Die brutale Realität der Psychiatrie

Außerparlamentarische Gruppe kritisiert die Forensik des Klinikverbundes Bremen als menschenunwürdig

»Wir behandeln Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung in erheblichem Maße straffällig geworden sind. Durch die Behandlung sollen sie wieder in die Lage versetzt werden, zukünftig straffrei zu leben.« Mit diesen Worten stellt der Klinikverbund Bremen seine Dienstleistungen auf dem Gebiet der Forensik vor. Klingt auf den ersten Blick nicht weiter schlimm. Zivilgesellschaftliche Gruppen fordern jedoch die Schließung der Forensik. Sie kritisieren, die dortigen Maßnahmen verletzten die Menschenrechte der Patient*innen.

Mitte August hatte die Bremer Gesundheitsdeputation, eine Arbeitsgruppe mit Vertretern von Senat und Bürgerschaft, zu einer Sondersitzung eingeladen. Ziel war, über den Stand der 2013 von der Bremer Bürgerschaft beschlossenen Psychiatrie-Reform zu debattieren. Kritiker*innen meldeten sich auf dem Bremer Marktplatz während des Treffens lautstark zu Wort. »Wir haben den krassen Widerspruch zwischen dem von Politik- und Medizinbetrieb gezeichneten Ideal-Bild einer angeblich menschenfreundlichen, fortschrittlichen Psychiatrie in Bremen und der brutalen Realität, die Psychiatrisierte tatsächlich erleben, deutlich gemacht«, erklärte Julia Benz von der Psychiatriekritischen Gruppe Bremen gegenüber »nd«.

Die Arbeit der außerparlamentarischen Initiative sorgt in Bremen für Aufsehen bei Medien und Politik. »Gegründet hatten wir uns, nach dem eine uns bekannte Person in die Fänge der Bremer Wegschließ-Maschinerie geriet«, sagte Benz. Was diese Person wie auch die Aktivist*innen selbst erfuhren hätten, sei der Motor des Engagements gewesen. Anfang 2017 berichteten verschiedene Medien über Klagen von Patient*innen der Forensik. Ihre Vorwürfe: Man habe sie tagelang an ihre Betten fixiert und zwangmedikamentiert, anstatt geeignete Therapiemaßnahmen durchzuführen.

Die Berichte über entwürdigende Bedingungen auf der Akutaufnahmestation des Klinikums Bremen-Ost führten zu Nachfragen, auch der Bürgerschaftsfraktionen von LINKEN, SPD und den Grünen. Nachdem im Mai 2017 ein 31-Jähriger in der Forensik im Klinikum-Ost an Herzstillstand starb, wuchs die Kritik an den Zuständen noch weiter.
Derzeit ist das Thema jedoch wieder aus den Schlagzeilen. »Es gab weder personelle Konsequenzen, noch ermittelt Polizei und Staatsanwaltschaft objektiv«, sagte Benz. Auch der Umgang mit den Patient*innen sei kein anderer als vorher. Daher setzen die Aktivistin und ihre Mitstreiter*innen statt auf die die Skandalisierung von spektakulären Einzelfällen auf die bundesweite Kooperation von psychiatriekritischen Initiativen, wie der Irrenoffensive und dem Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen.

Die Gruppe knüpft damit an ein lange weitgehend vergessenes Arbeitsfeld des gesellschaftlichen Aufbruchs von 1968 an. Theoretische Kritik an der Psychiatrie und die praktische Organisierung von Psychiatriebetroffenen waren ein wesentlicher Bestand von diesem gewesen. Der Regisseur Gerd Kroske hatte jüngst mit seinem Film »Der SPK-Komplex« an diese Geschichte am Beispiel des Sozialistischen Patient*innenkollektivs aus Heidelberg erinnert.

Am Ende des Film betont Kroske, dass eine psychiatriekritische Bewegung heute kaum vorhanden, aber noch immer nötig wäre. Dass dieser Befund für Bremen nicht zutrifft, erklärt Julia Benz mit regionalen Gründen. »Bremen bricht einige Rekorde in Bezug auf Krankenhausbetten pro Einwohner und bei Zwangseinweisungen.« Doch sie verweist darauf, dass auch bundesweit die Tendenz zunimmt, abweichendes Verhalten zu psychiatrisieren. Der Fall von Gustl Mollath sei nur eines von vielen Beispiele. Der Nürnberger wurde in Bayern von Gerichten seit 2006 mehrmals in die Psychiatrie eingewiesen. Erst nach acht Jahren entließ man ihn als Justizopfer nach einem Wiederaufnahmeverfahren.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1099462.forensik-die-brutale-realitaet-der-psychiatrie.html

Peter Nowak

Alles für alle

Lexikon der Bewegungssprache

Auf dem rechtskonservativen Internetblog »Tychis Einblick« wird vor »der Phrase mit der großen Durchschlagkraft« gewarnt. Gemeint ist die Parole »Alles für alle«. Drei Worte, die sich in der außerparlamentarischen Linken seit jeher einer großen Beliebtheit erfreut. Der Ursprung der Parole reicht weit zurück in die Geschichte. Bereits im ausgehenden Mittelalter hatten sich sozialrevolutionäre Bewegungen, meistens häretische Christ*innen, das Motto »Omnia sunt communia« – »Alles gehört allen« auf ihre Fahnen geschrieben Es waren die Zapatist*innen aus Südmexiko, die mit ihren Aufstand 1994 dem alten sozialrevolutionären Motto zu neuer Popularität vor allem in der globalisierungskritischen Bewegung verholfen hatten. In den vergangenen Jahren wurde die Parole allerdings auch von der Werbeindustrie gekapert. »Alles für alle« soll Kund*innen in die bunte Warenwelt der Discounter locken. Der Zusatz »und zwar umsonst«, der auf linken Demonstrationen meistens auch skandiert wird, lässt man in der Werbung natürlich weg. Doch auch in linken Zusammenhängen hat man längst erkannt, dass die Parole vor allem einen Widerspruch – Verarmung in der Warenwelt – ausdrücken soll. Die Formulierung von Gegenkonzepten hingegen ist viel schwieriger. Sie lässt sich nicht mal eben in drei Worte fassen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1099465.lexikon-der-bewegungssprache-alles-fuer-alle.html

Peter Nowak

Riot und Neoliberalismus

Warum die Aufstandsstrategie keine linke Perspektive bietet, ,linke Gewerkschaftsarbeit aber sehr wohl

Seit dem G20-Gipfel 2017 wird auch in Deutschland wieder verstärkt über Riots und Straßenmilitanz diskutiert. Nur bleibt der Großteil der Debatte…

„Riot und Neoliberalismus“ weiterlesen

Metoo: Kummerkasten von Mittelstandsfrauen oder neues feministisches Kampffeld?

Es handelt sich nicht um ein Mittelschichtsproblem, gerade Frauen mit wenig oder geringem Einkommen sind am stärksten auch von der sexuellen Unterdrückung betroffen

Welchen politischen Stellenwert hat eigentlich gesellschaftliche Liberalität – Feminismus, Antirassismus, LGBTI-Rechte, das gesamte Paket? Wo ist das auf der politischen Skala einzuordnen?“ Diese Frage [1] stellte die Publizistin und Kulturwissenschaftlerin Isolde Charim kürzlich in der Taz. Dort stellt sie fest, dass diese Werte nicht nur von der politischen Rechten, sondern auch von Teilen der Linken infrage gestellt würden.

Von linker Seite sehen sich aber die unterschiedlichen Phänomene, die wir unter gesellschaftlicher Liberalisierung zusammenfassen, auch massiven Angriffen ausgesetzt. Da werden sie als „Feigenblatt“ des neoliberalen Kapitalismus bezeichnet, hinter dem die wahren Ausbeutungsverhältnisse nur umso ungenierter betrieben werden. Als „Herrschaftsideologie einer globalisierten Klasse“. Als Klassenkampf der „neuen Mittelschichten“ gegen „die da unten“. Die Liste ließe sich fortsetzen. Klar ist, dass diese Kritik auch die Antriebsenergie jener ist, die nun #aufstehen wollen.

Isolde Charim

Nun sind unter den Zielen, der von Charim angesprochenen Aufstehen-Bewegung [2] tatsächlich keine explizit feministischen Ziele benannt. Nicht einmal die aktuell vieldiskutierte Abschaffung [3] des Paragraphen 219 , der jede Werbung für Abtreibungen verbietet und die Ärzte, die diese Dienstleistung anbieten, kriminalisiert, wird dort erwähnt. Das ist eine kritikwürdige Leerstelle, ebenso, wenn statt Kampf gegen Rassismus der politisch falsche Begriff Fremdenhass genannt wird.

Sahra Wagenknecht und die Me-Too-Debatte

Schon vor einigen Monaten hat sich die Aufstehen-Initiatorin Sahra Wagenknecht despektierlich über die Me-Too-Kampagne geäußert [4]:

Wenn wirtschaftliche Abhängigkeit ausgenutzt wird, um Frauen oder auch Männer zu belästigen, ist das eine üble Geschichte. Das gibt es mit Sicherheit auch im Bundestag, und dagegen muss mehr getan werden. Etwas anderes ist es, wenn solche Abhängigkeiten nicht existieren. Natürlich werde auch ich mal blöd angebaggert, aber da kann ich doch selbstbewusst Grenzen setzen, und muss mich nicht über Twitter ausweinen. Als Abgeordnete kann man sich wehren. Schlimm ist es, wenn man sich wegen finanzieller Abhängigkeit oder Angst um den Arbeitsplatz nicht wehren kann. Beide Situationen sollte man nicht miteinander vermengen.

Sahra Wagenknecht

Schnell machte in den sozialen Netzwerken die Meldung die Runde, nun habe sich Wagenknecht auch noch gegen feministische Kämpfe positioniert. In der Frankfurter Rundschau wurde ihr gar vorgeworfen [5], sie würde patriarchale Machtstrukturen nicht anerkennen und sei mit ihrer Position nicht weit von der konservativen Publizistin Birgit Kelle, die das Buch „Dann mach doch die Bluse zu“ herausgegeben hat.

Doch diese Kritik wird Wagenknecht nicht gerecht. Es ist nicht anzunehmen, dass sie mit der Formulierung „selbstbewusst Grenzen setzen“, das gemeint hat. Zudem wurde sie direkt nach sexistischer Anmache im Parlament gefragt und darauf hat sie geantwortet. Gleichzeitig hat sie klar erklärt, dass sie hier in einer privilegierten Position ist und auf die verwiesen, die sich wegen finanzieller Abhängigkeiten oder Angst um den Arbeitsplatz nicht so wehren können. Kritisieren könnte man, dass Wagenknecht hier keine konkreten Vorschläge macht, wie sich gerade diese Frauen wehren können. Das könnte beispielsweise die Einrichtungen von Rätinnen und Räten gegen sexistische Diskriminierung nicht nur, aber auch am Arbeitsplatz sein. Sie könnten in größeren Betrieben aber auch auf Stadtteilebene eingerichtet werden, weil ja solche sexistischen Angriffe dort genau so häufig vorkommen.

Betroffen sind in der patriarchalen Gesellschaft davon vor allem aber nicht nur Frauen. Wir haben bei der Me-Too-Debatte auch erfahren, dass auch Männer in bestimmten Branchen von Frauen unter Druck gesetzt werden. Auch für sie sollten diese Räte natürlich offen sein. Vorbild könnten die Gleichstellungsbeauftragen sein, die es seit den 1980er Jahren in vielen Verwaltungen und auch in größeren Betrieben gab.

Vom digitalen Kummerkasten zu Räten

Das wäre eine Weiterentwicklung der Me-Too-Bewegung, die vielerorts sehr viel gelobt, aber wenig kritisiert wurde. Dabei müsste es ein Allgemeinplatz sein, dass Kritik der Motor einer Bewegung und fehlende Kritik mittelfristig Stillstand heißt. In der Interviewpassage konnte man Wagenknechts despektierliche Äußerung, sich nicht ausweinen zu müssen, als eine solche Kritik verstehen.

Tatsächlich trägt dieser Ausdruck wenig dazu bei, dass die Betroffenen, die mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit gegangen sind, einige Schritte weitergehen. Denn tatsächlich wäre eine Me-Too-Bewegung als digitaler Kummerkasten kein Instrument der Gegenmacht. Es ist auch deutlich, dass die im Neoliberalismus zum Dogma erhobene Individualisierung hier voll reinschlägt. Es ist eben offensichtlich, dass alle Betroffene als Einzelne reden, dann sicher unterstützt werden, aber ein kollektiver Prozess nicht stattfindet, wie er sich noch vor Jahrzehnten in Streiks gegen Niedriglöhne für Frauen beispielsweise bei Pierburg [6] ausdrückte.

Da hilft es auch nicht, wenn von Behshid Najafi von einer Selbstorganisation migrantischer Frauen [7] nun nach Me Two, Me Three und Me Four gefordert [8] wird. Die zur Begründung genannte Mehrfachbetroffenheit von unterschiedlichen Unterdrückungsformen bei migrantischen Frauen ist vorhanden, aber sie nur in eigenen Erzählungen nebeneinanderzustellen, trägt nicht dazu bei, die Vereinzelung zu überwinden und zu gemeinsamen Kämpfen zu kommen.


Frauen mit wenig Einkommen am meisten betroffen

Es darf eben nicht dabei stehen bleiben, sich nur die unterschiedlichen Geschichten von Unterdrückungserfahrungen zu erzählen, es kommt darauf an, diese Unterdrückungen abzuschaffen. Da wird auch sehr schnell deutlich, dass es sich nicht um ein Mittelschichtsproblem handelt. Im Gegenteil, gerade Frauen mit wenig oder geringem Einkommen, sind am stärksten auch von der sexuellen Unterdrückung betroffen. Um da was zu ändern, müssen eben auch gesellschaftliche Strukturen in Frage gestellt werden.

Einige Beispiele dazu wurden auf einer Tagung der Berliner Mietergemeinschaft [9] zum Thema Bauen, Bauen, Bauen – sozial und kommunal [10] genannt, die hier dokumentiert [11] ist. Dort ging es auch um die unterschiedlichen Folgen der Wohnungsnot. Dora Zimmermann vom Verein Wildwasser [12] befasste sich mit den Auswirkungen für Mädchen und Frauen. So seien junge Frauen gezwungen, mit Brüdern unter einem Dach zu leben, die deren Leben überwachen und reglementieren wollen. Frauen falle es auch wegen der Wohnungsnot viel schwerer, sich von gewalttätigen Männern zu trennen. Das ist nur eines von vielen Beispielen, wie sexuelle Unterdrückung mit anderen Ausbeutungsmechanismen zusammenfällt. Das legt nahe, dass es auch nur gemeinsam bekämpft werden kann. Und es stellt sich dann die Frage, ob Me Too es schafft, vom digitalen Kummerkasten zu einer Plattform der Organisierung zu werden.

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4153174
https://www.heise.de/tp/features/Metoo-Kummerkasten-von-Mittelstandsfrauen-oder-neues-feministisches-Kampffeld-4153174.html

Peter Nowak

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.taz.de/Archiv-Suche/!5528111&s=&SuchRahmen=Print/
[2] https://www.aufstehen.de/
[3] https://www.sexuelle-selbstbestimmung.de/10127/gute-argumente-fuer-eine-streichung-von-%c2%a7-219a-stgb-fakten-statt-ideologie/
[4] https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_83083940/sahra-wagenknecht-im-interview-die-spd-schafft-sich-ab-.html
[5] http://www.fr.de/politik/meinung/kommentare/metoo-die-ignoranz-der-frauen-a-1431518
[6] http://www.labournet.de/politik/gw/geschichte/wilder-streik-das-ist-revolution-der-streik-der-arbeiterinnen-bei-pierburg-in-neuss-1973
[7] https://agisra.org/index.php?de_home
[8] http://www.taz.de/Archiv-Suche/!5527564
[9] https://www.bmgev.de
[10] https://www.bmgev.de/politik/bauen-bauen-bauen.html
[11] http://zweischritte.berlin/post/175450818498/bauen-bauen-bauen
[12] http://www.wildwasser-berlin.de/

DER KAMPF DER JASIC-ARBEITER*INNEN IM CHINESISCHEN SHENZEN

Arbeiter*innen der Shenzener Schweißgerätefabrik Jasic wehren sich gegen Gängelung und wollen eine Gewerkschaft gründen. Als der Staat zurückschlägt, entwickelt sich eine übergreifende Solidaritätsbewegung in China und darüber hinaus.

„Eine Gewerkschaft zu gründen ist kein Verbrechen. Unterstützt die Jasic-Arbeiter*innen von Shenzen“, ruft Shen Mengyu mit lauter Stimme. Um sie stehen Polizist*innen. Einige Männer und Frauen, die der Frau zuhören, applaudieren und am Ende singen sie eine Strophe der Internationale. Das Videos dieser Szenen verbreitete sich schnell über die sozialen Medien und die junge Frau mit der Brille und den langen schwarzen Haaren wurde zum Beispiel einer jungen Generation in China, die sich auch von Polizei und anderen Repressionsorganen des staatskapitalistischen Regimes nicht mehr einschüchtern lässt. Doch die Repressionsorgane haben mal wieder gezeigt, wie sie mit selbstorganisierten Arbeiter*innenprotesten umgehen. Am 11. August 2018 wurde Shen Mengyu von zwei Männern in Zivil in ein Auto gezerrt und ist seitdem verschwunden. Zunächst behauptete die Polizei, sie sei von ihrer Familie entführt worden. Die Version ließ sich nicht mehr aufrecht erhalten, als bekannt wurde, dass die Frau von der Polizei festgehalten werde. Wenige Tage später wurde ein weiterer Unterstützer der Jasic-Arbeiter*innen entführt. Er konnte allerdings nach wenigen Tagen entkommen und ist nach Shenzen zurückgekehrt.

CHINESISCHE STAATSGEWERKSCHAFT GEGEN SELBSTORGANISIERTE ARBEITER*INNENPROTESTE

In der Shenzener Schweißgerätefabrik Jasic wehrten sich Arbeiter*innen gegen ein Strafsystem, das selbst nach chinesischem Recht illegal ist. Beschäftigte bekamen Lohnabzüge, wenn sie zu spät kamen, wenn sie Essen in die Fabrik mitbrachten, wenn sie mit ihren Kolleg*innen sprachen oder wenn ihre Betriebsuniform nicht vollständig war. Gegen diesen Kasernenhofmethoden in der Fabrik wehrten sich die Beschäftigten und wollten eine Gewerkschaft gründen. Dabei beachteten sie genau die gesetzlichen Grundlagen für eine Gewerkschaftsgründung in China. Dort sind Gewerkschaften nur legal, wenn sie Teil des Allchinesische Gewerkschaftsverbands (AFCTU) sind. Der Vizepräsident der Staatsgewerkschaft AFCTU von Shenzen war mit der Gewerkschaftsgründung zunächst einverstanden. Doch die Jasic-Manager*innen waren von Anfang an dagegen und machten deutlich, dass sie eine Gewerkschaft keinesfalls zulassen wollen. Mehrere von ihnen sind auch in der Provinzregierung aktiv und nutzten ihren Einfluss. Plötzlich distanzierte sich auch der staatsnahe AFTCTU von der Gewerkschaftgründung und organisierte später bei Jasic eine gelbe Gewerkschaft. So konnte das Regime behaupten, dass es ja eine Gewerkschaft gebe. Derweil entließ man im Juli 2018 mehrere der Gewerkschaftsgründer*innen. Doch diese ließen sich von dieser chinesischen Form des Union-Busting nicht einschüchtern. Sie kamen jeden Tag zur Fabrik, um ihre Arbeit anzubieten, wurden aber vom Sicherheitsdienst nicht eingelassen. Am 27. Juli 2018 wurden schließlich siebenunzwanzig Arbeiter*innen, ihre Familien und Unterstützer*innen, wegen Unruhestiftung verhaftet. Vierzehn von ihnen befinden sich noch immer im Gefängnis.

AUSSERBETRIEBLICHE SOLIDARITÄT STÄRKTE ARBEITER*INNEN DEN RÜCKEN

Doch die Repression mobilisierte Studierende in ganz China. Kommiliton*innen von sechzehn Universitäten setzten ihre Namen unter einen Solidaritätsappell mit den Jasic-Anbieter*innen. Hunderte Studierende kamen nach Shenzen, um die Beschäftigten vor Ort zu unterstützen. Auf öffentlichen Plätzen und in Parks informierten sie über deren Kampf, kritisierten die Repression und riefen zur Solidarität auf. Die Kurzkundgebungen wurden meistens mit dem Absingen der Internationale beendet. Die Unterstützung wuchs. Selbst einige ältere Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas beteiligten sich an den Protesten. Für sie steht der aktuelle Turbokapitalismus Chinas im Widerspruch zu den maoistischen Idealen. Doch Shen Mengyu wurde zum Gesicht der Proteste. Sie hat Mathematik und Ingenieurwissenschaften studiert und war bereits wegen Gründung eines Arbeiter*innenkomitees in einer anderen Stadt entlassen worden. Ihre Entführung konnte den Protest nicht beenden. Weiterhin harrten hunderte Studierende in Shenzen aus. Sie kündigten an, die Stadt nicht zu verlassen, bis alle Arbeiter*innen und Unterstützer*innen freigelassen sind. Doch Ende August wurden sie von der Polizei verhaftet. Sie werden festgehalten, bearbeitet, in ihre Heimatorte deportiert, zwangsweise in ihre Heimatorte deportiert. Man will Friedhofsruhe in Shenzen schaffen und verhindern, dass die Arbeiter*innen in anderen Fabriken auf die Idee kommen, autonome Gewerkschaften zu gründen.

INTERNATIONALE SOLIDARITÄT MIT DEN JASIC-ARBEITER*INNEN

Lange Zeit war außerhalb von Shenzen nichts von dem Kampf der Jasic-Arbeiter*innen bekannt. Es war unabhängigen Solidaritätsstrukturen zu verdanken, dass sich das änderte. Im deutschsprachigen Raum hat Bärbel Schönafinger von der Plattform labournet.tv viel dazu beigetragen. Die von ihr mit deutschen Untertiteln versehenen Videos sorgten für Solidarität in verschiedenen Städten.

Mittlerweile hat auch die internationale Solidarität begonnen. Auf dessen Webseite stellt Labournet.de einen Musterbrief an die chinesische Botschaft bereit, in dem Gewerkschafter*innen die Freilassung aller im Jasic-Konflikt Verhafteten fordern:

Wir, als Aktive in Gewerkschaften und linken Organisationen in der BRD, können darin nichts, aber auch gar nichts Unrechtes sehen – über ihre Organisation und ihre Vertretung müssen Kolleginnen und Kollegen weltweit, unabhängig vom gesellschaftlichen System, das Recht haben, selbst zu entscheiden

In Berlin haben sich an einer Protest- und Solidaritätskundgebung vor der chinesischen Botschaft am 29. August 2018 auch FAU-Kolleg*innen beteiligt. Am 30. August 2018 informierten sich einige Kolleg*innen auf einer Informationsveranstaltung im Berliner FAU-Lokal. Es ist wichtig, dass die Solidarität mit den Jasic-Arbeiter*innen und ihren Unterstützer*innen jetzt nicht nachlässt. Das Kalkül der Manager und ihres Staates darf nicht aufgehen. Alle Verhafteten müssen freigelassen, die Kriminalisierung beendet werden. Denn die Gründung einer Gewerkschaft ist kein Verbrechen.

MEHR INFOS

https://www.scmp.com/…/chinese-maoists-join-students-fight-…
https://www.reuters.com/…/chinas-student-activists-cast-

Dozens Arrested After Worker Protests In Shenzhen


https://de.labournet.tv/jasic-arbeiterinnen-kaempfen-fuer-eine-echte-gewerkschaft

aus Direkte Aktion, 2. September 2018

Peter Nowak

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Solidaritätserklärung der FAU-Berlin

Der Kampf der Jasic-Arbeiter*innen im chinesischen Shenzen

Solidarität mit den chinesischen Jasic-Arbeiter*innen und ihren
Unterstützer*innen!
Der Kampf der Jasic-Arbeiter*innen im chinesischen Shenzen
Im Zusammenhang mit dem Versuch von Arbeiter*innen, in der Schweißgerätefabrik Jasic im chinesischen Shenzen eine Gewerkschaft aufzubauen, hat sich eine sehr zugespitzte Situation von Repression und eine ungewöhnliche Solidaritätsbewegung für die kämpfenden Arbeiter*innen entwickelt.

Im Juli waren sieben Arbeiter entlassen worden, weil sie versucht hatten, eine Gewerkschaft aufzubauen. Die Proteste gegen die Entlassungen gingen den ganzen Monat über weiter und am 27. Juli wurden schließlich 29 Arbeiter*innen, Familienangehörige und Unterstützer*innen mit viel körperlicher Gewalt festgenommen und abgeführt.

Von den 29 Festgenommenen wurden 15 am 12. August entlassen. Sie
berichten, dass sie während ihrer Haft misshandelt und bedroht wurden.
Der Kampf um die Freilassung der verbleibenden Kolleg*innen geht weiter,
ebenso wie der Kampf der Arbeiter*innen für eine echte und repräsentative Gewerkschaft.

Seit diesen Verhaftungen haben Gruppen von mutigen Protestierenden vor der Polizeistation die Freilassung ihrer Kolleg*innen verlangt. Tausende Universitätsstudent*innen haben einen offenen Brief unterschrieben, in dem sie sich mit den Jasic Arbeiter*innen solidarisieren.

Die Repression hat schließlich staatsterroristische Züge angenommen, als am 11. August 2018 die Aktivistin Shen Mengyu entführt wurde. Mittlerweile wurden auch ca. 50 studentische Unterstützer*innen in Shenzen festgenommen, die meisten wurden in ihre Heimatorte deportiert. Auch in Peking wurden Unterstützer*innen der Jasic-Arbeiter*innen verhaftet.

Am 29. August berichteten Kolleg*innen von labournet.tv über den Kampf der Jasic-Arbeiter*innen, die Solidaritätsbewegung und die Staatsrepression.

Wir fordern die Freilassung aller im Zusammenhang mit dem Kampf der Jasic-Arbeiter*innen Verhafteten, die Einstellung aller repressiven Maßnahmen gegen sie und solidarisieren uns mit dem ihrem Kampf für eine Gewerkschaft, in der sie ihre Interessen vertreten kann.

Eine Gewerkschaftsgründung ist kein Verbrechen!

Hoch die transnationale Solidarität des Proletariats!

Mehr Infos:
https://www.reuters.com/article/us-china-labour-protests-insight/chinas-student-activists-cast-rare-light-on-brewing-labor-unrest-idUSKBN1L0060

Dozens Arrested After Worker Protests In Shenzhen


labournet.tv hat vor ein paar Tagen ein Videos mit deutschen Untertiteln
dazu veröffentlicht: https://de.labournet.tv/videos/jasic

https://berlin.fau.org/news/der-kampf-der-jasic-arbeiter-innen-im-chinesischen-shenzen

Ist Rassismus oder Ausländergewalt in Chemnitz das Problem?

Die Ereignisse der letzten Woche zeigten auch die fatale Schwäche einer linken Position

„Giffeys Besuch führt sie als erstes zu dem Tatort“, titelt Die Welt [1] über den Chemnitz-Besuch der Bundesfamilienministerin, die als erstes Mitglied der Bundesregierung in die sächsische Stadt gereist ist, seit sie im Brennpunkt steht. Doch was war die Ursache? Und was ist der Tatort?

Darüber tobt seit einer Woche der Streit, nicht nur in den Medien und sozialen Netzwerken, sondern auch auf Chemnitz Straßen. Das zeigte sich auch beim Giffey-Besuch: Im Welt-Artikel war der Tatort die Stelle in der Brückenstraße, wo ein Mann nach einer Messerattacke verblutet ist.

In anderen Meldungen wurde hervorgehoben, dass die Ministerin die Stadt besuchte, die in den vergangenen Tagen wegen rechter Demonstrationen in die Schlagzeilen geraten ist. Tatsächlich hat sich beides in den letzten Tagen in Chemnitz zugetragen. Doch seit einer Woche tobt der Streit, was das zentrale Problem in Chemnitz ist.

Von der Bürgerrechtlerin zur rechten Bürgerin

Da stehen sich zwei Lager gegenüber, die nicht so einheitlich sind, wie es den Anschein hat. Da ist das konservativ-nationalistische Lager, das die Grenzen in Deutschland dicht machen will und sich durchaus eine Art Orbán-Regierung für Sachsen wünscht. Dort sind Grenzen dicht und der christliche Bezug wird dort nicht über die Bergpredigt und das Kirchenasyl, sondern über das sogenannte „christliche Abendland“ definiert, das sogar bei manchen Ex-Linken heute auf Sympathie stößt.

Innerhalb dieses national-konservativen Spektrums tummeln sich Personen aus verschiedenen rechten Zirkeln. Erklärte Neonazis sind dabei aber nicht die Mehrheit. Manche, wie der PI-News Autor Michael Stürzenberger, der einen prowestlichen Rechtskonservatismus im Sinne der CSU unter F.J. Strauß mit einer klaren Islamfeindschaft kombiniert, bezeichnet die offenen Neonazis als „Linksnationalisten“ und fordert sie auf, ihre eigene Demonstrationen zu organisieren.

Andere aus dem rechtskonservativen Lager haben keine Probleme, mit offenen Neonazis zu demonstrieren. So setzt sich mit den Ereignissen in Chemnitz nur eine Entwicklung fort, die nicht erst 2015 mit der Zunahme der Migration einsetzte.

Seit mehr als 10 Jahren demonstrieren sogenannte konservative Bürger gemeinsam mit organsierten Neonazis gegen den Bau einer Moschee wie in Berlin-Heinersdorf, gegen Flüchtlingsunterkünfte und dann eben bei den Montagsdemonstrationen und Pegida.

Eigentlich aber reicht die Kooperation zwischen Neonazis und rechten Bürgern bis in den Herbst 1989 zurück, als aus der Parole der linken DDR-Opposition „Wir sind das Volk“ das nationalistisch „Wir sind ein Volk“ geworden ist.

Zwei der bekannten Bürgerrechtlerinnen, die heute die Sorgen der rechten Bürger teilen, sind Vera Lengsfeld [2] und Angelika Barbe [3]. Doch wie sie sehen auch andere ehemalige DDR-Bürgerrechtler in Pegida und Co. eine Fortsetzung der Demonstrationen vom Herbst 1989 in der DDR und meinen das positiv. Das hat Vera Lengsfeld in ihrer in national-konservativen Kreisen viel diskutierten Medienschelte „Die Hetze gegen das Volk“ [4] klar formuliert:

Den Anfang machte Bild mit einer Berichterstattung, die alle Regeln eines seriösen Journalismus verletzt. „Rechte ziehen durch Chemnitz“, titelt das Blatt und zieht dann vom Leder: 1000 Menschen, darunter viele Rechte, hätten sich am Sonntagnachmittag versammelt. Sie skandierten „Wir sind das Volk“. Der Ruf der Friedlichen Revolution von 1989 wird so en passant zum „rechten“ Slogan erklärt.

Vera Lengsfeld

Damit blamiert sie allerdings die vielen Grünen und Linksliberalen, die die DDR-Bürgerrechtler als die neuen Demokraten missverstanden hatten und jeglichen Vergleich mit den Rechten als SED-Propaganda bekämpften.

Es waren nur wenige schlaue Linke auch in der BRD, wie der Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremlitza [5], die von Anfang an nicht an die Erzählung von den großen Demokratiepotentialen der Bürgerrechtsbewegungen in der DDR glaubten und das völlig unabhängig davon, wie man das DDR-System einschätzte.

Daher ist es umso erstaunlicher, dass manche ehemals deutschlandkritische Linke wie der Rote Salon Leipzig [6] in dem Bemühen, Anschluss an die liberale Moderne zu finden, fast all ihre früheren Erkenntnisse dementieren und sowohl den Anschluss der DDR als auch den Jugoslawienkriege nachträglich verteidigen.

Weltoffen für den Wirtschaftsstandort Deutschland oder für die Menschenrechte?

Aber auch das sogenannte liberal-weltoffene Lager, das sich im Streit um die Interpretation der Ereignisse von Chemnitz in der letzten Woche den Rechten entgegenstellte, ist keineswegs homogen. Da finden sich viele, denen es um den Erhalt von Menschenrechten geht, manche sehen hierin die Voraussetzung für weitergehende linke Utopien.

Doch auch Wirtschaftsliberale, die wissen, dass die deutsche Wirtschaft schon mittelfristig Arbeitsplätze braucht, heißen natürlich Migranten willkommen. Da wird auch schon geklagt, dass die Negativpresse über Chemnitz die Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025 [7] gefährden könnte.

Einer derjenigen, der diese Bewerbung unterstützt, wird in der Taz als parlamentarischer Vertreter des weltoffenen Chemnitz bezeichnet: der Unternehmer Lars Fassmann [8]. Fassmann hat auch nichts dagegen, als Gentrifizierer bezeichnet zu werden, was dann in der Taz als „Räume besetzen“ [9] umschrieben wird.

Was aber nicht nur in der Auseinandersetzung um Chemnitz fehlt, ist eine linke staats- und kapitalismuskritische Position, bei der eben „weltoffen“ nicht zum Synonym für Gentrifizierung wird. Es ist dann nicht ausgeschlossen, dass es zwischen einer solchen eigenständigen antagonistischen Position und der liberalen Fraktion in bestimmten Fragen Kooperationsmöglichkeiten gibt.

Aber das würde bedeuten, dass eine Linke erst einmal eigenständig wahrnehmbar ist. Das Fehlen einer solchen Position lässt sich am Beispiel Chemnitz in den letzten Tagen gut beobachten. Da fragt die liberale Taz, die Polizeieinsätze gegen Demonstrationen sonst heftig kritisiert, warum in Chemnitz nicht Polizei aus anderen Bundesländern angefordert wurde – was inzwischen auch geschehen ist.

Linke sollten nicht die Position des Staatsschutzes übernehmen

Es ist natürlich völlig berechtigt, darauf hinzuweisen, mit welchem Polizeiaufgebot die Staatsmacht im letzten Jahr gegen eine Antifa-Demo in Wurzen [10] vorgegangen ist. Doch das kann aus einer linken und eigentlich auch aus einer liberalen Perspektive nicht dazu führen, dass nun beklagt wird, dass nicht auch in Chemnitz SEK eingesetzt wird.

Auch die Titulierung der Chemnitzer Demonstrationen als „Aufmärsche“ oder „Aufzüge“ ist zu hinterfragen. Solche Begrifflichkeiten werden in der Regel bei Demonstrationen angewandt, die den liberalen Rahmen, den die Staatsmacht wünscht, überschreiten. Dabei nehmen erst einmal Menschen mit unterschiedlicher politischer Gesinnung ein Demonstrationsrecht wahr. Es ist für eine Linke klar, dass sie sich gegen rechte Positionen auf der Straße wendet, auch mit Gegendemonstrationen und Blockaden.

Es ist aber nicht sinnvoll, sich dabei auf die Position einer Polizeibehörde zu begeben, die solche Demonstrationen möglichst ganz verhindern will. Dabei sollte man auch die Taktik der Überskandalisierung hinterfragen. Die harten Polizeieinsätze gegen linke Demonstrationen werden dadurch vorbereitet, indem wochenlang vor Gewalt gewarnt wird wie im Vorfeld von Wurzen [11].

Es sind vor allem diese rechten Bürger, die jetzt in Chemnitz auf die Straße gehen, die dann harte Hand gegen die Linke fordern. Nun sollten diese nicht den Fehler machen, eine ebenso harte Hand gegen die Rechte zu fordern. Und es ist auch noch eine illusionäre Forderung, weil repressive Staatsorgane strukturell rechts sind, was sich auch an Polizeieinsätzen gegen Punks und Unangepasste in der DDR zeigte.

Jetzt also die Staatsmacht aufzufordern, sie solle doch jetzt mal genau so hart gegen Rechte wie gegen Linke vorgehen, zeugt von der Schwäche der Linken. Da hilft es auch nicht, wenn man dann besonders drastische Begriffe für die Zustände in Chemnitz benutzt und von „Pogromen“ auf den Straßen der Stadt spricht.

Damit wird man auch den Opfern von tatsächlichen Pogromen in der Vergangenheit und Gegenwart nicht gerecht. Vor allem besteht die Gefahr, dass durch solche alarmistischen Meldungen die Sensibilität für reale Probleme sinkt. Denn manchen, die in den letzten Tagen in Chemnitz auf der Straße waren, sind solche Gedanken durchaus zuzutrauen.

Der geleakte Haftbefehl

Das Fehlen einer linken Position wurde auch bei dem geleakten Haftbefehl [12] deutlich. Was auch immer das Motiv des verantwortlichen Justizangestellten gewesen ist, im Sinne der Transparenz von staatlichen Akten ist nicht einzusehen, warum solche Dokumente geheim bleiben sollen.

Es geht dabei nicht um den Schutz des Verdächtigten, sondern um Staatsschutz. Daran sollte sich eine Linke nicht beteiligen. Die Rechte kann daraus nur Vorteile ziehen, weil scheinbar alle Anhänger des weltoffenen Lagers hier die Staatsraison verteidigen. Dabei kann mit dem Haftbefehl, die in rechten Netzwerken verbreitete Story von den 25 Messerstichen widerlegt werden können, die zur Emotionalisierung der rechten Klientel diente.

Das aber bedeutet nicht, die tödlichen Stiche irgendwie zu relativieren oder unter den Tisch zu kehren. Auch hier konnte das rechte Lager von den Fehlern der anderen Seite profitieren. Anfangs schien der Tote fast nur eine Fußnote und die rechten Demonstrationen standen im Mittelpunkt für das weltoffene Lager. Die Rechte konnte dann noch damit punkten, dass das Opfer einen kubanischen Vater hatte und man so kein Rassist sein könne.

Warum konnte die Ablehnung der rechten Demonstrationen auf Seiten der Gegner nicht verbunden sein mit einer Kritik an den zuweilen toxischen Männergruppen, die dann auch Tote in Kauf nehmen?

Dabei sollten ausdrücklich keine ethnischen Zuschreibungen gemacht werden. Die Täter handelten nicht als Syrer, Iraker etc., sondern als Individuen in konkreten Lebenssituationen. Wieweit dabei Prägungen in ihren Heimatländern, auf der Flucht oder bei ihrem Leben in Deutschland eine Rolle spielen, muss Gegenstand von weiteren Ermittlungen sein.

Zwangshomogenisierung unterschiedlicher Wirklichkeiten

Doch schon jetzt ist klar, dass die Zwangsunterbringung von Migranten an Orten, wohin sie nie wollten, solche Taten eher fördern als verhindern, weil damit auch eine Zwangshomogenisierung völlig unterschiedlicher Individuen verbunden ist, die nur eines gemeinsam haben: Dass sie aus dem gleichen Land oder der gleichen Region geflohen sind.

Die Gründe dafür sind so unterschiedlich wie ihre Lebensrealitäten. Da können ehemalige syrische IS-Kämpfer und ihre Opfer im deutschen Flüchtlingsheim zwangsweise zusammen treffen. Der Kampf gegen diese Zwangshomogenisierung der Migranten müsste ebenso Teil einer linken Praxis „nach Chemnitz“ sein wie die Abwehr der Romantisierung von Flucht und Migration, wie sie in Teilen der Refugees-Welcome-Bewegung anzutreffen war.

Jenseits von rassistischen Ressentiments und Verklärung

Der preisgekrönte Film Global Family [13], der noch bis 3.9. in der Arte-Mediathek [14] abgerufen werden kann, bietet ein solches Bild jenseits von rassistischen Ressentiments und Verklärung. Am Beispiel einer somalischen Familie wird gezeigt, wie auch innerhalb der Familie selbst gegen eine 90-Jährige Gewalt ausgeübt wird. Man will den Wunsch der alten Frau unterstützen, in Deutschland, wo einer ihrer Söhne lebt, ihre letzten Jahre zu verbringen und bekommt Wut auf die Verhältnisse, die das verhindern.

Man bekommt aber auch einen Grimm auf ihren Sohn, der lieber sein ungebundenes Leben weiterführen will, als seiner Mutter ihren Herzenswunsch zu erfüllen. Denn die Übersiedlung der Mutter nach Deutschland scheitert im Film zumindest daran, dass er keine geregelte Arbeit und auch keine geeignete Wohnung für sie nachweisen konnte.

Nun hätte man annehmen können, dass so ein Nachweis mit etwas Anstrengung hätte beigebracht werden können. Es ist nur eins von vielen Beispielen, wo man sich einen differenzierten Blick wünscht. Das ist die Voraussetzung, dass eine Linke auch wieder Mehrheiten in der Bevölkerung gewinnen kann.

Momentan ist da in Chemnitz wenig Hoffnung. Die Teile der Bevölkerung, die für eine Orbanisierung Deutschlands eintreten, sind nicht offen für linke Themen und da kann sie sich auch alle Versuche sparen.

Doch die Linke soll sich vorbereiten auf Situationen, in denen die Zumutungen der kapitalistischen Gesellschaft auch durch die Ethnisierung des Sozialen und Politischen nicht zugekleistert werden können.

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Peter Nowak

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article181372086/Familienministerin-in-Chemnitz-Giffeys-Besuch-fuehrt-sie-als-Erstes-an-den-Tatort.html
[2] https://vera-lengsfeld.de
[3] https://www.cicero.de/taxonomy/term/2653
[4] https://vera-lengsfeld.de/2018/08/28/die-hetze-gegen-das-volk/
[5] https://konkret-magazin.de/start/gremlizas-kolumne.html
[6] http://roter-salon.conne-island.de/abschied-ohne-traenen-warum-sich-die-linke-angesichts-der-krise-des-westens-so-ungeruehrt-zeigt/
[7] http://www.chemnitz2025.de/
[8] https://www.brandeins.de/corporate-publishing/sachsen-machen/der-leise-visionaer
[9] http://www.taz.de/!5529389/
[10] https://www.mdr.de/sachsen/leipzig/demo-in-wurzen-nach-ausschreitungen-100.html
[11] http://www.lvz.de/Region/Wurzen/Wurzen-zwischen-Angst-und-Resignation-Polizei-zeigt-Praesenz-vor-Antifa-Demo
[12] https://www.tagesspiegel.de/politik/sachsen-geleakter-haftbefehl-justizbeamter-stellt-sich-ermittlungen-gegen-abgeordnete/22976240.html
[13] http://www.max-ophuels-preis.de/programm/film_detail/movie-5a37dd3da1679
[14] https://www.arte.tv/de/videos/058915-000-A/global-family/