Bürgerbeteiligung als Absicherung von Elitenherrschaft?

Der Soziologe Thomas Wagner setzt sich kritisch mit Diskussionen über Bürgerbeteiligung auseinander
Der Verein „Mehr Demokratie e.V.“, der sich für Volksentscheide einsetzt, erfreut sich nicht nur bei außerparlamentarischen Initiativen großer Beliebtheit. Zum zwanzigjährigen Jubiläum des Vereins gratulierten Politiker aller politischen Lager. Bürgerbeteiligung ist mittlerweile zum Modebegriff geworden, und scheinbar finden alle Bürgerbeteiligung gut. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Begriff?

Der Publizist Thomas Wagner hat sich diese Frage gestellt und kommt in dem vor Kurzem im Papyrossa-Verlag erschienenem Buch „Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus“ zu Antworten, die auch manche Freund/innen der Bürgerbeteiligung in außerparlamentarischen Initiativen nachdenklich stimmen dürften. Er weist dort nach, dass mit dem Gerede von Bürgerbeteiligung manchmal die Herrschaft der Eliten sogar stabilisiert werden soll. Was auf den ersten Blick paradox klingen mag, erklärt sich, wenn Wagner untersucht, was mit dem „Bürger“ gemeint ist, der sich da beteiligen soll.

Ausführlich setzt sich der Autor mit einer konservativen Parlaments- und Parteienkritik auseinander, die den „Bürger“ ins Feld führt, um gegen angebliche Sonderinteressen zu polemisieren. Dabei gehe es vor allem darum, den Einfluss organisierter Interessenvertretungen der Lohnabhängigen und der Erwerbslosen zu minimieren, betont Wagner. Er zeigt an verschiedenen Beispielen auf, wie in rechtskonservativen Kreisen mit dem Verweis auf die schweigende Mehrheit soziale Regelungen, Forderungen von Gewerkschaften, aber auch von sozialen Initiativen und Umweltverbänden ausgehebelt werden sollen. Dass es sich dabei nicht nur um theoretische Überlegungen handelt, zeigte das Volksbegehren zur Hamburger Schulreform im Juli 2010. Damit hatte sich ein Bündnis aus Elite und Mittelstand gegen die Kinder von einkommensschwachen Familien durchgesetzt. In einer Zeit, wo Vorstellungen einer solidarischen Gesellschaft nicht besonders weit verbreitet sind, dürften sich solche Initiativen durchaus wiederholen. Zudem stehen sie in einer Tradition, denn der Parteienstaat, der unterschiedliche Interessen austarieren muss, hindere am kraftvollen Durchregieren, lamentierten schon rechtskonservative Parlamentskritiker in der Weimarer Republik, wie Wagner nachweist.Wie sollen soziale Initiativen reagieren, wenn Bürgerbeteiligung und Parlamentskritik zum Vehikel für „plebiszitär abgesicherte Elitenherrschaft“ zu werden droht? Diese Frage kommt in Wagners Buch leider etwas kurz. Die Selbstorganisation am Arbeitsplatz, im Stadtteil und im Jobcenter wäre eine solche Alternative. Dass sie bei Wagner nur am Rande erwähnt ist, ist nicht unbedingt ein Manko des Buchs, schließlich muss sie in der konkreten Praxis hergestellt werden. Wagner zeigt aber mit seinen Buch auf, dass längst nicht alles, was unter dem Label Bürgerbeteiligung gehandelt wird, mit Selbstermächtigung und Selbstorganisation verbunden ist.

„Zwar war der Ruf nach mehr direkter Demokratie selten lauter als heute, doch nie zuvor war er auch so ambivalent. Denn während die Forderung zu Zeiten des gesellschaftlichen Aufbruchs der 60er und 70er Jahre in der BRD meist mehr oder weniger eng mit dem Ziel verknüpft war, die Macht der Konzerne zu brechen und auch die Wirtschaft zu demokratisieren, hat heute längst nicht jeder, der den Wähler als Souverän beschwört, die Machenschaften politischer Eliten an den Pranger stellt, für Volksabstimmungen und mehr direkte Demokratie wirbt, wirklich den Abbau von Herrschaft und Ungleichheit im Sinn. Selten wird die Forderung noch mit einer umfassenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verknüpft. Von einer Erweiterung des öffentlichen statt des privaten Sektors – Rätedemokratie, Arbeiterselbstverwaltung, Genossenschaften – oder selbst von betrieblicher Mitbestimmung und sozialen Sicherungssystemen, geschweige denn von demokratischer Planung des Wirtschaftslebens oder gar einer grundlegenden Veränderung der Eigentumsverhältnisse ist in den heutigen Diskussionen über mehr Bürgerbeteiligung, Volksinitiativen und Volksabstimmungen so gut wie gar nichts zu hören.“ „Wer sich die Forderung nach mehr Demokratie auf die Fahnen schreibt, kann in der Regel mit einer positiven Resonanz rechnen. Das politische Zauberwort verspricht eine größere Beteiligung der Menschen an die sie betreffenden Entscheidungen, Befreiung von Fremdbestimmung und repressiver Herrschaft. Das Engagement für direkte Demokratie steht zweifellos in einer guten Tradition. Seit den Tagen der Aufklärung zielt fortschrittliche Politik darauf, dass die Bürger selbst über ihre Angelegenheiten entscheiden. Echte Demokratie diesem Sinne verlangen heute die Revolutionäre in der arabischen Welt, die Demonstranten in Griechenland, aber auch die gegen Arbeitslosigkeit, das Finanzdiktat der EU und ihre wortbrüchige Regierung revoltierenden spanischen Bürger.“

Thomas Wagner: Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Köln 2011, Papyrossa-Verlag, 142 Seiten, 11,90 Euro, ISBN: 978-3-89438-470-8

Peter Nowak
aus Mieterecho 353, März 2012

http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2012/me-single/article/
buergerbeteiligung-als-absicherung-von-elitenherrschaft.html
Peter Nowak

Das Lied der Commune

Manfred Sohn hofft auf einen neuen Anlauf

Gewiss, doch sie kommt, die Kirschenzeit. Wenn die Nachtigall singt, die Spottdrossel singt, in das Lied der Commune«, sang der linke Barde Franz Joseph Degenhardt in den 70er Jahren. Dem damaligen mamarxistischen Gewerkschaftler Manfred Sohn scheinen die Zeilen nicht aus dem Kopf gegangen zu sein Diesen Erinnerungen ist es zu verdanken, dass auf dem Cover des kürzlich im Papyrossa-Verlag erschienenen Buches von Sohn mit dem optimistischen Titel „Der dritte Anlauf – Alle Macht den Räten“ zwei Kirschen prangen. Der niedersächsische Landesvorsitzende der Linken singt in dem Buch tatsächlich ein neues Lied der Pariser Commune, die für einen neue sozialistische Bewegung mehr als die ehemalige Sowjetunion ein Vorbild sein soll. Dabei gelingt es ihm gleich im ersten seiner neun Kapitel des einfach zu lesenden Buches eine erstaunliche Präzisierung des Kommunegedankens. Dort zieht er eine Linie von der Pariser Commune zur aktuellen Kommunalpolitik, auf die er sich als Politiker der Linken besonders konzentriert. Er beschreibt, wie im Zeichen von Schuldenbremsen und Spardiktaten die politischen Spielräume für die Kommunen immer enger werden. Güter der Daseinsvorsorge werden privatisiert, Kultureinrichtungen geschlossen. Dagegen setzt Sohn auf eine Kommune, deren Bewohner die Interessen selbstbewusst vertreten und landet wieder bei der Pariser Kommune. Im folgenden Kapitel setzt sich Sohn mit der politischen Verarbeitung der kurzen Geschichte der Pariser Kommune in der marxistischen Literatur auseinander und kommt zu dem Schluss, dass Marx und Engels der Dezentralität eine wichtige Vorbildrolle für andere sozialistische Entwicklungen zugesprochen haben, die in der Sowjetunion aber schnell in Vergessen gerieten. Über die von Karl Marx verfasste Schrift: „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ schreibt Sohn: „Alles, was im weiteren Text dieses kleinen Büchleins als dezentralisierter Sozialismus, als Stärkung der Kommune gedacht war, steht unter dem Generalvorbehalt der Verknüpfung mit Eigentumsfrage“. Die ist für ihn bis heute zentral. „Gibt die Verfassung unserer Kommunen alle Macht in die Hand und lass der Deutschen Bank und den vier großen Energiekonzernen… ihr Eigentum und die scheinbare kommunale Macht wird regelmäßig zur Lachnummer“, schreibt der Autor und dürfte bei vielen Initiativen, die mit Referenden für die Rekommunalisierung von Gütern der Daseinsvorsorge kämpfen, auf Zustimmung stoßen.

Neben dem Rätegedanken widmet sich Sohn der überwiegend von Frauen geleisteten Reproduktionsarbeit, der er eine zentrale Rolle bei einen neuen sozialistischen Anlauf zuspricht. In mehreren Kapiteln beschäftigt er sich mit Schriften Rosa Luxemburgs dazu, und geht auch auf die aktuelle Debatte in der Linkspartei ein So beschäftigt er sich kritisch-solidarisch mit der von der feministischen Sozialistin Frigga Haug in die Debatte gebrachten Modelle der Neuregelung Lebens- und Arbeitszeit. Mit seiner Verknüpfung von Dezentralisierung und Reproduktionsarbeit hat Sohn wichtige Gedanken formuliert, die auch bei sozialen Initiativen außerhalb der Linkpartei sowie bei Feministinnen auf Interesse stoßen dürften. Dem belesenen Autor gelingt es, seine aktuellen Thesen mit historischen Schriften der Arbeiterbewegung zu belegen. Allerdings überzeugen seine auch in der feministischen Debatte umstrittenen Ausflüge in die Matriarchatsforschung ebenso wenig, wie sein kurzer Bezug auf den Zinstheoretiker Silvio Gesell. Warum Sohn den erklärten Antimarxisten Gesell überhaupt erwähnt und dabei die lange Debatte über die antisemitischen Implikationen von dessen Geld- und Zinstheorie ausblendet, bleibt offen. . Trotz dieser Kritikpunkte liefert der Autor mit dem Buch ein Diskussionsangebot auch für Linke ohne Parteibuch.


Manfred Sohn: Der dritte Anlauf – Alle Macht den Räten. Papyrossa Verlag, Köln 2012, 180 Seiten, 12,90 Eur
o
https://www.neues-deutschland.de/artikel/221152.das-lied-der-commune.html
Peter Nowak

Wiederentdeckung eines Aufständischen


AUFGESCHRIEBEN Der Novemberrevolutionär Richard Müller war lange vergessen – bis ein junger Historiker seine Biografie verfasste. Jetzt wurde auch Müllers „Geschichte der Novemberrevolution“ neu aufgelegt

Dass Geschichte von den Siegern geschrieben wird, diese These lässt sich an der Rezeption der Novemberrevolution in Deutschland besonders gut nachweisen. Während der rechte Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der die Revolution nach eigenen Bekunden hasste wie die Sünde, in allen Schulbüchern steht, ist Richard Müller vergessen. Dabei gehörte der Berliner Metallarbeiter als Vorsitzender der Revolutionären Obleute 1918 zu den zentralen Protagonisten der Revolution. Für kurze Zeit war er als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten sogar nominell Staatsoberhaupt im nachrevolutionären Deutschland. Doch selbst ein ausgewiesener Kenner der ArbeiterInnenbewegung wie der Marburger Politologe Wolfgang Abendroth schrieb über Müller in den 70er Jahren: „Dann verlieren sich seine Spuren in der Geschichte.“

Der junge Berliner Historiker Ralf Hoffrogge hat sich dennoch auf die geschichtliche Spurensuche begeben und ist fündig geworden: 2008 hat er eine Biografie des vergessenen Gewerkschafters herausgegeben: „Richard Müller – der Mann hinter der Novemberrevolution“.

Mit Telefonbüchern auf dem Fußboden

Er habe sich für seine Abschlussarbeit an der Freien Universität bewusst für Müller entschieden, weil es zu ihm keinerlei Forschungsergebnisse gab, erklärt Hoffrogge. Seine Recherche erwies sich anfangs als recht mühsam: „Zeitweise habe ich auf dem Fußboden des Archivs gesessen und Telefonbücher aus den 1920ern nach dem Namen ,Müller‘ durchsucht“, beschreibt der Geschichtswissenschaftler die Mühen der Forschung. Aus Tauf- und Handelsregistereinträgen sowie Zeitungsmeldungen gelang es ihm schließlich, Müllers Biografie weitgehend zu rekonstruieren. Das Ergebnis stieß nicht nur bei HistorikerInnen, sondern auch bei Berliner GewerkschafterInnen auf Interesse. Dort interessierte man sich vor allem für Müllers Rätekonzepte und seine Ansätze einer basisorientierten Gewerkschaftspolitik. Und von dort kam auch der Anstoß, Müllers „Geschichte der Novemberrevolution“, die Mitte der 1920er Jahre zum ersten Mal erschien, im Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ neu herauszugeben. Als Müller das dreibändige Werk verfasste, spielte er in der Politik bereits keine Rolle mehr. Nachdem er – nach kurzer Mitgliedschaft – wegen eines Streits über die politische Orientierung aus der KPD ausgeschlossen wurde und der Aufbau einer neuen linken Gewerkschaft gescheitert war, hatte er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

„Die Zeitzeugenberichte Richard Müllers kamen der damaligen Realität deutlich näher als die recht einseitigen und mit Mythen, Legenden und Tabus behafteten Geschichtsbetrachtungen vieler sozialdemokratischer und kommunistischer HistorikerInnen“, begründet Verlagsmitarbeiter Jochen Gester den Reprint, von dem seit Dezember 2011 bereits mehr als 500 Exemplare verkauft worden sind.

Ralf Hoffrogge hat jetzt angeregt, eine Straße in Berlin nach Richard Müller zu benennen. Von der Politik ist der Vorschlag bisher noch nicht aufgegriffen worden. PETER NOWAK

Richard Müller: „Eine Geschichte der Novemberrevolution“. Neuausgabe der Bände „Vom Kaiserreich zur Republik“, „Die Novemberrevolution“, „Der Bürgerkrieg in Deutschland“. Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2011, 756 Seiten

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/
?ressort=bl&dig=2012%2F02%2F24%2Fa0156&cHash=08412cdb1d
Peter Nowak

Gleiche Arbeit – gleiches Geld

Ein Büchlein sammelt Argumente zur Abschaffung der Leiharbeit

Andreas Förster, / Holger Marcks (Hg.): „Knecht zweier Herren. Zur Abschaffung der Leiharbeit“, Münster November 2011, 78 Seiten, EUR 7,80, ISBN 978-3-89771-112-9

Der Trend zum Kleinbuch hält an. Dass in der Kürze manchmal die Würze liegen kann, beweisen die Berliner Journalisten Andreas Förster und, Holger Marcks mit ihrem gerade im Unrast-Verlag erschienen Büchlein: „Zur Abschaffung der Leiharbeit“ bewiesen. Damit widmen sie sich dem eigentlichen Boom-Sektor in der deutschen Wirtschaft.
In den 70er Jahren galt sdie Leiharbeit noch als Skandal, wie sich an dem Bestseller „Ganz unten“ von Günther Wallraff zeigte. Die Leiharbeitsbranche hatte damals noch Imageprobleme und kämpfte um die Begriffe. Zeitarbeit und Personalleasing sollten den Begriff der Leiharbeit ersetzen. Bei den Beschäftigten hat eine solche semantische Maskerade wenig Erfolg. Sie kennen den Inhalt des Begriffs sehr genau.
Der Boom der Leiharbeit hatte ökonomische Gründe, die Holger Marcks und Andreas Förster in ihren Beiträgen nachzeichnen. Die Hartz IV-Gesetze waren nur der letzte Baustein. Förster zeigt auf, wie seit Ende der 90er Jahre die gesetzlichen Regelungen für die Etablierung der Leiharbeit geschaffen wurde. Ziel war die Senkung der Kosten der Ware Arbeitskraft.
Matthias Seiffert untersucht in seinem Beitrag: „Titel Around the Work – die globale Ausprägung der Leiharbeit“ die Bedingungen für die Leiharbeit im EU-Raum. Bisher ist Griechenland mit 0,1 Prozent der Leiharbeiter noch ein Schlusslicht. Das dürfte sich mit der Etablierung eines EU-Krisenprotektorats für das Land ändern. Es stellt sich die Frage, ob die niedrige Zahl der Leiharbeiter in dem Land auch ein Erfolg gewerkschaftlicher Kämpfe war. In Deutschland zumindest haben die DGB-Gewerkschaften nach Meinung von Andreas Förster einen großen Fehler begangen, indem sie Tarifverträge mit Leiharbeitsfirmen schlossen. „Ohne Tarifvertrag gilt für Lohnarbeiter der einfache wie einleuchtende Grundsatz: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Nichtstun wäre hier für seriöse Gewerkschaften die Devise gewesen, denn zum Vertragsabschluss gehören immer noch zwei“, formuliert Andreas Förster eine Kritik, die zunehmend auch in den DGB-Gewerkschaften zu hören ist. So hat das von der IG-Metall initiierte Netzwerk „ZeitarbeiterInnen – ohne Organisation machtlos“ (ZOOM) die vage Parole “Leiharbeit fair gestalten“ durch die Forderung „Gleiche Arbeit – gleiches Geld“ ersetzt.
Der Münsteraner Soziologe Torsten Bewernitz gibt in seinem Beitrag „Stille Wasser – die Ansätze von Widerstand gegen die Leiharbeit“ einen kurzen Überblick über Proteste gegen die Leiharbeit in Deutschland. Er erwähnt Kundgebungen gegen die Leiharbeitsmessen und Jobbörsen, geht auf Leiharbeitsspaziergänge ein, bei denen bekannte Firmen aufgesucht wurden, und erinnert an denm Streik bei einer Leiharbeitsfirma in Frankfurt/Main im Dezember 2005. Dass auch die Kampagne „Leiharbeit abschaffen“ der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) in dem Buch erwähnt wird, muss nicht verwundernt. Schließlich sind fünf der sechs Autoren FAU-Mitglieder.


MiIt Sklaverei gleichgesetzt

Dass die Forderung nach Abschaffung der Leiharbeit keine Traumtänzerei ist, machte der Beschluss des Oberste Gerichtshof von Namibia deutlich, den Matthias Seiffert in seinen schon erwähnten kurzen Überblick über die globale Ausprägung der Leiharbeit hervorhob. gibt es dazu einen Beitrag in dem Buch? Er verbot nach anhaltenden Gewerkschaftsprotesten 2009 die Leiharbeit mit der Begründung, dass sie mit der Sklaverei gleichzusetzen und damit in dem südafrikanischen Land illegal sei. Damit schloss sich die namibische Justiz argumentiert hier genauso wie einer Bewertung der die IG-Metall, die in einer Broschüre 1994 die Leiharbeit ebenfalls und zu Recht als moderne Sklavenarbeit bezeichnete.
http://www.labournet.de/express/
Peter Nowak
aus: „express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“, 1/2012

Die Perspektive des radikalen Gewerkschafters

Ohne die Bücher Richard Müllers wäre vermutlich einiges an gewerkschaftlicher Geschichtsschreibung verlorengegangen

Er war Metallarbeiter und einer der wichtigen Protagonisten der Revolution 1919. Er war ein radikaler Gewerkschafter und Rätekommunist. In einem kleinen Berliner Verlag wurde nun Richard Müllers »Eine Geschichte der Novemberrevolution« neu aufgelegt.

Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Diese These lässt sich am Beispiel der historischen Aufarbeitung der Novemberrevolution in Deutschland gut nachweisen. Während der rechte Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der die Revolution nach eigenen Bekunden hasste wie die Sünde, noch immer mit dem Ereignis in Verbindung gebracht wird, ist Richard Müller weitgehend vergessen. Dabei war der Metallarbeiter und Vorsitzende der Revolutionären Obleute einer der wichtigsten Träger der Revolution. Für kurze Zeit stand er als Vorsitzender des Berliner Vollzugsrates dem höchsten nachrevolutionären Räteorgan vor. Doch schon bald setzte die rechte SPD-Führung mit Hilfe der monarchistischen Freikorps der Revolution auch blutig ein Ende.
nd-Shop – Plakat »Linksextremisten«

Müller versuchte vergeblich, in der neugegründeten KPD eine revolutionäre Gewerkschaftspolitik umzusetzen und wurde schon 1922 im Zuge von Fraktionskämpfen ausgeschlossen. Nachdem er sich aus der öffentlichen Politik zurückzog, veröffentliche er zwischen 1924 und 1925 seine dreibändige Geschichte der Revolution unter dem Titel »Vom Kaiserreich zur Republik«. In den 1970er Jahren war sie von einem kleinen Verlag neu aufgelegt worden. Auf dieser Grundlage hatte der linke Historiker Bernt Engelmann damals den zweiten Band seiner vielgelesenen Anti-Geschichtsbücher über die Entstehung der Weimarer Republik verfasst. Danach war Richard Müller wieder vergessen, bis ihn der Berliner Historiker Ralf Hoffrogge mit einer Biografie wieder entdeckte. Bei einer Diskussionsveranstaltung über dieses Buch entstand auch die Idee, Müllers Geschichtsbücher wieder aufzulegen. Die Berliner Buchmacherei hat diese Arbeit mit Bravour erledigt. In einen Band zusammengefasst und mit einem ansprechenden Einband versehen, ist dieses einzigartige Geschichtsbuch zu einem günstigen Preis wieder zugänglich.

Neben der spannend zu lesenden Geschichtsarbeit Müllers, die den Vergleich mit Trotzkis im Exil geschriebenen »Geschichte der Oktoberrevolution« nicht scheuen muss, sind es die zahlreich in dem Buch enthaltenen Dokumente, die das Buch zu einer wahren Fundgrube machen Viele dieser Aufzeichnungen aus internen Diskussionen von SPD, USPD oder Gewerkschaften wären heute nicht mehr zugänglich.

Man braucht nur die Stellungnahme aus dem gewerkschaftliches »Korrespondent des Buchdruckerbandes« zu Beginn des 1. Weltkrieges zu lesen und sieht, dass hier Töne laut wurden, die nicht ganz 20 Jahre später in den NS-Staat führten. »Die Heldentaten unserer großartigen Wehr zu Land und zur See löste eine überwältigende Massenempfindung aus, die die beste Gewähr für den endgültigen Sieg bildet«, heißt es dort. Neben solchen militaristischen Tönen sind in dem Buch auch die Zeugnisse der Antikriegsopposition dokumentiert. Ralf Hoffrogge weist im Vorwort darauf hin, dass die wesentlich von Müller mitformulierten Rätekonzepte der Revolutionären Obleute in den späten 60er und frühen 70er Jahren Einfluss auf die Mitbestimmungsdebatte des DGB hatten. Es wäre zu wünschen, dass auch die Neuauflage von Müllers Monumentalwerk die aktuellen Debatten für linke Perspektiven anregen könnte. Vor allem aber sollte sie helfen, das offizielle Bild zur Novemberrevolution zu korrigieren. Während in fast jeder Stadt eine Straße an Friedrich Ebert erinnert, sucht man den Namen des radikalen Gewerkschafters und Räteaktivisten Richard Müller bisher vergeblich.

Richard Müller: Eine Geschichte der Novemberrevolution in drei Bänden, Berlin: Die Buchmacherei, 2011, 756 S., 19,90 Euro, ISBN 978-3-00-035400-7, 19,95 Euro

http://www.neues-deutschland.de/artikel/216724.
die-perspektive-des-radikalen-gewerkschafters.html
Peter Nowak

Arbeitergeschichte von unten

Der Historiker Michael Seidman untersucht, wie Arbeiter 1936 in Spanien und Frankreich auf linke Umwälzungen reagierten

Vor 20 Jahren hat der US-Historiker Michael Seidman seine Doktorarbeit unter dem Titel »Arbeiter gegen die Arbeit« herausgegeben. Nach zwei Jahrzehnten konnte nun eine deutschsprachige Ausgabe realisiert werden, was in erster Line dem Verlag Graswurzelrevolution und dem Übersetzer Andreas Förster zu verdanken ist. Das Buch ist eine Fundgrube für alle, die sich für eine Sozialgeschichte der spanischen Revolution und der französischen Volksfrontpolitik interessieren.

Seidman untersucht, wie die Proletarier 1936 in Barcelona und Paris auf die linken Umwälzungen reagierten. Die Ausgangsbedingungen könnten unterschiedlicher nicht sein. In Barcelona hatte die anarchosyndikalistische CNT die Kontrolle über einen Großteil der Betriebe übernommen. Im selben Jahr übernahm eine von der Französischen Kommunistischen Partei unterstützte Volksfrontkoalition im nördlichen Nachbarland die Regierung. Seidman interessieren dabei nicht die Organisationen und ihre Ideologien, sondern deren Politik und ihre Auswirkung auf die Mehrheit der Bevölkerung.

Beiden Bewegungen ging es um eine Gesellschaft der Produzenten. Seidman zeigt an zahlreichen Beispielen aus der anarchosyndikalistischen Presse und anhand von Propagandaplakaten, dass das Ideal der spanischen Anarchosyndikalisten eine Gesellschaft der Arbeit war. In harschen Tönen wandten sie sich gegen alle, die nicht durch ihre Arbeit an der Gestaltung der Gesellschaft beitrugen. »Die Müßiggänger schiebt beiseite«, dieser Satz aus der Internationale wurde von einem großen Teil der CNT-Aktivisten mit voller Überzeugung gesungen. Damit polemisierten sie gegen den Adel und den in Spanien damals sehr mächtigen Klerus, aber auch gegen eine Bourgeoisie, die nicht in der Lage war, Spanien zu einem modernen Industrieland zu formen. Seidman zeigt auf, dass die CNT diese Aufgabe übernehmen wollte und dafür die Stachanow-Methoden der Bestarbeiter aus der Sowjetunion zum Vorbild nahm.

Auch den Taylorismus, den die CNT anfangs als arbeiterfeindlich bekämpfte, akzeptierte sie schließlich. Damit kam sie bald in Konflikt mit dem Teil der Proletarier, die entweder politisch uninteressiert waren oder in die CNT nur eingetreten sind, weil sie sich Vorteile erhofften. Auf vielen Seiten zeigt der Historiker auf, wie sich die CNT zunächst mit beschwörenden Appellen, doch bald mit Kontrolle und Überwachung, der Ausgabe von Arbeitsausweisen und sogar der Errichtung von Arbeitshäusern um die Erhöhung der Produktivität bemühte.

In Paris setzte mit der Volksfrontbewegung die Arbeiterfreizeit- und Urlaubsbewegung ein. Seidman sieht hier sogar die Wurzeln des Billigtourismus. Nicht Arbeiterkontrolle, sondern die Entdeckung der Arbeiter als Konsumenten, sei der Kern der Politik der französischen Regierung gewesen.

Mancher These Seidmans mag man nicht folgen. Seine zentrale These vom Kampf der Arbeiter gegen die Arbeit hat er mittlerweile selber relativiert. Trotzdem ist das Buch ein Stück wichtige Arbeitergeschichtsschreibung, die ansonsten ignoriert und vernachlässigt wird.

Michael Seidman: Gegen die Arbeit. Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2011, 480 S., 24,80 €.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/215431.arbeitergeschichte-von-unten.html
Peter Nowak

Eine Rechte neuen Typs

Islam und Einwanderer stehen im Fadenkreuz der Extremisten
In Europa entsteht eine neue Form des Rechtsextremismus. Der Publizist Bernhard Schmid analysiert deren Entstehung und Ausprägung.

Der Terrorakt von Anders Behring Breivik im August in Norwegen sorgte weltweit für Entsetzen. Doch anders als die deutschen Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bezog sich der selbst ernannte »Kreuzritter für Europa« nicht auf Hitler und die Nazis. In den nach seinem Terrorakt bekannt gewordenen Schriften nimmt er westliche Werte für sich in Anspruch und verteidigt den Staat Israel. Damit gehört Breivik zu einer Strömung in der extremen Rechten, die in verschiedenen europäischen Ländern an Einfluss gewonnen hat. Der in Frankreich lebende Jurist und Journalist Bernhard Schmid hat jetzt in einem in der »edition assamblage« erschienenen Buch einen informativen Überblick über diese neueste Rechte auf westeuropäischer Ebene geliefert.

Als gemeinsamen Nenner für die Strömung nennt Schmid die zu Hauptfeinden erkorenen muslimischen Einwanderer und den Islam generell. Darüber hinaus seien die Gruppierungen jedoch sehr unterschiedlich. Die österreichische FPÖ, der belgische Vlaams Belang und die französische Front National kommen aus der nazistischen Tradition und haben bei ihrer Neuausrichtung Mühe, ihren Antisemitismus zu verbergen. Auch Breivik schrieb in seinem Manifest: »Es ist unnötig zu sagen, dass ich zwar ein Unterstützer Israels und aller patriotischen Juden bin, zugleich aber die Ansicht vertrete, dass die antieuropäische Holocaust-Religion dekonstruktiv wirkt.«

Zu den politischen Vorbildern Breiviks gehört die English Defence League (EDL), die Schmid als »rechtsextreme Bewegung neuen Typs« beschreibt. Die aus der Hooliganbewegung entstandene EDL macht als schlagende Verbindung dieser neuen Rechten in von Migranten bewohnten Stadtvierteln Jagd auf Araber. Dagegen geben sich die Schweizer Volkspartei (SVP) und die holländische Partei für die Freiheit seriöser. Schließlich unterstützen sie in ihren Ländern die Regierung.

In einem Kapitel untersucht Schmid auch die verschiedenen Gruppierungen, die in Deutschland bisher ohne großen Erfolg versuchen, als prowestliche Rechte zu reüssieren. Ein wichtiger Grundlagentext dieser Strömung ist die von der italienischen Journalistin Oriana Fallaci verfasste Brandschrift »Die Wut und der Stolz«. Das Buch, in dem die Autorin Drohungen gegen Migranten in Italien ausstößt, löste in mehreren Ländern Anzeigen aus.

Mitte Dezember erschoss ein Mann, der als Faschist und Sympathisant der neuen rechten Strömung galt, in Florenz zwei Migranten aus Senegal und verletzte weitere schwer. Mit seinem Buch leistet Schmid wichtige Aufklärungsarbeit, um solche Attentate zu verhindern.

»Distanzieren, leugnen, drohen: Die europäische Rechte nach Oslo«, Bernhard Schmid, edition assamblage 2011, 120 Seiten, 12,80 Euro

http://www.neues-deutschland.de/artikel/214823.eine-rechte-neuen-typs.html
Peter Nowak

Gleiche Arbeit – gleiches Geld

Neues Buch zui Leiharbeit erschienen
Ein neues Buch präsentiert verschiedene Argumente gegen Leiharbeit und blickt auch auf die Protestgeschichte gegen die moderne »Sklaverei«.

Wenn so viel über das deutsche Jobwunder geredet wird, darf nicht vergessen werden, dass es zum großen Teil auf dem Boomsektor Leiharbeit beruht. »Gerade in den weltmarktorientierten Unternehmen der Elektroindustrie wurden Leiharbeitskräfte zunehmend dauerhaft und auch in den Kernbereichen der Produktion eingesetzt«, heißt es in einer Studie der gewerkschaftlichen Otto-Brenner-Stifung.

Die beiden Berliner Journalisten Andreas Förster und Holger Marcks haben jetzt im Unrast-Verlag ein informatives Büchlein herausgegeben, das die kurze Geschichte der Leiharbeit in Deutschland nachzeichnet und schon im Untertitel aufklärt, dass es zu ihrer Abschaffung beitragen will. Was sich wie eine Utopie anhört, ist zumindest in Namibia umgesetzt worden. Dort hat der Oberste Gerichtshof nach anhaltenden Gewerkschaftsprotesten 2009 festgestellt, dass Leiharbeit mit Sklaverei gleichzusetzen und damit in dem südafrikanischen Land illegal ist. Ein solcher Gerichtsbeschluss ist in Deutschland nicht zu erwarten. Aber auch die Aberkennung der Tariffähigkeit der christlichen Gewerkschaften für Zeit- und Personalserviceagenturen (CGZP) durch das Bundesarbeitsgericht hat im Dezember 2010 zumindest den schlimmsten Auswüchsen bei den Dumpinglöhnen Grenzen gesetzt. Die Leipziger Arbeitsrechtler Dirk Feiertag und Sosa Norena gehen in dem Buch auf die rechtlichen Folgen des Urteils ein.

Der Münsteraner Soziologe Torsten Bewernitz gibt einen kurzen Überblick über den Widerstand gegen die Leiharbeit. Er erwähnt Proteste gegen Leiharbeitsmessen und Jobbörsen, geht auf Leiharbeitsspaziergänge ein, bei denen bekannte Firmen aufgesucht wurden, und erinnert an den Streik bei einer Leiharbeitsfirma in Frankfurt am Main im Dezember 2005. Dass auch die Kampagne »Leiharbeit abschaffen« der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) in dem Buch erwähnt wird, verwundert nicht: Fünf der sechs Autoren sind FAU-Mitglieder.

Trotzdem bleibt ihre Kritik an der offiziellen Position des DGB sachlich präzise. So betonen mehrere Autoren, dass es innerhalb der DGB-Gewerkschaften Kritik an den Tarifverträgen gibt, die mit Leiharbeitsfirmen geschlossen wurden. »Ohne Tarifvertrag gilt für Lohnarbeiter der einfache wie einleuchtende Grundsatz Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Nichtstun wäre hier für seriöse Gewerkschaften die Devise gewesen, denn zum Vertragsabschluss gehören immer noch zwei«, formuliert Andreas Förster eine Kritik, die zunehmend auch in den DGB-Gewerkschaften zu hören ist. So hat das von der IG Metall initiierte Netzwerk »ZeitarbeiterInnen – ohne Organisation machtlos« (ZOOM) die vage Parole »Leiharbeit fair gestalten« durch die Forderung »Gleiche Arbeit – gleiches Geld« ersetzt. Damit das kein Papiertiger bleibt, müssen die Gewerkschaften genau beobachten, wo sich Angriffsstellen im Leiharbeitssektor zeigen, schreiben die Herausgeber im Nachwort. Ihr Buch kann dabei eine wichtige Hilfe sein.

Andreas Förster, Holger Marcks (Hg.), Knecht zweier Herren. Zur Abschaffung der Leiharbeit, Münster November 2011, ISBN: 978-3-89771-112-9, 78 Seiten, 7.80 Euro

http://www.neues-deutschland.de/artikel/213474.gleiche-arbeit-gleiches-geld.html
Peter Nowak

Einzelfall oder Erfolgsmodell

Das Buch über den Arbeitskampf der Kaisers-Kassiererin Emmely fragt, was daraus zu lernen ist
Arbeitsplatz verteidigt – wie war das möglich? Das Solidaritätskomitee zur Unterstützung von Emmely, Anwälte und Gewerkschafter fassen die Erfahrungen des erfolgreichen Arbeitskampfes der Kassiererin aus Berlin zusammen. Das könnte anderen Fällen Motivation und Hilfe sein.
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Öffentlichkeit half der Supermarktkassiererin. Ihre Kündigung wurde als schreiende Ungerechtigkeit empfunden. Denn Manager kassierten zur selben Zeit hohe Abfindungen, trotz von ihnen verschuldeter Millionverluste.
Der Fall der unter dem Namen Emmely bekannt gewordenen Berliner Supermarktkassiererin sorgte bundesweit für Aufsehen. Sie war nach über 30 Jahren von Kaiser’s entlassen worden, weil sie zwei Pfandbons im Wert von 1,30 Euro nicht korrekt abgerechnet haben soll. Die Gewerkschafterin hat den Vorwurf immer bestritten und ihre Entlassung mit ihrem Engagement in einem Einzelhandelsstreik in Zusammenhang gebracht. Das sah auch ein Solidaritätskomitee so, das ab Sommer 2008 dafür sorgte, dass der Fall Emmely die Republik bewegte. Die Kassiererin wurde in Talkshows eingeladen und im Bundestag über die Legitimität von Verdachts- und Bagatellkündigungen gesprochen.

Die Auseinandersetzung ging gut aus. Nachdem die Kündigung gegen Emmely von zwei Instanzen bestätigt wurde, bekam sie im Juni 2010 schließlich vom Bundesarbeitsgericht recht. Nun hat das Komitee »Solidarität mit Emmely« ein Buch herausgegeben, in dem sich Aktivisten, Juristen und Gewerkschafter in Kurzbeiträgen der Frage widmen, warum sich die Kassiererin durchsetzen konnte und ob der Erfolg in anderen Fällen wiederholbar ist.

Neben dem Mut der Betroffenen sieht Gregor Zattler das Engagement ihres Rechtsanwalts sowie die politischen und ökonomischen Bedingungen als Gründe für den Erfolg an. Durch die ausbrechende Finanz- und Wirtschaftskrise wurde vermehrt über das Thema Gerechtigkeit diskutiert. Dabei sei immer wieder angesprochen worden, dass Vorstandsvorsitzende großer Konzerne hohe Abfindungen erhielten, auch wenn ihnen die Verantwortung für Millionenverluste nachgewiesen wurde. Da sei es als schreiende Ungerechtigkeit empfunden worden, dass einer Kassiererin wegen 1,30 Euro gekündigt wurde.

Verschiedene Beiträge gehen auf den Einzelhandelsstreik im Jahr 2007 ein, bei dem ver.di mit Gruppen der außerparlamentarischen Linken zusammengearbeitet hatte, die zur Unterstützung des Ausstandes Filialen blockierten. Der Umgang mit der Kündigung von Emmely war sehr verschieden. In mehreren Kapiteln wird der defensive Gewerkschaftskurs heftig kritisiert. Denn während ver.di auf einen Vergleich mit Kaiser’s drängte und auf Öffentlichkeit verzichtete, ging das Solidaritätskomitee den entgegengesetzten Weg. Es schlug Alarm. So wurde die Geschichte bundesweit bekannt.

Der Gewerkschafter Anton Kobel spart in seinem Beitrag über den Einzelhandel in Deutschland nicht mit Kritik. Auf die Herausbildung eines tariffreien Niedriglohnsektors in dieser Branche habe die Gewerkschaft bis heute keine Antwort. Auch der Kampf gegen die Begrenzung der Ladenöffnungszeiten sei verloren gegangen. Als Ironie der Geschichte bezeichnet es Kobel, dass mit Mecklenburg-Vorpommern und Berlin zwei Regierungen unter Beteiligung der PDS bzw. Linkspartei Pioniere bei der Öffnung der Läden am Sonntag waren.

Die Soziologin Ingrid Artus würdigt in ihrem Beitrag die Bedeutung der »Emmelys dieser Welt«. Die Berliner Supermarktkassiererin sei in einer Zeit, in der Solidarität ein Fremdwort geworden sei, zum Symbol geworden, dass Widerstand möglich ist und auch erfolgreich sein kann. Das Buch kann helfen, diese Erfahrungen weiterzugeben.

Komitee Solidarität mit Emmely (Hrsg.): Gestreikt. Gekündigt. Gekämpft. Gewonnen. Die Erfahrungen der »Emmely«-Kampagne, AG Spak, 140 Seiten, 9,50 Euro.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/212427.einzelfall-oder-erfolgsmodell.html
Peter Nowak

»Wenn wir Nazis sehen, gibt’s Kleinholz!«

Die Wilden Cliquen von Berlin – antifaschistische Jugend

Immer wieder gibt es vor allem in den Berliner Boulevardmedien reißerische Artikel über Jugendliche, die sich in der Öffentlichkeit daneben benehmen. Nun hat der Berliner Historiker Jonas Kleindienst ein Buch herausgegeben, das die Geschichte und den öffentlichen Diskurs um die Wilden Cliquen Berlins in den 20er und 30er Jahren analysiert. Sie rekrutierten sich zumeist aus der Arbeiterklasse, kopierten und konterkarierten die bürgerliche Jugendbewegung.

Die Liste der Vorwürfe gegenüber jenen renitenten Jugendlichen war lang: Sie kleiden sich auffällig, lachen und musizieren laut in der Öffentlichkeit und lassen es älteren Menschen gegenüber an Respekt fehlen. Im sozialdemokratischen »Vorwärts« kam noch der Vorwurf der Naturzerstörung hinzu. Ein Chronist will beobachtet haben, wie drei Halbwüchsige »von jedem dritten Baum mit ihren Spazierstöcken die Kronen der tiefhängenden Zweige aus lauter Übermut« abschlugen. Sehr erfreut zeigte sich der »Vorwärts«-Autor, dass ein »Aktivbürger« schließlich den Jugendlichen zeigte, »was eine Harke ist und wacker zuschlägt«. Neben dem Ruf nach Züchtigung wurde auch ein stärkeres Eingreifen von Polizei und Fürsorge gefordert.

Versuche, die schon damals als »Halbstarke« titulierten Jugendlichen politisch zu organisieren, wie sie der KPD-nahe Rote Wander-Ring oder der autonome Freie Wanderring unternahmen, scheiterten an der Repression von Polizei und Jugendämtern sowie der Unlust vieler Jugendlicher, sich feste Strukturen zu geben. Bemerkenswert ist das Titelblatt der 1. Ausgabe des »Roten Wanderers« von September 1923, Zentralorgans des Roten Wanderringes. Hier wurden die diffamierenden Zuschreibungen einfach umgedreht. Der Leitartikel beginnt mit der Ansprache: »Verwahrloste Jugend! Lausejungen! Zuhälter! Strolche! Diebe! Plünderer! Wenn wir Nazis sehen, gibt’s Kleinholz!«

Für die meist stadtteilbezogenen Cliquen spielte die antifaschistische Aktion eine große Rolle. Neben dem oft handgreiflichen Protest gegen die den Deutschnationalen nahestehende Bismarckjugend befanden sie sich schon ab 1925 in heftigen Auseinandersetzungen mit den Verbänden der NSDAP. Während später einige Cliquenanführer zur SA überliefen, blieb die Mehrheit antinazistisch eingestellt und erfuhr, wie der Autor schreibt, »das gleiche Schicksal wie auch der Großteil der Kommunisten«. Sie wurden nach Hitlers Machtantritt sowohl von staatlicher Seite wie auch von den nun die Straßen beherrschenden SA-Stürmen mehr denn je verfolgt. Der Kriminalist Justus Erhardt, der sich in Weimarer Zeit als scharfer Gegner des Cliquenwesens hervorgetan hat, bemerkt 1934, dass »durch ordnungspolizeiliche Unternehmungen … die berüchtigten wilden Cliquen … zu einem großen Teil gesprengt worden« seien. Damit lag er falsch. Gruppen wie die Edelweißpiraten knüpften bei ihrem Widerstand gegen das NS-Regime bewusst an die Tradition der Wilden Cliquen.

Jonas Kleindienst hat historische Pionierarbeit geleistet. Leider verfällt der Autor gelegentlich in einen totalitarismustheoretischen Duktus, wenn er von der Bedrohung der Weimarer Republik »durch links- und rechtsradikale Kräfte« schreibt. Wie sich gerade jetzt wieder einmal zeigt, kommt diese fatale, blind machende Gleichsetzung den Nazis zugute.

Jonas Kleindienst: Die Wilden Cliquen Berlins. Verlag Peter Lang, Bern 2011. 126 S., geb., 22,80 €.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/212322.wenn-wir-nazis-sehen-gibt-s-kleinholz.html
Peter Nowak

Wege aus der Autogesellschaft

Buch zeigt Notwendigkeit und Schwierigkeiten einer Verkehrswende auf

Trotz einiger Teilerfolge bei der Treibhausgas-Reduktion sieht die Klimabilanz der EU beim Verkehr ziemlich schlecht aus. Alternativen zeigte eine von der Bundestagsfraktion der Linken und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierte Veranstaltung 2010 in Stuttgart, deren Ergebnisse jetzt ein Sammelband präsentiert.

2008 gab es für kurze Zeit eine Verunsicherung in der deutschen Autobranche. Die Wirtschaftskrise führte zu Umsatzeinbrüchen und Massenentlassungen. Doch schon bald setzte ein neuer Boom ein und für einen großen Teil der Beschäftigten und auch der Gewerkschaften schienen Projekte für einen Weg aus der Autogesellschaft realitätsferne Spinnerei. Wer das im VSA-Verlag veröffentlichte Buch zur »Globalen Ökonomie des Autos« gelesen hat, wird begreifen, dass in Wirklichkeit das krampfhafte Festhalten am Status quo illusionär ist. Denn die 23 Autoren aus unterschiedlichen Fachgebieten legen sehr anschaulich dar, dass angesichts schrumpfender Rohstoffe und raschen Klimawandels die Autogesellschaft ziemlich bald am Ende ist.

Die spannende Frage ist nur, ob sich der Wandel ungeordnet, mit vielen Verwerfungen und Opfern für alle Beteiligten vollzieht oder ob er von allen Beteiligten in demokratischer Planung vollzogen wird und damit sogar die Lebensqualität für viele Menschen erhöhen kann. Die Autoren des Buches propagieren die zweite Option und zeigen dafür Wege auf, verschweigen aber auch die Schwierigkeiten eines solchen Umstiegs nicht.

Einige der Beiträge waren Vorträge auf der am letzten Oktoberwochenende 2010 in Stuttgart von der Bundestagsfraktion der Linken und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten Konferenz »Auto.Mobil.Krise«. Dort diskutierten Umweltschützer mit Betriebsräten aus Autokonzernen und IG-Metall-Vorstandsmitgliedern. So konstatiert das IG-Metall-Vorstandsmitglied und Befürworter eines sozialökologischen Gesellschaftsumbaus Hans-Jürgen Urban selbstkritisch, seine Gewerkschaft sei in den 90er Jahren schon mal weiter mit der Diskussion über den Ausstieg aus der Autoproduktion gewesen. Im Streitgespräch sah der Journalist Harald Schumann die Rolle der Gewerkschaften bei der Umstiegsdebatte kritischer. Zudem hält er es für illusionär, zu meinen, dass Arbeitsplätze im Automobilsektor einfach für alternative Branchen umgewidmet werden könnten.

Der Politologe Mario Candeias warnte davor, allein die Beschäftigten im Pkw-Sektor und ihre Gewerkschaften in die konservative Ecke zu schieben. Schließlich hätten sich viele Umweltorganisationen von sozialen Fragen verabschiedet und suchen im Bündnis mit angeblich fortschrittlichen Teilen des Kapitals Wege in den grünen Kapitalismus. Am Beispiel des Elektroautos wird von mehreren Autoren aufgezeigt, dass hier vor allem neue Profitquellen entstehen, doch der Erfolg für die Umwelt und die Lebensqualität ist fraglich.

Wenig bekannt ist auch, dass es in den USA aktive Gewerkschaftsgruppen gibt, die das Bemühen um Klimagerechtigkeit mit der Verteidigung oder Neuerkämpfung sozialer Rechte verbinden. Beschlüsse der Internationalen Transportarbeitergewerkschaft gehen ebenfalls in diese Richtung. In Deutschland können sowohl Gewerkschaften als auch die Umweltbewegung davon lernen. Dafür bietet das Buch Hilfestellung.

Mario Candeias, Rainer Rilling, Bernd Röttger, Stefan Thimmel (Hrsg.): Globale Ökonomie des Autos. Mobilität, Arbeit, Konversion, VSA-Verlag Hamburg 2011, 275 S. , 19,80 €.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/212077.wege-aus-der-autogesellschaft.html
Peter Nowak

Rezension: Rechte kennen

 
»Mit 16 ohne Chancen, mit 40 ohne Zähne, mit 67 ohne Rente«. Das Motto auf der Titelseite benennt das Thema der Broschüre prägnant. Die jüngsten Gesundheitsreformen belasten einkommensschwache Menschen in vielfältiger Weise. Praxisgebühren und Zuzahlungen bei Medikamenten, Patiententransporten und anderen medizinischen Leistungen bringen sie an ihre finanziellen Grenzen. Daher ist es vor allem für sie wichtig, über ihre Rechte informiert zu sein.

Die langjährige Erwerbslosenaktivistin Anne Allex hat in den vergangenen Jahren mehrere Leitfäden für einkommensschwache Menschen veröffentlicht. Der neueste reicht von Tipps für den Wechsel der Krankenversicherung über den Umgang mit der umstrittenen elektronischen Gesundheitskarte bis hin zur Krankenhilfe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Für letzteres Kapitel ist Georg Classen vom Berliner Flüchtlingsrat verantwortlich. Außer ihm haben der Sozialrechtler Helmut Szymanski und der Verbraucherberater Michael Bialek als Experten an der Erstellung des Ratgebers mitgearbeitet.

Das Kapitel »Beschwerde, Widerspruch und Klage gegen Kostenträger und Leistungserbringer« enthält Post- und Internetadressen sowie Telefonnummern von Beschwerdestellen. Auch die Widerspruchs- und Klagemöglichkeiten gegen Entscheidungen der gesetzlichen Pflege- und Krankenkassen werden aufgeführt. Für spezielle Fragen – beispielsweise zur Versorgung mit Zahnersatz – wird auf weiterführende Ratgeber verwiesen. Im Anhang werden aktuelle Grundsatzurteile mit Internetadressen aufgelistet.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/211573.rezensoin-rechte-kennen.html

Anne Allex (Hg.): Krank-sein in den Zeiten von Harz IV und »Gesundheitsreformen«, 116 S., 10 €, für Hartz-IV-Bezieher 3 €.

Warum „Emmely“ wieder arbeiten darf

BUCH Eine Gruppe von Aktivisten bilanziert den Kampf der Kassiererin „Emmely“ um ihren Job

„Emmely scannt wieder“, titelte eine Berliner Boulevardzeitung im Herbst 2010. Da saß Berlins wohl kämpferischste Kasslerin nach ihrem Sieg vor dem Bundesarbeitsgericht wieder an der Kasse. Hinter ihr lag ein zweijähriger Kampf um ihren Job. Das Komitee „Solidarität mit Emmely“ hat jetzt ein Buch veröffentlicht, in dem verschiedene Aktivisten und Gewerkschafter die Stationen und Facetten der Auseinandersetzung beschreiben.

Der Frau mit dem Pseudonym Emmely war im Januar 2008 von der Tengelmann-Gruppe mit der Begründung gekündigt worden, sie habe zwei Flaschenbons im Wert von 1,30 Euro falsch abgerechnet – nach mehr als 30 Jahren Arbeit im selben Geschäft. Doch Emmely bestritt die Vorwürfe und ging an die Öffentlichkeit. Gleich zu Beginn des Buchs kommt Emmely selbst zu Wort. „Mein Leben hat sich grundlegend geändert. Nun habe ich eine andere Sichtweise auf Dinge, die in diesem Land geschehen“, schreibt sie.

In dem Buch wird auch die Frage gestellt, warum die Kündigung von Emmely die Republik beschäftigte. Sie wurde zu Talkshows eingeladen, und selbst die Bild-Zeitung zeigte Sympathien. Der Gewerkschafter Willy Hajek sieht einen Grund dieser Popularität in Emmelys Mut, öffentlich gegen ihre Kündigung zu kämpfen. „Emmely hat den Mut zu streiken, den Mund aufzumachen“, schreibt er in seinem Beitrag. Zudem werde anhand ihres Falls die Frage nach der Gerechtigkeit gestellt. „Herr Zumwinkel als Manager der Post bekommt für seinen Abschied aufgrund von Verfehlungen Millionen als Bonus. Emmely wird wegen angeblichen Diebstahls von 1,30 Euro nach 31 Jahren gekündigt.“

Die Rolle der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di bei der Unterstützung von Emmely wird im Beitrag der Filmemacherin Bärbel Schönafinger scharf kritisiert. Die Gewerkschaft sei überzeugt gewesen, dass Emmely juristisch nicht gewinnen könne, und habe sie zu einem Vergleich gedrängt. Samira van Zeer vom Solikomitee teilt diese Kritik. Sie weist in ihrem Artikel aber darauf hin, dass ohne die Bereitschaft der Ver.di-Sekretärin Erika Ritter, mit außerparlamentarischen Linken zu kooperieren, die Unterstützungsarbeit nie zustande gekommen wäre.

In dem Buch wird auch auf die Schwachpunkte der Solidaritätsarbeit eingegangen, die bei einer erfolgreichen Auseinandersetzung oft unter den Tisch fallen. Der Mitbegründer des Komitees, Gregor Zattler, beschreibt die chronische Überlastung der Gruppe. Je mehr Anforderungen durch die bundesweite Bekanntheit auf die AktivistInnen zugekommen seien, desto kleiner sei der Kreis geworden. Das habe seinen Preis gehabt. „Die Kampagne verschob Aktionsformen und Publikum mit zunehmenden öffentlichen Interesse zur Mitte hin“, bilanziert Zattler. Die Soziologin Ingrid Artus untersucht die Bedingungen, unter denen sich Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen wehren, wie sie im Einzelhandel häufig anzutreffen sind. Oft würde sich der Widerstand am fehlenden Respekt, der den Beschäftigten von den großen und kleinen Chefs entgegengebracht wird, entzünden.

Komitee Solidarität mit Emmely (Hg.): „Gestreikt. Gekündigt. Gekämpft. Gewonnen. Die Erfahrungen der ,Emmely‘-Kampagne“. 140 Seiten, 9,50 Euro

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2011%2F11%2F18%2Fa0156&cHash=bc1affd604

Peter Nowak

Im Namen der Nützlichkeit

Das einigende Band des Sozialchauvinismus
Die Sarrazin-Debatte ist ein Jahr alt. Zeit für eine kritische Reflexion oberhalb der Mediendebatte. Ein Sammelband bietet die Gelegenheit.

Vor mehr als einem Jahr sorgte ein  ehemalige Berliner  Senator und spätere  Vorstandsmitglied  der Deutschen Bank Thilo Sarrazin für großes Medienecho mit gesellschaftlichen Folgen.   „Dass mediale Ereignis der „Sarrazindebatte“ führte zu einer breiten gesellschaftlichen Verschiebung nach rechts, enttabuisierte rassistisches Denken und verband in besonderer Weise Rassismus mit Elite- und Nützlichkeitsdenken“. Zu diesem Fazit kommen  der Publizist Sebastian Friedrich, der in den  Münsteraner Verlag edition assamblage einen Sammelband herausgegeben hat. 15  Autoren aus Politik, Kunst und Wissenschaft analysierten unterschiedliche Aspekte dieser Debatte. Obwohl die Beiträge von unterschiedlicher Qualität sind,  leistet das Buch die  bisher fundierste Auseinandersetzung mit der Sarrazindebatte. Während sie in großen Teilen der Medien nur  auf Ressentiments gegen den Islam reduziert  wurde, wird  hier aufgezeigt, dass  es im  Kern  um einen Nützlichkeitsrassismus  aus der Mitte der Gesellschaft geht.  Zu seinen Feindbild  zählen alle, die dem Standort Deutschland  nicht nützen. Dass können Hartz IV-Empfänger genau so sein, wie migrantische Jugendliche. Das hat Sarrazin bereits in seiner Zeit als Berliner Senator immer wieder deutlich gemacht. Aber  er ist nur der Lautsprecher eines Sozialchauvinismus, der Teile der Elite mit den Bild-Leser zusammenschweißt. Der selbsternannte Neoaristokrat und Sarrazin-Verteidiger Peter Sloterdijk hat diesen Nützlichkeitsrassismus in einem Interview auf den Punkt gebracht: „Während im ökonomischen Altertum“ die Reichen auf Kosten der Armen gelebt hätten, würden in der „ökonomischen Moderne“ die „Unproduktiven  mittelbar auf Kosten der Produktiven“ leben.
Die „Leistungsträger“ gegen die Unproduktiven lauten die  zentralen Kategorien in diesem sozialchauvinistischen Diskurs. Letzte werden auch gerne als Transferleistungsbezieher  diffamiert. Damit können Erwerbslose genau so gemeint sein, wie  ganze Staaten,  wie die   Kampagne gegen die  „Pleitegriechen“ in der letzten Zeit  zeigt. Viele Autoren weisen in dem Buch darauf hin, dass dieser  Nützlichkeitsrassismus  in Sarrazin seinen Lautsprecher gefunden hatte, aber  in der Mitte der Gesellschaft fest verankert ist.  Dazu ist auch der Multikulturalismus keineswegs ein Widerspruch, wie die Kulturanthropologin   Sabine Hess  nachweist.  „Die guten, sprich bunten, kreativen Kulturen in die Karnevalsaufstellung, die schlechten nicht-vermarktbaren Kulturen in die Arbeitszwangsmaßnahme und das Quartiersmanagement“, lautet die Devise. Die Soziologin Juliane Karakayali zeigt auf, wie auch eine bestimmte Spielart des Feminismus mit sozialrassistischen Denken kompatibel ist.
Während  die Kapitel zu Migration und Rassismus, Bevölkerungs- und Biopolitik, Kapital und Nation viele interessante Anregungen bieten, bleiben die beiden Aufsätze  unter dem Oberbegriff Interventionen und Perspektiven schwach. Eine sinnvolle Intervention kann das Buch dennoch sein, über die Diskusion über die darin vertretenen Thesen.

Friedrich Sebastian, Rassismus in der Leistungsgesellschaft, Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen  der Sarrazindebatte“,  editon Assamblage,  Münster 2011,  262 Seiten 19, 80 Euro, ISBN 978-3-842885 01-0

https://www.neues-deutschland.de/artikel/210086.im-namen-der-nuetzlichkeit.html

Peter Nowak