Kommt neue linke Hoffnung aus Großbritannien und den USA?

Flucht vor allem vor den Bomben des Regimes

Eine Befragung von Flüchtlingen durch die Organisation Adopt the Revolution und die politischen Schlüsse, die daraus zu ziehen sind

Geflüchtete sind in Deutschland in der Regel Objekt. Für die als besorgte Bürger auftretenden Gegner der Geflüchteten, die sich von Dresden bis Erfurt in den letzten Wochen wieder vermehrt auf den Straßen versammeln, ist der Flüchtling als solcher schon Gegenstand der Ressentiments.

Da werden die Smartphones ebenso angeführt, die für den gefährlichen Transit überlebensnotwenig sind, wie auch die Tatsache, dass weit mehr Männer als Frauen Asyl begehren. Obwohl sich für all die Fakten völlig logische Begründungen finden lassen, werden sie von den Flüchtlingsfeinden als zusätzliches Argument für Erregungungen und Ressentiments benutzt. Aber auch viele wohlmeinende Bürger, die in den letzten Wochen Flüchtlinge begrüßt und willkommen geheißen haben, sehen in ihnen vor allem hilfsbedürftige Menschen, die betreut werden sollen.

Dass es sich um Menschen handelt, die einen eigenen Willen und auch eigene Vorstellungen von ihrem Leben in Europa haben, wird dabei oft vergessen. Da ist es sehr erfreulich, dass am gestrigen Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Berlin die Ergebnisse der ersten systematischen Befragung von syrischen Geflüchteten [1] über die Gründe ihrer Flucht und die Perspektiven in Deutschland vorgestellt worden sind. Im Zeitraum vom 12. September bis 2. Oktober wurden von der zivilgesellschaftlichen Organisation Adopt the Revolution [2] in Kooperation mit The Syria Campaign [3] 889 Menschen in 12 Erstaufnahmelagern befragt und wurde dabei vom Wissenschaftszentrum Berlin [4] beraten.

Für ein Syrien ohne Assad

Von den Befragten gaben 92% an, vor bewaffneten Auseinandersetzungen geflohen zu sein, für die nach Ansicht von über zwei Dritteln (70%) die syrische Regierung verantwortlich ist. Weniger als halb so viele (32%) machten den ‚Islamischen Staat‘ (IS) für die Kämpfe verantwortlich. Die Freie Syrische Armee beschuldigten 18%, al-Qaida/Jabhat al-Nusra 16% und die kurdischen Kämpfer 8 Prozent.

Über die Hälfte der Befragten würde nur in ein Syrien ohne Assad zurückkehren. Nur eine kleine Minderheit (8%) möchte dauerhaft bleiben. Für 52% ist eine Rückkehrbedingung, dass Bashar al-Assad geht; deutlich mehr als dafür, dass der IS das Land verlässt (44%). Die Alternative ist offenbar Demokratie, da für 42% freie Wahlen eine Voraussetzung sind, nach Syrien zurückzukehren. Die abstraktere Bedingung, dass „der Krieg enden muss“, erhält jedoch mit 68% die höchste Zustimmungsrate.

Für die Mehrheit der Befragten ist eine Flugverbotszone das wirksamste Mittel, weitere Vertreibung zu reduzieren. Befragt nach Handlungsoptionen der EU und der internationalen Gemeinschaft, um die weitere Flucht von Menschen aus Syrien zu reduzieren, gaben 58% die Einrichtung einer Flugverbotszone an. Es folgten der Stopp von Waffenlieferungen an alle Kriegsparteien in Syrien (38%) sowie mehr humanitäre Hilfe für Syrien (24%), um die Vertreibung zu reduzieren.

Den Initiatoren ist tatsächlich hoch anzurechnen, dass sie mit der Befragung, den Vertriebenen selbst die Möglichkeit gegeben haben, „ihre Meinung zu Fluchtursachen und Handlungsoptionen für die internationale Politik zu äußern“, wie Adopt the Revolution in ihrer Pressemitteilung schreibt.

Politische Handlungsoptionen unklar

Doch welche Handlungsoptionen [5] sich daraus für die Politik ergeben, ist weiter eine offene Frage. Denn die Befragung gibt nun zunächst einmal nur ein Stimmungsbild der Befragten, das unter Umständen Rückschlüsse auf die Sichtweise der syrischen Flüchtlinge in Deutschland insgesamt geben kann. Die Stimmungslage in Syrien aber lässt sich damit wohl kaum ermitteln.

So ist es sehr wahrscheinlich, dass Menschen, die weniger oder keine Probleme mit dem Regime haben, in die von der Regierung gehaltenen Gebiete fliehen, wenn sie vom IS oder anderen islamistischen Gruppen bedroht werden. Für Oppositionelle hingegen, die sich auch ganz klar von den Islamisten abgrenzen, gibt es keine innerstaatliche Fluchtalternative. So ist es klar, dass diese am ehesten das Land verlassen – und das drückt sich auch in den Umfragen aus.

Dass die Fassbomben des Regimes, die wahllos Terror in den großen Städten verbreiten, als zentrale Fluchtursache genannt werden, ist dann auch nicht verwunderlich. Schließlich sind besonders die Gegner des Regimes diesen Bombardements schutzlos ausgeliefert, weil sie nicht in die von der Regierung gehaltenen Gebiete fliehen können.

Ihnen bleibt nur die Alternative unter dem Bombenterror auszuharren oder ins Ausland zu gehen. Dass ein Syrien ohne Assad für viele der Befragten eine Bedingung für eine Rückkehr ist, scheint auch logisch. Warum sollten die Menschen die Strapazen und Gefahren des Transits auf sich nehmen, um dann unter den gleichen schlechten Verhältnissen wieder in Syrien zu leben?

Dass eine Flugverbotszone sehr häufig als Handlungsoption auch für die EU-Staaten genannt wurde, überrascht denn auch nicht, wenn eben die Bombardierungen als Hauptfluchtgrund genannt wurden. Doch wie sie umgesetzt werden soll, bleibt trotzdem offen.

Eine Handlungsanweisung zu einem militärischen Eingriff von Nato-Staaten kann aus den Ergebnissen der Befragungen kaum herausgelesen werden. Schließlich wurden auch die Beendigung des Kriegs und der Stopp aller Waffenlieferungen häufig genannt. So könnte das eine Quintessenz der Befragung vor allem darin liegen, die Geflüchteten im Kampf um ihr Recht zu bleiben, so lange sie wollen, zu unterstützen und sie zu animieren, ihre Freunde und Bekannte, die in einer ähnlichen Lage sind wie sie, ebenfalls aufzurufen, das Land zu verlassen.

Denn das ist angesichts der in der Befragung genannten Zustände in Syrien tatsächlich für viele Menschen der sinnvollste Weg. Es ist zumindest die einzige Garantie, weder von Islamisten noch von den Repressionsorganen des Regimes verfolgt oder gar ermordet zu werden. Die Bekräftigung dieses Rechts, zu kommen und zu bleiben, sollte auch deshalb erfolgen, weil längst schon maßgebliche Politiker von Union und SPD statt von Willkommenskultur vom Ende der Belastungen reden.

http://www.heise.de/tp/news/Flucht-vor-allem-vor-den-Bomben-des-Regimes-2840360.html

Peter Nowak

Links:

[1]

https://www.adoptrevolution.org/pm_umfrage/

[2]

https://www.adoptrevolution.org/

[3]

https://thesyriacampaign.org/

[4]

https://www.wzb.eu/de

[5]

https://www.adoptrevolution.org/fluchtursachen-und-handlungsoptionen/

Was macht die Friedensbewegung, wenn Russland in Syrien mit bombt?

Am kommenden Sonntag geht ein Teil der deutschen Friedensbewegung 100 Jahre zurück in die Geschichte. Sie nehmen das Jubiläum der Zimmerwalder Konferenz, als sich vor 100 Jahren in den kleinen Schweizer Ort die versprengten Reste der europäischen Sozialdemokratie trafen, die den Kurs des Burgfriedens ablehnten, zum Anlass, um über die Probleme der heutigen Friedensbewegung zu sprechen[1].

Seit einigen Tagen ist die Situation für die abermals versprengen Reste der aktuellen Friedensbewegung noch schwerer geworden. Seit Russland genau wie die USA und Frankreich ebenfalls in Syrien Ziele bombardiert, müsste zumindest der Teil der Friedensbewegung in Argumentationsschwierigkeiten geraten, der Putin und seine Politik immer als friedlich darstellte und dagegen die kriegerische USA bzw. den US-Imperialismus stellten.

Ein Paradebeispiel war in diesen Kreisen die diplomatische Initiative Russlands, das syrische Giftgas ohne kriegerischen Einsatz zu beseitigen. So sei in letzter Minute ein schon geplantes Eingreifen der USA und anderer Natostaaten in Syrien verhindert worden, so die Sichtweise der Fraktion in der Friedensbewegung, die vielleicht etwas verkürzt als prorussisch bezeichnet werden können. Es ist tatsächlich schwer, einen Begriff für diese Strömung zu finden, die in Teilen der traditionellen Linken ebenso anzutreffen ist wie in der diffusen Mahnwachenbewegung, aber auch in offen rechten Kreisen.

Rückkehr der Geopolitik

Der Begriff der Putinversteher, der sich für diese Strömung eingebürgert hat, ist schon deshalb untauglich, weil er schon die Tatsache, dass jemand die Interessenlage und Beweggründe eines Landes verstehen will, mit einer negativen Konnotation versieht. Am ehesten könnte diese russlandfreundliche Strömung als Neuauflage einer Geopolitik[2] begreifen, die geografische Gegebenheiten zum Gegenstand der Politik machen will. Da wird zum Beispiel eine Verständigung mit Russland mit der notwendigen Kooperation der europäischen Mächte begründet. Die USA wird als nichteuropäische Macht als potentieller Aggressor betrachtet, der eine Kooperation zwischen der EU und Russland hintreiben könnte.

Auch das Konzept der Eurasischen Union, ein Bündnis zwischen europäischen und asiatischen Ländern, zu denen Russland den Schlüssel bieten soll, ist in geopolitischen Kreisen populär. Das Konzept kommt ursprünglich aus der politischen Rechten. Heute beziehen sich auch Menschen und Initiativen darauf, die sich als links verstehen. Doch mit dem emanzipatorischen Anspruch hat es auch heute nichts zu tun. Es geht um Staaten und ihre Regenten und die überhistorischen geografischen Gegebenheiten, die angeblich die Geschichte bestimmen. Kein Platz ist in einem solchen Geopolitikkonzept für die Bewohner der Länder, ihre Wünsche und ihre Kämpfe.

Es ist kein Zufall, dass anlässlich des Geburtstags von Otto von Bismarck, der sich in diesem Jahr am 1. April zum 200. Mal jährte, viel über vermeintlich löbliche Seiten des erzreaktionären Politikers sinniert wird. Dabei wird besonders betont, dass Bismarck nach zahlreichen, von ihm provozierten Kriegen einen Ausgleich mit Russland suchte, woraus Handlungsmöglichkeiten für den gegenwärtigen Ukraine-Konflikt abgeleitet werden.

Hier wird versucht, eine geopolitische Tradition zu kreieren. Auch heute wird sie hauptsächlich in rechtspopulistischen Kreisen gepflegt. So wird auf einer Konferenz des Magazins Compact der französische Geopolitiker Thierry Meyssan auftreten[3], der erst kürzlich aufrief, IS und Moslembürger gemeinsam mit Putin zu bekämpfen. Meyssan ist mit seiner Veröffentlichung zum 11. September zum Star der Verschwörungstheoretiker geworden. Ihm wird aber auch von seinen Kritikern[4] bescheinigt, dass er lange Zeit in Frankreich als Wissenschaftler der Aufklärung galt. Gerade darin aber dürfte sein Erfolg liegen.

Den Anhängern eines solchen Bündnisses geht es nicht um eine Welt ohne Krieg. Ihnen geht es um ein starkes Deutschland bzw. einer deutschbeherrschten EU-Zone, die sich im Bündnis mit Russland gute Voraussetzungen für den Kampf um Bodenschätze und Wasser erobern soll und dazu natürlich bei Bedarf auch Krieg führen können. Nur sollen es nach den Vorstellungen der Geopolitiker eben Kriege sein, die im deutschen Interesse sind.

Die Intervention Russlands in Syrien hingegen wird dann als weltweiter Beitrag im Kampf gegen den Islamismus interpretiert, wie es der russische Präsident in seiner Rede auf der UN-Vollversammlung[5] kundtat und dazu sogar Verbindungen zur Anti-Hitler-Koalition zog, um auch die Traditionslinke zufrieden zu stellen.

Vom kalten und heißen Krieg

Tatsächlich ist die syrische Intervention für die russische Regierung vor allem eine gute Gelegenheit, um der Welt und auch der Bevölkerung zu signalisieren, wir sind wieder zurück in der Weltpolitik. Russland hat keineswegs vor, nach der Pfeife und unter dem Oberbefehl der USA oder Frankreich zu handeln. Wenn nun der französische Präsident Hollande von Putin fordert, er solle an den westlichen Vorgaben richten und nur die Islamistenfraktion bombardieren, die weltweit als zum Abschuss freigegeben angesehen wird, nämlich den IS, wird damit in Moskau auf wenig Gehör stoßen.

Dort hat man vielmehr deutlich gemacht, dass es Gespräche mit Vertretern westlicher Staaten nur in technischen Fragen geben soll. Man will so vermeiden, dass man sich, wie kurzzeitig im Kosovo passiert, plötzlich bewaffnet gegenübersteht, bzw. dass man gar aufeinander schießt. Man ist also dann wieder auf der Höhe des Kalten Krieges, als es den Verantwortlichen auch darum ging zu verhindern, dass daraus ein heißer Krieg wird.

Aber schon das Vokabular war zynisch. Denn der Krieg fand in den drei Kontinenten statt. Dort starben die Menschen, dort wurden die Städte und Dörfer verwüstet, die Felder vermint und eine unbekannte Zahl von Menschen dem Tod oder der Verelendung ausgeliefert. Heiß wäre der Krieg aber nur nach dieser Definition nur dann geworden, wenn dabei auch in den Zentren, also in den USA, in Russland, Frankreich oder Deutschland, Bomben eingeschlagen hätten und Menschen ums Leben gekommen wären. So wurden die Menschen also sortiert nach Metropolenbewohnern und den anderen.

Wenn nun Russland die Ergebnisse der Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg rückgängig machen will und sich nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland als Macht, mit der man rechnen muss, präsentiert, bedeutet das für die große Mehrheit der Weltbevölkerung ein Zurück zu diesen Zuständen. Wer von den russischen Bomben getroffen wird, ist für die meisten Medien hierzulande nicht interessant. Genau so wenig wie die Opfer der anderen Mächte, die mit Bomben und Drohnen dort aktiv sind.

Nur die Initiative Adopt the revolution[6], die weiterhin beharrlich daran erinnert, dass der Aufstand in Syrien damit begann, dass sich Menschen gegen eine autoritäre Herrschaft auflehnten, bevor die völlig legitime Revolte durch Nachbarstaaten militarisiert wurde, macht sich die Mühe, Menschen aus Orten zu Wort kommen[7] zu lassen, die unter russischen Bomben[8] lagen.

Solche Initiativen stehen damit in der Tradition einer Antimilitarismusbewegung, die wie der linke Flügel der Sozialdemokratie vor 1914 die Opfer unter den Menschen aller Länder ebenso in den Mittelpunkt stellte, wie die ökonomischen und politischen Interessen der Kriegsbeteiligten aller Allianzen. Sie kamen gerade nicht auf die Idee, sich dabei auf eine Seite zu stellen. Wenn schon nicht von dem Standpunkt eines linken Antimilitarismus kritisiert[9] der Linken-Abgeordnete Stefan Liebich das russische Eingreifen in Syrien immerhin als weitere Untergrabung der Autorität der Vereinten Nationen.

Radikale Humanisten und der Krieg

Doch es sind nicht nur prorussische Geopolitiker, die die Bombe zumindest zeitweilig lieben lernen. Auch Philipp Ruch vom Kunstprojekt Zentrum für politische Schönheit[10]hat sich in einem Gespräch[11] mit dem Herausgeber des Freitag Jakob Augstein für eine militärischen Einsatz in Syrien ausgesprochen, natürlich nur zur Verteidigung der Menschen und ihrer Rechte.

Dass dieses Argument nicht nur von der rot-grünen Bundesregierung, sondern auch der Nato schon längst entdeckt wurde, um militärische Interventionen besser vermitteln zu können, scheint dem selbsternannten radikalen Humanisten Ruch entgangen zu sein. Es fällt ihm auch gar nicht auf, wie stark er die Ursachen des Syrienkonflikts vereinfachen muss, um seine Forderung nach einem Militäreinsatz gegen Assad zu legitimieren. Während es für die prorussischen Geopolitiker nur die Islamisten und ihre vermeintlichen oder tatsächlichen Unterstützer als Kriegstreiber gibt und Assad als legitime Regierung gilt, wird er für Ruch zum Betreiber einer „genozidalen Kriegsführung“ und die Islamisten und ihre Förderer kommen gar nicht vor.

So müssen alle, die sich für Kriege aussprechen, immer zuerst die Realität so zurechtbiegen, damit dann das Feindbild auch stimmt. In der Realität stirbt aber nicht die Wahrheit, wie ein gerne verwendetes Bonmot sagt. Es sind reale Menschen, die sterben – und je mehr Kräfte beim Bomben mitmachen, desto größer wird ihre Zahl.

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.kriegsberichterstattung.com/id/4706/100-Jahre-Zimmerwalder-Konferenz-Imperialismus-heute–Differenzen-verstehen–Spaltungen-ueberwinden/

[2]

http://www.spektrum.de/lexikon/geographie/geopolitik/2976

[3]

http://juergenelsaesser.wordpress.com/2015/09/29/gemeinsam-mit-russland-is-und-muslimbruederschaft-bekaempfen/).

[4]

http://jungle-world.com/artikel/2002/15/24145.html

[5]

http://www.kremlin.ru/events/president/news/50385

[6]

https://www.adoptrevolution.org

[7]

http://www.adoptrevolution.org/fakten-talbiseh/

[8]

https://www.adoptrevolution.org/weitere-angriffe-des-russischen-militaers-interview-mit-aktivisten-aus-kafranbel/

[9]

http://www.stefan-liebich.de/de/article/4541.auch-russland-untergr%C3%A4bt-autorit%C3%A4t-der-uno.html

[10]

http://www.politicalbeauty.de/

[11]

https://digital.freitag.de/#/artikel/die-zugbruecke-geht-schon-wieder-hoch

[12]

http://www.heise.de/tp/ebook/ebook_21.html

Das deutsche Lagerdenken und der Umgang mit Migranten

Debatte im Berliner taz-Cafe: Neutraler Journalist oder auch Helfer?

Sind Journalisten nur „dabei“, oder schon „mittendrin“, wenn sie Freundschaften schließen, selbst anpacken und helfen?  Dürfen sie  das als „neutrale Berichterstatter“ überhaupt? Diesen Fragen widmete sich am 23. September eine Diskussionsveranstaltung von Netzwerk Recherche (netzwerkrecherche.org/termine/stammtische/berlin/)  und der taz im vollbesetzten Berliner taz-Cafe.

„Sie sind also Journalist und Aktivist in einer Person“, bekam der Tagesspiegel-Redakteur  Matthias Meisner von einem Vertreter der sächsischen Landesregierung zu hören. Er hatte auf dem Weg zu einem Pressetermin eine Kleiderspende für Geflüchtete bei einer zivilgesellschaftlichen Einrichtung abgegeben. Auch der taz-Redakteur Martin Kaul wurde von einem Redaktionskollegen gefragt, wie er es mit seiner journalistischen Objektivität vereinbaren könne, wenn er während seiner Reportage-Tätigkeit am ungarischen Keleti-Bahnhof Anfang September den dort gestrandeten Flüchtlingen Wasser und Lebensmittel besorge.

Neben Meisner und Kaul waren der Fotograf Björn Kietzmann und die NDR-Journalistin Alena Jabarine eingeladen. Sie hatte Anfang September Undercover als Flüchtlingsfrau verkleidet in einem Erstaufnahmelager in Hamburg mit versteckter Kamera gefilmt. Kietzmann hat in den letzten Wochen Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos mit der Kamera begleitet und ihre Route durch die Balkanländer bis nach Budapest dokumentarisch festgehalten. Er sei bei seiner Arbeit als Fotograf schon öfter in Krisengebieten gewesen. Daher habe es ihn überrascht,  wie stark ihn die Notsituation der Geflüchteten in Ungarn psychisch mitgenommen hat, betonte Kietzmann. Martin Kaul hatte bereits in einem taz-Beitrag geschrieben, wie ihn die Zustände um den Keleti-Bahnhof belasteten. Solche Zustände habe er in einem europäischen Land nicht für möglich gehalten: Er habe durch eine Unterführung einen mitteleuropäischen Bahnhof verlassen und sei in ein Notstandsgebiet eingetreten. Ursprünglich hatte Kaul einen mehrstündigen Kurztrip in Budapest geplant. Er wollte Geflüchtete in einem Zug aus Budapest Richtung  Deutschland begleiten. Erst vor Ort entschied er sich für einen längeren Aufenthalt.

Auch Alena Jabarine hatte ihren sechstätigen Aufenthalt in der Hamburger Flüchtlingsunterkunft auch sehr kurzfristig geplant. Ihr größtes Problem war am Ende, den neuen Bekannten, die ihr dort mit Rat und Tat als vermeintlich allein reisende Flüchtlingsfrau geholfen hatten, ihre Rolle als Journalistin zu offenbaren. Am Anfang seien manche schockiert gewesen. Am Ende überwog aber die Dankbarkeit, dass sie die Zustände in der Unterkunft einer größeren Öffentlichkeit bekannt macht. Die Veranstaltung machte einmal mehr ein Grundproblem deutlich, mit dem vor allem freie Medienarbeiter immer wieder konfrontiert sind. Von ihnen wird verlangt, sich schnell in neue Themen einzuarbeiten. Aber so werden sie kaum vorbereitet auf Notstandssituationen wie in Keleti.

„Ich bleibe auch in meiner Rolle als Journalist Mensch“, hatte  Kaul dem Kollegen geantwortet, der fragte, ob er als  Wasser- und Essensspender noch objektiv sein kann. Bei der Diskussion im taz-Cafe gab es in dieser Frage keine Kontroversen. Dass ein solches humanitäres Verständnis nicht alle Medienvertreter teilen, wurde Anfang September deutlich. Eine ungarische Kamerafrau wurde dabei gefilmt, wie sie einem syrischen Mann mit seinem Kind im Arm beim Grenzübertritt ein Bein stellte und ihn so zum Sturz brachte.

https://mmm.verdi.de/aktuell-notiert/2015/debatte-im-berliner-taz-cafe-neutraler-journalist-oder-auch-helfer

Peter Nowak

Grenzschützer unter sich

Nach dem Syriza-Wahlsieg: Wie geht es mit der Austeritätspolitik weiter?

Sind die USA Schuld an der Flüchtlingskrise?

Italien weiter Torwächter von Kerneuropa

Peter Nowak

Links:

[1]

https://www.facebook.com/RassismusToetetGoe/posts/333084976806088?stream_ref=5

[2]

http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/sind_abschiebungen_nach_italien_menschenrechtswidrig/

[3]

http://proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2014/BVerfG_Beschluss_vom_17_09_2014_Az_2_BvR_939_14.pdf

[4]

http://proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2014/BVerfG_Beschluss_vom_17_09_2014_Az_2_BvR_1795_14.pdf

[5]

http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-vor-libyen-italien-meldet-rettung-von-fast-3000-menschen-a-1041138.html

[6]

http://www.heise.de/tp/news/Ab-ins-Auffanglager-2805078.html

[7]

http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/grenzkontrollen-am-brenner-italien-will-fluechtlinge-zum-zwischenstopp-in-suedtirol-auffordern-13782346.html

[8]

http://www.leganord.org/

Ab ins Auffanglager

Kann es einen Weg jenseits von Euro und EU geben?

Roma haben Anspruch auf eine Notunterkunft

Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entscheidet zugunsten betroffener Familie aus Rumänien

Eine Familie landete aus dem Skandalhaus »Grunewaldstraße 87« in Schöneberg zwangsweise auf der Straße. In solchen Fällen muss der Bezirk eine Unterbringung organisieren, entschied ein Gericht.

Rumänische Staatsbürger, die in Berlin leben, haben Anspruch auf eine Notunterkunft. Mit diesem vor wenigen Tagen getroffenen Beschluss verpflichtet der 1. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg den Bezirk Tempelhof-Schöneberg, eine rumänische Frau und ihre beiden Kleinkinder nach dem Allgemeinen Gesetz zum Schutz der Sicherheit und Ordnung (ASOG) in einer Notunterkunft unterzubringen.

Die junge Mutter hat vor Gericht eidesstaatlich versichert, mit ihren beiden Kindern seit Ende Juli 2015 obdachlos gewesen zu sein und in einem Park übernachtet zu haben. Da ihre Kinder bereits erkältet seien, sei sie um ihre Gesundheit besorgt, benannte die Frau den Grund für die Klage.

Zuvor hat die Mutter mit den beiden Kindern in der Grunewaldstraße 87 in Schöneberg gelebt. Das Haus war in die Schlagzeilen geraten, nachdem bekannt geworden war, dass der Eigentümer die Zimmer teuer vermietet und die Bewohner schikaniert und bedroht (»nd« berichtete). Vor Gericht gab die Klägerin an, dass der Vermieter die Eingangstür zugenagelt und ihr mit körperlicher Gewalt den Zugang verwehrt habe, so dass ihr ein weiterer Aufenthalt in dem Haus nicht möglich gewesen sei. Trotzdem hatte die Abteilung Gesundheit, Soziales und Stadtentwicklung des Bezirks Tempelhof-Schöneberg noch Ende Juli die Unterbringung der Frau mit ihren beiden Kindern in einer Notunterkunft abgelehnt. »Derzeit erhalten Sie keine ausreichenden Leistungen zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes, mithin auch nicht zur Zahlung etwaiger Kosten einer Notunterbringung«, heißt es in dem »nd« vorliegenden Ablehnungsbescheid der Behörde.

Dort wurde der Frau die Übernahme der Rückreisekosten nach Rumänien in Aussicht gestellt. »Sie erhielten mithin die Möglichkeit, ihre Obdachlosigkeit zu beenden«, heißt es. Das Oberverwaltungsgericht wies diese Begründung zurück, weil sich die Antragstellerin mit ihren Kindern als Unionsbürger rumänischer Staatsangehörigkeit rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. »Daher spricht derzeit nichts dafür, dass die Antragssteller als Unionsbürger trotz ihres rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet auf die Möglichkeit einer Rückkehr in das Heimatland verwiesen werden könnten, um die Gefahr der Obdachlosigkeit abzuwenden«, heißt es in der Begründung des Oberverwaltungsgerichts.

Die Romaselbsthilfeorganisation Amaro Foro begrüßt die Entscheidung. »Wir haben für die Familien mit schlechter SGB-II-Prognose die Unterbringung nach dem ASOG vom Bezirk gefordert«, erklärt die Amaro Foro-Mitarbeiterin Andrea Wierich. In einem offenen Brief an die Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg, Bürgermeisterin Angelika Schöttler (SPD) war diese Forderung unter anderem vom Berliner Bündnis gegen Zwangsräumungen und Antirassismusgruppen unterstützt worden. Der juristische Erfolg könnte weitere ehemalige Bewohner der Grunewaldstraße 87 nun ebenfalls zum Einklagen von Notunterkünften ermutigen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/982820.roma-haben-anspruch-auf-eine-notunterkunft.html

Peter Nowak

Grenzenloser Streik

Auch am Amazon-Standort im polnischen Poznan wurde gestreikt.

Transparente hingen in der letzten Junihälfte rund um das Amazon-Werk im polnischen Poznań.»Wir unterstützen die Streiks bei Amazon in Deutschland«, war auf den Bannern zu lesen.  Es blieb nicht bei Bekenntnissen. Die Nachtschicht bei Amazon in Poznań solidarisierte sich Vom 24. auf den 25. Juni  solidarisierte sich die Nachtscickt durch demonstratives Bummelstreiken mit dem Arbeitskampf bei Amazon-Deutschland. Andere Beschäftigte stellten kurzfristig Urlaubsanträge, um keine Streikbrecher_innen  zu werden. Tage vorher hatten Mitglieder der anarchosyndikalistischen Inicjatywa Pracownicza (IP) in dem Werk Flugblätter über den Verdi-Streik in Deutschland verteilt. Als Dezember 2014 die Werke in Poznań und Wrocław eröffent wurden,  erklärte der Logistikchef von Amazon Europe, Tim Collins, dass die polnische Dependance für pünktliche Lieferungen an Amazon-Kunden sorgen werde, auch wenn Verdi in Deutschland zum Arbeitskampf aufrufe  „Amazon-Pakete kommen jetzt aus Polen“, titelte das Handelsblatt am 15. Dezember 2014.  Damals  brachten an verschiedenen Amazon-Standorten in Deutschland   Beschäftigte  das Weihnachtsgeschäft des Online-Magazins  durch Streiks ins Stocken.    Anfang Juli 2015 musste denn auch das Handelsblatt melden, dass die Beschäftigten bei Amazon-Poznan ebenfalls für höhere Löhne  und der Angleichung von Löhnen und  Arbeitsbedingungen  an die Verträge in anderen europäischen Ländern kämpfen. In einer Reportage für die Welt vom 18.7. wurde gar ein besonders negatives Bild von den Arbeitsbedingungen bei Amazon-Poznan gezeichnet:„13 Zloty pro Stunde verdienen die Arbeiter: drei Euro. Stühle gibt es nicht, dafür unbezahlte Überstunden. In Polen bekommt Amazon jetzt Ärger mit staatlichen Prüfern – und den eigenen Angestellten.“ Damit soll suggeriert werden, dass es die besonders schlechten Arbeitsbedingungen in Poznan sind, die zu der Kampfbereitschaft führten. Damit soll die transnationale Dimension des Arbeitskampfs ausgeblendet werden. Auffällig ist auch, dass die Gewerkschaft IP, die die Kämpfe bei Amazon-Poznan führt, in dem  Welt-Artikel  nicht erwähnt wird. Damit bleibt das Blatt aus dem Hause Springer seiner Linie treu, linke Basisgewerkschaften entweder zu verschweigen oder  wie die Freie Arbeiter_innen Union  (FAU) als linksextremistisch zu diffamieren. Mittlerweile hat das Amazon-Management eine Lohnerhöhung für die ca. 2000 Beschäftigten von Amazon-Poznan  zugestimmt. Für die IP ist dieser erste Erfolg  ein Ergebnis der Kampfbereitschaft der Beschäftigten und kein Grund,  die Auseinandersetzungen zu beenden oder die transnationale  Ebene zu vernachlässigen.
Mitte Mai organisierte die Gewerkschaft unter der Parole »My Prekariat« (Wir Prekären) eine erste Warschauer Mayday-Parade mit knapp 350 Teilnehmer_innen. Neben Beschäftigten von Universitäten, Bauarbeiter_innen, Theaterleuten und Erzieher_innen  beteiligten sich auch Arbeiter_innen  von Amazon aus  Polen und Deutschland an der Aktion. Vom 2. bis zum 4. Oktober 2015  wird  unter dem Motto „Dem transnationalen Streik entgegen“   zu einer Tagung  nach Poznan eingeladen.  In Arbeitsgruppen soll erörtert werden, wie man sich kollektiv gegen die Fragmentierung und Individualisierung der Arbeit wehrt. Es geht um die Vernetzung fester und befristeter Angestellter und die Frage, wie die kapitalistische Ausbeutung länderübergreifend angegriffen werden kann. „Wir treffen uns in Poznan, um die Beteiligung aus den osteuropäischen Ländern zu erhöhen, denn diese stehen im Mittelpunkt des heutigen Ausbeutungsregimes. Ziel ist es auch, den Austausch zwischen Arbeits- und sozialen Kämpfen zu vertiefen, über bestehende Grenzen und Regionen hinweg“, wird die Ortswahl begründet Die  polnischen Kolleg_innen haben schon  in den letzten Monaten deutlich  gemacht haben, dass es ihnen um die Mobilisierung der Basis und nicht um einen Austausch unter Gewerkschaftsfunktionär_innen geht.  Auch die Solidarisierung mit den Amazon-Streiks in Deutschland ging von der Belegschaft aus.  Eine IP-Aktivistin erklärte  in einem Interview mit der jungen Welt, wie es zu der Aktion kam, als die Geschäftsleitung von Amazon von den Beschäftigten in Poznan angesichts des Streiks in Deutschland Mehrarbeit verlangt hätten:
„Wir sollten also Streikbrecherarbeit machen. Das machten wir den Kollegen auf Flugblättern deutlich. Wir waren auch mit Streik-T-Shirts im Betrieb und machten den Arbeitskampf in Deutschland zum Gesprächsthema. In dieser Situation ist ein sogenannter wilder Streik ausgebrochen – den haben nicht wir organisiert, was wir als Gewerkschaft auch gar nicht dürfen. Es war eine spontane Aktion aus Wut über die angeordneten Überstunden, während die deutschen Kollegen im Ausstand waren. Sie zeugte von der großen Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen bei Amazon in Polen. Und der Gedanke der Solidarität war ganz wichtig, denn als früher Überstunden angeordnet wurden, hat es keinen derartigen Protest gegeben“.
Die Pressesprecherin des Verdi-Bundesvorstandes Eva Völpel erklärte, dass  ihre Gewerkschaft bisher nicht mit der IP  sondern mit der sozialpartnerschaftlich ausgerichteten polnischen   Gewerkschaft Solidarnosc kooperierte. Die Kooperation mit der IP wurde bisher vor allem von der außerbetrieblichen Amazon-Solidarität vorangetrieben.
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Transnationale Streikkonferenz in Poznań

Unter dem Motto „Dem transnationalen Streik entgegen“ wird zu einer Konferenz aufgerufen, die vom2. Oktober bis 4. Oktober stattfindet. Vor allem prekär Beschäftigte und prekär Lebende sowie Aktivist_innen sind aufgerufen, ins polnische Poznań zu kommen, um gemeinsam über Perspektiven nachzudenken und Handlungsoptionen zu entwickeln. Angesichts der „neuen Realitäten in Europa“ müsse sich auch gegen die Austerität und ihre Auswüchse gerichtet werden, heißt es im Aufruf. Die Zusammenkunft will einen Prozess zur Bewältigung von Hierarchien unter, zwischen und innerhalb Europas     und eine Sortierung in Festangestellte, Zeitarbeiter_innen und Erwerbslose, Migrant_innen und Einheimische sowie zwischen formellem und informellem Sektor weiter anstoßen. Grundlegende Streitfragen stehen auf der Agenda für das Wochenende. So wird besprochen, weshalb  sich die transnationalen Fabrikations- und Versorgungsketten der Produktion verändert haben, wie Grenzen überwunden werden können oder warum traditionelle Formen der Arbeitskämpfe und Streiks überdacht werden sollten. Zugleich sind die  Rolle von Arbeitsmigrant_innen und Mobilität, die sozialen Bedingungen der Ausbeutung sowie neue Formen kollektiver, lokaler Organisierung Themen der geplanten Arbeitsgruppen.  Ziel der in englischer Sprache stattfindenen Konferenz ist es, Taktiken und Forderungen zu entwickeln, die sich als Werkzeuge für transnationale Organisierung und Kommunikation eignen.

ak 607 vom 18.8.2015

https://www.akweb.de/

Peter Nowak

Pegida regiert in Europa schon mit

Was in Deutschland bisher vor allem auf rechtspopulistischen Webseiten oder Pegida-Aufmärschen zur Abschreckung von Geflüchteten diskutiert wird, ist in manchen europäischen Ländern Regierungspolitik

Das Niemandsland kommt nach Europa zurück. Dabei handelt es sich um ein Stück zwischen den Grenzen. Das kann einen anarchistischen Zug bekommen, wie am Norbert-Kubat-Dreieck[1], wo Autonome 1988 einen zeitweilig weder von Ost- noch von Westberlin kontrollierten Zipfel für eine Besetzung nutzten.

Ein Niemandsland kann aber auch zu einem Ort der Ausgrenzung und Abschiebung werden. 1938 schob Nazideutschland Tausende aus Osteuropa nach Deutschland migrierte Jüdinnen und Juden Richtung Polen ab. Weil die polnischen Grenzen versperrt wurden, mussten sie unter erbärmlichen Umständen im Niemandsland zwischen den beiden Ländern ausharren. Unter den so Exterritorialisierten waren auch die Eltern jenes Herschel Grünspan, der als Protest gegen deren unmenschliche Behandlung ein Attentat auf den deutschen Gesandten in Paris, Ernst vom Rath, verübte, was die NS-Führung als Vorwand für die Reichspogromnacht am 9. November 1938 nutzte.

Wer gedacht hat, solche exterritorialen Zonen gehörten zumindest in Europa endgültig der Vergangenheit an, wurde in den letzten Wochen eines Schlechteren belehrt. So mussten in der vergangenen Woche tagelang mehr als tausend Geflüchtete im Niemandsland zwischen Griechenland und Mazedonien ausharren. Die Polizei setzte Blendgranaten und Tränengas ein. Schließlich konnte sie nicht verhindern, dass die Menschen die Absperrungen durchbrachen und die Grenze nach Mazedonien überquerten. Nachdem der Notstand ausgerufen worden ist und die Grenzen auch mit der Hilfe von Soldaten geschlossen werden sollten, hat man die Blockade am Sonntag wieder aufgehoben. Hunderte konnten die Grenze wieder passieren.

Ähnliche Szenen wie in Südosteuropa spielten sich in den letzten Wochen auch rund um den Eurotunnel in Calais, der nun auch offiziell zur Festung[2] ausgebaut wird.

Vor zwei Jahrzehnten wurde in antirassistischen Diskursen der Begriff Festung Europa verwendet. Es war eine Kritik an den Abschottungsmaßnahmen. Doch selbst viele, die den Begriff verwendeten, sahen ihn als Zuspitzung, um eine kritikwürdige Tendenz darzustellen. Heute kann man konstatieren: Es war keine Übertreibung. Überall an den Grenzen ist der Ausbau dieser kerneuropäischen Festung im Gange. Denn der Begriff muss natürlich konkretisiert werden. Die Festung Europa hat verschiedene Gräben und Ringe, die den besonders geschützten Kernbereich von Geflüchteten freihalten sollen.

Festungsideologie triumphiert in vielen europäischen Ländern

In den letzten Wochen wird in britischen Mainstream-Medien und von Regierungsmitgliedern über die Flüchtlingsabwehr so gesprochen, als ginge es darum, in einen Krieg zu ziehen. Tatsächlich wird das Wort Invasion verwandt und von „Migrantenswchwärmen“ gesprochen (Mauern und Abschreckung lösen das Flüchtlingsproblem nicht[3]).

Damit unterscheidet sich die britische konservative Regierung höchstens in Nuancen von den ungarischen Rechtspopulisten von der Fidesz, die nicht nur einen Zaun gegen Migranten errichtet hat, sondern auch die entsprechende Festungsideologie verbreitet (Ungarns Flüchtlingspolitik: Hetze, verschärftes Strafrecht und ein Zaun[4], „Iran wird als Gegengewicht zu Saudi-Arabien benötigt“[5]), die natürlich hierzulande bei Pegida-Aufmärschen gerne zitiert wird. Es ist schließlich genau ihre Ideologie, wenn der ungarische Ministerpräsident erklärt, dass Europa den Europäern gehören soll.

Obwohl niemand genau definieren kann, was ein Europäer ist, sind sich viele einig, dass Moslems nicht dazu gehören. Daher ist es nur konsequent, wenn die slowakische Regierung kundtat[6], keine Moslems als Geflüchtete aufnehmen zu wollen, weil die sich ja in einen Land ohne Moscheen nicht wohlfühlen würden.

Auch andere osteuropäische Länder haben in den letzten Monaten klar gemacht, dass sie, wenn überhaupt lieber christlichen Flüchtlingen Asyl gewähren werden. Dazu gehört die Ankündigung der polnischen Ministerpräsidentin Ewa Kopacz m Juni 2015, langfristig 150 christliche Familien aus Syrien aufnehmen, aber sonst keine anderen Verpflichtungen übernehmen zu wollen. Tschechiens Präsident Miloš Zeman wollte lieber Flüchtlinge aus der Ukraine als solche aus Afrika und dem Nahen Osten aufnehmen. In Lettland und Estland wird darüber gestritten, ob das Land überhaupt Flüchtlinge aufnehmen soll. Selbst der Vorschlag, maximal 200 Menschen Asyl zu gewähren, führte zu einer rassistischen Hetze in den Medien, bei der offen die „Gefahr für die weiße Rasse“ halluziniert wird.

Skandinavischer Wohlstandsrassismus

Auch in mehreren Ländern Skandinaviens wird ganz klar auf Abschreckung von Geflüchteten gesetzt. So hat sich die dänische Regierung das Ziel gesetzt, deren Zahl zu verringern. Weil die zahlreichen gesetzlichen Verschärfungen der letzten Jahre die Menschen nicht abgehalten haben, soll ihnen in Zeitungsanzeigen gezielt mitgeteilt[7] werden, dass sie nicht willkommen sind

Diese im Wesentlichen von der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei, die die aktuelle Regierung parlamentarisch unterstützt, diktierte Politik stößt in Dänemark auf Widerstand. Unter dem Motto „Flüchtlinge willkommen“ schalten zivilgesellschaftliche Gruppen Gegenanzeigen[8].

Auch in Tschechien haben sich vor allem Intellektuelle in einer Petition[9] gegen die Politik der Abschreckung und Fremdenfeindlichkeit gewandt. Dort wurde von einem humanistisch-menschenrechtlichen Standpunkt vor Rassismus und Ausgrenzung gewarnt. An die Politiker wurde appelliert, sich ihrer Verantwortung für alle Menschen bewusst zu werden.

Beim gegenwärtigen tschechischen Präsidenten Zeman kam dieser Apell dennoch nicht gut an. Ein Sprecher erklärte[10], damit werde die Kluft zwischen den Eliten und der tschechischen Gesellschaft vergrößert . Hier wird ein weiterer klassischer oft mit Antisemitismus und Intellektuellenfeindlichkeit verknüpfter Topos der Rechtspopulisten bedient, die sich als Vollstrecker einer Mehrheit und als Sprachrohr eines imaginierten Volkes wähnen, während die liberalen Eliten isoliert seien. Solche Töne hört man auch ständig bei den Pegida-Demonstrationen.

Festungsideologie als europäischer Standortnationalismus

Die politische Bandbreite der auf Ausgrenzung und Abschottung zielenden Kräfte reicht von klassischen Rechtspopulisten wie in Ungarn oder Dänemark bis zu nationalistischen Sozialdemokraten wie in Tschechien oder der Slowakei.

Während in Osteuropa vor allem ein Rassismus der in der kapitalistischen EU zu kurz Gekommenen praktiziert wird, ist es in Skandinavien vor allem ein Wohlstandschauvinismus, der verhindern will, dass auch Nichteuropäer von den dort starken sozialen Rechten profitieren können.

Diese Widersprüche finden sich in vielen europäischen Ländern. In Italien hetzte die Lega Nord als wohlstandschauvinistische Partei des Nordens jahrelang gegen die Zuwanderung aus den italienischen Süden. In der letzten Zeit versucht sie sich als eine Art italienischen Front National zu profilieren und hat sich auf die Hetze gegen Migranten konzentriert.

Die Widersprüche zwischen abgehängten Prekären und Wohlstandsrassisten findet man auch bei Pegida. Die Festungsidelogie ist die Klammer, die die sozial widersprüchlichen Gruppen zusammenhält. Selbst der Ärmste verteidigt dann noch seinen Platz in der Festung, auch wenn es nur eine Kasematte ist. So fungiert die Festungsideologie als europäischer Standortnationalismus, also als Kitt, der politisch und sozial völlig differente Gruppen gegen einen imaginierten Gegner zusammenschweißt.

Eine Bewegung, die sich gegen die Ausgrenzung von Geflüchteten wendet, darf daher nicht bei moralischen Apellen und Erklärungen stehenbleiben. Die Ideologie der Festung Europa als moderne Form des Standortnationalismus muss zum Gegenstand der Kritik werden. Die Forderung nach Rechten für Alle und überall wäre das beste Gegenmittel, denn es ist das direkte Gegenprogramm zu jeder Festungsordnung, wo Rechte individuellen Gruppen zugeteilt und aberkannt werden.

http://www.heise.de/tp/artikel/45/45781/1.html

Peter Nowak

»Jede Alternative sollte ­ausgelöscht ­werden«

Der Ökonom Kamal Salehezadeh war im Iran bei der revolutionären linken Gruppe Volksfedajin aktiv und lebt in Hamburg. Derzeit plant er eine Veranstaltungsreihe zu den Hintergründen der Gefangenenmassaker im Iran 1988.

Wer genau waren die Opfer der Massenhinrichtungen im Iran vor 27 Jahren?

In nur neun Wochen, vom August bis zum Oktober 1988, hat das iranische Regime Massenexekutionen von Oppositionellen durchgeführt. Die Menschen, die getötet wurden, waren inhaftiert und ein Großteil von ihnen hatte die Haftstrafen, zu denen sie verurteilt waren, bereits verbüßt. Die genaue Zahl der Hingerichteten konnte bis heute nicht ermittelt werden. Es ist aber klar, dass mehrere Tausend Menschen dem Terror zum Opfer fielen. Die Hingerichteten repräsentierten die ganze Bandbreite der Opposition gegen das Mullah-Regime. Doch die meisten der Opfer stammten aus der Linken. Reformerische Kräfte waren ebenso betroffen wie linke Guerillakämpfer und kurdische Aktivisten.

Welches Ziel verfolgte das Regime mit dem Terror?

Nach dem Sturz der Schah-Diktatur war die Linke im Iran sehr stark. Im kurdischen Teil des Irans hatte sich die Bevölkerung ebenso in Räten organisiert wie im Nordiran, wo es eine starke Bauernorganisation gab. In allen Bereichen der iranischen Gesellschaft, in Schulen, Universitäten und Fabriken, gab es Versammlungen, auf denen die Menschen selber über ihre Interessen entscheiden wollten. Mit den Massakern sollte jede Alternative zum islamistisch-kapitalistischen Regime ausgelöscht werden.

Gibt es im Iran Gedenkveranstaltungen für die Opfer?

Offiziell wird über das Massaker nicht gesprochen. Doch die Angehörigen organisieren Gedenkveranstaltungen an dem anonymen Massengrab, in dem das Regime die Ermordeten begraben hat. Bei den Veranstaltungen kommt es immer wieder zu Festnahmen. Einige Angehörige sind wegen der Beteiligung an den Gedenkaktionen im Gefängnis, doch davon lässt sich niemand abhalten.

Warum machen Sie jetzt, 27 Jahren danach, in Deutschland eine Rundreise dazu?

Weil ich immer wieder feststellen musste, dass in Deutschland Menschen oder Organisationen, die sich als links verstehen, das iranische Regime verteidigen und dessen staatsterroristischen Charakter ausblenden.

http://jungle-world.com/artikel/2015/33/52491.html

Interview: Peter Nowak