Sollen sie doch Kohl essen

Essen, Kleidung, Kleinkram – damit versorgen die Tafeln seit 20 Jahren Menschen in Armut. Was karitativ klingt, ist Teil einer Armutsökonomie, in der die Kunden ewige Almosenempfänger sind.

Vor 20 Jahren wurde die erste Berliner Tafel gegründet. Mittlerweile gibt es in der gesamten Republik beinahe 1 000 dieser Einrichtungen, in denen Menschen mit geringem Einkommen Lebensmittel, Kleidung und Haushaltsgegenstände günstig erwerben können. Das Prinzip der Tafeln ist simpel. Waren, die wegen des baldigen Ablaufs des Haltbarkeitsdatums oder bestimmter Mängel nicht mehr verkauft, aber noch verbraucht werden können, werden den Tafeln überlassen, die sie dann kostengünstig verteilen.

Selbstverständlich ist so etwas in Deutschland nicht ohne ein bürokratisches Prozedere zu bewerkstelligen. Tafelkunden brauchen eine Bedürftigkeitsbescheinigung vom Amt. Wer auf die Idee kommt, gleich mehrere Tafeln aufzusuchen, kann mit einem Tafelverbot bestraft werden. Auch wählerische Kunden sind in der Tafelbranche oft nicht erwünscht. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt – aus dieser kleinbürgerlichen Formel, mit der viele Eltern ihren Nachwuchs quälen, macht die deutsche Tafelwelt: Genommen wird, was im Korb liegt. Wenn ein Kunde keinen Kohl essen will, hat er eben Pech gehabt. Er soll dankbar sein, dass er überhaupt etwas bekommt.
Denn in der Tafelwelt geht es nicht um Rechte, die Kunden einfordern können, sondern um Almosen, die gewährt werden können oder auch nicht. Immer wieder klagen Kunden, dass sie auch im Winter vor der Tür der Tafel warten müssen, bis die Warenausgabe beginnt. Dann haben sie sich in einer Reihe aufzustellen und ihr Almosen entgegenzunehmen. Auch ältere Menschen, die um eine Sitzgelegenheit bitten, werden oft von den Betreibern abgewiesen. In den vergangenen 20 Jahren gab es immer wieder Klagen von Kunden, die aber in der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert wurden.

Erst der Soziologe Stefan Selke verschaffte der Kritik mit seinem Streifzug durch die Welt der Suppenküchen und Essenstafeln eine größere Öffentlichkeit. Nachdem er 2009 in seinem im Verlag Westfälisches Dampfboot herausgegebenen Buch »Fast ganz unten« beschrieben hatte, »wie man in Deutschland mit Hilfe der Essenstafeln satt wird«, präzisierte er in weiteren Publikationen seine Kritik. In einem Interview mit der Zeitschrift Verdi publik stellt Selke einen Zusammenhang zwischen der Agenda 2010 und dem Tafelboom her: »Viele kritische Beobachter sind sich einig, dass die Regelsätze zu einer Unterversorgung führen. So entstehen Bedarfslücken. Es ist doch selbstverständlich, dass dann entsprechende Angebote der sogenannten Armutsökonomie genutzt werden.« Damit würden aber nur die Ursachen verewigt. Das Problem der Unterversorgung und der nicht vorhandenen sozialen und kulturellen Teilhabe werde nicht gelöst. Deswegen sei das Tafeljubiläum kein Grund zum Feiern, sondern ein Armutszeugnis.

Dieser Überzeugung ist auch das »Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln«, das mit zahlreichen Veranstaltungen am letzten Aprilwochenende die Vertafelung der Gesellschaft einer grundsätzlichen Kritik unterzog. »Tafeln haben sich in den letzten 20 Jahren zu einem System entwickelt, das zunehmend marktförmig und nach Eigenlogik operiert«, sagt die Pressesprecherin des Bündnisses, Luise Molling, der Jungle World. Sie weist darauf hin, dass die Tafeln als Monopolisten auf dem Markt der Bedürftigkeit auftreten und andere ebenso engagierte Anbieter von Hilfeleistungen verdrängen.

Genaue Zahlen über die Gewinne der Tafel­industrie gibt es nicht, weil die Betreiber keinen Einblick in ihre Geschäftsbücher gewähren. Auch kritische Wissenschaftler des Forschungsprojekts Tafelmonitoring der Hochschulen Esslingen und Furtwangen bekommen keine Daten. Daher lässt sich der Anteil der prekären Beschäftigungsverhältnisse in den Tafelunternehmen nicht genau bestimmen, die Bernhard Jirku von Verdi besonders kritisiert: »Zur Versorgung der Armenspeisungen mit Produkten und zu ihrer Verteilung eröffnet das Tafelwesen einen weiteren, sehr prekären Arbeitsmarkt, dessen Beschäftigungsbedingungen sich weit unterhalb gewerkschaftlicher und tariflicher Vorstellungen befinden. Selten gibt es existenzsichernde, reguläre Beschäftigungsverhältnisse, noch seltener sind sie tariflich entlohnt.«

Für Molling sind die Tafeln der perfekte Ausdruck des wirtschaftsliberalen Prinzips, das die Privatisierung des Sozialen betreibt. »Der Sozialstaat bedeutet für die Unternehmen letztlich eine Minderung des Profits. Bei den Tafeln ist es umgekehrt: Die Unternehmen können Entsorgungskosten sparen, die großen Sponsoren polieren ihr Image auf und die Politik wird entlastet«, sagt Molling. Die Ideologie des Ehrenamts habe die Überzeugung verbreitet, dass man Armut im lokalen Rahmen und privat bekämpfen solle und sich der Staat möglichst herauszuhalten habe. Die Folgen liegen für Molling auf der Hand: »Mittlerweile gibt es Tausende Ehrenamtliche, die die Armut lindern wollen, aber kaum jemanden, der diese ursächlich bekämpft. Darum geht es uns mit dem Bündnis.«

Doch die Vorschläge der Tafelkritiker bleiben sehr allgemein. »Es geht uns darum, dass erst einmal unabhängig berechnet wird, was denn so ein soziokulturelles Minimum beinhaltet. Es geht uns auf jeden Fall um eine deutliche Erhöhung der Regelsätze, die dann auch nicht mehr durch Sanktionen eingeschränkt werden dürfen«, erklärt Molling. Dabei gibt es durchaus Berechnungen, die als Grundlage für konkretere Forderungen genutzt werden können. So hat das Bündnis »Krach schlagen statt Kohldampf schieben«, das im Oktober 2010 eine bundesweite Erwerbslosendemonstration in Oldenburg organisierte, die Forderung nach einer Regelsatzerhöhung um 80 Euro mit den Kosten für Lebensmittel für den täglichen Bedarf präzise begründet. Das Bündnis hat mit einer monatelangen Kampagne vor der Demonstration den Zusammenhang zwischen sinkenden Einkommen, der steigenden Nachfrage nach Billigprodukten, dem sich daran anschließenden Preiskrieg der Discounter und den oft miserablen Arbeits- und Produktionsbedingungen in der Lebensmittelbranche gut herausgearbeitet.

Die Tafelindustrie, die in der Aufzählung fehlte, ist die letzte Station in der Verwertungskette. Dort wird die politisch gewollte Verarmung noch einmal profitabel genutzt. Statt erkämpfte so­ziale Rechte zu erhalten, werden arme Menschen zu Almosenempfängern herabgestuft. Im Juli 2012 begründete das Bundessozialgericht ein Urteil, nach dem die derzeitigen Hartz-IV-Sätze verfassungsgemäß sind, mit der Existenz der Tafeln. Wenn man mit Lebensmitteln nicht umgehen könne, gebe es ja auch die Möglichkeit, sie sich bei den Tafeln zu beschaffen, formulierte der zuständige Sozialrichter Peter Uschding eine Aufforderung, die Erwerbslose auch von Mitarbeitern der Jobcenter immer wieder zu hören bekommen.
http://jungle-world.com/artikel/2013/18/47613.html

Peter Nowak