Räumung ins Nichts

Auch nach dem Tod einer Rentnerin darf weiter zwangsgeräumt werden

Vor zwei Jahren starb die Berliner Rentnerin Rosemarie Fließ. Sie war zwei Tage zuvor aus ihrer Wohnung geworfen worden. Ihr Tod sorgte für Empörung, aber nur kurz. Politische Konsequenzen blieben aus. Selbst ein von den Oppositionsparteien im Berliner Abgeordnetenhaus vorgeschlagenes Räumungsmoratorium für Rentner und schwer kranke Menschen wurde nie realisiert. Die Zwangsräumungen von einkommensschwachen Menschen gehen täglich weiter. Notiz wird von ihnen nur genommen, wenn sich die Betroffenen wehren, wie es die 67-jährige Rosemarie Fließ getan hatte. Zum zweiten Jahrestag ihres Todes hat die Sozialwissenschaftlerin Margit Englert unter dem Titel »Rosemarie F. kein Skandal« ein Buch herausgebracht, das die im Untertitel versprochenen »Einblicke in den sozialstaatlich-immobilienwirtschaftlichen Komplex« überzeugend einlöst.

Englert lernte Rosemarie Fließ im Berliner Bündnis »Zwangsräumung verhindern!« kennen, wo die Rentnerin Unterstützung suchte. Zu den Treffen brachte sie die Unterlagen und amtlichen Dokumente mit, die nun Grundlage des Buches geworden sind. Sensibel geht Englert mit den persönlichen Daten um. Bereits im Vorwort macht sie deutlich, dass es in dem Buch nicht um das Leben der Rentnerin, sondern um die Verhältnisse gehen soll, die zu ihrem Tod führten. Anders als ein Großteil der Medien, die die Ursachen im Verhalten der Frau suchten, richtet Englert den Fokus auf die kapitalistischen Verwertungsbedingungen, die Wohnraum zu einer Ware machen, auf Profiteure und Verlierer. Sie beschreibt die Geschichte der Siedlung in Reinickendorf, in der Fließ gewohnt hat, und geht dabei bis in ihre Anfangsjahre in der Weimarer Republik zurück. Schon damals konnten sich die einkommensschwachen Teile der Bevölkerung die Wohnungen dort nicht leisten. Detailliert schildert die Wissenschaftlerin, wie diese Wohnanlage in den letzten beiden Jahrzehnten zur »Kapitalanlage in beschleunigter B-Lage« geworden ist. Aus Miet- wurden Eigentumswohnungen. Die Wohnung von Rosemarie Fließ wurde von der Geschäftsfrau Birgit Hartig erworben, die gemeinsam mit ihrem Ehemann jeden Kompromiss zur Abwendung der Räumung verweigerte. Englert schildert auch die fragwürdige Rolle des Jobcenters. »Der (Neo)liberalismus nutzt Sozialbehörden, die immer noch vorgeben, ärmere Menschen vor dem Verlust der Wohnung schützen zu wollen, als Instrument der Entmietung«, lautet ihr Resümee. Das harte Urteil wird auf den 130 Seiten exemplarisch belegt.

Am zweiten Todestag von Rosemarie Fließ stellt Margit Englert ihr Buch im Café am Schäfersee in Berlin-Reinickendorf vor. Dort hatte das Bündnis »Zwangsräumung verhindern!« zusammen mit Rosemarie Fließ wenige Tage vor ihrem Tod eine Nachbarschaftsveranstaltung zu Verhinderung der Räumung organisiert (10. April, 19 Uhr, Residenzstraße 43).

Margit Englert: Rosemarie F. kein Skandal, Edition Assemblage, 134 Seiten, 7,80 Euro.

Peter Nowak

»Mietrebellen« im Kino

Gespräch mit Regisseur Matthias Coers

Heute um 18.30 Uhr hat im Kino Moviemento der Dokumentarfilm »Mietrebellen« Premiere, der die Berliner Mieterkämpfe der letzten beiden Jahren zeigt. Mit Regisseur Matthias Coers sprach Peter Nowak.

nd: Wie entstand das Konzept für den Film?
Coers: : Ich habe bereits seit Jahren Videoclips zu sozialpolitischen Themen gedreht. Meine Co-Regisseurin Gertrud Schulte Westenberg hatte bereits einen Film zur Hartz IV- und zur »Mietenproblematik gedreht. Wir haben uns bei der Videoarbeit kennengelernt.

Wir haben Ihr es geschafft, die Mietenrebellen vor die Kamera zu bekommen?
Anfangs gab es schon Zurückhaltung. Schließlich will niemand gerne in einer Notlage gezeigt werden, besonders, wenn er seine Wohnung verlieren soll. Doch gerade die aktiven Menschen haben uns auch vertraut und unsere positive Grundhaltung zu ihren Anliegen gespürt. So konnten wir eine Nähe herstellen, ohne die der Film nicht möglich gewesen wäre.

Der Film beginnt mit dem Tod der Rentnerin Rosemarie Fließ zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung. Hat dies die Konzeption des Films beeinflusst?
Der Tod der Rentnerin hat nicht die Grundstruktur, aber die Dramaturgie des Films verändert. Unsere Grundidee war zunächst, die unterschiedlichsten Menschen zu zeigen, die sich gegen ihre Vertreibung wehren. Dieses Konzept war durch den Tod von Rosemarie Fließ nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wir setzten die Beerdigung an den Anfang. Es ist ein extremes Ereignis. So wie die meisten Zwangsräumungen ohne öffentliche Aufmerksamkeit über die Bühne gehen, werden auch Krankheit und Tod nach dem Verlust der Wohnung in der Regel nicht wahrgenommen.

Warum sind auf dem Ankündigungsplakat einige der Mietrebellen abgebildet?
Wir wollten ihre Unterschiedlichkeit zeigen. Die migrantische Rentnerin ist ebenso betroffen wie der autonome Fahrradkurier. Damit wollten wir der Vorstellung entgegentreten, Menschen, die ihre Wohnung verlieren, kommen mit den finanziellen Realitäten nicht zu recht. In Wirklichkeit sind die ökonomischen Realitäten auf Immobilienmarkt eine Zumutung für immer größere Teile der Menschen bis hin zur Mittelschicht.

Haben Sie die Hoffnung, dass der Film etwas verändert?
Sicher wird niemand nach dem Film aus dem Kinosessel aufstehen und sagen, jetzt wehre ich mich gegen meinen Vermieter. Er ist aber ein Lehrstück. Wenn die Menschen in der Nachbarschaft erfahren, dass jemand von Mieterhöhungen betroffen ist, wissen sie durch den Film, dass es eine Alternative dazu gibt, die Verhältnisse ohnmächtig hinzunehmen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/930932.mietrebellen-im-kino.html

Interview: Peter Nowak