Zwei neue Gesichter, doch die Probleme bleiben die Umfragewerte werden auch nicht besser und die durch die Hartz-IV-Politik geförderte Vertafelung der Gesellschaft schreitet voran

Nichts Neues bei der SPD

Diese Vertafelung der Gesellschaft ist ein Vermächtnis der SPD. Das ist eine wichtige Konsequenz der Hartz IV-Politik, die man eben nicht mal so einfach hinter sich lassen kann. "Die Armut breitet sich bis in den Mittelstand aus", titelt sogar der Deutschlandfunk

„Unser Aufbruch in die neue Zeit“, lautet das Motto des SPD-Parteitags [1]. Leichte Anklänge an die Lieder der Arbeiterbewegung [2] vor fast 100 Jahren sind herauszuhören. „Mit uns zieht die neue Zeit“, hieß es damals. Doch mit der SPD von 2019 will niemand mehr in eine neue Zeit ziehen. Daran kann das…..

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Armut bekämpfen, statt Arme auszuspielen

Ein Bündnis von sozialen Initiativen fordert offensive Sozialpolitik

Nach dem vorläufigen Aufnahmestopp von Menschen ohne deutschen Pass bei der Essener Tafel (Wenn die „deutsche Oma“ gegen Arme ohne deutschen Pass ausgespielt wird) gab es viel Kritik aber auch Verständnis für die Maßnahme. Selbst Merkel meinte, sich dazu äußern müssen, und auch der Faschismusvorwurf wurde erhoben.

Bevor Ermüdungserscheinungen eintreten, bekam die Diskussion jetzt noch mal eine erfreuliche neue Richtung. Ein Bündnis von sozialen Initiativen initiierte einen Aufruf für einen Wandel der Sozialpolitik.

Dass Menschen, egal welcher Herkunft, überhaupt Leistungen der Tafeln in Anspruch nehmen müssten, sei Ausdruck politischen und sozialstaatlichen Versagens in diesem reichen Land, heißt es in der Erklärung, die u.a. vom DGB, der Nationalen Armutskonferenz, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem Sozialverband VdK Deutschland, dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter, dem Deutschen Kinderschutzbund, der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe und PRO ASYL unterzeichnet wurde.

„Sozialstaatliche Leistungen müssen dafür sorgen, dass für alle hier lebenden Menschen, gleich welcher Herkunft, das Existenzminimum sichergestellt ist. Es ist ein Skandal, dass die politisch Verantwortlichen das seit Jahren bestehende gravierende Armutsproblem verharmlosen und keine Maßnahmen zur Lösung einleiten. Damit drohen neue Verteilungskämpfe“, heißt es in dem Aufruf.

Damit werden die Verantwortlichen für die Misere genannt und dabei weder die unterschiedlichen Nutzer der Tafeln noch die Initiatoren der Tafeln verurteilt, sondern eine Politik, welche die Verarmung großer Teile der Bevölkerung in Kauf nimmt, was die „Vertafelung der Gesellschaft“ überhaupt nötig macht.

„Sozialpolitische Reformen der vergangenen Jahre hatten immer das Ziel, Mittel einzusparen“, erklärte Barbara Eschen, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz. Reichen seien Steuergeschenke gemacht worden, gleichzeitig habe man die Leistungen für Bedürftige zusammengekürzt. In der Folge sei die Konkurrenz der Menschen um die Mittel verschärft worden.

Heute beklagt die Politik, die den Sozialabbau herbeigeführt hat, die Entsolidarisierung der Gesellschaft.

Barbara Eschen

Die Verarmungspolitik hat einen Namen: Hartz-IV

Die Organisatoren machen auch deutlich, dass die politisch gewollte Verarmungspolitik einen langen Vorlauf hat, aber in dem Hartz IV-Programm kulminiert.

Um überleben zu können, waren immer mehr Menschen auf die Tafeln angewiesen. Da ist es besonders zynisch, dass der Alt-Sozialdemokrat und Lobbyist Claus Schmiedel in einem Interview in der Wochenzeitung Kontext erklärt.

Mit der Agenda und Gerhard Schröder haben wir 2005 noch einmal ein prächtiges Ergebnis bei der Bundestagswahl eingefahren.

Claus Schmiedel

So wie Schmiedel denken wahrscheinlich viele in der SPD, nur nicht alle werden es so offen aussprechen. Wenn eine Spätfolge der Essener Tafeldebatte dazu führt, diese Verarmungspolitik und die dafür Verantwortlichen in den Fokus zu nehmen, dann wäre das sehr positiv. Es gäbe viele Gründe weiterhin gegen die Vertafelung der Gesellschaft zu protestieren.

Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit der Essener Tafel wurde immer wieder betont, man dürfe die Menschen, die ehrenamtlich helfen wollen, nicht kritisieren. Natürlich geht es nicht darum, ihren guten Willen infrage zu stellen. Was aber sehr wohl not tut, ist die Kritik an einem bürgerlichen Philanthropismus, der von den gesellschaftlichen Ursachen der Verarmung und Verelendung nicht reden will und die Betroffenen nur als Bittsteller ansieht, die für jeden Bissen dankbar sein soll.

Wie schon Karl Marx den bürgerlichen Philanthropismus scharf kritisierte, so ist das heute auch wichtig. Nur noch wenige Organisationen wie Medico International kritisieren einen solch paternalistischen Ansatz von Hilfe und propagieren dagegen eine Unterstützung, die Menschen zu Selbstbewusstsein und Widerstand ermutigt.

Warum nicht die Tafeln nutzen, um mit den Menschen gemeinsame „Zahltage“ in Jobcentern zu machen, um ihre Rechte einzufordern, damit sie genug Geld haben, um Produkte ihrer Wahl zu kaufen? So würden sich die Tafeln selber überflüssig machen und das müsste ihre vornehmste Aufgabe für alle Menschen sein, wenn die Arbeit bei der Tafel wirklich gesellschaftlich etwas bewirken und nicht nur Armut verwalten und regulieren will.

https://www.heise.de/tp/features/Armut-bekaempfen-statt-Armut-auszuspielen-3988098.html

Peter Nowak
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[1] https://www.heise.de/tp/features/Wenn-die-deutsche-Oma-gegen-Arme-ohne-deutschen-Pass-ausgespielt-wird-3977708.html
[2] http://www.der-paritaetische.de/presse/buendnis-fordert-offensive-sozialpolitik-
armut-jetzt-bekaempfen
[3] http://infothek.paritaet.org/pid/fachinfos.nsf/0/
9ef8993719d83ff7c1258248002ebedd/$FILE/180306_pk_erklaerung.pdf
[4] https://www.kontextwochenzeitung.de/politik/361/gottes-segen-haelt-4945.html
[5] http://www.aktionsbuendnis20.de/
[6] https://www.medico.de
[7] http://de.labournet.tv/video/5879/zahltag-jobcenter-neukolln

Wenn die „deutsche Oma“ gegen Arme ohne deutschen Pass ausgespielt wird

Niemand soll auf Essenstafeln angewiesen sein, nicht der Mann aus Osteuropa, nicht das Kind aus Syrien und nicht die deutsche Oma. Ein Kommentar

In den letzen Tagen steht die Essener Tafel verstärkt im öffentlichen Interesse. Es geht um folgenden Passus:

Da Aufgrund der Flüchtlingszunahme in den letzten Jahre, der Anteil ausländischer Mitbürger bei unseren Kunden auf 75% angestiegen ist, sehen wir uns gezwungen, um eine vernünftige Integration zu gewährleisten, zurzeit nur Kunden mit deutschem Personalausweis aufzunehmen.

Essener Tafel

Unter der Schlagzeile „Hilfe nur für Deutsche“ kritisierten viele Medien diesen Aufnahmestopp für Nicht-Deutsche, die in der Erklärung der Essener Tafel korrekt als ausländische Mitbürger, bei vielen Kritikern aber fälschlicherweise oft als Migranten bezeichnet werden.

Dabei handelt es sich bei den nun Abgewiesenen oft um EU-Bürger aus osteuropäischen Ländern, die einfach ihr Recht auf Freizügigkeit im EU-Raum wahrnehmen.

„Wir wollen, dass auch die deutsche Oma weiter zu uns kommt“

Die Regelung, nur noch Menschen mit deutschem Pass aufzunehmen, ist übrigens schon 4 Wochen alt. Die zeitverzögerte Empörung setzte ein, nachdem eine Zeitung die Regelung aufgegriffen hat. Es folgte die übliche Kritik, dass es sich um Rassismus handelte und dass Arme gegen Arme ausgespielt werden.

Der Leiter der Essener Tafel Jörg Sator wies natürlich den Rassismusvorwurf zurück und begründete gegenüber der WAZ den Stopp für Menschen ohne deutschen Pass so:

Der Verein habe sich dazu gezwungen gesehen, weil Flüchtlinge und Zuwanderer zwischenzeitlich 75 Prozent der insgesamt 6000 Nutzer ausmachten, erklärt der Vorsitzende Jörg Sartor. „Wir wollen, dass auch die deutsche Oma weiter zu uns kommt.“

WAZ

Nun beschreibt der Tafelleiter hier durchaus zutreffend die Folgen einer Austeritätspolitik, die Kapitalisten den roten Teppich auslegt und mit der Politik der Agenda 2010 zur Verarmung großer Bevölkerungsteile vorangetrieben hat. Die Versorgung durch die Tafeln war da schon eingepreist. Durch die im Interesse der Wirtschaftsverbände durchgesetzte Schuldenbremse werden die letzten Reste des Sozialstaats demontiert.

Der soziale Wohnungsbau wurde schon längst abgeschafft. Diese Politik wurde in Deutschland umgesetzt, aber mit noch gravierenden Folgen auch in vielen Ländern Osteuropas. Mit dem Ende des fälschlich als Sozialismus bezeichneten Staatskapitalismus in Osteuropa wurde in vielen Ländern eine kapitalistische Schocktherapie durchgesetzt, die vielen Menschen nur die Alternative ließ, im EU-Hegemon Deutschland die Hoffnung auf ein etwas Besseres Leben zu suchen.

Allzu viele dieser Menschen landeten im Billiglohnsektor, manche blieben ganz auf der Straße und hoffen, mit dem täglichen Gang zur Tafel überleben zu können (zu den Tafeln siehe auch: Mein Reich komme: 25 Jahre Tafeln in Deutschland).

So schafft man eine multinationale Unterschicht, aus der sich immer willige Arbeitskräfte für deutsche Konzerne rekrutieren lassen. Es war die deutsche Politik, die sich innerhalb der EU dafür stark machte, dass nichtdeutsche EU-Bürger kein Hartz IV bekommen sollen.

Einige Initiativen wehrten sich dagegen. Doch die Empörung war längst nicht so groß wie jetzt nach der Entscheidung der Essener Tafel. Dabei sind es solche politischen Maßnahmen, die dafür sorgen, dass die Einkommensarmen gegeneinander ausgespielt werden.

Gegen die Vertafelung der Gesellschaft

Bei der Kritik an den Ausschlusskriterien wird vergessen, die kapitalistischen Zustände zu kritisieren, die die Existenz und den Boom der Tafeln überhaupt möglich machten. Zum 20ten Jahrestag der Tafeln erinnerten einige Initiativen noch daran, dass die Tafeln eine Konsequenz der politisch gewollten und vorangetriebenen Pauperisierung großer Teile der Gesellschaft waren.

„Armgespeist – 20 Jahre Tafeln sind genug“ lautete 2013 das Motto der Initiative Aktionsbuendnis20.de[10]. Leider fand diese Initiative keine Fortsetzung über den 20ten Jahrestag hinaus. Doch die Texte auf der noch immer existierenden Homepage liefern noch immer die zentralen Argumente gegen eine Politik, die Menschen zwingt, an Essenstafel ihr Überleben zu sichern. Die Organisatoren schlossen mit einem optimistischen Ausblick:

Unsere Sicht auf die zunehmende Vertafelung der Gesellschaft wird sich so weiter verbreiten, kritische Studien und alternative Deutungsangebote werden auch weiterhin im Tafelforum archiviert und auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung zur Zukunft des Sozialstaats und einem menschenwürdigen Leben für alle Bürger wird mit dem Ende dieses Jahres sicher nicht beendet sein.

Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln sind genug[11]

Doch leider existiert die genannte Homepage für das Tafelforum[12] nicht mehr. Dabei braucht es eine solche Stimme, die nicht nur kritisiert, dass jetzt Menschen ohne deutschen Pass nicht mehr zu einer Tafel zugelassen werden. Niemand soll auf Tafeln angewiesen sein, nicht der Mann aus Osteuropa, nicht das Kind aus Syrien und nicht die deutsche Oma. Das müsste die zivilisatorische Minimalforderung sein. So würden zumindest die Kritiker nicht ebenfalls diese Spaltung der Armen weiter vorantreiben.

In den USA kann man gut beobachten, wie nicht nur von rechten Kreisen bei der Dreamer-Debatte Einwanderer ohne US-Pass gegen arme US-Bürger ausgespielt werden. Das macht sich schon in den Begrifflichkeiten deutlich.

Auch die US-Bürger ohne Geld und Lohnarbeit haben Träume oder hatten sie zumindest, bis sie durch die Folgen einer Politik vielleicht zu träumen verlernt haben. Dann beginnt die Zeit des Ressentiments, wo Rassismus und rechte Ideologie um sich greifen.

Eine linke Politik muss wieder an die Träume von einem menschenwürdige Leben für alle ansetzen und deutlich machen, dass es auf Grund der Produktionsverhältnisse heute ohne weiteres möglich wäre und eben kein Traum bleiben würde .

Eine inklusive Politik wendet sich sowohl an die deutsche Oma als auch die Menschen, die wo auch immer sie her kommen, hier ein besseres Leben erhoffen. In einigen Städten gab es in den letzten Jahren Initiativen[13] wie das Projekt Shelter[14] oder die Berliner Erwecbsloseninitiative Basta[15], die soziale Rechte für alle einfordern.

Das wäre eine Gesellschaft in der auch die Essenstafeln abgeschafft sind – als Teil einer Gesellschaft, die Menschen pauperisiert und gegeneinander ausspielt. Die Kritik darf nicht erst dann einsetzen, wenn es von der Essener Tafel praktiziert wird.
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Peter Nowak

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[4] https://www.waz.de/region/rhein-und-ruhr/kritik-an-essener-tafel-id213522021.html
[5] https://www.waz.de/staedte/essen/die-essener-tafel-nimmt-zur-zeit-nur-noch-deutsche-auf-id213512021.html
[6] https://www.waz.de/staedte/essen/die-essener-tafel-nimmt-zur-zeit-nur-noch-deutsche-auf-id213512021.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Mein-Reich-komme-25-Jahre-Tafeln-in-Deutschland-3973388.html
[8] http://www.axelkrueger.info/html/leistungsanspruch_fur_eu-ausla.html
[9] http://efainfo.blogsport.de/
[10] http://www.aktionsbuendnis20.de/
[11] http://www.aktionsbuendnis20.de/
[12] http://www.tafelforum.de/
[13] https://socialcenter4all.blackblogs.org/konzept/
[14] http://projectshelterffm.tumblr.com/
[15] http://basta.blogsport.eu/kampagne/aktionen/

Sollen sie doch Kohl essen

Essen, Kleidung, Kleinkram – damit versorgen die Tafeln seit 20 Jahren Menschen in Armut. Was karitativ klingt, ist Teil einer Armutsökonomie, in der die Kunden ewige Almosenempfänger sind.

Vor 20 Jahren wurde die erste Berliner Tafel gegründet. Mittlerweile gibt es in der gesamten Republik beinahe 1 000 dieser Einrichtungen, in denen Menschen mit geringem Einkommen Lebensmittel, Kleidung und Haushaltsgegenstände günstig erwerben können. Das Prinzip der Tafeln ist simpel. Waren, die wegen des baldigen Ablaufs des Haltbarkeitsdatums oder bestimmter Mängel nicht mehr verkauft, aber noch verbraucht werden können, werden den Tafeln überlassen, die sie dann kostengünstig verteilen.

Selbstverständlich ist so etwas in Deutschland nicht ohne ein bürokratisches Prozedere zu bewerkstelligen. Tafelkunden brauchen eine Bedürftigkeitsbescheinigung vom Amt. Wer auf die Idee kommt, gleich mehrere Tafeln aufzusuchen, kann mit einem Tafelverbot bestraft werden. Auch wählerische Kunden sind in der Tafelbranche oft nicht erwünscht. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt – aus dieser kleinbürgerlichen Formel, mit der viele Eltern ihren Nachwuchs quälen, macht die deutsche Tafelwelt: Genommen wird, was im Korb liegt. Wenn ein Kunde keinen Kohl essen will, hat er eben Pech gehabt. Er soll dankbar sein, dass er überhaupt etwas bekommt.
Denn in der Tafelwelt geht es nicht um Rechte, die Kunden einfordern können, sondern um Almosen, die gewährt werden können oder auch nicht. Immer wieder klagen Kunden, dass sie auch im Winter vor der Tür der Tafel warten müssen, bis die Warenausgabe beginnt. Dann haben sie sich in einer Reihe aufzustellen und ihr Almosen entgegenzunehmen. Auch ältere Menschen, die um eine Sitzgelegenheit bitten, werden oft von den Betreibern abgewiesen. In den vergangenen 20 Jahren gab es immer wieder Klagen von Kunden, die aber in der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert wurden.

Erst der Soziologe Stefan Selke verschaffte der Kritik mit seinem Streifzug durch die Welt der Suppenküchen und Essenstafeln eine größere Öffentlichkeit. Nachdem er 2009 in seinem im Verlag Westfälisches Dampfboot herausgegebenen Buch »Fast ganz unten« beschrieben hatte, »wie man in Deutschland mit Hilfe der Essenstafeln satt wird«, präzisierte er in weiteren Publikationen seine Kritik. In einem Interview mit der Zeitschrift Verdi publik stellt Selke einen Zusammenhang zwischen der Agenda 2010 und dem Tafelboom her: »Viele kritische Beobachter sind sich einig, dass die Regelsätze zu einer Unterversorgung führen. So entstehen Bedarfslücken. Es ist doch selbstverständlich, dass dann entsprechende Angebote der sogenannten Armutsökonomie genutzt werden.« Damit würden aber nur die Ursachen verewigt. Das Problem der Unterversorgung und der nicht vorhandenen sozialen und kulturellen Teilhabe werde nicht gelöst. Deswegen sei das Tafeljubiläum kein Grund zum Feiern, sondern ein Armutszeugnis.

Dieser Überzeugung ist auch das »Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln«, das mit zahlreichen Veranstaltungen am letzten Aprilwochenende die Vertafelung der Gesellschaft einer grundsätzlichen Kritik unterzog. »Tafeln haben sich in den letzten 20 Jahren zu einem System entwickelt, das zunehmend marktförmig und nach Eigenlogik operiert«, sagt die Pressesprecherin des Bündnisses, Luise Molling, der Jungle World. Sie weist darauf hin, dass die Tafeln als Monopolisten auf dem Markt der Bedürftigkeit auftreten und andere ebenso engagierte Anbieter von Hilfeleistungen verdrängen.

Genaue Zahlen über die Gewinne der Tafel­industrie gibt es nicht, weil die Betreiber keinen Einblick in ihre Geschäftsbücher gewähren. Auch kritische Wissenschaftler des Forschungsprojekts Tafelmonitoring der Hochschulen Esslingen und Furtwangen bekommen keine Daten. Daher lässt sich der Anteil der prekären Beschäftigungsverhältnisse in den Tafelunternehmen nicht genau bestimmen, die Bernhard Jirku von Verdi besonders kritisiert: »Zur Versorgung der Armenspeisungen mit Produkten und zu ihrer Verteilung eröffnet das Tafelwesen einen weiteren, sehr prekären Arbeitsmarkt, dessen Beschäftigungsbedingungen sich weit unterhalb gewerkschaftlicher und tariflicher Vorstellungen befinden. Selten gibt es existenzsichernde, reguläre Beschäftigungsverhältnisse, noch seltener sind sie tariflich entlohnt.«

Für Molling sind die Tafeln der perfekte Ausdruck des wirtschaftsliberalen Prinzips, das die Privatisierung des Sozialen betreibt. »Der Sozialstaat bedeutet für die Unternehmen letztlich eine Minderung des Profits. Bei den Tafeln ist es umgekehrt: Die Unternehmen können Entsorgungskosten sparen, die großen Sponsoren polieren ihr Image auf und die Politik wird entlastet«, sagt Molling. Die Ideologie des Ehrenamts habe die Überzeugung verbreitet, dass man Armut im lokalen Rahmen und privat bekämpfen solle und sich der Staat möglichst herauszuhalten habe. Die Folgen liegen für Molling auf der Hand: »Mittlerweile gibt es Tausende Ehrenamtliche, die die Armut lindern wollen, aber kaum jemanden, der diese ursächlich bekämpft. Darum geht es uns mit dem Bündnis.«

Doch die Vorschläge der Tafelkritiker bleiben sehr allgemein. »Es geht uns darum, dass erst einmal unabhängig berechnet wird, was denn so ein soziokulturelles Minimum beinhaltet. Es geht uns auf jeden Fall um eine deutliche Erhöhung der Regelsätze, die dann auch nicht mehr durch Sanktionen eingeschränkt werden dürfen«, erklärt Molling. Dabei gibt es durchaus Berechnungen, die als Grundlage für konkretere Forderungen genutzt werden können. So hat das Bündnis »Krach schlagen statt Kohldampf schieben«, das im Oktober 2010 eine bundesweite Erwerbslosendemonstration in Oldenburg organisierte, die Forderung nach einer Regelsatzerhöhung um 80 Euro mit den Kosten für Lebensmittel für den täglichen Bedarf präzise begründet. Das Bündnis hat mit einer monatelangen Kampagne vor der Demonstration den Zusammenhang zwischen sinkenden Einkommen, der steigenden Nachfrage nach Billigprodukten, dem sich daran anschließenden Preiskrieg der Discounter und den oft miserablen Arbeits- und Produktionsbedingungen in der Lebensmittelbranche gut herausgearbeitet.

Die Tafelindustrie, die in der Aufzählung fehlte, ist die letzte Station in der Verwertungskette. Dort wird die politisch gewollte Verarmung noch einmal profitabel genutzt. Statt erkämpfte so­ziale Rechte zu erhalten, werden arme Menschen zu Almosenempfängern herabgestuft. Im Juli 2012 begründete das Bundessozialgericht ein Urteil, nach dem die derzeitigen Hartz-IV-Sätze verfassungsgemäß sind, mit der Existenz der Tafeln. Wenn man mit Lebensmitteln nicht umgehen könne, gebe es ja auch die Möglichkeit, sie sich bei den Tafeln zu beschaffen, formulierte der zuständige Sozialrichter Peter Uschding eine Aufforderung, die Erwerbslose auch von Mitarbeitern der Jobcenter immer wieder zu hören bekommen.
http://jungle-world.com/artikel/2013/18/47613.html

Peter Nowak