworben, die gemeinsam mit ihrem Ehemann jeden Kompromiss zur Abwendung der Räumung verweigerte. Englert schildert auch die fragwürdige Rolle des Jobcenters. »Der (Neo)liberalismus nutzt Sozialbehörden, die immer noch vorgeben, ärmere Menschen vor dem Verlust der Wohnung schützen zu wollen, als Instrument der Entmietung«, lautet ihr Resümee. Das harte Urteil wird auf den 130 Seiten exemplarisch belegt.

Am zweiten Todestag von Rosemarie Fließ stellt Margit Englert ihr Buch im Café am Schäfersee in Berlin-Reinickendorf vor. Dort hatte das Bündnis »Zwangsräumung verhindern!« zusammen mit Rosemarie Fließ wenige Tage vor ihrem Tod eine Nachbarschaftsveranstaltung zu Verhinderung der Räumung organisiert (10. April, 19 Uhr, Residenzstraße 43).

Margit Englert: Rosemarie F. kein Skandal, Edition Assemblage, 134 Seiten, 7,80 Euro.

Peter Nowak

KZ Sonnenburg

Das KZ und Zuchthaus Sonnenburg, im heutigen westpolnischen Slonsk gelegen, war lange Zeit vergessen. In den ersten Jahren der NS-Herrschaft war der Ort als »Folterhölle Sonnenburg« weltbekannt. Im April 1933 wurden die ersten Häftlinge in das Lager verschleppt, überwiegend Berliner Kommunist_innen. Auch die drei bekannten linken Intellektuellen Carl von Ossietzky, Erich Mühsam und Hans Litten wurden in Sonnenburg gefoltert. Über den Empfang der Gefangenen schrieb der kommunistische Widerstandskämpfer Klaas Meyer: »Es wurde mit allerhand Mordwerkzeugen geschlagen, mir lief das Blut schon durch das Gesicht. (…) Die ganze Bevölkerung war vertreten, wir wären Reichstagsbrandstifter. Eltern und Kinder schlugen nach uns und wir wurden angespuckt«. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Nazigegner_innen aus ganz Europa nach Sonnenburg verschleppt. Die Sterberate war hoch. Daniel Quaiser geht in seinen Aufsatz auf das Massaker ein, bei dem in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1945 insgesamt 819 Gefangene von der Gestapo erschossen wurden, kurz vor der Befreiung durch die Rote Armee. Kamil Majrchrzak berichtet über die juristische Aufarbeitung der Verbrechen in Polen. In der BRD hingegen wurden die für das Massaker verantwortlichen SS-Männer Heinz Richter und Wilhelm Nickel 1971 vom Kieler Landgericht freigesprochen. Mittlerweile hat die polnische Justiz die Ermittlungen wieder aufgenommen. Ein Grund mehr, sich an die Geschichte Sonnenburgs und seiner Opfer zu erinnern.

http://www.akweb.de/ak_s/ak603/15.htm

Peter Nowak

Hans Coppi und Kamil Majchrzak (Hg.): Das Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg. Metropol Verlag, Berlin 2015. 240 Seiten, 19 EUR.

Zurück in die Gegenwart

Von 1984 bis 1987 kämpften Rainer Knirsch, Hans Köbrich und Peter Vollmer gegen ihre Entlassung. Das Management des BMW-Motorradwerks in Berlin Spandau wollte die drei kämpferischen Betriebsräte loswerden, weil sie sich dem Kuschelkurs mit dem Unternehmen verweigerten. Zuvor hatte BMW die Betriebsratswahl in dem Werk massiv manipuliert und eine von ihnen gesponserte »Liste der Vernunft« installiert. Weil die drei abgewählten Betriebsräte dagegen klagten, wurden sie gekündigt. Wenn sie in einer Instanz gewannen, schoben die Manager gleich die nächste Kündigung nach. Gleichzeitig inszenierte die unternehmerfreundliche Betriebsratsgruppe Mitarbeiterversammlungen, bei denen die Entlassenen als rote Ideologen diffamiert wurden, die die Arbeitsplätze der Kollegen gefährden würden.

Drei Jahre konnten Knirsch, Köbrich und Vollmer das Werk nicht betreten, dann geschah das Unerwartete: Sie siegten vor Gericht und mussten wieder eingestellt werden. Andernfalls hätte dem BMW-Vorstandsvorsitzenden ein Zwangsgeld von 100 000 DM gedroht. Auch die manipulierte Betriebsratswahl musste wiederholt werden und die kämpferischen Betriebsräte gewannen mit großem Vorsprung. Entscheidend für den Erfolg war ein Solidaritätskomitee, das von dem Berliner Politologen Bodo Zeuner geleitet wurde. Es machte den Fall »BMW-Berlin« zu einem Thema, das die Öffentlichkeit interessierte. Spätestens nach ihrem Sieg gegen den Weltkonzern waren die drei Betriebsräte über Westberlin hinaus bekannt. Im Gegensatz zur IG Metall im Bund hielt sich die Berliner Gewerkschaftsgliederung damals mit der Unterstützung zurück. So schloss sie beispielsweise die unternehmerfreundlichen Betriebsräte nicht aus, die Unterschriften gegen die Wiedereinstellung der drei Kollegen sammelten und sogar mit Streiks drohten.

Jetzt hat der Verlag »Die Buchmacherei« diese außergewöhnliche Geschichte noch einmal dokumentiert. Die zwei von den Unterstützern einst erstellten Broschüren lesen sich dabei noch heute erstaunlich aktuell. Das Vorwort des Buches bringt auf den Punkt, warum: Die Geschichte markiere die Anfänge des »Union Busting« in Berlin, heißt es da, und sie zeige, dass und wie es möglich ist, sich dem mit Erfolg zu widersetzen.Peter Nowak

Frank Steger (Hg.): Macht und Recht im Betrieb. Der Fall BMW-Berlin, Die Buchmacherei 2014, 352 S., 14,95 Euro. Am 16.3. stellt einer der betroffenen Betriebsräte das Buch in Berlin-Kreuzberg vor

http://www.neues-deutschland.de/artikel/964653.mobbing-von-ganz-oben.html

Peter Nowak

Linkskommunismus

Der Historiker Marcel Bois hat auf knapp 600 Seiten eine umfassende Darstellung der relevanten Strömungen der kommunistischen Opposition in der Weimarer Republik vorgelegt.

Darin zeigt er, dass das Gemeinsame dieser Strömungen nicht einfach zu benennen ist. Selbst die Ablehnung der Stalinisierung kann als kleinster gemeinsamer Nenner erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre geltend gemacht werden. Erschwert wurde ein gemeinsames Vorgehen der Opposition dadurch, dass…

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Geschichte der kommunistischen Dissidenz

Kürzlich ist im Klartext-Verlag eine umfassende Darstellung der kommunistischen Opposition in der Weimarer Republik erschienen. Das Buch spart zwar die räte- und einige Teile der linkskommunistischen Dissidenz aus, bleibt aber dennoch eine guten Überblick über die Opposition in der KPD.

Kommunismus wird in der Öffentlichkeit  noch immer weitgehend  mit dem  Stalinismus gleichgesetzt. Nur wenig bekannt ist von der  vielfältigen Opposition, die es bereits in den 20er Jahren im Umfeld der KPD gegen die Politik der Stalinisierung gab.

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Rechte Sammlungsbewegung AfD

Ein jüngst erschienener Band beschreibt die Entwicklung der „Alternative für Deutschland“ und die „neokonservative Mobilmachung in Deutschland“.

Als Niederlage des rechten Parteiflügels wird der Parteitag der „Alternative  für Deutschland“ (AfD) am Wochenende in Bremen in vielen Medien kommentiert. Dieser These widerspricht der Publizist Sebastian Friedrich in seinem kürzlich im Verlag Bertz + Fischer veröffentlichten Buch.

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Keine Beerdigung

Neues vom Kommunismus? Peter Nowak stellt zwei neue Studien vor

Kommunismus wird in der Öffentlichkeit noch immer weitgehend mit Stalinismus und dessen Verbrechen gleichgesetzt. Nur wenig bekannt ist von der vielfältigen Opposi­tion, die es bereits in den 20er Jahren im Umfeld der KPD gegen die Politik der Stalinisierung gab. In den letzten Jahren haben junge HistorikerInnen begonnen, sich mit den dissidenten Strömungen der kommunistischen Geschichte zu beschäftigen. Erst nach der Öffnung der Archive in den nominalsozialistischen Ländern wurden viele Quellen zugänglich. So konnten die vergessenen Spuren einer dissidenten Geschichte des Kommunismus wieder aufgenommen werden – zwei Publikationen geben einen Eindruck von dieser verdienstvollen Forschungsarbeit.

Der Historiker Marcel Bois stellt im Klartext-Verlag auf knapp 600 Seiten relevante Strömungen der Kommunistischen Opposi­tion in der Weimarer Republik vor. Um eine erste Gesamtdarstellung der kommunistischen Opposition, wie auf der Rückseite des Buches angekündigt, handelt es sich allerdings nicht. Schließlich wird auf die räte- und linkskommunistischen Strömungen in der Kommunistischen Internationale, die bereits 1919 oder nach der Niederschlagung des Aufstands von Kronstadt mit der Politik der Komintern gebrochen haben, ebenso wenig eingegangen wie auf die bordigistische Strömung, die Mitte der 20er Jahre in Opposition zur Politik der sowjetischen Machthaber geriet. In verschiedenen Länden, auch in Deutschland, bildeten sich Gruppen, die die Kritik des italienischen KP-Vorsitzenden Amadeo Bordiga an der Entwicklung der Kommunistischen Internationale teilten und für einen strikt antiparlamentarischen Kurs eintraten. Bois erwähnt diese Strömung nur in einer Fußnote. Diese Feststellung ist wichtig, weil so verhindert wird, dass vorschnell neue Schließungen in der Forschung der dissidenten kommunistischen Strömungen erfolgen und kleinere, weniger bekannte Gruppen unerwähnt bleiben. Bois ist es allerdings nicht zum Vorwurf zu machen, dass er nicht sämtliche Facetten der kommunistischen Dissidenz berücksichtigt. Werden doch bei seiner Arbeit die großen Schwierigkeiten deutlich, das Phänomen des Linkskommunismus begrifflich zu fassen. Bois macht deutlich, dass das Gemeinsame dieser Strömung gar nicht so einfach zu benennen ist. Selbst die Ablehnung der Stalinisierung kann als kleinster gemeinsamer Nenner erst in der zweiten Hälfte der 20er Jahre geltend gemacht werden. Zuvor haben einige der späteren linkskommunistischen Akteure wie Werner Scholem in Stalin einen Bündnispartner und in Trotzki einen Exponent der Rechten in der kommunistischen Bewegung gesehen.

Zudem wurde ein gemeinsames Vorgehen der Opposition dadurch erschwert, dass einige führende Linkskommunisten wie Scholem oder Ruth Fischer die Vorzüge einer innerparteilichen Demokratie erst entdeckten, als sie in Opposition zur Parteitagsmehrheit gerieten. Als Exponenten der Parteiführung haben sie noch selber ausgiebig Gebrauch von administrativen Maßnahmen gegen vermeintliche Oppositionelle gemacht.

Bis zum Ende der Weimarer Republik spielten diese und andere Widersprüche in der linken Opposition eine wichtige Rolle und erschwerten eine Kooperation. So wollten einige Oppositionelle auf keinen Fall in eine Nähe zu Trotzki gebracht werden. Andere verweigerten Unterschriften unter Aufrufe, unter denen Ruth Fischer oder Werner Scholem standen. Das sind nur einige der von Bois detailliert beschriebenen Widersprüche, die ein gemeinsames Auftreten der kommunistischen Opposition erschwerten. Grund dafür waren neben inhaltlich-politischen Differenzen auch persönliche Animositäten.

Diese internen Probleme wurden von der KPD-Führung natürlich weidlich ausgenutzt. So wurden oppositionelle Kommunisten mit wenig innerparteilichem Rückhalt, wie die Gruppe um den besonders sektiererisch auftretenden Iwan Katz, schnell ausgeschlossen. Wesentlich bekannter war die Gruppe »Entschiedene Linke«, die maßgeblich von Karl Korsch mitbegründet wurde, dessen Texte zur marxistischen Philosophie in den 60er Jahren für die Neue Linke bedeutsam werden sollten. Sein Wirken als marxistischer Politiker nach seinem Parteiausschluss 1926 wird von Bois nachgezeichnet.

Echte Pionierarbeit leistet Bois mit seiner Darstellung der »Weddinger Opposition«, eine vor allem aus dem Arbeiterradikalismus gespeisten linken Parteiflügel, der über den Berliner Stadtteil hinaus landesweit aktiv wurde. Ihr gelang es noch bis Anfang der 30er Jahre, in der KPD aktiv zu bleiben. Die Parteiführung ging mit der gut verankerten Strömung vorsichtiger um als mit marginalen Oppositionsgruppen. Bois zeigt allerdings auch, dass vor allem in den frühen 30er Jahren manche oppositionellen Kommunisten wieder die Nähe zur KPD suchten. Die Gefahr des Nationalsozialismus ließen für manche die Differenzen in den Hintergrund treten.

Doch gerade Trotzki erregte zu dieser Zeit auch über das kommunistische Milieu hinaus Beachtung, weil er für eine Aktionseinheit von SPD und KPD eintrat und den NS viel gründlicher als die KPD-Führung analysierte. Anders als diese sah er in den verschiedenen Faschismen kein Werkzeug des Großkapitals, sondern eine eigenständige Bewegung des abstiegsbedrohten Mittelstands, die von Teilen der Eliten und der Wirtschaft allerdings für ihre Zwecke benutzt wurde. Auch mit seinen frühen Warnungen vor den Gefahren des NS für die Arbeiterbewegung und alle demokratischen Bewegungen sollte Trotzki wesentlich realitätsnäher sein als die KPD-Führung mit ihrem Zweckoptimismus, die ein Hitlerregime für eine kurze Zwischenstation auf dem Weg zur Revolution erklärte. Davon unabhängig kamen auch die als Rechtsabweichler aus der KPD ausgeschlossenen Kommunisten Heinrich Brandler und August Thalheimer zu einer ähnlich realistischen Einschätzung des NS wie Trotzki. Alte Feindschaften aus den 20er Jahren verhinderten allerdings eine Kooperation dieser unterschiedlichen kommunistischen Dissidenten. Auch hier zeigte sich wieder die Unfähigkeit selbst der schlaueren Köpfe der kommunistischen Opposition, auf der Basis eines Minimalkonsenses zu kooperieren.

Umso wichtiger waren die wenigen Menschen, die sich nicht an kleinlichen innerorganisatorischen Streitereien beteiligten, wie die Publizisten Alexandra Ramm und Franz Pfemfert. Wie Bois nachweist, haben sie einen großen Anteil an der Veröffentlichung von Texten dissidenter Kommunisten und sorgten dafür, dass der exilierte Trotzki in Deutschland seine Positionen bekannt machen konnte.

Der große Vorzug von Bois’ Arbeit besteht darin, dass er keine Heldengeschichte der linken Opposition schreibt, sondern detailliert zeigt, dass sie oft nicht weniger autoritär auf abweichende Meinungen reagierte als die stalinistische Mehrheitsströmung. Daher bleibt Bois bei der Frage vorsichtig, ob die dissidenten Kommunisten, hätten sie sich durchgesetzt, eine Alternative gewesen wären: »Möglicherweise wäre tatsächlich ein unabhängiger deutscher Kommunismus entstanden, der nicht jeden Schwenk aus Moskau mitgemacht hätte. Doch denkbar ist, dass … die Entdemokratisierung der Partei fortgesetzt worden wäre.« (S. 529) Kritisch anzumerken bleibt dagegen, dass Linkskommunisten wie Werner Scholem einen Kommunismus ohne nationale Vorzeichen anstrebten, deshalb auch gegen das Konzept vom »Sozialismus in einem Land« auftraten. Ein spezifisch deutscher Kommunismus hätte ihm ferngelegen – auch hätte eine erfolgreiche Revolution in Deutschland die weitere Entwicklung der Sowjetunion nicht unberührt gelassen.

Rollentausch – die Bremer Linksradikalen

Anders als der Spartakusbund orientierten die Bremer Linkradikalen schon 1915 auf eine eigenständige Organisierung außerhalb der SPD. Diese Strömung, die in der frühen KPD eine wichtige Rolle spielen sollte, ist heute (jenseits der Publikationen von Hans Manfred Bock) weitgehend vergessen. Einen ihrer Exponenten, den Lehrer Johann Knief, hat der Historiker Gerhard Engel in seiner im Dietz-Verlag erschienenen Biographie dem Vergessen entrissen. Hier wird uns die Gedankenwelt eines Linksradikalen vor 120 Jahren nahegebracht, und es wird der Kampf gegen die »reformorientierten« Kräfte in der Sozialdemokratie verdeutlicht, die bereits lange vor dem ersten Weltkrieg Kurs auf eine Mitgestaltung des imperialistischen Deutschlands nahmen. Die Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD 1914 ist dann nur der Schlusspunkt einer längeren Entwicklung.

Die Bremer Linksradikalen setzten sich auf dem Gründungsparteitag der KPD mit ihrer antiparlamentarischen Linie durch. Mehrheitlich stimmten die Delegierten gegen die Beteiligung an den ersten Wahlen zum Reichstag der Weimarer Republik. Zu den strikten Gegnern dieser Linie gehörten damals noch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sowie eben Johann Knief, der damit in Widerspruch zu der von ihm repräsentierten Strömung geriet.

Knief starb bereits im Frühjahr 1919 kurz nach der Niederschlagung der Bremer Räte­republik. Obwohl es nach seinem Tod in Bremen einen großen Trauermarsch von ArbeiterInnen gab, wurde er bald vergessen. Weil das Geld für die Beerdigung fehlte, stand die Urne bis 1926 im Büro der Bremer KPD. Wegen seiner schweren Erkrankung und des frühen Tods konnten die Widersprüche nicht mehr ausdiskutiert werden. Mit dem Buch erinnert Engel nicht nur an Knief, sondern an eine wichtige linke Strömung, die bald zur ersten Opposition in der frisch gegründeten KPD gehörte.

Literaturliste

  • Marcel Bois: »Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik«, Essen 2014, 613 Seiten, 39,95 Euro, ISBN 978 3-8375-1282-3
  • Gerhard Engel: »Johann Knief – ein unvollendetes Leben« (Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus, Bd. XV), Berlin 2011, 467 Seiten. 29,90 Euro, ISBN: 978-3-320-02249-5

express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit http://www.labournet.de/express/

Lucke ist Teil des rechten Hegemonieprojekts

Martin Matthias Becker: Mythos Vorbeugung

Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht.
Wien: Promedia, 2014. 224 Seiten, 17,90 Euro

Esse viel frisches Obst und Gemüse! Vermeide fetthaltige Nahrung und Süßigkeiten! Mit solchen Aufforderungen sind wir heute ständig konfrontiert. Auf dem ersten Blick scheinen diese Ratschläge sehr vernünftig. Wer wollte bestreiten, dass ein frischer Apfel bekömmlicher ist als ein überzuckerter Powerdrink? Der Medizinjournalist Martin Matthias Becker beginnt sein Buch Mythos Vorbeugung deshalb ebenfalls mit einem Ratschlag: «Lieber nicht rauchen! Oder wenigstens weniger. Steigt auf eure Fahrräder, es wird euch nicht schaden! Wahrscheinlich.»

Auf den folgenden 220 Seiten des gut lesbaren Buches begründet Becker dann kenntnisreich, dass auch eine gesunde Ernährungs- und Lebensweise keine Garantie für ein Leben ohne Krankheiten ist. Dieser Eindruck wird aber bei vielen Kampagnen für eine gesunde Lebensweise erzeugt, und das hat Konsequenzen. Wenn Krankheiten vor allem als Folge der eigenen Lebensführung und Ernährung dargestellt werden, wird Krankheit schnell zum individuellen Versagen.

Im Zeitalter leerer Kassen wird den Patienten noch vorgeworfen, die sozialen Sicherungssysteme durch ihre ungesunde Lebensweise zu belasten. Dabei zeigt Becker in seinem Buch immer wieder auf, dass Gesundheit und Krankheit durchaus eine Klassenfrage ist: «Eine herausragende Rolle für Gesundheit und Krankheit spielt die gesellschaftliche Position», schreibt er mit Verweis auf engagierte Mediziner und Sozialpolitiker wie den ehemalige Präsidenten der Berliner Ärztekammer, Ellis Huber. Der hat schon in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf den Zusammenhang von Armut und Gesundheit hingewiesen.

«Wenn Sie sich in die U1 setzen und in Richtung Krumme Lanke fahren, dann verlieren Sie an jeder Station zwei Monate Lebenserwartung», zitiert Becker Ellis Huber über einen Streifzug durch das Westberlin der frühen 80er Jahre. Zwischenzeitlich hat sich die Linienführung der U-Bahn in Berlin geändert, nicht aber das Gefälle in der Lebenserwartung zwischen bürgerlichen und proletarischen Stadtteilen. Noch deutlicher ist die Differenz bei der Lebenserwartung in London. «In der britischen Hauptstadt beträgt der Unterschied zwischen den wohlhabenden und den ärmsten Bezirken 17 Jahre», schreibt Becker.

Becker weist an vielen Einzelbeispielen nach, dass die Ungleichheit für viele gesundheitliche Probleme in der Gesellschaft verantwortlich ist. Dabei geht es nicht nur um das Erleiden von Mangelsituationen. Auch Stress und Arbeitshetze sind krankmachende Faktoren. Eine politisch gewollte Überwindung ungleicher Verhältnisse wäre demnach die beste Vorbeugung.

Auch diese Erkenntnis ist keineswegs neu, wie Becker am Beispiel des jungen Mediziners und Sozialpolitikers Rudolf Virchow zeigt. Als Teil einer Expertenkommission besuchte dieser im Frühjahr 1848 das von einer schweren Epidemie betroffene Oberschlesien und fand dort Menschen in unbeschreiblicher Armut und katastrophalen hygienischen Verhältnissen vor. Virchow merkte schnell, dass er sich mit seinen sozialen Bestrebungen in der preußischen Feudalgesellschaft viele Feinde machte, und konzentrierte sich ganz auf seine medizinische Arbeit, für die er heute bekannt ist.

Becker zeigt auf, dass gerade im Zuge der jüngsten Weltwirtschaftskrise in Ländern wie Griechenland und Spanien Krankheiten, die bisher als beherrschbar galten, wieder eine tödliche Gefahr, vor allem für arme Menschen, werden.

Beckers Buch gut lesbares und dennoch informatives Buch ist auch eine Streitschrift für eine egalitäre Gesellschaft – gegen die Privatisierungstendenzen, die auch im deutschen Gesundheitswesen unübersehbar sind.

Martin Matthias Becker: Mythos Vorbeugung

Peter Nowak

Biologische Vorratsdaten

Ein Buch klärt auf, warum DNA-Datenbanken Angst machen sollten

Ausdauernde Proteste vieler gesellschaftlicher Gruppen haben die Gefahren der Vorratsdatenspeicherung bekannt gemacht. Dabei ging es stets um die Überwachung von Telekommunikation. Unbeachtet blieb dagegen die biologische Variante der Vorratsdatensammlung, beklagen Susanne Schultz und Uta Wagenmann. Die beiden Frauen sind im genethischen Netzwerk (GeN) aktiv, das ein gut lesbares Büchlein zur Kritik an der DNA-Sammelwut herausgegeben hat. Das GeN wurde 1986 von Wissenschaftlern, Medizinern und Politikern gegründet, die sich kritisch mit der Gentechnologie auseinandersetzen. Von dieser vor allem in feministischen Zusammenhängen einst grundsätzlichen Kritik ist heute wenig geblieben. Die Erfassung der DNA-Daten wurde zum »Schmuddelkind der gegenwärtigen Überwachungsdebatte«, stellen Schultz und Wagenmann fest.

Dabei boomt die Erfassung genetischer Informationen, die aus Schuppen, Haaren oder Speichel gewonnen werden. Der Aufbau von Datenbanken mit biologischen Informationen schreitet auf globaler Ebene voran, wie der Politikwissenschaftler Eric Töpfer nachweist. Der Biometriker Uwe Wendling widmet sich in einem Beitrag den Lobbyorganisationen in der Biotechbranche. Sie versprechen maximale Sicherheit durch DNA-Analysen.

Politiker, die für eine umfassende Erfassung eintreten, begründen dies oft mit dem Schutz vor Mord und Vergewaltigung. Das Buch widerlegt diese Behauptung. Die Mehrzahl der DNA-Daten in Deutschland stammen von Verdächtigen aus dem Bereich von Kleinkriminalität wie Sachbeschädigung oder Diebstahl. Auch politische Aktivisten müssen ihre DNA regelmäßig abgeben, wie an Fallbeispielen gezeigt wird. In Zeiten von CSI und Medical Detectives ist der Glaube an die Eindeutigkeit von DNA-Aussagen immens. Zu Unrecht. Die Journalistin Heike Kleffner beschreibt, wie durch eine falsche DNA-Spur Romafamilien verdächtigt wurden, für den Mord an der Polizistin Michèlle Kiesewetter verantwortlich zu sein. Heute wissen wir, dass sie das letzte Opfer des NSU war.

Was kann man dagegen tun? Das Buch stellt einzelne Initiativen gegen die DNA-Sammlungen vor. Viel Raum nimmt ein Beratungsteil ein, der gemeinsam mit Rechtsanwälten zusammengestellt wurde und auf der GeN-Internetseite regelmäßig aktualisiert wird.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/955728.biologische-vorratsdaten.html

Peter Nowak

Genethisches Netzwerk (Hg.): Identität auf Vorrat. Zur Kritik der DNA-Sammelwut, Assoziation A, Berlin 2014, 135 Seiten, 14 Euro.

Die Schmuddelkinder der gegenwärtigen Überwachungsdebatte

Zwischen den Stühlen

Erst war er Organisationsleiter der KPD, dann folgte sein Ausschluss. Viel Wissenswertes über das Leben Werner Scholems ist nun in einer Biographie nachzulesen.

Er sitzt also, wie ein Toter im Grabe, ohne Sinn, ohne das Bewusstsein, dass sich jemand um ihn kümmert, ohne politischen Nutzen, mit dem persönlichen Gefühl, dass ihn alle Welt im Stich lässt.« Diesen pessimistischen Satz schrieb die österreichische Kommunistin Ruth Fischer am 20. Juli 1937 an Emmy Scholem. Drei Jahre später, am 17. Juli 1940, war ihr Ehemann Werner Scholem, dessen Schicksal Fischer mit diesen Sätzen beklagte, tot. Erschossen von einem SS-Aufseher im Steinbruch des KZ Buchenwald. Es war die letzte Station eines siebenjährigen Leidensweges durch zahlreiche Gefängnisse und Konzentrationslager. Werner Scholem war in der Weimarer Republik als Exponent des linken Flügels der KPD bekannt, für seine polemischen Parlamentsreden wurde er nicht nur von poli­tischen Gegnern gefürchtet.

Für die Biographie Scholems hat der Berliner Historiker Ralf Hoffrogge bisher unveröffentlichte Quellen ausgewertet, vor allem die Briefwechsel zwischen Werner, seiner Mutter und seinem Bruder Gerhard. Werner und Gerhard Scholem rebellierten zwar gemeinsam gegen den autoritären Vater, der die Söhne in ­einen kaufmännischen Beruf zwingen wollte, ihre weltanschaulichen Differenzen sollten aber bereits in früher Jugend deutlich werden. Während sich der ältere Bruder der sozialdemokratischen Bewegung zuwandte und die Geschichte des historischen Materialismus studierte, interessierte sich Gerhard für die jüdische Mystik. Wenige Jahre später veränderte er seinen Vornamen in Gershom, was auch eine Reaktion auf den deutschen Chauvinismus und Nationalismus war, mit dem die Scholems als Kinder einer assimilierten jüdischen Familie konfrontiert waren.

»Die Kombination aus Sozialkontrolle und Deutschtümelei wirkte erstickend auf den ­Heranwachsenden«, schreibt Hoffrogge über Werner Scholems Schuljahre. In seinen Jugenderinnerungen »Von Berlin nach Jerusalem« schrieb Gershom über Werners Jugend: »Mein Bruder wurde hier mit einem nicht geringen Ausmaß von religiöser Heuchelei und falschem Patriotismus bekannt, das ihn heftig abstieß.«

Werner Scholem registrierte mit wachsendem Abscheu, wie nach Beginn des Weltkriegs nicht nur die Führung der SPD, sondern auch große Teile der Parteibasis von Kriegsrausch und Hurrapatriotismus gepackt wurden. »Die Rötesten der Roten stellten sich freiwillig und ich, bisher wegen mangelndem Patriotismus angesehen, musste es erleben, dass man mich in einer Versammlung einen wahnsinnigen Fanatiker und – einen Feigling nannte«, schrieb Werner Scholem am 8. September 1914. Im Gegensatz zum Großteil seiner Genossen hatte er seine antimilitaristische Einstellung nach Kriegsausbruch nicht aufgegeben. Darin war er sich auch mit seinem jüngeren Bruder einig, der mit anderen Gymnasiasten einen Brief an die Jüdische Rundschau schrieb und gegen den deutschnationalen Kurs der jungen zionistischen Bewegung in Deutschland protestierte. Als Karl Liebknecht 1916 erstmals den Kriegskurs der SPD angriff, war Werner Scholem begeistert. Wie sein politisches Vorbild wollte auch er wieder an die antimilitaristische Tradition der frühen SPD anknüpfen. Mit dem linken Flügel der USPD ging er 1920 zur KPD über.

Hoffrogge zeigt anhand heute kaum noch bekannter historischer Ereignisse, wie die KPD in den ersten Jahren ihrer Gründung antinationale Grundsätze propagierte. So reagierte die KPD-Zeitung Rote Fahne im Mai 1921 auf antipolnische Unruhen in Oberschlesien mit dem Aufruf zum Aufstand gegen die polnische und deutsche Bourgeoisie. Die Zeitung wurde beschlagnahmt und Werner Scholem kam als presserechtlich Verantwortlicher in Untersuchungshaft, was sein Ansehen vor allem in der radikalisierten Basis der KPD erhöhte. Zusammen mit Ruth Fischer gehörte er bald zu den bekanntesten Vertretern der kommunis­tischen Linken, die ab April 1924 die Mehrheit in der Partei stellte. Er wurde Organisationsleiter der Partei und gehörte in dieser Funktion zu den zentralen Exponenten der Bolschewisierung der KPD.

Hoffrogge gelingt eine differenzierte Sichtweise auf Scholems aktive Rolle als KPD-Funktionär. So betont er, dass Bolschewisierung und Stalinisierung keineswegs identisch waren. Zudem war die Politik der Bolschewisierung kein Diktat der Komintern, sondern wurde von einem großen Teil der KPD-Basis unterstützt. Nachdem sich spätestens nach 1923 dort die Erkenntnis durchsetzte, dass die sicher geglaubte Revolution in Deutschland vertagt werden müsse, sollte so ein Parteiapparat geschaffen werden, der längerfristige Kampagnen führen konnte und sich durch interne Streitereien nicht immer wieder selbst lähmte. Dass dieser Apparat bald nur noch nach dem Prinzip Befehl und Gehorsam funktionierte und jeden Widerspruch mit Ausschluss bestrafte, mussten Scholem und viele seiner Mitstreiter vom linken Flügel der KPD bald selbst erfahren.

Der Berliner Historiker benennt auch zahlreiche politische Fehleinschätzungen Scholems. So sah er noch Mitte der zwanziger Jahre in Trotzki einen Parteirechten und in Stalin ­einen Bündnispartner. In seinen Kampf gegen jede Form des Antisemitismus allerdings blieb sich Scholem seit seiner Zeit als Jungsozialist treu. Hoffrogge beschreibt, wie Scholem bei seinen Reden als Abgeordneter zunächst im preußischen Landtag, dann im Reichstag von rechten Parteien, aber auch den Liberalen mit antisemitischen Sprüchen unterbrochen wurde und wie er reagierte. Auch mit der NS-Bewegung setzte sich Scholem bereits 1923 auseinander und war damals Mitorganisator von Antifaschismustagen der KPD. Umso unverständlicher war, dass er sich nach dem Machtantritt des NS zunächst in der Hoffnung wiegte, ihm werde nichts passieren, weil er bereits sieben Jahre aus der KPD ausgeschlossen war. Scholems Frau Emmy, die KPD-Mitglied blieb und 1933 ebenfalls verhaftet wurde, gelang nach einer befristeten Entlassung die Flucht nach Großbritannien, was ihr Werner Scholem zunächst übelnahm.

Die patriarchale Einstellung Scholems trat bereits in früheren Phasen seines Lebens zutage. Hoffrogge beschreibt, wie Scholem vergeblich versuchte, seine Frau, die seit frühester Jugend am linken Flügel der Sozialdemokratie aktiv war, in ein Dasein als Hausfrau zu pressen.

Emmy Scholem kehrte nach der Niederlage des Nationalsozialismus nach Deutschland zurück und starb 1970 in Hannover. Von ihrer linken Vergangenheit distanzierte sie sich nicht. 1968 schrieb sie einen Brief an Gershom Scholem, in dem sie sich auf die außerpar­lamentarische Opposition jener Jahre bezog: »Eine neue Jugend scheint sich zu entwickeln. Vielleicht wird sie eines Tages den Weg beschreiten, den wir gegangen sind und vielleicht werden dann unsere Enkel und Urenkel dort weiter kämpfen, wo wir geschlagen wurden.«

Ralf Hoffrogge: Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895–1940). UVK Verlagsgesellschaft. Konstanz 2014, 495 Seiten, 24,99 Euro

http://jungle-world.com/artikel/2014/48/51010.html

Peter Nowak

Nachgedruckt:

http://www.dielinke-bremen.de/politik/buecherkultur/