Bisher waren Modelle des Organizing ein Thema der Gewerkschaften, nun werden sie auch von Mieterorganisationen diskutiert.
Wie soll man Personen bezeichnen, die sich gegen Mieterhöhungen wehren, Initiativen gegen Vertreibung in ihrer Nachbarschaft gründen oder sogar bereit sind, sich einer Räumung zu widersetzen? Die Berliner Regisseure Gertrud Schulte Westenberg und Matthias Coers haben mit »Mietrebellen« einen treffenden Begriff gefunden. In ihrem gleichnamigen Film, der vorige Woche in den Kinos angelaufen ist, stehen Menschen im Mittelpunkt, die in den vergangenen zwei Jahren in Berlin den Mietenprotest getragen haben. Die verrentete Gewerkschafterin ist ebenso vertreten wie der autonome Fahrradkurier. Der Film porträtiert Menschen, die früher vielleicht selbst nicht daran gedacht hätten, sich an Protesten zu beteiligen. Die Besetzer der Seniorenbegegnungsstätte »Stille Straße« in Pankow und die »Palisadenpanther«, die sich mit Erfolg gegen die Mieterhöhungen ihrer Seniorenwohnanlagen gewehrt haben, stehen für eine neue alte Protestgeneration. Doch wer organisiert die Rebellen? Sind diese Proteste politisch oder handelt es sich eher um eine Form der Sozialarbeit, wie ein Mitglied des Berliner Bündnisses »Zwangsräumungen verhindern« fragte? Der Politikwissenschaftler Robert Maruschke hat in seinem kürzlich erschienenen Buch auf beide Fragen eine Antwort gegeben, die schon im Titel »Community Organizing« vorweggenommen wird.
Über Konzepte des Organizing wurde bisher vor allem in Gewerkschaften diskutiert. Maruschke liefert nun eine knappe Einführung in die Geschichte, Theorie und Praxis der Stadtteilorganisierung. Beide Konzepte sind in den sozialen Bewegungen der USA entstanden. Maruschke unterscheidet zwischen einer staatstragenden und einer transformativen Idee des Organizing. Er beginnt mit der Settlement-Bewegung von 1884 und endet mit heutigen Plattformen für Bürger und ähnlichen »Mitmachfallen«, wie der Soziologe Thomas Wagner verschiedene Konzepte von Bürgerbeteiligung nennt, die Mitbeteiligung versprechen, aber vor allem der reibungslosen Durchsetzung kapitalistischer Zwecke dienen (Jungle World 42/2014). Affirmative Modelle des Organizing wollen soziale Akteure mit dem kapitalistischen Staat versöhnen, oft werden sie von Unternehmen finanziert. Auch den US-amerikanischen Bürgerrechtler und Wegbereiter des Community Organizing, Saul David Alinsky, ordnet Maruschke als Vertreter dieser affirmativen Variante des Organizing ein. Alinsky wird auch in Deutschland von linken Gruppen häufig als Pionier der Stadtteilorganisierung verehrt und unkritisch rezipiert. Der Grund dafür liegt in seinem Plädoyer für konfrontative Aktionsformen. Diese sollten jedoch lediglich dazu dienen, von offiziellen Institutionen als Gesprächspartner anerkannt zu werden.
Staat und Kapital hat Alinsky nie in Frage gestellt, von linken Gruppen distanzierte er sich. Im Unterschied dazu betonte der frühere Maoist Eric Mann, den Maruschke als Pionier des transformatorischen Organizing präsentiert: »Organizing muss revolutionär ausgerichtet sein. Es muss Individualismus und jede Form von Eigeninteresse in Frage stellen, was nicht heißt, dass es Eigeninteressen nicht einbinden kann.« Maruschke benennt auch die Widersprüche in der Praxis des transformativen Organizing. Einerseits betonen dessen Vertreter in den USA, nicht mit Repräsentanten von bestehenden Organisationen zusammenzuarbeiten und sich konfrontativ mit dem Staat auseinanderzusetzen, anderseits haben sie sich an der Wahlkampagne für Barack Obama beteiligt. Als Beispiel für transformatives Organizing in Berlin nennt Maruschke »Kotti & Co.« und die Kampagne gegen Räumungen. Auch wenn sich diese selbstorganisierten Mieterinitiativen das Konzept des transformativen Stadtteil-Organizing nicht zu eigen machen, könnten sie davon etwas übernehmen. So betonen die Vertreter des transformativen Organizing in den USA, dass auch Stadtteile von Klassenunterschieden sowie rassistischen und patriarchalen Unterdrückungsverhältnissen geprägt sind, was ein gutes Argument gegen den Trend zur Kiezromantik ist.
Der Berliner Politwissenschaftler Robert Maruschke über Stadtteilorganisierung
Die Frage, ob Mieterproteste gegen Verdrängung und Zwangsräumungen politisch sind oder eher eine Form der Sozialarbeit, warf kürzlich eine Aktivistin des Berliner Bündnisses gegen Zwangsräumungen [1] auf einer Diskussionsveranstaltung auf. Sie wollte mit dieser provokativen Fragestellung in erster Linie einer Tendenz vorbeugen, sich immer nur selbst auf die Schulter zu klopfen. Aber die Frage hatte auch einen inhaltlichen Kern.
Wie verändert sich das Bewusstsein von Menschen, die sich nie an Protesten beteiligt hatten und durch die Verhältnisse gezwungen zu Mietrebellen werden [2]? Betrachten sie die Gesellschaft auch außerhalb der Mietproblematik mit einem anderen Blick? Wie gehen sie mit gesellschaftlichen Widersprüchen um?
Zu dieser Fragestellung gibt der Berliner Politwissenschaftler Robert Maruschke in dem kleinen Büchlein Community Organizing [3] einige Hinweise. In den letzten Jahren wurde viel über Organizing-Konzepte in Gewerkschaften diskutiert. Maruschke liefert nun eine knappe gut lesbare Einführung auf die Geschichte, die Theorie und Praxis der Stadtteilorganisierung ein. Sie teilt mit dem gewerkschaftlichen Organizing die Wurzeln in den USA.
Wie viel Veränderungspotential haben Community Organizing Konzepte?
Dabei unterscheidet Maruschke zwischen einen staatstragenden Organizinigkonzept, das bei den Social Settlement-Bewegungen vor mehr als 120 Jahren begann und sich heute in den Bürgerplattformen und ähnlichen Mitmachfallen niederschlägt [4]. Solche Modelle wollen die Akteure mit dem kapitalistischen Staat versöhnen und werden oft großen von Unternehmen finanziert.
Auch Saul Alinsky [5] ordnet Maruschke diesen affirmativen Organizing-Modellen zu. Alinsky wurde auch in linken Kreisen als Pionier der Stadtteilorganisierung oft unkritisch rezipiert. Der Grund dafür liegt darin, dass er durchaus konfrontative Aktionsformen propagierte. Doch sie zielten lediglich darauf, von den offiziellen Institutionen als Gesprächspartner anerkannt zu werden. Staat und Kapital hat Alinsky nie in Frage gestellt.
Von linken Gruppen distanzierte er sich ausdrücklich. Alinsky sah in der Selbstorganisierung von Marginalisierten eine Möglichkeit, um in der kapitalistischen Gesellschaft gehört zu werden und eigene Interessen zu artikulieren. Doch die Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft wurden nicht kritisiert.
In dieser Tradition stehen die im Deutschen Institut für Community Organizing [6] zusammengeschlossenen Organisationen und Bürgerplattformen. „Man kann nur organisieren, was man sich vorstellen“, heißt es auf ihrer Homepage. Gesellschaftliche Zustände jenseits der kapitalistischen Verwertung will man sich schon deshalb nicht vorstellen, weil zu den Förderern [7] auch die BMW-Stiftung und die Körberstiftung [8] gehören.
„Die in Berlin auf der Grundlage von Alinskys Konzept eingerichteten Bürgerplattformen sind Beteiligungsformen, die zu 75 Prozent von Unternehmen und unternehmensnahen Stiftungen wie der BMW-Stiftung finanziert werden. Die finden das gut, weil die herrschenden Verhältnisse durch so ein privat finanziertes Mitmachgremium nicht in Frage gestellt werden und die Bürgerplattformen für die Aufwertung von Stadtbezirken instrumentalisiert werden können“, erklärt Maruschke in einem Interview [9], in dem er sich kritisch mit der Bürgerplattform Wedding/Moabit [10] befasst , die auch von vielen Stadtteilbewohnern mittlerweile sehr distanziert betrachtet [11] wird, weil es ihnen sogar untersagt worden ist, auf ihren Treffen zu Mieterdemonstrationen aufzurufen.
Affirmative versus transformative Organizingkonzepte?
Im Mittelpunkt von Maruschkes Buch steht allerdings das transformative Community-Organizinig, das er den affirmativen Organisationskonzepten gegenüberstellt. Es geht zurück auf den ehemaligen Maoisten Eric Mann [12] , der mit der Organisierung im Stadtteil nicht bezweckt, dass die Menschen sich besser in unvernünftigen gesellschaftlichen Verhältnissen einpassen, sondern dass sie diese infrage stellen. Maruschke nennt vier Punkte, die das transformative Organizing auszeichnen:
„Es soll sich auszeichnen durch ein emanzipatorisches oder revolutionäres Selbstverständnis. Probleme sollen konfrontativ angegangen werden. Transformative Organizer arbeiten nicht mit Repräsentanten von bereits bestehenden Organisationen, sondern mit den Leuten von der Basis zusammen, und sie begreifen sich als Teil von sozialen Bewegungen.“
Diese Punkte sind natürlich sehr allgemein und können im Zweifel dazu führen, dass auch transformative Organizing-Gruppen in den USA Teil der Wahlkampagne für Obama waren, während der Theoretiker Eric Mann in seinen im Buch abgedruckten Interview doch sehr floskelhaft bleibt. Was bedeutet es denn, wenn er sagt: „Organizinig muss revolutionär ausgerichtet sein. Es muss Individualismus und jede Form von Eigeninteresse in Frage stellen, was nicht heißt, dass es Eigeninteressen nicht einbinden kann“? Sehr positiv zu vermerken ist es, dass Maruschke die Widersprüche im transformativen Organizing nicht ausblendet, sondern sehr klar benennt.
Der Gezipark-Widerstand und Kotti und Co
Dazu gehört die Wahlkampagne für Obama ebenso wie die Debatte, die es unter den Aktiven der Kreuzberger Mieterinitiative Kotti und Co [13] angesichts der Gezipark-Proteste in der Türkei gegeben hat. Ein Teil der dort versammelten Berliner Mietrebellen erklärte sich sofort mit den Protestierenden in der Türkei solidarisch. Doch Berliner türkischer Herkunft, die einen wesentlichen Teil der Kreuzberger Initiative stellen, waren keine Gegner Erdogans und daher gar nicht damit einverstanden, mit den türkischen Regierungsgegnern solidarisch zu sein.
Der Konflikt konnte nur gelöst werden, weil sich die Mietrebellen schon länger persönlich kannten. Es sind Initiativen wie das Bündnis gegen Zwangsräumungen oder Kotti und Co, die Maruschke als Beispiel für eine transformative Stadtteilorganisation in Deutschland anführt.
In den USA führt er historisch die Stadtteilkampagnen der Black Panther Party [14] und die US-amerikansiche Erwerbslosenrätebewegung in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts an. Hier stellt sich die Frage, ob den heutigen Stadtteilorganisationen nicht für ihren transformativen Ansatz eine wesentliche Voraussetzung fehlt, die damals gegeben war: eine hegemoniefähige linke Organisation, die sie unterstützt, aber auch immer wieder Fragestellungen einbringt, die über den unmittelbaren Teilbereichskampf hinausgehen. Leider blendet Maruschke in seinen sehr informativen Einführungsbüchlein in Theorie und Praxis des Community Organizing diesen Aspekt aus.
Die Care-Revolution von den Lohnkämpfen zu trennen, ist ebenso falsch wie die Ausblendung der marxistischen Debatten.
Ist Care-Arbeit nur ein modernerer Begriff für Tätigkeiten, die einst unter den Begriff Reproduktionsarbeit gefasst wurden? Kann die Care-Revolution zur Überwindung des Kapitalismus beitragen oder wird sie einen Beitrag zur Modernisierung des Kapitalismus leisten? Die Berliner Politikwissenschaftlerin Pia Garske hat in einem Beitrag in der Zeitschrift Analyse & Kritik dem Care-Begriff diese Fragen gestellt: »Seine Offenheit und auch die unscharfen Bestimmungen von AkteurInnen und möglichen Interessengegensätzen machen ihn zu einem Containerbegriff, der unterschiedlich, auch neoliberal gefüllt werden kann.«
Dass Garskes Befürchtung berechtigt ist, wird im Beitrag von Hannah Wettig (13/2014) deutlich. »Die Erkenntnis, dass nicht Kapitalismuskritik, sondern Kultur- und Religionskritik radikaler Feminismus wären, ist zugegebenermaßen nicht besonders kuschelig«, endet er. Mittelklassefrauen können sich in einem solchen von Staat und Kapital geförderten Kapitalismus mit feministischem Antlitz vielleicht gut einrichten. Für die vielen Care-Arbeiterinnen aus unterschiedlichen Ecken der Welt, die oft im Haushalt dieser Mittelklassefrauen arbeiten und sogar leben und deren Karriere ermöglichen, gilt das allerdings nicht. Sie haben oft mit Überausbeutung und Niedriglöhnen zu kämpfen.
Wenn Wettig zu der Einschätzung kommt, dass der Zugang zu Bildung, Gesundheit und Freizeit sich weltweit und vor allem für Frauen deutlich verbessert hat, stimmt das als empirischer Befund. Das ist aber in erster Line dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zu verdanken. Wettig stellt aber nicht die Frage, ob nicht beim gegenwärtig erreichten Stand der Produktivkräfte Bildung, Gesundheit und Freizeit nicht für viel mehr Menschen erreichbar sein könnten, wenn der gesellschaftliche Maßstab die Verwertungslogik wäre. So wollen etwa Pharmakonzerne die Produktion von kostengünstigen Generika verhindern, die Millionen Menschen vor allem im globalen Süden vor den Folgen behandelbarer Krankheiten bewahren können. In vielen Ländern der europäischen Peripherie sind in Zeiten der Krise die Sozialsysteme kollabiert. Vor allem aus Spanien, Griechenland, aber auch Italien erreichen uns seit einigen Jahren Berichte über Patienten, die aus Geldmangel in den Kliniken nicht behandelt werden, und über geschlossene Schulen. Frauen werden dabei besonders belastet, weil sie in der Regel zusätzliche Pflegearbeit in den Familien verrichten müssen, wenn der Sozialstaat kollabiert.
Diese Care-Arbeiterinnen werden bei Wettig ebenso ausgeblendet wie die kollabierenden Sozialsysteme in vielen Ländern der europäischen Peripherie. Nur so kann sie zu der Einschätzung kommen, dass »der Zugang zu Bildung, Gesundheit und Freizeit« sich »weltweit und vor allem für Frauen deutlich verbessert« habe.
Die Gruppe Kitchen Politics hat recht, wenn sie in ihrem Beitrag (14/2014) Wettigs Position in die Nähe liberaler Modernisierungstheorien rückt. Erstaunlich aber ist, dass die queerfeministische Gruppe zu der Einschätzung kommt: »Die ›Care Revolution‹ steht für das Interesse an einer neuen Bewegung, die nicht an der Lohnarbeit ausgerichtet ist – und die damit andere politische Subjekte ermöglicht.«
Dabei waren es gerade die Veränderungen der Lohnarbeitsverhältnisse, die die Care-Revolution-Debatte beschleunigt haben. Jörn Boewe und Johannes Schulten haben diese Veränderungen in einem Beitrag in der Wochenzeitung Freitag so auf den Punkt gebracht: »Vor 30 Jahren schrieben Männer im Blaumann Tarifgeschichte: Stahlkocher, Automobilbauer und Drucker erkämpften 1984 in wochenlangen Streiks den Einstieg in die 35-Stunden-Woche. Heute, 30 Jahre später, ist die Speerspitze der Arbeiterbewegung überwiegend weiblich und trägt blaue, grüne und weiße Kittel.« Vor einigen Jahren machte der juristische Erfolg einer Hausangestellten aus Peru Schlagzeilen, die bei einer Hamburger Lehrerfamilie schuftete und mit gewerkschaftlicher Unterstützung den ihr jahrelang vorenthaltenen Lohn erstritt. Auch der Kampf um die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse in der Berliner Charité ist ein gutes Beispiel. Die Beschäftigten haben auf der Care-Revolution-Konferenz über ihre Auseinandersetzung berichtet. Zeitgleich informierten ebenfalls in Berlin auf einem Treffen des Netzwerks europäischer Basisgewerkschaften polnische Krankenschwestern und Hebammen über eine europäische Kampagne gegen die kapitalistische Landnahme im Gesundheitssystem. Zu einer zunächst angestrebten Kooperation zwischen den Basisgewerkschafterinnen und den Care-Revolutionärinnen, die am 16. März zeitgleich nur wenige Kilometer entfernt in Berlin tagten, ist es nicht gekommen. Daran wird deutlich, wie wichtig eine Zusammenarbeit zwischen gewerkschaftlichen und feministischen Organisationen im Alltag ist.
Ein gutes Beispiel für eine Verbindung gewerkschaftlicher und care-revolutionärer Positionen in Theorie und Praxis liefert das Jahrbuch 2013 des Denknetzes, einer Schweizer Plattform, die seit zehn Jahren nach Alternativen zum Kapitalismus sucht. Das von Hans Baumann, Iris Bischel, Michael Gemperle, Ulrike Knobloch, Beat Ringer und Holger Schatz herausgegebene Buch mit dem Titel »Care statt Crash« hat die Frage aufgeworfen, ob die Sorgeökonomie zur Überwindung des Kapitalismus beitragen kann. Einfache Antworten gibt es nicht, dafür kommen mit Tove Soiland, Mascha Madörin und Gabriele Winker drei Wissenschaftlerinnen zu Wort, die in den vergangenen Jahren wichtige Impulse für die Debatte über die Care-Revolution geliefert haben. In mehreren Beiträgen wird die gewerkschaftliche Organisierung im Bereich der Care-Arbeit in der Schweiz untersucht. Vania Alleva, Pascal Pfister und Andreas Rieger schreiben am Schluss ihres Aufsatzes zu »Tertiärisierung und gewerkschaftliche Organisierung«: »Die Gewerkschaften müssen in den privaten Dienstleistungsbereichen wie auch in den öffentlichen Bereichen stärker werden. Sonst droht eine weitere Prekarisierung, insbesondere der professionalisierten Care-Arbeit.« Hans Baumann und Beat Ringer begründen in ihren acht Thesen, warum Care-Arbeit »nur außerhalb der Kapitalverwertung effizient und zweckmäßig organisiert werden kann«. Mit ihrer Betonung einer umfassenden Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit bei gleichem Lohn machen auch sie sich für die Zusammenführung gewerkschaftlicher und feministischer Positionen stark.
In den theoretischen Beiträgen des Jahrbuchs wird auf langjährige Auseinandersetzungen in den marxistischen und feministischen Debatten rekurriert. Lisa Yashodhara Haller und Silke Chorus messen dem Staat eine bedeutende Rolle dabei zu, »dass im Rahmen des kapitalistischen Wirtschaftsparadigmas weitestgehend unproduktive Tätigkeiten diesseits und jenseits der Lohnarbeit das Fundament für kapitalistische Verkehrsformen bilden«. Beide Autorinnen plädieren für eine Einbeziehung der Lebensbereiche jenseits der Wertform in die Kritik der politischen Ökonomie. Damit beziehen sie sich auf langjährige feministische Einwände gegen eine marxistische Ökonomiekritik, die die unbezahlte Reproduktionsarbeit ausgeblendet habe.
Ist es nun praktisch und theoretisch sinnvoll, diese Care-Arbeit unter dem Label der »anderen Ökonomie« der wertförmigen Arbeit zuzurechnen? Der Soziologe und Theoretiker der Krisis-Gruppe Peter Samol verneint diese Frage in seinem Beitrag. Für ihn handelt es sich bei der »Ausgliederung der nichtvergüteten, für die Reproduktion der Gesellschaft und der Gattung unersetzlichen Care-Tätigkeiten aus dem Ökonomischen (…) um eine strukturelle Eigentümlichkeit der kapitalistischen Vergesellschaftungsform, die sich nur gemeinsam mit dieser aufheben lässt«. Die Beiträge in dem Jahrbuch machen deutlich, dass es ein Gewinn für die Care-Revolution-Debatte ist, wenn gewerkschaftliche Praxis und marxistische Theorie einbezogen werden.
GewerkschafterInnen gehörten mit zu den ersten, die von den Nazis verfolgt wurden. Oft waren sie Polizei und Unternehmen schon in der Weimarer Zeit verdächtig, besonders wenn sie sich für die Rechte ihrer Kollegen aktiv einsetzten. Die Verfolgungsbehörden konnten also oft auf schon angelegte Akten zurückgreifen. Doch nach 1945 wurde verfolgten Gewerkschaftern in der Regel kaum gedacht. Sie engagierten sich, wenn sie überlebt hatten, in Antifa-Ausschüssen und bei den Neugründungen der Gewerkschaften. Oft starben sie jedoch infolge der Entbehrungen von Verfolgung und KZ-Haft oder schlicht aufgrund der schlechten Lebensverhältnisse von ArbeiterInnen jung.
Daher ist es besonders verdienstvoll, dass seit einigen Jahren an der Freien Universität Berlin das Forschungsprojekt „Gewerkschafter/innen im NS-Staat. Verfolgung – Widerstand – Emigration“ den oft namenlosen verfolgten GewerkschafterInnen ein Gesicht gibt.
Das Projekt geht maßgeblich auf die Initiative des inzwischen emeritierten Politik-Professors Siegfried Mielke zurück. Ihn hat gestört, dass gewerkschaftlicher Widerstand – wenn überhaupt wahrgenommen – in der öffentlichen Erinnerungskultur zum Thema Widerstand gegen das NS-Regime eine Nebenrolle spielt. Im Rahmen des Projekts sind unter
Einbeziehung einer Reihe NachwuchswissenschaftlerIinnen und Studierender mehrere Publikationen zum Thema Widerstand und Verfolgung von
GewerkschafternInnen aus verschiedensten Berufen entstanden. Einige
Studien werden in den nächsten Jahren folgen, z. B. zum Widerstand von
Angestellten, Eisenbahngewerkschaftern, Textilarbeitern,
Polizeigewerkschaftern. Einer der Nachwuchswissenschaftler ist der Diplompolitolge Stefan Heinz. Gegenüber express begründet er seine Motivation an der Teilnahme an dem Projekt so:
„Es ist wichtig und letztlich eine politische Angelegenheit, den bisher verkannten Umfang und die kaum wahrgenommene Intensität von Widerstand, Verfolgung und Emigration von
Gewerkschaftern/innen unterschiedlichster politischer Richtungen zu
ermitteln – auch um den „vergessenen“ Widerständlern eine späte Würdigung
widerfahren zu lassen.“
Im Rahmen dieses Projekts ist kürzlich im Metropol-Verlag ein Handbuch erschienen, das die Biographien von 95 Gewerkschaftern – tatsächlich ausschließlich Männern – vorstellt, die hauptsächlich in brandenburgischen Konzentrationslagern Sachsenhausen und Oranienburg, aber auch im weniger bekannten KZ Sonnenburg, das heute in Polen liegt, inhaftiert waren. Die an dem Forschungsprojekt beteiligten Wissenschaftler Siegfried Mielke und Stefan Heinz stellen in der ausführlichen Einleitung auch die Frage, warum die Gewerkschaften bisher so wenig unternommen haben, um die Verfolgungsgeschichte vieler ihrer Mitglieder bekannter zu machen. Wesentlich präsenter in der öffentlichen Wahrnehmung ist hingegen der Anpassungskurs, mit dem Funktionäre des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) nach dem Machtantritt der Nazis die Gewerkschaften in das „Dritte Reich“ eingliedern wollten. Trauriger Höhepunkt dieser Anpassungspolitik war der Aufruf des ADGB-Vorstands zur Teilnahme an den von den Nazis organisierten Feiern zum 1. Mai 1933. Einen Tag später ließen die Nazis die Gewerkschaftshäuser besetzen. „Die Auswirkungen der Anpassungspolitik der Organisatoren des ADGB im Frühjahr führten zu der weitverbreiteten Annahme, es habe kaum gewerkschaftlichen Widerstand gegeben. An diese öffentliche Wahrnehmung schließt sich an, dass sowohl die Quantität als auch die Qualität der Verfolgung, die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter betraf, unterschätzt wurden.“ (S. 11) Dabei wird von Heinz und Mielke auch die Verantwortung des DGB benannt. „Die DGB-Gewerkschaften in der Bundesrepublik haben demgegenüber eine große Zahl von Mitgliedern und Funktionäre ihrer Vorläuferorganisationen, die nach 1933 Opfer der NS-Verfolgung waren, in Vergessenheit geraten lassen.“ (S. 13) 1995 äußerte der damalige DGB-Vorsitzende Dieter Schulte sein Bedauern, dass die Gewerkschaften das Gedenken an die Verfolgten vernachlässigt hätten. Das FU-Forschungsprojekt holt nun fast sieben Jahrzehnte nach der Zerschlagung des NS-Systems die versäumte Erinnerungsarbeit nach.
Proletarier hinterlassen weniger Spuren als das Bürgertum
Die Herausgeber gehen auch auf die schwierige Quellenlage ein. ArbeiterInnen hinterlassen offenbar weniger Spuren als Menschen aus dem Bürgertum. Neben den Vernehmungsakten der politischen Polizei und der Gestapo sind auch Berichte, die die Gewerkschafter nach 1945 in Ost- wie Westdeutschland geschrieben haben, um als Verfolgte des NS-Regime anerkannt zu werden, wichtige Quellen, die in dem Buch herangezogen und kritisch ausgewertet werden. In einigen Fällen fließen in die Biographien auch persönliche Angaben von Angehörigen ein.
Die einzelnen Biographien sind sehr interessant und lebendig geschrieben und auch sozialgeschichtlich aufschlussreich. Traditionell interessierten sich viele Menschen auch aus dem Proletariat für das Leben von Adeligen und ‚Stars‘. Das zeigt beispielsweise die Lektüre der sogenannnten Regenbogenpresse, aber auch das Konsumieren von Fernsehserien , die den „Reichen und Schönen“ gewidmet sind.
In dem Buch wird das Leben von unbekannten ArbeiterInnen dem Vergessen entrissen. Wir lernen in den Biographien Menschen in all ihren Widersprüchen, mit ihrem Mut und politischem Willen, aber auch mit ihren Zweifeln, Ängsten und Fehlern kennen. Gerade weil die Widersprüche nicht verschwiegen werden, ist die Lektüre so anregend. Gleich bei Paul Albrecht (S. 67ff.), dem ersten vorgestellten Gewerkschafter, werden diese Widersprüche deutlich. Als junger Mann war er in der anarchosyndikalistischen Jugend Thüringens aktiv.Ende der 1920er wechselte er zur KPD, weil er in deren eigenständiger Gewerkschaftsgründung und der stärkeren Abgrenzung zur SPD einen Linksruck sah. wegen deren Linkskurs zur KPD und engagierte sich in der Revolutionären Gewerkschaftsopposition. Bereits nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 wurde er inhaftiert und misshandelt. Am 1. Juni 1933 wurde er in das Konzentrationslager Sonnenburg gebracht. Nach seiner Freilassung. 1934 setzte er seine Widerstandsarbeit fort. Zwischen 1945 und 1949 war er als Landrat von Genthin führend an der Aufteilung des Großgrundbesitzes beteiligt. Doch nachdem einige Briefe von 1938 bekannt wurden, die er in einem Sorgerechtsstreit mit seiner geschiedenen Frau um den gemeinsamen Sohn geschrieben hatte, verlor Albrecht sein Amt und wurde aus der SED ausgeschlossen (S. 85). In den Briefen hatte er erklärt, mittlerweile auf dem Boden des „Dritten Reiches“ zu stehen. Er warf seiner Frau vor, weiter mit Juden zu verkehren. Erst viele Jahre später, nachdem Albrecht Selbstkritik geübt hatte, wurde er wieder in die SED aufgenommen, bekam aber nur noch Verwaltungsposten beim FDGB. Die in dem Buch dargelegte Quellenlage löst offen, ob Albrecht den Brief schrieb, um seine Widerstandstätigkeit zu schützen.
Unter den von den Nazis verfolgten GewerkschafterInnen gab es allerdings nicht nur aktive AntifaschistInnen. Exemplarisch sei hier die Biographie des Schauspielers Alfred Braun genannt, der als Sozialdemokrat und Mitglied der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger 1933 inhaftiert war. Nach einem kurzen Exil kehrte er nach Nazi-Deutschland zurück, wo er als Hörspielregisseur Karriere beim Berliner Rundfunk machte, die er nach 1945 bruchlos fortsetzte. Ein besonderes Kapitel nehmen die im NS-Staat zeitweise verfolgten gewerkschaftlich organisierten Polizisten ein. Hierfür steht exemplarisch die Biographie von Friedrich Woidelko (S. 778), der im Herbst 1933 für einige Wochen wegen staatsfeindlicher Betätigung verhaftet wurde, obwohl er zu dieser Zeit bereits NSDAP-Mitglied war.
„Nach seiner endgültigen Entlassung am 13. Oktober 1933 sei Woidelko aufgefordert worden, … zu den Vorfällen zu schweigen und keinen Versuch zu unternehmen, aus der NSDAP auszutreten“(S. 776). Er blieb bis zum Ende des NS-Regimes NSDAP-Mitglied. Trotzdem wurde Woidelko nach 1945 eine kleine Rente als Entschädigung gezahlt. Kommunistische Gewerkschafter hingegen, die oft bis 1945 viele Jahre im Konzentrationslager verbringen musste, wurde im Kalten Krieg die Entschädigung verweigert, wenn sie sich weiterhin als Kommunisten betätigten. Viele der vorgestellten Gewerkschafter wollten sich nach 1945 am Aufbau eines antifaschistischen Deutschlands beteiligen. Nur wenige machten Karriere in Spitzenpositionen. Viele hatten zeitweise Konflikte mit der Parteibürokratie, wurden später aber wieder rehabilitiert und kamen auf neue Positionen. Zahlreiche der im Buch aufgeführten sozialdemokratischen Gewerkschaftler in der sowjetischen Besatzungszone unterstützten nach 1945 die Vereinigung der beiden großen Arbeiterparteien zur SED. Zumindest in den vorgestellten Fällen kann nicht davon geredet werden, dass sie gegenüber den ehemaligen KPD-Mitgliedern in der DDR benachteiligt wurden. Generell war in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR eine akribische Prüfung die Voraussetzung für die Anerkennung als Opfer des Naziregimes.
In dem Buch werden keine Helden vorgestellt, aber Menschen, die in der Regel nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen und die in einer Zeit Widerstand leisteten, in der führende Industrielle und andere Stützen der Gesellschaft die Nazis gefördert haben. Gerade in einer Zeit, in der Neonazis die Krisenverlierer zu rekrutieren versuchen, ist die Erinnerung an diese Menschen sehr wichtig. Auch das Interesse der Studierenden an der Thematik ist in der letzten Zeit gewachsen.Umso unverständlicher, dass die FU-Forschungsstelle, die diese wichtige historische Aufgabe übernommen hat, noch immer ohne nennenswerte finanzielle Mittel auskommen muss und ohne das ehrenamtlichen Engagement vieler Studierender und Wissenschaftler ihre wichtige Arbeit nicht fortsetzen könnte. Stefan Heinz beschreibt die prekäre Situation so: „Nahezu alles, was wir machen, wird also aus Drittmitteln bestritten und muss immer wieder aufs Neue extern eingeworben werden, beispielsweise von der Hans-Böckler-Stiftung. Fallen diese Förderungen weg, können wir unsere Forschungen nicht fortsetzen.“
Peter Nowak
Siegfried Mielke (Hrsg.): „Gewerkschafter in den Konzentrationslagern Oranienburg und Sachsenhausen. Biographisches Handbuch“, Bde. 1-4, Berlin 2002-2013: EditionHentrich und Metropol Verlag
aus
express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 3/4 2014,
»MUMIA: Long Distance Revolutionary«
Über Mumia Abu Jamal ist auch im Sprachrohr schon öfter berichtet worden. Eine weltweite Solidaritätsbewegung verhinderte, dass der schwarze US-Radiojournalist auf dem elektrischen Stuhl landete. Er war von einer weißen Jury wegen eines Polizistenmordes zum Tode verurteilt worden. Er hat die Tat immer bestritten, und es gibt zahlreiche Beweise, die die Version der Anklage erschüttern. Trotzdem soll Mumia bis zu seinem Lebensende im Gefängnis bleiben, denn das Todesurteil wurde in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt. Er kämpft mit seinen Anwälten und Unterstützern für eine Neuauflage des Verfahrens und seine Freilassung. Sein Fall darf auch
nach Aufhebung des Todesurteils nicht in Vergessenheit geraten. Daher
kommt ein Dokumentarfilm zur rechten Zeit, der deutlich macht, warum
Mumia seit fast drei Jahrzehnten im Gefängnis sitzt. Der ungeklärte Kriminalfall wird nur am Rande erwähnt. Vielmehr interviewt Filmemacher
Stephen Vittoria Freunde und Kollegen, die über Mumias früh einsetzende
Politisierung berichten. Inspiriert vom Kampf der Black Panther und anderer linker Bewegungen, wurde er bereits mit 14 Jahren zum Aktivisten. Er protestierte mit Gleichgesinnten gegen rassistische Politiker und wurde von weißen Polizisten verprügelt. Hier liegen die Anfänge des Films »Long Distance Revolutionary «. Darin wird deutlich, wie Mumia bereits als Jugendlicher Journalismus und politisches Engagement verband. Seine ersten journalistischen Erfahrungen machte er bei einer Black Panther-Zeitung, später arbeitete er für ein Communitiy-Radio. In der schwarzen Community wurde er bewundert, weil er die wirtschaftliche Ausbeutung und Polizeibrutalität, denen schwarze Menschen in den USA ausgesetzt sind, öffentlich machte. Gehasst wurde er von den Politikern und der Polizei. Die versuchte ihn auszuschalten, weil er die Armen, die Obdachlosen, die Hungernden zu Wort kommen ließ. Damals bekam er den Beinamen »Stimme
der Unterdrückten«. Der Film vermittelt einen Einblick in Mumias Biographie und die sozialen Kämpfe, die ihn prägten. Zudem trägt er dazu bei, dass Mumia und sein Kampf nicht vergessen werden. Es bedarf weiterhin einer weltweiten Solidaritätsbewegung, um seine Freiheit zu erkämpfen. In den USA sorgte der Film für ein großes Presseecho. In Deutschland, wo er am 4. Oktober 2013 im Berliner Kino Babylon Premiere hatte, ist die Resonanz noch verhalten.
Stephen Vittoria, »MUMIA – Long Distance
Revolutionary«, 120 Minuten. Der Film kann
unter https://vimeo.com/monoduo/freemumia
kostenpflichtig heruntergeladen werden.
Ab Frühjahr kann er als DVD beim
Jump Up Versand http://www.jump-up.de/
bestellt werden.
«Historische Nitrofilme sind hochexplosiv», warnt Egbert Koppe, Spezialist für Filmrestaurierung am Bundesarchiv in Hoppegarten, einem Vorort von Berlin. Diese Szene steht auch am Anfang eines Films, bei dem es um Streifen geht, die nicht nur wegen des chemischen Materials hochexplosiv sind.Der vor kurzem in die Kinos gekommene Verbotene Filme widmet sich dem Erbe des Nazi-Kinos. Ob es sich wirklich um «ein verdrängtes Erbe» handelt, wie es im Presseheft zum Film heißt, müsste wohl mit einem Fragezeichen versehen werden.
Schließlich wird in dem 93minütigen Film sehr schnell deutlich, dass ein Großteil dieser Filme aus dem NS-Fundus in der Nachkriegs-BRD weiterhin mit großem Erfolg gezeigt wurde. Das betraf vor allem die Sparte der Unterhaltungs- oder Naturfilme, die besonders in der letzten Phase der NS-Zeit häufig gedreht wurden. So sollte der deutschen Volksgemeinschaft eine heile Welt auf der Leinwand vorgespielt werden, während die Massenmordpolitik auf ihrem Höhepunkt stand. Ein Großteil der deutschen Bevölkerung spielte dabei gerne mit und wollte auch nach 1945 davon nicht lassen. Aus politischen Gründen musste an der einen oder anderen Stelle ein Hakenkreuz oder ein antisemitisches Motiv ersetzt werden.
Im Film werden dazu einige Beispiele gezeigt. Hier sei das «volkspädagogische Ethos» der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) am Werk gewesen, erklärt deren heutige Leiterin. Der Filmhistoriker Thomas Koebner fordert, die Schnitte rückgängig zu machen. Nur dann könne man vor den Filmen Angst haben und müsse sich mit ihnen auseinandersetzen.
Tatsächlich war das Herausschneiden von kompromittierenden Elementen keine Lösung und verdeutlichte gut, wie die Entnazifizierung in der westdeutschen Nachkriegszeit abgelaufen ist: Man schnitt NS-Symbole heraus und machte ansonsten weiter wie bisher.
Doch Verbotene Filme behandelt auch NS-Streifen, bei denen es mit einigen Schnitten und Retuschen nicht getan war. NS-Propaganda-Filme wie Jud Süß, Heimkehr oder Ich klage an konnten in der Nachkriegszeit tatsächlich nicht mehr öffentlich gezeigt werden. Was aber nicht bedeutete, dass sie verschwunden waren. NS-Nostalgiker fanden immer einen Weg, sie zu sehen, und im Internetzeitalter stellt sich natürlich die Frage, ob sich ein Film überhaupt verbieten lässt, noch einmal neu.
Sollte man dann gleich offiziell alle NS-Filme freigeben? Diese Frage wird am Schluss des Films eindeutig mit Ja beantwortet. Der Regisseur Oskar Röhler pocht auf das Recht, immer und überall den Film zu sehen, den er gerade sehen will. So bleibt der irrige Eindruck, das wäre die Kernaussage des gesamten Filmes. Tatsächlich gibt er keine eindeutigen Antworten. So sprechen sich die Kinobesucher, die nach Ausnahmevorführungen «verbotener Filme» ihre ersten Eindrücke vortragen, keineswegs alle für eine Freigabe aus. Manche sind regelrecht erschrocken über die Szenen, die sie gerade gesehen haben und plädieren dafür, die Filme nicht freizugeben. Dass ausgerechnet ein Aktivist der extremen Rechten nicht nur uneingeschränkt für die Freigabe ist, sondern im Film den Nationalsozialismus verteidigt, spricht auch nicht dafür, die NS-Propaganda frei Haus zu liefern. Dass aber Verbote allein kein Mittel der Auseinandersetzung sind, macht der Film gut deutlich.
Eine Ausstellung will dokumentieren, wie mit forensischen Metholden auf allen Gebieten Menschenrechtsverletzungen und Unrecht nachträglich bekannt werden. Die Forensik als Herrschaftstechnik hingegen wird vernachlässigt
Drei Minuten Zeit hatte die Familie, um ihr Haus im Gaza-Streifen am 9. Januar 2009 zu verlassen. Mit einer Warnrakete der israelischen Armee sollten die Bewohner zum sofortigen Verlassen des Hauses aufgefordert werden. Mehrere Familienmitglieder waren noch im Haus, als die Rakete einschlug. Mehrere Kinder und eine Frau waren sofort tot.
Im Berliner Haus der Kulturen der Welt [1] wird das Geschehen noch einmal akribisch nachgezeichnet. Mehrere Videos und Gesprächsaufzeichnungen unter anderem mit dem palästinensischen Anwalt Mohammed Jabareen [2] rekonstruieren den Angriff minutiös.Diese Untersuchung steht in der Abteilung „Forensische Architektur“ [3] innerhalb der Ausstellung, die mit einem Adjektiv benannt wird.
Forensis [4] lautet der Titel und auf einer Tafel am Eingang werden die Besucher darüber informiert, dass dieser Begriff im Römischen Reich bedeutete, dass man zum Forum, also zur damaligen Gesellschaft, gehörte. Frauen, Plebejer, Sklaven gehörten schon mal nicht dazu. Aber der Titel könnte in die Irre führen. Denn was dem Besucher auf vielen Videoleinwänden und Tafeln geboten wird, ist eine Geschichte der modernen Kriminalistik in all ihren Verästelungen.
Allein in der Abteilung forensische Architektur kann man schon eine gute Stunde verweilen,wenn man die dort präsentierten Videos und Infotafeln studieren will. Da berichtet eine Deutsche, wie sie Augenzeugin eines Drohnenangriffs in Nordpakistan geworden ist. Während sie sich mit einer weiteren Frau und mehreren Kindern in einem Nebengebäude befand,explodierte im Hauptgebäude die Drohne, gerade als sich die Männer zum Essen versammelt haben sollen. Nur ein großer schwarzer Krater sei übrig geblieben, in dem noch Kleidungs- und Körperteile der Männer zu finden gewesen seien.Der Ablauf des Drohnenangriffs wurde nachgezeichnet.
Trotzdem bleiben am Ende sehr viele Fragen offen. Warum das Haus im Gaza zum Ziel einer Rakete wurde, bleibt ebenso unklar wie der Grund für den Drohnenangriff in Pakistan. Natürlich ist es nachvollziehbar, dass die Anonymität derAugenzeugin, die wohl wieder in Deutschland lebt, gewahrt wird. Warum nicht zumindest einige Informationen zu den einzelnen Angriffen geliefert werden, bleibt offen. Sie hätten es den Besucher ermöglicht, neben einer reinen Betroffenheit hinaus das präsentierte Material einordnen zu können.
Es werden viele Beispiele für eine sinnvoll angewendete Forensik gezeigt. So konnten Menschenrechtsorganisationen nachweisen, dass im Sommer 2011 ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer versank und 64 Menschen getötet wurden, während die Nato dem Drama zuschaute und Hilfe verweigerte. Einweitgehendes unbekanntes Verbrechen ist die gezielte Zerstörung von Dörfern im brasilianischen Amazonas-Gebiet. Viele Einwohner wurden im Laufe von Jahrzehnten ermordet undin Massengräbern verscharrt. Mit Hilfe der Forensik kann man die Verbrechen heute an den unregelmäßigen Waldbestand erkennen.
Ozonloch – Meisterleistung forensischer Ästhetik
Auch im Ökologiebereich können mit den Mitteln der Forensik jahrelange Umweltverbrechen nachgewiesen werden. Als eine „Meisterleistung forensischer Ästhetik“ wird der Begriff Ozonloch aufgeführt. Mit den komplexen chemischen Prozessen in der Atmosphäre hat die Bezeichnung wenig zu tun. Sie wurde als für die Menschen nachvollziehbares Modell kreiert, mit dem die Folgen der Klimaveränderung vermittelt werden sollen. Wenn in einem lebenswichtigen Bestandteil der Atmosphäre ein Loch entstanden ist, könnten sich viele Menschen betroffen fühlen. Dass aus Gründen der Nachvollziehbarkeit in den Naturwissenschaften Modelle gewählt werden, die mit dem Alltagsverstand begreifbar sind, ist in den Naturwissenschaften nichts Neues. Man denke nur an die Konstruktion der Atommodelle.
Man braucht eine Menge Zeit, wenn man sich in die ausgestellten Materialien vertieft und erfährt viele Details. Doch das Fehlen von Hintergrundinformationen fällt immer wieder auf. Wohin das Ignorieren des gesellschaftlichen Kontexts führt, zeigt sich bei historischen Themen.Da wird ein NS-Konzentrationslager in Serbien neben ein Internierungslager gestellt, in dem im jugoslawischen Bürgerkrieg die zu Feinden erklärten Menschen anderer Nationen festgehalten wurden. Verbrechen gab es in beiden Lagern, doch die Spezifik des nazistischen Kriegs- und Vernichtungspolitik droht bei einer solchen Darstellung verloren zu gehen.
Wenn auf einer Tafel vermerkt ist, dass 50 Jahre nach dem Nürnberger Tribunal der Internationale Gerichtshof gegen NS-Deutschland wieder auflebte, als es um die Aufarbeitung der Verbrechen
im jugoslawischen Bürgerkrieg ging, fehlt der Hinweis darauf, dass die Folgen und Kollateralschäden der Natoangriffe nie Gegenstand von Ermittlungen waren.
Forensik als Herrschaftstechnik
Die Kuratoren Anselm Franke vom HKW und der Architekt und Professor an der Londoner Goldsmith University, Eyal Weizman [5] können ihrer Faszination für die gewachsenen Möglichkeiten der Forensik nicht verbergen. Dass die Forensik Teil der Herrschaftstechnik sein kann, wird in der Ausstellung nur an wenigen
Beispielen deutlich.
Dass auch die internationale Gerichtsbarkeit Teil einer Machtpolitik sein kann, wird nur am Rande deutlich. So erstattete ein südamerikanischer Diplomat Strafverfahren gegen die Industrienationen wegen ihrer Verantwortung für den Klimawandel. Natürlich wurde nie Anklage erhoben und man erfährt wenig darüber. Immerhin eine Installation widmet sich dem Einsatz von Lügendetektoren bei der Befragung von Geflüchteten. Hier dient die Forensik als Mittel zur schnelleren Abschiebung. In der Ausstellung hätte man sich mehr solcher Beispiele gewünscht, die einen kritischen Blick auf die Forensik ebenso wie auf die InternationaleGerichtsbarkeit geboten hätten.
Autorenkollektiv blickt auf Geschichte der Roten Hilfe
Die Geschichte der Roten Hilfe ist auch eine Geschichte der politischen Gefangenen in der BRD seit den 1960er Jahren. Das Kollektiv »Bambule« hat dazu ein Buch herausgegeben.
Am 18. März wird traditionell der politischen Gefangenen gedacht. Die Roten Hilfen spielen in der Geschichte der politischen Gefangenenschaft traditionell eine zentrale Rolle, in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder. Ein Autorenkollektiv hat jetzt im Laika-Verlag in zwei Bänden die Geschichte der Gefangensolidarität zwischen 1968 und 1980 veröffentlicht. Auf insgesamt 750 Seiten schreiben 20 Autoren eine Geschichte der linken Bewegung zwischen 1968 und 1980 und ihrer Roten Hilfen: In den Hochzeiten der verschiedenen maoistischen Parteigründungsprojekte Mitte der 1970er Jahre existierten zwei, manchmal gar drei Rote Hilfen, wie Michael Csaskoczy schreibt.
Friedrich Burschel widmet sich der weitgehend unbekannten Geschichte der Gefangenenräte, in denen sich Häftlinge ohne politischen Hintergrund in den 1970er Jahren organisierten. Sie wollten »abschaffen, was uns kriminell und asozial macht«. Sie wandten sich dagegen, dass meist nur politische Gefangene oft mit bürgerlichem Hintergrund die Aufmerksamkeit der Solidaritätsbewegung bekamen.
Mehrere Kapitel in dem Buch widmen sich den Diskussionen um die Solidarität mit Gefangenen aus den bewaffnet kämpfenden Gruppen in den 1970er Jahren. Doch die Stärke des Buches ist der Blick auf bisher wenig beachtete Details.
Doch Markus Mohr, ohne den die beiden Bände nicht zustande gekommen wären, betont, dass er damit keine Forschungslücke schließen, sondern Möglichkeiten für eine neue linke Bewegung eröffnen will. »Es geht um etwas erheblich Besseres. Mit einer in der Gesamtschau betrachteten pluralen Perspektive sollen die Beiträge dazu dienen, die komplexe Thematik zu sondieren, mit dem Ziel etwas zu erkunden, was bislang unbeachtet geblieben ist«, heißt es in der Einleitung.
Bambule (Hrsg.): Zur Geschichte der Roten Hilfe in der BRD – Band I und II, 2013, Laika Verlag, Hamburg, pro Band 21 €
Italien: Parlamentsreform im Abgeordnetenhaus mit großer Mehrheit angenommen
Eine große Mehrheit der Abgeordneten im italienischen Parlament hat der vom neuen Ministerpräsidenten Matteo Renzi vorangetriebenen Parlamentsreform zugestimmt. 365 Abgeordneten votierten mit Ja, die 156 Nein-Stimmen blieben klar in der Minderheit. Ob die Reform wirklich zu einer größeren Partizipation beiträgt, ist fraglich: Denn benachteiligt werden eindeutig kleine Parteien.
Das neue Wahlgesetz sieht eine Listenwahl in insgesamt 120 Wahlbezirken vor. Dabei geraten durch den schmalen Zuschnitt der Bezirke, der dem spanischen Modell abgeschaut ist, kleine Parteien ins Hintertreffen. Das könnte zu Problemen mit der europäischen Justiz führen. Allerdings versucht das italienische Wahlrecht, die Benachteiligung etwas abzumildern. Wenn eine Partei allein antritt, muss sie national mindestens 8 Prozent erreichen, um überhaupt ins Parlament zu kommen. Kandidiert sie aber in einer Koalition, reichen 4,5 Prozent – wenn die gesamte Koalition ihrerseits 12 Prozent erreicht.
Zudem ist in dem Wahlgesetz ein Mehrheitsbonus für die siegreiche Allianz eingebaut. Vereinen sie mindestens 37 Prozent der Stimmen, erhält sie automatisch 52 Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus. Kommt keine der Allianzen über 37 Prozent, dann treten die beiden vorne liegenden Bündnisse zu einer Stichwahl an. Auf diese Weise soll das Wahlrecht eine Lage wie im gegenwärtigen Parlament verhindern. Seit den Wahlen von 2013 sind wegen fehlender Mehrheiten im Senat die Linke und die Rechte auf eine flügelübergreifende Koalition angewiesen, wie sie jetzt auch die Regierung Renzi trägt.
Berlusconi wieder mit im Spiel
Doch auch für den Parlamentsumbau hat sich Renzi von Anfang an auf eine große Koalition, die bis weit nach rechtsaußen reicht, gestützt. Dafür traf er sich bereits vor einigen Wochen mit seinem Vorvorgänger Silvio Berlusconi und löste in seiner sozialliberalen Demokratischen Partei [1] Verärgerung aus. Schließlich wurde der langjährige Regierungschef erst vor wenigen Monaten wegen seiner Vorstrafen aus dem Parlament ausgeschlossen, was zu einer Parteispaltung im rechten Lager führte.
Doch Berlusconi betätigt sich weiter als Strippenzieher in der italienischen Innenpolitik. Dass ihn ausgerechnet Renzi mit seinem Treffen in dieser Rolle bestätigte, kam in seiner Demokratischen Partei nicht gut an. Denn Sozialdemokraten und Linke haben sich in Berlusconi ein bequemes Feindbild gebastelt und wollen damit auch davon ablenken, dass sie in ihrer Regierungszeit vor allem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik kaum Differenzen zu den Rechtsregierungen aufweisen.
Renzi allerdings schert sich sowieso nicht viel um die Befindlichkeiten der Linken und Sozialdemokraten. Der ehemalige Christdemokrat ist mit dem erklärten Vorsatz angetreten, die letzten linken Traditionen in seiner Partei zu tilgen. Da dürfte aber sowieso nicht viel übrig sein.
Keine Frauenparität und nicht mehr Demokratie
Auch bei seiner Parlamentsreform hat er erneut deutlich gemacht, dass er für ein gutes Einvernehmen mit den rechten Parteien keinen Konflikt im eigenen Lager scheut. So wird es keine Geschlechterparität geben. Diese Forderung kam vor allem von Frauen der Demokratischen Partei, stieß aber im Berlusconi-Lager auf entschiedenen Widerstand.
Zudem werden durch das neue Wahlrecht die Rechte der Parteien gestärkt. Den Versuch, durch Präferenzstimmen die Rechte der einzelnen Kandidaten gegenüber der Parteienbürokratie zu stärken, wurden nicht berücksichtigt. Damit ist Renzi seinem Ruf treu geblieben, dass er vor allem ein Hoffnungsträger der Eliten ist. Seine Parlamentsreform hat denn auch ein besseres Durchregieren zum Ziel und nicht eine Demokratisierung der Gesellschaft.
Vor allem die EU-Gremien mahnen bereits seit langem an, in Italien Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wirtschaftsliberale Reformen zügig umgesetzt werden können. Dazu soll auch beitragen, dass im Rahmen der Wahlreform der Senat zu einer nicht mehr direkt gewählten Länderkammer reduziert werden soll. Der muss allerdings seiner Entmachtung noch zustimmen. Dort könne die Reform nach Meinung von Politikbeobachtern noch ins Stocken geraten.
Doch selbst wenn Renzi auch dort Erfolg haben sollte, ist die Frage nach der Stabilität seiner Regierung weiterhin offen. Denn durch die Spaltung [2] der Grillobewegung [3] wäre der Weg zu einer Regierungsmehrheit mit linken Akzenten parlamentarisch möglich. Doch genau das ist nicht das Ziel von Renzi. Dass allerdings die sich als links verstehenden Parlamentarier den gerade zum Hoffnungsträger aufgebauten Politiker wieder stürzen werden, ist unwahrscheinlich.
»Demokratisches Wirtschaften von unten ist, örtlich oder regional vernetzt oder auch als Einzelprojekt, möglich. Dafür sprechen Tatsachen, auch in Deutschland«. Diese optimistische Aussage stammt von Ulla Plener.
Die renommierte DDR-Historikerin beschäftigt sich seit Jahren in ihren Forschungen und Schriften mit Theorie und Praxis der Wirtschaftsdemokratie. Daher war es nur konsequent, dass der von ihr mitbegründete Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung zu ihrem 80. Geburtstag eine Tagung unter das Thema »Demokratische Transformation als Strategie der Linken« stellte. Daran beteiligten sich ausgewiesene Experten aus der alten Bundesrepublik und der DDR sowie viele junge Nachwuchswissenschaftler.
Der Tagung entsprang der hier anzuzeigende Band. Er enthält wichtige Anregungen für eine konstruktive linke Strategiedebatte in- und außerhalb der Parlamente sowie in den Gewerkschaften und sollte deshalb einen breiten Leserkreis, nicht nur unter Genossen und Genossinnen der Linkspartei und der SPD, sondern auch deren Spitzenfunktionären und Wirtschaftsexperten finden.
Ralf Hoffrogge stellt die Debatten über die Demokratisierung der Wirtschaft in der Zeit der Weimarer Republik vor. Nachdem die in der Novemberrevolution aufblühenden rätedemokratischen Modelle im Bündnis von Freikorps und SPD-Führung blutig zerschlagen waren, begann Mitte der 1920er Jahre in der Sozialdemokratie eine neue Debatte über wirtschaftsdemokratische Konzepte, die im Heidelberger Programm von 1925 ihren Niederschlag fand. Ziel war, den Kapitalismus zu bändigen, nicht abzuschaffen.
Doch in Deutschland hatten selbst solche reformkapitalistischen Konzepte nie die Chance einer praktischen Umsetzung. Von jenen ließ sich aber die arbeiterzionistische Aufbaugeneration im späteren Israel inspirieren. Einer der wichtigen sozialdemokratischen Theoretiker der Wirtschaftsdemokratiekonzepte in Weimarer Zeit war Fritz Perez Naphtali, der vor den Nazis nach Palästina floh.
Die Feminismusforscherin Gisela Notz untersucht wirtschaftsdemokratische Elemente in der Geschichte der Genossenschaftsbewegung. Einbezogen sind in diesem Band auch internationale Erfahrungen. Sarah Graber und Kamil Majchrzak zeichnen die Diskussionen über Arbeiterselbstverwaltung in der Frühphase der polnischen Solidarnosc-Bewegung nach. Offen bleibt hier allerdings, wie stark diese Tendenzen wirklich waren. Schließlich konstatieren die Autoren, dass auch die erklärten Marktwirtschaftler, die eine starke Konkurrenz zwischen den Betrieben propagierten, von Anfang an in der Solidarnosc-Bewegung vertreten waren. Von besonderem Interesse dürften die Erfahrungen sein, die mit selbstverwalteten Betrieben in Argentinien gemacht wurden. Jörg Roesler hat sich damit intensiv befasst.
Auch kritische Stimmen zur Wirtschaftsdemokratie sind in diesem Band vertreten. So spricht der Politologe Michael Hewener von einer doppelten Illusion: »die eines möglichen demokratischen Kapitalismus und die eines möglichen Übergangs zum demokratischen Sozialismus«. Er vertritt den Standpunkt, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft dienen stets nur der Verbesserung der Kapitalakkumulation und nicht der Demokratisierung.
Gerade solche kontroversen Einschätzungen und Urteile weisen dieses Buch als eine exzellente Diskussionsgrundlage über das Verhältnis von Demokratie und Wirtschaft aus, um das es in der heutigen Bundesrepublik arg bestellt ist – was wohl keiner ernsthaft negieren kann.
Axel Weipert (Hg): Demokratisierung von Wirtschaft und Staat. Nora Verlag. 230 S., br., 19 €.
Andrej Holm und Autoren berichten über soziale Kämpfe in einer neoliberalen Stadt – das Beispiel Berlin
Seit knapp zwei Jahren gibt es in der deutschen Hauptstadt eine Mieterbewegung, die über Berliner Blätter hinaus für Schlagzeilen sorgt. Die Analysen des Stadtsoziologen Andrej Holm haben vielleicht mit dazu beigetragen, dass sich Mieterprotest artikulierte. In seinem neuen Buch gibt der engagierte Wissenschaftler einen Überblick und zieht Bilanz.
Im ersten Teil werden die Bedingungen untersucht, die Mieter zu Protesten treibt. Dass das Schlagwort der Gentrifizierung den Sachverhalt oft nicht trifft, machen die Stadtplanerin Kerima Bouali und der Stadtsoziologe Sigmar Gude am Beispiel der Entwicklung des Stadtteils Neukölln deutlich. Es sei nicht wahr, dass dort Besserverdienende einkommensschwache Bewohner verdrängen. Vielmehr sei ein Kampf um Wohnungen unter Geringverdienern entbrannt. Die Autoren betonen, dass dieser politisch gewollt und vorangetrieben wurde und wird.
Mehrere Beiträge nehmen die Politik der vormaligen rot-roten Landesregierung kritisch unter die Lupe. Von einem »Masterplan der Neoliberalisierung« spricht Holm und verweist auf die massive Privatisierung landeseigener Wohnungen und die Liberalisierung des Baurechts. Bei seiner Analyse des Berliner Bankenskandals spart auch der Publizist Benedict Ugarte Charon nicht mit Kritik an der PDS bzw. der LINKEN.
Mit der Situation von Sexarbeiterinnen in Berlin-Schöneberg befasst sich die Stadtforscherin Jenny Künkel. Sie analysiert sehr gründlich die Debatte, die vor allem von Gewerbetreibenden gegen den »Straßenstrich an der Kurfürstenstraße« initiiert wurde. Am Ende ihres informativen Beitrags geht sie auf die Probleme der außerparlamentarischen Linken ein, sich mit den stigmatisierten Frauen zu solidarisieren Es ist erfreulich, dass auch solche Aspekte hier beleuchtet werden, die in der Debatte über Mieterproteste und das Recht der Bürger auf ihre Stadt kaum vorkommen.
Jutta Blume zeigt auf, wie sich Künstler mit prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen über Wasser halten – was Imagekampagnen für Berlin als »Hauptstadt der Kreativen« natürlich nicht thematisieren. Berichtet wird auch darüber, wie sich die instrumentalisierten Künstler zu wehren beginnen. Eine ernüchternde Bilanz der Kampagne »Mediaspree versenken«, die sich gegen die Baupläne am Berliner Spree-Ufer wandte, zieht Jan Dohnke. Der Sozialwissenschaftler Robert Maruschke wiederum weiß, wie mit Bürgerbeteiligungskonzepten im Stadtteil Akzeptanz für ungeliebte Projekte gewonnen werden soll. Die von ihm offerierte Alternative einer transformatorischen Stadtteilorganisierung führt er leider nicht weiter aus.
Über Initiativen wie Konti & Co, die in Kreuzberg mit einer Protesthütte und Lärmdemonstrationen gegen Mieterhöhungen aktiv sind, wird im letzten Kapitel informiert. Das Buch dürfte nicht nur für Hauptstädter interessant sein.
Sibylle Plogstedt legte eine lesenswerte Geschichte der DGB-Frauen vor
Der Weg zur Emanzipation der DGB-Frauen in der eigenen Organisation war ein steiniger. Bürokratische Hindernisse und ideologische Differenzen galt es zu überwinden.
»Trotz aller gesellschaftlichen Fortschritte: der Internationale Frauentag hat seine Existenzberechtigung nicht verloren«, heißt es in einer Erklärung des DGB-Bezirks Berlin-Brandenburg zum 8. März. Das war nicht immer so. 1980 wollte der DGB- Bundesvorstand durchsetzen, dass sich gewerkschaftliche Frauen nicht an den Aktionen zum 8.März beteiligen. Schließlich werde der in der DDR gefeiert und Clara Zetkin, die als wichtige Initiatorin gilt, war Mitglied der Kommunistischen Partei. Nachdem örtliche Initiativen die Vorstandsanweisung ignorierten und die Zahl der Besucherinnen gewachsen war, beschloss der DGB eigene Aktionen zum 8. März zu organisieren.
Dabei war man aber bemüht, den Tag von Clara Zetkin zu trennen. Ein historisches Gutachten machte darauf aufmerksam, dass der Anlass für den Internationalen Frauentag ein Streik von Textilarbeiterinnen in den USA gewesen ist. Die heute weitgehenden vergessenen Querelen um den 8. März im DGB verdanken wir dem Buch »Wir haben Geschichte geschrieben«, dass Sibylle Plogstedt herausgegeben hat. Die Autorin war als undogmatische Linke in der außerparlamentarischen Bewegung aktiv und Mitbegründerin der Frauenzeitung Courage.
Die hatte anders als die heute bekanntere Emma schon früh Kontakte auch zu Frauen in der Gewerkschaftsbewegung gesucht. Mit ihrer Geschichte der Frauen im DGB leistete Plogstedt Pionierarbeit. Dabei hatten die DGB-Frauenausschüsse bereits 1980 den Beschluss gefasst, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben. Allerdings verfügte die Frauenabteilung über keinen eigenen Etat. Diese Episode ist durchaus symptomatisch für den Umgang des DGB-Apparates mit der eigenständigen Organisation der Frauen, wie Plogstedt nachweist.
Sie geht chronologisch vor und beschreibt die Geschichte der gewerkschaftlichen Frauen von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Jahr 1990. Dieses Jahr ist tatsächlich auch für die DGB-Frauen eine Zäsur. Erstmals stehen die DGB-Frauen nicht mehr unter der Ägide von CDU-Frauen. Dass mehr als vier Jahrzehnte Mitglied von CDU/CSU für dieses Amt zuständig waren, ist allerdings nicht der Wille der DGB-Frauen gewesen.
Vielmehr zeigt Plogstedt auf, wie die sich sogar dagegen wehrten. Doch der männlich geprägte DGB-Vorstand wollte in ihren Augen zwei Minderheiten in einen Posten unterbringen: Frauen und CDU/CSU-Mitglieder mussten in den Führungsgremien einer Einheitsgewerkschaft berücksichtigt werden. Die dagegen aufbegehrenden Frauen wurden vom zuständigen Sekretär brüsk zurückgewiesen. Plogstedt beschreibt die Folgen dieser bürokratischen Eingriffe. Viele in der unmittelbaren Nachkriegszeit aktive DGB-Frauen meldeten sich bei Gewerkschaftskongressen kaum noch zu Wort. Der Konflikt innerhalb der Frauengremien spitzte sich erst Mitte der 1960er Jahre wieder zu. Während dort eine Mehrheit für eine Reform des Abtreibungsrechts votierte, lehnte es die Christsoziale Maria Weber aus Gewissensgründen ab, den Beschluss nach Außen zu vertreten.
Sibylle Plogstedt hat eine Organisationsgeschichte der Frauen im DGB geschrieben, die man ohne historisches Vorwissen lesen kann und sollte. Eine ähnliche Geschichte des FDGB wäre wünschenswert, denn der wird in dem Buch recht undifferenziert abqualifiziert.
Sibylle Plogstedt, Wir haben Geschichte geschrieben, Zur Arbeit der DGB-Frauen 1945- 1990, Psychosozial-Verlag, 519 Seiten, 19,90 Euro
Peter Nowak* über Federicis Versuch zur Aktualität der Hexenverfolgung
Die US-Professorin Silvia Federici, in den 1970ern Mitgründerin des International Feminist Collective und eine der InitiatorInnen der Forderung nach einem „Lohn für Hausarbeit“, wurde in Deutschland durch das 2012 erschienene Buch „Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution“ (Edition Assemblage) bekannter. Dort sind mehrere Aufsätze dokumentiert, in denen die kapitalistische Krise von einem feministischen Standpunkt analysiert, dem Zusammenhang von Reproduktions- und Produktionsarbeit nachgeht und Überlegungen zu einer feministischen Ökonomie der Gemeingüter (Commons) anstellt. Fast zeitgleich mit diesem Sammelband hat der Wiener Mandelbaum-Verlag in seiner Reihe „Kritik & Utopie“ einen ursprünglich bereits 2004 erschienenen geschichtswissenschaftlichen Grundlagentext von Federici übersetzt und einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht, der als Ergänzung zu den o.g. genannten klassischen Themen der feministischen „Hausarbeitsdebatte“ gelesen werden kann.
„Caliban und die Hexe“ zeichnet die Entrechtung der Frauen am Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nach und verbindet diese Entwicklung mit der zeitgleichen Trennung der Bäuerinnen und Bauern von ihrem Land. Übersetzt wurde das Buch von Max Henninger, der auch „Aufstand aus der Küche“ ins Deutsche übertragen hat. Als koordinierender Redakteur der Webseite Sozial.Geschichte.Online ist er auch Experte für soziale Bewegungen und damit als Übersetzer von Federicis Texten insofern besonders geeignet, als Federici mehrfach betont, dass sie mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten aktuellen sozialen Kämpfen ein theoretisches Fundament liefern will.
Die Autorin nennt in der Einleitung zwei Motive, dieses Buch zu schreiben: „Erstens ist es der Wunsch, die Entwicklung des Kapitalismus aus feministischer Perspektive neu zu reflektieren, allerdings unter Vermeidung der Beschränkungen einer Frauengeschichte, die sich von der Geschichte des männlichen Teils der Arbeiterklasse absetzt“ (S. 12). Als zweite Motivation benennt sie „die weltweite, mit der globalen Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse einhergehende Wiederkehr einer Reihe von Erscheinungen, die gemeinhin mit der Genese des Kapitalismus in Verbindung gebracht werden“ (S.12). Denn die blutige Hexenverfolgung gehöre nicht der Vergangenheit an, wie Federici u.a. mit Verweis darauf, dass in Afrika und Asien Hexenverfolgungen zunehmen, zeigen möchte. Sie sieht dabei einen Zusammenhang mit den von Weltbank und IWF forcierten Angriffen auf die Subsistenzwirtschaften auf diesen Kontinenten.
Schon im Titel wird auf William Shakespeares Theaterstück „Der Sturm“ Bezug genommen, das genau in der Übergangszeit vom Feudalismus zum Kapitalismus geschrieben wurde. Federici liefert eine besondere Lesart dieses Textes, zu dessen Schlüsselfiguren Caliban, der Sklave des Zauberers Prospero, gehört: „In meiner Interpretation steht Caliban jedoch nicht für den antikolonialen Rebellen, dessen Kampf in der zeitgenössischen karibischen Literatur nachhallt, sondern er ist Symbol des Weltproletariats, genauer: des proletarischen Körpers als Terrain und Mittel des Widerstands gegen die Logik des Kapitalismus“ (S. 12).
Kapitalismus als Konterrevolution
Wie Federici bedient sich auch das Autorenduo Rediker/Linebaugh operaistischer Parameter bei ihrer Betrachtung der Geschichte. Im Gegensatz zum traditionellen Marxismus lehnen alle drei eine historische Zwangsläufigkeit ab, die vom Feudalismus über den Kapitalismus zum Sozialismus führen soll, und sprechen im Gegensatz zu Marx dem Kapitalismus in keiner Phase emanzipatorische Potentiale zu. „Der Kapitalismus war eine Konterrevolution, die die aus den antifeudalen Kämpfen hervorgegangenen Möglichkeiten zerstörte“ (S. 26), schreibt Federici. Sie bezieht sich dabei auf die europaweiten Kämpfe von Bauern, Landarbeitern und städtischen Armen, die im 15. und 16. Jahrhundert in Europa wirkungsmächtig waren. Für das Territorium des heutigen Deutschlands zählen dazu etwa die Bauernkriege und ihre Nachfolgeaufstände, die bis zu der kurzen Herrschaft der Wiedertäufer in Münster reichen. Federici weist mit Recht auf die europaweite Dimension dieser Kämpfe hin und zeigt auch, dass sich bekannte Intellektuelle und Künstler ihrer Zeit mit den Aufständischen solidarisieren. Wenn sie in diesen Bewegungen, wie auch in den Ketzerbewegungen des europäischen Mittelalters, unbedingt emanzipative Momente entdecken will, wirkt das allerdings manchmal etwas bemüht. Allzu wohlwollende Lesarten versieht sie oft selbst mit Fragezeichen. Schließlich ist die Quellenlage schlecht, und oft sind Berichte über diese Bewegungen nur von ihren Verfolgern überliefert.
Hexenverfolgung als Teil des Kampfes gegen die ArbeiterInnenbewegung
Das bezieht sich auch auf die Hexenverfolgung, die in den letzten beiden Kapiteln ausführlich dargestellt wird. Dabei kritisiert sie die Gleichgültigkeit und Ignoranz dieser „großen Hexenjagd“ (S.201) gegenüber auch bei marxistischen Historikern und bei Marx selbst: „Marxens Analyse der ursprünglichen Akkumulation erwähnt auch die ‚Große Hexenjagd‘ des 16. und 17. Jahrhunderts nicht, obgleich diese staatlich geförderte Terrorkampagne für die Niederlage der Bauern von zentraler Bedeutung war, da sie die Vertreibung der Bauern von den vormals gemeinschaftlich genutzten Ländereien erleichterte“ (S. 78).
Die Autorin begründet die These hauptsächlich damit, dass die Frauen zu den Hauptträgerinnen des Widerstandes gegen die Einhegungen gehörten. Mit der Hexenverfolgung sei dieser Widerstand wesentlich geschwächt worden.
Für Federici gehören die Hexenverfolgungen zur Geschichte der Verfolgung der Arbeiterbewegung, denn es seien schließlich in der Regel Frauen aus der Unterklasse, die als Hexen verfolgt worden seien. „Die Hexenverfolgungen vertieften die Spaltung zwischen Männern und Frauen. Sie lehrten Männer, die Macht der Frauen zu fürchten, und sie zerstörten ein ganzes Universum von Praktiken, Glaubensvorstellungen und sozialen Subjekten, deren Existenz mit der kapitalistischen Arbeitsdisziplin unvereinbar war“ (S. 203). An anderer Stelle schreibt die Autorin: „Die Hexenverfolgungen dienten auch dem Aufbau einer patriarchalen Ordnung, unter der die Körper der Frauen, ihre Arbeit und ihre reproduktiven Vermögen unter staatliche Kontrolle gestellt und in ökonomische Ressourcen verwandelt wurden“ (S. 209 f). Hier beschreibt Federici über Folgen der Hexenverfolgung. Bei ihr wird darauf aber eine Intention, als ob es gesellschaftliche Kräfte gegeben habe, die die Hexenverfolgung zielbewusst eingesetzt hätten, um den Widerstand gegen den Kapitalismus zu schwächen. Den Beweis dafür bleibt Federici aber schuldig. Gut heraus gearbeitet hat sie allerdings, wie widerständige Frauen auch dann noch zu Hexen erklärt wurden, als sie nicht mehr am Scheiterhaufen endeten.
Das Feindbild Hexe habe sich auch nach dem Ende der großen Verfolgungen gehalten. Federici verweist hier auf die hetzerische Darstellung von politisch aktiven Frauen in der Pariser Commune, die an das Bild der Hexe erinnern. „1871 griff das Pariser Bürgertum instinktiv darauf zurück, um die weiblichen Kommunardinnen zu dämonisieren und ihnen vorzuwerfen, sie wollten Paris in Brand stecken“ (S. 251). Man könnte dieses Beispiel durch die Darstellung politisch aktiver Frauen in der bayerischen Räterepublik ergänzen, auf die der Autor Klaus Theweleit in dem Buch „Männerphantasien“ hingewiesen hat.
Angriff auf die Subsistenz
Federici beschäftigt sich in einem Kapitel ausführlich mit der Politik der Einhegung und Einzäunung von Äckern und Weideland. Diese gewaltsame Trennung der Menschen vom Land, wo sie Nahrung anbauen und eine Subsistenzwirtschaft betreiben konnten, war bekanntlich eine Voraussetzung dafür, die Menschen in den Stand der „doppelt freien Lohnarbeit“ (Marx) zu setzen, die in den Manufakturen und Fabriken verrichtet werden musste. Marx fasste diesen Prozess der Trennung der Arbeiter von ihren Produktionsmitteln in den Begriff der ursprünglichen Akkumulation. Doch für Federici geht Marx hier nicht weit genug. “Marx analysierte die ursprüngliche Akkumulation allerdings fast ausschließlich vom Standpunkt des Industrieproletariats aus“ (S. 77). Dagegen würde er die Veränderungen in der Reproduktion der Arbeitskraft und der Stellung der Frau kaum erwähnen. Hier setzt Federici an, wenn sie betont, dass die ursprüngliche Akkumulation „nicht allein in der Konzentration von Kapital und für die Ausbeutung verfügbarer verfügbaren Arbeitern“ (S. 78) bestehe. Für sie gehört die „Akkumulation von Unterschieden und Spaltungen zwischen der Arbeiterklasse“ (S. 78) dazu. Sie benennt hierbei Hierarchisierungen, die auf Geschlecht, Rasse und Alter beruhen. Die Autorin unterstellt, dass (nur) ein heteronormatives Geschlechterverhältnis und eine entsprechend heterosexuelle familiäre Arbeitsteilung funktional für die Aufrechterhaltung kapitalistischer Produktion seien. Zudem wirft sie vielen Marxisten vor, „die kapitalistische Akkumulation mit der Befreiung des Arbeiters oder Einfügung ist richtig [der] Arbeiterin gleichzusetzen“ (S.78) und betont dagegen, dass der Kapitalismus „brutalere und listigere Formen der Versklavung“ (S. 78) habe. Hier sind kritische Nachfragen angebracht. Wo haben welche Marxisten dem Kapitalismus pauschal das Verdienst der Befreiung der Arbeiter zugerechnet? Bei Marx selbst ist der doppelt freie Arbeiter ausdrücklich kein befreites Subjekt. Es geht bei Marx immer um eine Unterscheidung der Hinsichten: Freiheit von was und Freiheit zu was? Wenn Federici zudem vom Kapitalismus als einer besonderen Form der Versklavung spricht, geht der spezifische Unterschied zwischen einer Sklavenhaltergesellschaft, in der gerade keine Lohnarbeit in großem Maße vorhanden ist, und der kapitalistischen Ausbeutung verloren. Das sind nur zwei von vielen inhaltlichen Fragen, die sich nach der Lektüre von Federicis Versuch über die Entstehung des Kapitalismus stellen. Was bleibt, ist ein brillant geschriebenes, anregendes, mit vielen zeitgenössischen Motiven Bildern, Flugschriften und Karikaturen versehenes Buch, das zur kritischen Debatte anregt, auch und gerade, wenn man ihre Argumente nicht teilt .
http://www.labournet.de/express/
Peter Nowak
Silvia Federici: „Caliban und die Hexe – Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation“, übersetzt von Max Henninger, herausgegeben von Martin Birkner, 315 Seiten, Mandelbaum Verlag, Wien 2012, 24,90 Euro, ISBN 978-3-85476-615-5
»Keine Hundesteuer, keine Mietsabgaben, keine neuen Maschinen und im Tiergarten rauchen« – das waren die Forderungen einer Demonstration im Juli 1830, die als Berliner Schneideraufstand in die Geschichte einging. Mit dieser sozialen Bewegung beginnt der Historiker Axel Weipert seine »Geschichte des Roten Berlin«. Es folgen der Kartoffelaufstand am Mehringplatz 1847 und die Blumenstraßenkrawalle gegen Zwangsräumungen in Kreuzberg 1872, die vom Militär blutig unterdrückt wurden. Auch in der Weimarer Zeit legt Weipert das Augenmerk auf die Geschichte sozialer Bewegungen. Die beginnt mit den Revolutionären Obleuten, den eigentlichen Trägern der Novemberrevolution. Der Autor zeigt, wie die Rätebewegung von den Freikorps blutig unterdrückt wurde, die im Auftrag der SPD die Revolution abwürgten. Wenig bekannt sind die starke Erwerbslosenbewegung in der Frühzeit der Weimarer Republik und eine Schöneberger Siedlung, die noch in der Frühphase des Naziregimes als Rote Insel bekannt war. Weipert konzentriert sich auf den Stadtteil und selbstorgansierte Kämpfe. Diese wurden in der sozialdemokratischen Presse oft mit Krawall in Verbindung gebracht, etwa die Demonstrationen junger Erwerbsloser 1892 oder die Proteste von Obdachlosen einige Jahre später. Es ist verdienstvoll, dass Weipert diese von den Parteien und Gewerkschaften oft ignorierten oder gar diffamierten Kämpfe in seinem gut lesbaren Buch einer größeren Öffentlichkeit bekannt macht.
http://www.akweb.de//ak_s/ak590/03.htm
Peter Nowak
Axel Weipert: Das Rote Berlin. Eine Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung 1830 – 1934. Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2013. 251 Seiten, 29 EUR.
Ein Film stellt sich am Beispiel der deutschen Einsatzgruppen im Zweiten Weltkrieg die Frage, wie normale Männer Massenmörder wurden, blendet aber die deutschen Spezifika aus
„Männer, Frauen, Kinder, alle umgebracht. Liebe Heidi. Mach Dir keine Sorgen. Alles wird gut.“ Diese Zeilen hat ein Mitglied jener deutschen Einsatzgruppen, die während des Zweiten Weltkriegs in den von der Wehrmacht besetzten osteuropäischen Ländern Juden, Kommunisten, Sinti und Roma ermordeten, an seine Familie nach Hause geschrieben.
Das Zitat findet sich in dem Film „Das radikal Böse“ des österreichischen Regisseurs Stefan Ruzowitzky, der am 16. Januar in die deutschen Kinos kommt. Er setzt sich mit den Verbrechen in der NS-Zeit auf eine Weise auseinander, dass die abgedroschene Floskel, dass hier Maßstäbe gesetzt würden, ausnahmsweise einmal passend ist.
Einsatzgruppen – die Speerspitze des NS-Massenmordes
Zunächst ist es bemerkenswert, dass Ruzowitzkys Filmessay nicht die Opfer, sondern die Täter in den Mittelpunkt des Films stellt. Schon das ist eine Ausnahme. Zudem handelt es sich um eine Tätergruppe, die in der öffentlichen Debatte weitgehend ausgespart wird. Wenn überhaupt deutsche Täter in den Blick geraten, dann sind es KZ-Kommandanten oder deren engste Mitarbeiter. Dass aber ein Großteil der Massenmorde nicht in den Konzentrationslagern verübt wurde, sondern in Osteuropa oft auf freien Feldern außerhalb von Dörfern und Städten, wo die Opfer ihre Gräber oft noch selber schaufeln müssten, wird dabei oft vergessen. Diese historische Tatsache ist im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland auch kaum präsent.
Daher sind die Details dieser Mordaktionen auch noch wenig bekannt. So hat Jens Hoffmann mit seinen im Konkret-Verlag erschienenen Buch „Das kann man nicht erzählen – Aktion 1005“ in einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht, wie Gestapo und SS im Rahmen der Aktion 1005 die Leichen der Ermordeten ausgraben ließ, als die Rote Armee näher rückte. Im Berliner Metropolverlag haben Stephan Lehnstaedt und Jochen Böhler erstmals eine vollständige Edition der Einsatzgruppen-Berichte aus Polen aus dem Jahr 1939 herausgegeben (Die Berichte der Einsatzgruppen aus Polen 1939).
Die historischen Details dieser deutschen Speerspitze des Massenmordes stehen allerdings nicht im Fokus des Films „Das radikal Böse“. Im Film steht die anthropologische Komponente im Mittelpunkt. Seine Fragestellung lautet, wie ganz normale Männer in bestimmten historischen Situationen zu Mordmaschinen werden können, die Fußballspielen oder ihre Kinder grüßen, nachdem sie Männer, Frauen und Kinder niedergemäht haben.
Der Massenmord als Job, der erledigt werden muss, begegnet uns im Film immer wieder in den eingesprochenen Zitaten. Sie sind Feldpostbriefen, Gerichtsaktionen, Kommissionsberichten entnommen, in denen die Täter sich äußerten. Darunter befanden sich auch Männer, die am Anfang durchaus mit ihrem blutigen Job nicht einverstanden waren. Die darüber klagten, dass sie als ehrbare deutsche Soldaten noch wehrlose Frauen und Kinder erschießen mussten. Manche trugen sich sogar mit Suizid-Gedanken. Andere schrieben aber, dass der Blutjob für sie bald Routine wird. Es ist eine Aufgabe, die erledigt werden muss, um in der Freizeit das normale Leben möglichst unbelastet davon führen zu können.
Warum verweigerten so wenige die Beteiligung am Massenmord?
Nur ganz wenige allerdings zogen die Konsequenz und verweigerten den Massenmord. Im Film wird auch ästhetisch sehr gelungen gezeigt, dass die Betroffenen degradiert und von ihren Vorgesetzen und Kumpanen als Memmen und Schwächlinge bezeichnet wurden, dass aber eine solche Verweigerung keine Strafen, schon gar nicht die Hinrichtung zu Folge hatte.
Auf die Frage, warum auch die Männer, die in ihren Briefen die persönliche Abscheu vor dem Blutjob ausdrückten, in der Regel den Mordauftrag nicht verweigerten, gaben Historiker und Psychologen im Film sehr unterschiedliche Erklärungen. So verweist der Historiker Christopher Browning auf die spezifische Situation der Mörder, die in ihren Einheiten natürlich keine Beratungen für Verweigerungen bekamen. Browning gehört mit seiner Fallstudie über das Hamburger Polizeibataillon 101 zu den Pionieren der Forscher über die Einsatzgruppen. Das Buch trug den bezeichnenden Titel „Ganz normale Männer“.
Wie deutsch waren die normalen Männer?
Diese These war ein Fortschritt gegenüber der lange verbreiteten Vorstellung, die Menschen, die sich aktiv an der Verfolgung an der Ermordung von Juden und NS-Gegnern beteiligt hatten, hätten vielleicht im deutschen Namen gehandelt, aber die deutsche Bevölkerung sei davon nicht tangiert. Nun kann man allerdings die Normalitätsthese, wie übrigens auch Hannah Arendts auf Adolf Eichmann bezogene Diktum von der Banalität des Bösen, auch überziehen.
Genau das passiert im Film, wenn die Mitglieder der Einsatzgruppen nicht als ganz normale Männer im NS-Deutschland, sondern als ganz normale Männer der Spezies Homo sapiens dargestellt werden. So werden Darstellungen verschiedener bekannter Versuchsanordnungen beispielsweise von dem dem Milgram-Experiment eingespielt, in denen die Probanden den vermeintlichen Versuchspersonen mit Stromschäden große Schmerzen und lebensgefährliche Verletzungen beibringen, zur Illustration dieser anthropologischen Argumentation im Film eingeblendet. Am Ende verweisen Interviewpartner auf aktuelle Konflikte von Ruanda bis Dafur. Man solle sich dabei nicht auf den Menschen verlassen, nur stabile Institutionen könnten im Zweifel die Morde verhindern, heißt es da.
Damit werden dann die Spezifika, die aus ganz normalen deutschen Männern Massenmörder machten, zu einen Problem zwischen Menschen und Institutionen umgedeutet. Nur so kann auch so positiv auf Institutionen verweisen, die die Morde verhindern könnten. Unerwähnt bleibt, dass es in Deutschland schon lange vor dem Aufstieg des NS völkische und antisemitische Institutionen gab, die erst diese normalen deutschen Männer so konditionierten, dass die Massenmörder wurden. Auch die Frühphase der Weimarer Republik, als widerständige Arbeiter zu Tausenden in ganz Deutschland von Freikorps ermordet wurden, lieferten eine wichtige Vorbereitung für den Massenmord.
In Klaus Theweleits „Männerphantasien“kann man einiges dazu nachlesen. Er gehörte aber nicht zu den Interviewpartnern des Filmes. So bleibt ein zwiespältiges Fazit. Der Filmessay ist ästhetisch gut gelungen und kann ein Beispiel dafür sein, wie Filme über die NS-Verbrechen in einer Zeit aussehen könnten, in denen es keine Zeitzeugen mehr gibt. Inhaltlich allerdings trägt auch er dazu bei, die spezifischen deutschen Bedingungen der NS-Verbrechen auszublenden und sie in die menschliche Spezies zu verlagern.